Querschnittsbereich Klinische Ethik Die «BIG THREE» in der Ethikkonsultation: Was treibt uns (um)? Eröffnungsvortrag , Symposium „Klinische Ethik in der Psychiatrie“, 3.11.2016, Basel, UPK Prof. Dr. Stella Reiter-Theil, Dipl.-Psych. Leitung, Abt. Klinische Ethik, UPK / USB Email: [email protected] Foto: Juri Weiss Gliederung • Einführung in das Programm • Was uns antreibt: Ziele der ethischen Unterstützung in der Klinik • Klinisch-ethische Unterstützung Ethikkonsultation: Anlässe, Formen • Was uns umtreibt: Probleme und Grundsatzfragen Neue Studie: ethische Herausforderungen aus den Anfragen zur Ethikkonsultation „BIG THREE“ Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Einführung in das Programm • Überblick • Urteilsfähigkeit: Feststellung • Sozialdienst – Schnittstellen • Supervision • Lebensende Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Was uns antreibt: Ziele der ethischen Unterstützung in der Klinik • Ethische Aspekte in der Patientenbetreuung stärken – einschl. Patientenrechte • Behandelnde und ihre ethische Kompetenz fördern – interdisziplinäre Kooperation • Ethische Kultur in der Institution und an den Schnittstellen weiter entwickeln Ethische Probleme erkennen, aufgreifen und nach Lösungen suchen Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Grundbegriffe: Moral, Sitte, Ethos … • betrifft das Verhalten gegenüber Mitmenschen der Natur sich selbst • bezeichnet das Gewohnte und Bewährte, das Selbstverständliche und allseits Erwartete • bedeutet einen grundlegenden Rahmen für das Verhalten • ist wesentlich und grundlegend für das Menschsein selbst 5 Höffe (2002) ... von der Moral zur Ethik • Geltung der Moral hat Grenzen Unsicherheiten, Widersprüche und Konflikte Bezug auf Autoritäten kann nicht alle Probleme lösen • Allgemeine ethische Orientierung notwendig muss auf methodischem Weg gesucht werden: Reflexion • Zielsetzung zu erkennen, was gutes und gerechtes Handeln ist, das ethisch begründet werden kann 6 Höffe (2002) Formen ethischer Unterstützung Intern oder extern z.B. RL betr. Zwangsmassnahmen; Gewalt; Beihilfe zum Suizid; REA Reiter-Theil (2008) Ther Umschau, 65: 359-365 Ethikkonsultation – was ist das? • Gruppe von Praxisformen. • Ziel: Patientenversorgung bzgl. ethischer Aspekte unterstützen. • Wege: Hilfestellung für Anfragende – behandelnde Ärzte, Pflegende sowie weitere Fachleute (aber auch Patienten, Angehörige). • Prinzipien: Verantwortlichkeiten bleiben bestehen (keine Delegation), ergebnisoffene Beratung, kein „moralischer Paternalismus“. Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Anlässe von Ethikkonsultation (formal) 1. Unsicherheit eth. Beurteilung 2. Ethischer Konflikt zwischen Verpflichtungen 3. Dissens im Team 4. Haltung oder Kooperation von Pat. / Angehörigen (Reiter-Theil 2000; 2005) Vielfalt an Formen ethischer Unterstützung • Eigene ethische Orientierung entwickeln (>Schlüsselpersonen) • Rücksprachemöglichkeit im Team aufbauen • Screening bzgl. ethischer Fragen, z.B. via Board / Visite • Fallbesprechung mit ethischen Aspekten (Team-intern) • Ethikkonsultation (ggf. auch retrospektiv; ggf. als Serie) • Weiterbildungsangebote, Veranstaltungen • Ethische Beratung mit Patienten / Angehörigen (auf Wunsch) • Themenspezifische Arbeitsgruppen / Projekte, z.B. EthikPolicies für wiederkehrende Fragen oder Probleme • Interinstitutionelle Kooperation: gemeinsame Fallberatung, Fortbildung Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 10 Thematic Issue 2016 Reiter-Theil (2016) Clinical Ethics 11: 45-53 Titel/Anlass/Autor TT.MM.JJJJ 11 Was uns umtreibt: Probleme • Urteilsfähigkeits-Feststellung wer, wie – und wie gut? • Zwangsmassnahmen Zunahme, Abnahme, Gründe? Erleben und Bewertung durch Behandelnde und Patienten? • Behandlungsvereinbarungen, Patientenverfügungen ausreichende Beratung / Ermutigung? • Ausschaffung unsere Rolle – unsere Grenzen? • Etc. Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Was uns umtreibt: allgemeine und Grundsatzfragen, z.B. • Relation zwischen Recht und Ethik Spielräume ethisch gestalten • Kooperation mit Behörden (erwünscht) • Folgerungen aus paradigmatischen Fällen für eine allgemeine Orientierung • Anerkennung von Patientenrechten z.B. auf Ablehnung von therapeutischen Massnahmen • Subtile, schwer zu erkennende Formen der Einflussnahme auf Patienten Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Was uns vorantreibt Neue Studie • ethische Herausforderungen aus den Anfragen zur Ethikkonsultation „BIG THREE“ Reiter-Theil, Schürmann (2016) Bioethica Forum 9(2):60-70 Incl. Universitätsspital Basel (USB) Studien zur klinisch-ethischen Unterstützung • sind rar, nicht ganz leicht zu realisieren brauchen anspruchsvolles Datenmaterial (quantitativ, qualitativ), Ressourcen, Kompetenzen etc. Forschung zur ethischen Unterstützung in der Psychiatrie … • ist noch schwerer zu finden wenig implementierte Abteilungen und wenig verfügbare Daten. • Clinical Ethics, Thematic Issue “Clinical Ethics Support in Psychiatry”; eds. Molewijk, Reiter-Theil 2016 • Psychiatrische Praxis, Themenheft «Klinische Ethische Unterstützung in der Psychiatrie»; Hrsg: Reiter-Theil, Dittmann, 2014 Themenheft 2014 Reiter-Theil et al (2014) Psychiatr Prax 41(07):355-363 Mitzscherlich B (2014) Psychiatr Prax 41(07):379-384 Unser Ansatz der Begleitforschung Vortrag: Systematische Dokumentation von EK-Fällen Klassifikation der Themen Fall-Serien-Studie [N=100; n=50/UPK – 50/USB] Was ich heute nicht vorstelle: Feldforschung Beobachtung Fragebogenstudie Interviewstudie Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Erstellung einer guten Datenbank Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Material: Dokumentation von Ethikkonsultationen Seite 1 • Problem, vorläufige Optionen und Fazit … Seiten 2 – 5 • Detailliertes Protokoll + Rückmeldebogen Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Struktur der Dokumentation • • • • • • Themen gemäss Anfrage Perspektiven (-wechsel) Patient, Angehörige, Behandelnde, Institutionen Richtlinien, rechtlicher Rahmen Wertekontext Ethische Analyse Ethik-Fokus Optionen – pro und contra Ethische Prinzipien Persönlichkeit und Beziehung Fazit Konsens Offene Fragen Vereinbarungen Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Ethische Prinzipien • • • • Respekt vor der Autonomie / Respect for autonomy / Voluntas aegroti Vermeidung von Schaden / Nonmaleficence / Nil nocere Hilfeleistung / Beneficence / Salus aegroti Gerechtigkeit / Fairness Beauchamp & Childress 1994 ff Perspektiven • • • • • • • • Patient / Patientin Therapeut/in, Pflegefachperson, weitere Fachleute Team / Kooperation der Berufsgruppen Angehörige des Patienten / der Patientin Institutioneller Kontext Gesundheitswesen (Medizin als Subsystem) Gesellschaft, Rechtssystem Universelle Werte Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Ethische Fragen – die «BIG THREE» in der Ethikkonsultation (EK) in den UPK betreffen 1. Zwangsmassnahmen (34%) 2. Versorgungsmanagement (20%) 3. Evaluation des Behandlungsplans (20%) Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Ethische Fragen – Definitionen Zwangsmassnahmen: Einsatz von Druck, Gewalt oder Täuschung zur Kontrolle von Bewegung, Behandlung oder Verhalten eines Patienten gegen seinen / ihren Willen Versorgungsmanagement: Management und Organisation der professionellen Patientenbetreuung sowie die Einschränkung oder das Fehlen derselben Evaluation des Behandlungsplans: Bewertung der verfügbaren Behandlungsoptionen oder Ziele in der Patientenbetreuung, einschl. persönlicher, sozialer, kultureller und religiöser Aspekte Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Ethische Fragen – die «BIG THREE» Die (anonymisierten) Fallbeispiele zur Veranschaulichung der „BIG THREE“ wurden entnommen. Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Inhalte der EK-Anfragen (N=100) (Reiter-Theil, Schürmann 2016) Drei Outcome-Kriterien der EK Konsens • Haben die Teilnehmenden am Ende der EK Konsens erzielt? Konsens • 97.8% (ja) Implementierung • Wurden die EK-Ergebnisse umgesetzt? Implementierung • 90.7% (ja) Übrige: teilweise/ohne Antwort Nützlichkeit • Fanden die Teilnehmenden Nützlichkeit • Antworten – die EK / – das Protokoll hilfreich? – 94.4% (ja), 5.6% (teilweise) – 98.8% (ja) Reiter-Theil, Schürmann 2016, EACME, Leuven Argumente in der ethischen Begründung 1. Zwangsmassnahmen können z.B. dann gerechtfertigt sein, • wenn sie die Urteilsfähigkeit wiederherstellen (helfen). 2. Die Regel “Sollen impliziert Können” (Bemühen vorausgesetzt!) hilft, • moralischen Disstress zu bekämpfen. 3. Durch Respekt für einen Patientenwunsch (Ablehnung einer med. Untersuchung) in Form einer PV (”Advanced care planning”) • lassen sich Widerstände überwinden. Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016 Dank für Kooperation • Klinische Mitarbeitende: KJPK, EPK, FPK Pflege Forschung und Entwicklung http://www.upkbs.ch • Infrastruktur: – Ethik-freundliche Institution • Team Ethik: – Masterstudierende (Medizin); PhD/MD-Studierende; Postdocs; Trainees; Gastwissenschaftler/innen. – Ethik-Beirat (extern) Literatur – Begleitforschung Klinische Ethik • Meyer, Reiter-Theil (2016) Context-adjusted clinical ethics support (CES) in psychiatry. Accompanying a team through a sensitive period. Clinical Ethics 11(23):70-80 • Reiter-Theil (2016) Initiating and maintaining Clinical Ethics Support in Psychiatry. Ten tasks and challenges – and how to meet them. Clinical Ethics Vol 11(2-3):45-53 • Reiter-Theil, Mertz, Schürmann et al (2011) Evidence - competence - discourse: the theoretical framework of the multi-centre clinical ethics support project metap. Bioethics 25:403-412 • Reiter-Theil, Schürmann (2016) The ‘Big Five’ in 100 Clinical Ethics Consultation Cases. Evaluating three years of ethics support in the Basel University Hospitals. Bioethica Forum 9(2):60-70 • Reiter-Theil, Schürmann, Schmeck (2014) Klinische Ethik in der Psychiatrie – State of the Art. Psychiatr Prax 41(07): 355-363 • Streuli, Staubli, Pfändler-Poletti et al (2014) Five-year experience of clinical ethics consultations in a pediatric teaching hospital. Eur J Pediatr 173:629-636 • Swetz, Crowley, Hook et al (2007) Report of 255 clinical ethics consultations and review of the literature. Mayo Clin Proc 82(6):686-91 • Tapper, Vercler, Cruze et al (2010) Ethics Consultation at a large urban Public Teaching Hospital. Mayo ClinProc 85 (5):433-438 Prof. Dr. Stella Reiter-Theil 3.11.2016