Gefährdungen der Konsensdemokratie durch die - lu

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Joachim Blatter - Seminar für Politikwissenschaft
Gefährdungen und Massnahmen zum Schutz der
kompromissorientieren Politkultur in der Schweiz
I.
Die Kompromissorientierung als grundlegendes
Charakteristikum der Schweizer Demokratie
II. Gefährdung durch den Wandel des Mediensystems
III. Möglichkeiten zur Abwehr dieser Gefährdung
IV. Gefährdung durch die parteipolitische Instrumentalisierung der
Volksrechte
V. Bisherige Vorschläge zur Abwehr dieser Gefährdung
VI. Ein konkreter Vorschlag zur Neuregelung der notwendigen
Unterschriften für Initiativen
Beitrag zur Veranstaltung des Forums Ethik und Ökologie, Luzern, 18. August 2015
Kompromissorientierung als grundlegendes
Charakteristikum der Schweizer Demokratie
Kompromissorientierung (Lijphart, Lehmbruch, Altermatt)
Strukturell: Konkordanzdemokratie = alle wichtigen Gruppen werden bei der
Besetzung von Positionen in Regierung, Verwaltung und Justiz berücksichtigt
Kulturell: Konsensdemokratie = Respektvoller Umgang der Eliten untereinande
und sachlich-pragmatischer Diskurs in der Öffentlichkeit
Direkte Demokratie = wichtiges Hilfsmittel:
Strukturell: Integration von bis dahin exkludierten Gruppen in die Regierung
Katholisch-Konservative: 1874: fakultatives Referendum => 1891: CVP
Bauern- und Gewerbetreibende: 1918: Initiative Proporzwahl => 1929: BGB
Sozialdemokraten: (+ externe Bedrohung) => 1943: SP
Prozedural: Integrative Politikformulierung mit Blick auf ein potentielles
Referendum
Kulturell: Stärkung der deliberativen Qualität des politischen Entscheidungsprozesses durch die Entkoppelung von Sachentscheiden von Machtfragen
Nichtintendierter Seiteneffekt: Fragmentiertes + polarisiertes Parteiensystem
Gefährdung der Konsensdemokratie durch den Wandel
des Mediensystems + mögliche Gegenmassnahmen
Zentrale Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts:
Private Sender und Internet
Ökonomisierung des Mediensystems
Qualitätsprobleme: Aufmerksamkeitserzeugung statt Information
Autonomieprobleme: Abhängigkeit von wirtschaftlich potenten Akteuren
Fragmentierung des Mediensystems
Integrationsprobleme: Kein Verständnis für die Sicht des Anderen
Relevanzprobleme: Politik tritt in den Hintergrund
Eine Konsensdemokratie mit starken Volksrechten ist stärker auf ein
qualitätsvolles und integratives Mediensystem angewiesen als eine rein
repräsentative Wettbewerbsdemokratie
Verteidigung des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens
Staatliche Unterstützung für Printmedien und Internet-Projekte,
mit dem Ziel, ideologische und sprachregionale Pluralität mit
Verständigungsorientierung zu verbinden
Gefährdungen der Konsensdemokratie durch die
Instrumentalisierung der Volksrechte I
1. Aktuelle «Flut» von Initiativen – Problem?
1. Aktuelle Flut
Gefährdungen der Konsensdemokratie durch die
parteipolitische Instrumentalisierung der Volksrechte II
1. Volksinitiative gewinnen gegenüber Referendum an Gewicht
- In jedem Jahrzehnt gibt es mehr Initiativen als in der Dekade davor
- Von 2001-2010 gab es mehr Initiativen (36) als obligatorische (16) und
fakultative (28) Referenden, in früheren Dekaden gab es fast immer mehr
Referenden als Initiativen (Vatter 2014: 350/351)
=> Initiative dient viel weniger dem Kompromiss als Referendum
2. Volksinitiativen werden immer mehr angenommen
(Quelle: Vatter 2014: 351)
=> Direkte und konflikthafte statt indirekte und moderate Wirkung
Gefährdungen der Konsensdemokratie durch die
parteipolitische Instrumentalisierung der Volksrechte III
3. Volksinitiativen dienen professionalisierten Parteien
zum Setzen der Agenda und zur Mobilisierung der Wählerschaft
a.Beispiele:
 Minarett Initiative (SVP)
 Masseneinwanderungsinitiative (SVP)
 Mindestlohninitiative (SP)
 Familieninitiative (CVP)
 Energie- statt Mehrwertsteuer Initiative (GLP)
b.Ursachen:
1. Professionalisierung der/einzelner Parteien
=> Marketingüberlegungen werden immer wichtiger
2. Mediatisierung des politisches Diskurses
=> Agenda-Setting im Medienzeitalter von zentraler Bedeutung
(Aufmerksamkeit statt Argumente)
c.Zunehmender Trend?
Teilweise Bestätigung durch G. Rohner (2012) - Abgrenzungsprobleme
Gefährdungen der Konsensdemokratie durch die
parteipolitische Instrumentalisierung der Volksrechte IV
4. Zentrale Veränderung:
Bisher:
•Initiativen einer
Regierungspartei (SP)
scheitern
•Initiativen einer NichtRegierungspartei (Grüne)
z.T. erfolgreich
Neu:
Initiativen einer Regierungspartei (SVP) erfolgreich
Bisherige Vorschläge zur Abwehr der Gefahr durch
eine Instrumentalisierung der Volksrechte
Avenir Suisse (2015):
1. Einführung eines Initiativrechtes auf Gesetzesstufe
(mit Prüfung der Verfassungskonformität)
2. Generelle Erhöhung der notwendigen Unterschriften für eine
Verfassungsinitiative auf 4% der Stimmberechtigten
Vorschlag von Annemarie Huber-Hotz (frühere Bundeskanzlerin):
=> Initiativ-Verbot für alle Parteien mit Fraktionsstärke
Ein konkreter Vorschlag zur Neuregelung der
notwendigen Unterschriften für Volksinitiativen I
Grundsätzliche Zielsetzung:
Volksinitiativen müssen wieder zur integrativen Konkordanzdemokratie
beitragen, statt sie zu unterminieren
Ansatzpunkt:
Höhere Hürden für Akteure in den Zentren politischer Macht; und gleichzeitig
niedrige Hürden für Akteure ausserhalb der politischen Machtzentren
Konkrete Ausgestaltung:
Initianten
Notwendige Unterschriften
(gegenwärtige Anzahl bei ungefähr 6.4 Mio. erwachsenen Bewohnerinnen
und ungefähr 600 000 erwachsenen Auslandschweizern)
Parteien
in der Regierung
4 % der erwachsenen Wohnbevölkerung und der erwachsenen
Auslandschweizer (280 000 Unterschriften)
Parteien (Fraktion)
im Parlament
3 % der erwachsenen Wohnbevölkerung und der erwachsenen
Auslandschweizer (210 000 Unterschriften)
Alle sonstigen
Initianten
2 % der erwachsenen Wohnbevölkerung und der erwachsenen
Auslandschweizer (140 000 Unterschriften)
Ein modifizierter Vorschlag zur Neuregelung der
notwendigen Unterschriften für Volksinitiativen
Vorschlag ohne die Ausdehnung auf die ausländische Wohnbevölkerung:
- Erhöht die Umsetzungschancen
- Verwässert die Zielsetzung der Inklusion der randständigen Interessen
Initianten
Notwendige Unterschriften
(gegenwärtige Anzahl bei ungefähr 5 Mio. erwachsenen Schweizerinnen in der
Schweiz und ungefähr 600 000 erwachsenen Auslandschweizern)
Parteien
in der Regierung
4 % der erwachsenen Schweizerinnen in der Schweiz und der
erwachsenen Auslandschweizer (225 000 Unterschriften)
Parteien (Fraktion)
im Parlament
3 % der erwachsenen Schweizerinnen in der Schweiz und der
erwachsenen Auslandschweizer (168 000 Unterschriften)
Alle sonstigen
Initianten
2 % der erwachsenen Schweizerinnen in der Schweiz und der
erwachsenen Auslandschweizer (112 000 Unterschriften)
Fragen zur Umsetzung des Vorschlages
• Welche Kriterien entscheiden, wie viele Unterschriften notwendig sind?
- Funktionäre/Mandatsträger einer BR/Parl.-Partei sind im Initiativkomitee
(- BR/Parl.-Partei beteiligt sich finanziell bei der Unterschriftensammlung)
• Können die Parteien das nicht einfach umgehen, indem sie die Initiativen
anderweitig unterstützen?
- Parteien dürfen und sollen Initiativen unterstützen
- Als Marketinginstrument viel weniger nützlich, wenn Initiative nicht direkt mit
einer Partei verbunden wird
• Werden damit höhere Hürden für die Nutzung der Volksrechte geschaffen
und die direkte Demokratie geschwächt?
- Nein, die Hürden für wirkliche Volksinitiativen werden damit nicht erhöht,
sondern nur die Hürden für mächtige Parteien
- Hürden bei der Sammlung von Unterschriften sollten gesenkt werden;
z.B. «e-collecting» => Inklusion der Jungen
Schlussbemerkungen
• Schweiz zeichnet sich durch ein besonders friedfertiges und produktives
Zusammenleben von kulturell unterschiedlichen Bevölkerungsteilen aus
• Konkordanz- und Konsensdemokratie leistet dazu einen grossen Beitrag
• Ausgebaute Volksrechte haben wiederum einen wichtigen Anteil an der
Entstehung und Stabilisierung der Konkordanz- und Konsensdemokratie
Diese Funktion der Volksrechte ist gefährdet!
Politische Kultur wird durch Regeln ausgedrückt und (de)stabilisiert.
Notwendig sind deswegen Regeländerungen:
• Gesetzesinitiative: Zuerst Kontrolle, dann aber Verbindlichkeit
• Verfassungsinitiative: Volk soll grundlegende Zeichen setzen können;
Parlament und Verwaltung sollen für eine pragmatische Umsetzung sorgen
• Volksrechte sollen der Inklusion von randständigen Gruppen/Interessen
dienen und nicht der Mobilisierung durch mächtige Parteien
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