Volksinitiativen und ihre Wirkungen auf die Politik Referat an der Amtskonferenz der eidgenössischen Finanzverwaltung von Claude Longchamp Referent: Claude Longchamp, Institutsleiter © gfs.bern, 21. Januar 2015 Das Phänomen Volksinitiative 2014 2 Volksrechte in der Schweiz Aus der Neujahrsansprache von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga "Vertrautheit und Nähe: dafür steht auch unsere direkte Demokratie. Nirgendwo sonst auf der Welt haben die Bürgerinnen und Bürger so viel Macht und so viel Verantwortung wie in unserem Land. Genau das gefällt mir an unserer Demokratie: Sie ist mutig. Sie traut uns allen viel zu. Es gibt aber auch Leute, die sagen, unsere direkte Demokratie sei nicht mehr zeitgemäss. In unserer vernetzten Welt sei es für die Bevölkerung gar nicht mehr möglich, hochkomplexe Entscheidungen zu fällen. – Ich teile diese Auffassung nicht, und zwar ganz und gar nicht. Ich bin vielmehr überzeugt: Unser politisches System passt sogar ausgezeichnet in die heutige Zeit. Denn die Tatsache, dass neben dem Bundesrat und dem Parlament bei uns auch die Bürgerinnen und Bürger Verantwortung tragen, Einfluss nehmen und sich beteiligen – das schafft Nähe und das schafft Identität. Und genau darauf sind wir Menschen angewiesen. Das war schon immer so, das ist heute mit der Globalisierung noch stärker so." 3 Volksinitiativen heute und gestern Stadium 2014 Seit 1893 2014 in % Lanciert 11 433 2,5 Nichtzustande gekommen 6 109 5,5% Zustande gekommen 14 312 4,5% Zurückgezogen 0 93 0% Abgeschrieben 0 2 0% Ungültig 0 4 0% Abgestimmt 6 196 3,1% angenommene 2 22 9,1% Quelle: Bundeskanzlei 4 Volksinitiativen 2014 Alle 2014 lancierten • 'Raus aus der Sackgasse! Verzicht auf die Wiedereinführung von Zuwanderungskontingenten' • 'Zur Ausschaffung krimineller Männer' • 'Für Ernährungssouveränität. Die Landwirtschaft betrifft uns alle' • 'Für die Würde der landwirtschaftlichen Nutztiere (HornkuhInitiative) • 'Ja zur Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren (Abschaffung der Billag-Gebühren)' • 'Für krisensicheres Geld: Geldschöpfung allein durch die Nationalbank! (Vollgeld-Initiative)' • 'Für gesunde sowie umweltfreundlich und fair hergestellte Lebensmittel (Fair-Food-Initiative)' • 'Höchstgeschwindigkeit 130 km/h auf Autobahnen' • 'Haftung für Rückfälle von Sexual- und Gewaltstraftätern' • 'Schweizerisches Zentralregister für die Beurteilung von Sexualund Gewaltstraftätern' • 'Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative)' 5 Symbolbild: Wiedergutmachungsinitiative Nicht zustande gekommen 3er Paket Mitteilung der Initianten Ziel nicht erreicht: Drei Wochen vor Ablauffrist der Volks-Initiativen • • • „Freie Fahrt statt Mega-Staus“ „Strassengelder gehören der Strasse“ „JA zu vernünftigen Tempolimiten“ ist absehbar, dass die nötigen Unterschriftenzahlen von je 100‘000 nicht erreicht werden. Die „Tempo-Initiative“ hat am meisten Zuspruch erhalten, während die „Strassengelder-Initiative“ am wenigsten Unterschriften auf sich vereinigt hat. Diese ist allerdings mit der bereits eingereichten „Milchkuh-Initiative“ so weit erfüllt. Die auto-partei.ch wird sich beim allfälligen Abstimmungskampf hinter diese Forderung stellen. Die auto-partei.ch bedauert, dass sich nicht ausreichend Strassenbenützer hinter ihre berechtigten Forderungen gestellt haben. Offensichtlich ist der Leidensdruck noch nicht gross genug. 6 Volksinitiativen 2014 Zustande gekommen • 'Für ein bedingungsloses Grundeinkommen' • 'Pro Service public' • 'Für eine sichere und wirtschaftliche Stromversorgung (Stromeffizienz-Initiative)' • 'Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV (Erbschaftssteuerreform)' • 'Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative)' • 'Energie- statt Mehrwertsteuer' • 'Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomausstiegsinitiative)' • 'Familien stärken! Steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen' 'Ja zum Schutz der Privatsphäre' • 'Für Ernährungssicherheit' • 'Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln!' • 'Für eine faire Verkehrsfinanzierung' • 'AHVplus: für eine starke AHV' • 'Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule' 7 Symbolbild: Bedingungsloses Grundeinkommen Volksinitiativen 2014 Abgestimmt Abgestimmt am 09.02.2014 • 'Gegen Masseneinwanderung' • 'Abtreibung ist Privatsaceh' Abgestimmt am 18.05.2014 • 'Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)' • 'Pädophilen-Initiative' Abgestimmt am 28.09.2014 • 'Für eine öffentliche Krankenkasse' • 'MwSt.-Initiative' Abgestimmt am 30.11.2014 • 'Rettet unser Schweizer Gold (Gold-Initiative)' • 'Stopp der Überbevölkerung - zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen' • 'Schluss mit den Steuerprivilegien für Millionäre (Abschaffung der Pauschalbesteuerung)' 8 Wirkungsanalyse der auf das politische System der Schweiz 1. These "Inputs": Volksrechte sind eine Form der erweiterten Partizipation(smöglichkeiten) in der klassischen Wahldemokratie. Sie erhöhen die Zahl der Akteure, die Themen setzen können, über die politischen Parteien hinaus. 2. These "Throughputs": Volksrechte schwächen Regierung und Parlament, haben ambivalente Wirkungen auf Parteien und Bewegungen und stärken den Einfluss von Verbänden und Einzelpersonen. Volksrechte befördern die Notwendigkeit von Instrumenten der Kompromissbildung auf Regierungsebene, erschweren diese aber neuerdings. 3. These "Outputs": Volksrechte beeinflussen Politikinhalte; das Referendum bremst den Wandel und trägt zu Stabilität bei; die Volksinitiative beschleunigt Innovationen und trägt zur Entwicklung bei. 4. These "Outcomes": Das Referendum hält die Staatsausgaben und die Steuern niedrig und verringerte die Verschuldung. Die Volksinitiative zeigt kaum eindeutige und messbare Effekte. 5. These Impacts Ökonomie": Das Referendum befördert die Wirtschaftskraft und verringert die Arbeitslosigkeit. Die Volksinitiativen kennt keine eindeutigen Effekte. 6. These: "Impacts Gesellschaft": Die Volksrechte wirken positiv auf die Demokratiezufriedenheit; sie befördern das gesellschaftlichen Engagement und die soziale Integration. Allerdings bieten sie nicht genügenden Schutz für sozial marginalisierte Minderheiten. Quelle: Vatter 2013, eigene Zusammenfassung 9 Input-These Volksrechte sind eine Form der erweiterten Partizipation(smöglichkeiten) in der klassischen Wahldemokratie. Sie erhöhen die Zahl der Akteure, die Themen setzen können, über die politischen Parteien hinaus. Quelle: Vatter 2013, eigene Zusammenfassung 10 Träger von Volksinitiativen Parteien 11 Andere: Verbände, Formen, Bewegungen, Einzelfiguren Throughput-These Volksrechte schwächen Regierung und Parlament, haben ambivalente Wirkungen auf Parteien und Bewegungen und stärken den Einfluss von Verbänden und Einzelpersonen. Volksrechte befördern die Notwendigkeit von Instrumenten der Kompromissbildung auf Regierungsebene, erschweren diese aber neuerdings. Quelle: Vatter 2013, eigene Zusammenfassung 12 Historische Veränderung des politischen Systems hin zur Konsensdemokratie (1848-2010) Föderalistische Struktur aus dem 19. Jahrhundert • • • • Bundesstaat (1848) Zweikammersystem (1848) Ständemehr (1848) Volksrechte mit doppeltem Mehr (1874/1891) Konsensuale Kultur aus dem 20. Jahrhundert • Korporatismus (1914) • Verhältniswahlrecht NR/Mehrparteiensystem (1919) • Bürgerl. Mehrparteienregierung (1929) • Sozialpartnerschaft (1937) • Allparteienregierung (1943/1959) Quelle: Vatter (2014) 13 Die Fälle häufen sich anteilsmässig nicht. 14 Direkte und indirekte Wirkungen von Volksinitiativen Von den eingereichten und abgelehnten Volksinitiativen führen… • 14 % zu einem direkten Gegenvorschlag auf Verfassungsebene • 39 % zu einem indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesebene • mehr als die Hälfte der Volksinitiativen, die abgelehnt werden, zeigen Wirkungen • in einem knappen Drittel kann von einem weitgehenden Erfolg der Initianten auf legislatorischer Ebene gesprochen werden, in gut einem Drittel von einem mittleren und im letzten Drittel von einem kleinen. Quelle: Gabriella Rohner, Die Wirksamkeit von Volksinitiativen im Bund, Diss., Zürich 2013 15 Die Konkordanz-These 16 Output-These Volksrechte beeinflussen Politikinhalte; das Referendum bremst den Wandel und trägt zu Stabilität bei; die Volksinitiative beschleunigt Innovationen und trägt zur Entwicklung bei. Quelle: Vatter 2013, eigene Zusammenfassung 17 Zunehmende Zahl an Initiativen mit zunehmendem Erfolg 18 Bereich mit beschleunigtem Policy Wandel Konflikte mit Elite/Basis-Konflikten bei Volksentscheidungen zu Initiativen sind Ausdruck eine Policy Wandels. Es gilt drei Bereiche speziell zu beachten: • ökologisch: Wachstum belastet Umwelt/nachhaltige Entwicklung (Zweitwohnungsbau, Alpen-Initiative, Rothenturm-Initiative) • kulturell: Sozialer Wandel in Konflikt mit Werthaltungen (Abzocker, Ausschaffung, Minarett) und/oder Ordnungsvorstellungen (Pädophilie, Unverjährbarkeit, Verwahrung) • ökonomisch: Vor- und Nachteile marktwirtschaftlicher Lösungen sind ungleich verteilt (Masseneinwanderung, gentechfreie Landwirtschaft) 19 Konfliktanalyse angenommene Volksinitiativen Quelle: gfs.bern, VOX-Jahresbericht 2013 20 Konfliktanalyse angenommene Volksinitiativen 21 Mittlere Zustimmung zu Volksinitiativen nach Regierungsvertrauen/misstrauen 22 Mittlere Zustimmung zu rechten Volksinitiativen nach Raumbezügen 23 Mittlere Zustimmung zu rechten Volksinitiativen nach soziale Schicht 24 Die Schweiz im Zeitalter der Globalisierung: Konflikttypologie nach Caramani Postindustrielle Gesellschaften • Globalisierung/Internationalisierung/Europäisierung (Öffnen/Verschliessen resp. Inklusion/Exklusion) • Postmaterialismus/Selbstentfaltung (Nachmaterialismus/Materialismus) Industrielle Gesellschaften • Industrialisierung (Arbeiterschaft/Bürgertum) • Marktöffnung (Bürgertum/Bauerntum) Vormoderne/Moderne Gesellschaften • Französische Revolution (Staat/Kirche) • Reformation (Zentrum/Peripherie) Quelle: Caramani 25 Impact-These Die Volksrechte wirken positiv auf die Demokratiezufriedenheit; sie befördern das gesellschaftlichen Engagement und die soziale Integration. Allerdings bieten sie nicht genügenden Schutz für sozial marginalisierte Minderheiten. Quelle: Vatter 2013, eigene Zusammenfassung 26 Volksrechte machen zufrieden Bruno Frey, Ökonom und Glücksforscher: • Weist in verschiedenen Studien darauf hin, dass die politische Mitbestimmung auf nationaler, kantonaler und Gemeindeebene eine wichtige Rolle spielt für die Zufriedenheit der Menschen, die im Lande wohnen. • Die direkte Demokratie auch im 21. Jahrhundert sehr wichtig: direkte Demokratie nicht nur leistungsfähiger, sondern macht die Leute auch zufriedener, als in anderen Ländern. • Nicht zu viel Gewicht die eher geringe politische Teilnahme => Entscheidend ist, dass die Leute sich beteiligen können, wenn sie es wichtig finden. Möglichkeit zur institutionalisierten, zivilen Beteiligung am politischen Prozess muss vorhanden sein. Aus Europa-Magazin (online) 27 Schweiz mit höchstem und steigendem Regierungsvertrauen Institutionenvertrauen 28 Personenvertrauen Reformbedarf? 29 Postulat Vogler: Qualitätssicherung Postulat Vogler (2014) • Bern Der Bundesrat wagt sich auf politisch heikles Territorium vor: Er will einen Bericht über die Zukunft der eidgenössischen Volksinitiative verfassen. Die Regierung sieht darin «eine Chance, um eine mittel- bis langfristige Diskussion» über die Volksinitiative zu entfachen. Konkret soll der Bericht die Voraussetzungen und die Behandlung von Initiativen sowie mögliche «Qualitätssicherungs-Mechanismen» erörtern. • Den Bericht angeregt hat der Obwaldner CSP-Nationalrat Karl Vogler mit einem Postulat. Voglers Motiv ist die Flut von Initiativen, die die Politik derzeit überschwemmen. Nach Voglers Einschätzung werden Initiativen immer häufiger «aus parteipolitischen Kalkül lanciert»; das sei nicht der Sinn. Deshalb hatte Vogler in seinem Postulat konkret eine Auslegeordnung über «limitierende Mechanismen» und höhere Hürden gefordert. Die Initiative als solche wolle er aber keinesfalls in Frage stellen. • Dass die Forderung nach höheren Hürden im derzeitigen politischen Klima heikel ist, war man sich im Bundeshaus bewusst. Erst drei Monate ist es her, dass die Bundeskanzlei stark kritisiert wurde, weil sie eine Expertengruppe damit beauftragt hatte, sich Gedanken über mögliche Reformen der Volksrechte zu machen. • Entsprechend lange brauchte die Regierung, um sich nur schon dazu durchzuringen, Voglers Postulat anzunehmen: Statt drei wie vorgesehen brauchte sie zehn Monate für die Antwort. Auch im Wortlaut der Antwort ist die Vorsicht mit Händen greifbar. So hält der Bundesrat fest, dass die Annahme des Postulats nicht bedeute müsse, dass er auch höhere Hürden befürworte. Ziel des Berichts sei die «Wahrung und Optimierung des Initiativrechts». Quelle: NZZ 30 Reformdebatte 1 31 Reformdebatte 2 • Position von Dieter Freiburghaus, Politologe/Europa-Experte • "Wir werden die Volksrechte kaum einschränken wollen oder können, denn dazu bräuchte es Mehrheiten von Volk und Ständen." • Wiederherstellung des Vertrauens zwischen dem Volk und der politischen Elite als einziger Weg • Angst vor Populismus hilft nicht • Re-Etablierung der guten alten Konkordanz (Ausdruck des Vertrauens innerhalb der classe politique) zwingend • Bundesrat, Regierungsparteien, Politikerinnen und Politiker wie auch die Medien sind gefordert • "Das sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das weitere Gedeihen der direkten Demokratie. Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass die aktuellen Trends solchen Forderungen zuwider laufen. Die Not wird wesentlich wachsen müssen, damit das Rettende sich einstellt." Quelle: NZZ am Sonntag 32 Diskussionsfolie 33 Auf Wiedersehen und danke für Ihre Aufmerksamkeit www.gfsbern.ch Claude Longchamp gfs.bern Verwaltungsratspräsident und Institutsleiter gfs.bern Lehrbeauftragter der Universitäten SG, ZH und BE [email protected] 34