Elite-Basis-Konflikte

Werbung
Elite-Basis-Konflikte
Was ist Sache und was sind die Gründe?
Input-Referat von Claude Longchamp im Rahmen des 17. Wirtschaftsforums Südostschweiz
am 5. September in Chur zum Thema "Die Kluft zwischen Volk und Behörden – Auswege
aus der Sackgasse"
Referat von Claude Longchamp,
Institutsleiter gfs.bern,
Lehrbeauftragter an den
Universitäten Bern, Zürich
und St. Gallen,
© gfs.bern, September 2014
Aus dem Programm des Wirtschaftsforums
"Abzockerinitiative,
Masseneinwanderungsinitiative,
Zweitwohnungsinitiative,
Bündner Olympiapläne,
Anti-Kohle-Initiative.
Die Fälle häufen sich, in denen sich das Volk dezidiert
gegen die Empfehlungen von Behörden und politischen
Establishment ausspricht."
2
Die Fälle häufen sich anteilsmässig nicht.
Quelle: Handbuch der Schweizer Politik (Knoepfel et al., 2014), Seite 500.
3
Befund nicht generalisierbar, dafür aber spezifizierbar
Quelle: Handbuch der Schweizer Politik (Knoepfel et al., 2014), Seite 501.
4
Dennoch: Es gibt Elite-Basis-Konflikte
• Elite: Entscheidungsträger (Behörden wie Regierung und
Parlament)
• Basis: Stimmberechtigte (Abstimmungsergebnisse,
Einstellungen)
• Konflikte: Unterschiede zwischen Elite und Basis
(unterschiedliche Mehrheiten, starke Differenzen in
Positionen/Einstellungen)
5
Neuralgische Bereiche
Quelle: Handbuch der Schweizer Politik
(Knoepfel et al., 2014), Seite 499.
6
3 Problembereiche
•
Probleme mit Referenden

•
Probleme mit Volksinitiativen

•
These "Das Politikdefizit": Volksinitiativen haben eine Sensibilisierungsfunktion
gegenüber den Behörden. Diese überschätzen den Globalisierungskonflikt generell in
seinen ökologischen, kulturellen und ökonomischen Facetten.
Probleme mit Konsens/Dissens

7
These "Das Kommunikationsdefizit": Regierungen informieren die Parlamente in
der Regel verstärkt (Botschaften, Kommissionen, spezielle Berichte, Rede und
Antwort im Plenum) nicht aber die Stimmberechtigten  besonders bei
Behördenvorlagen ein Problem.
These "Das Konkordanzdefizit": Vor allem Parlamente, neuerdings aber auch
Regierungs(mitglieder) treten bei Referenden und Volksinitiativen weniger
geschlossener auf. Sie reflektieren damit die gesellschaftlichen Entwicklungen,
erschweren aber die gerichtete Meinungsbildung bei Volksabstimmungen.
Die Kommunikationsthese
• Mehr Kommunikation der Behörden vor
Volksabstimmungen ist nötig.
• Auf Bundesebene wurde der Wandel in den 90er Jahren
vollzogen.
• Die meisten Kanton halten sich bisher in aller Regel
zurück.
• Das ist, je nach Situation, keine angemessene Position
mehr.
8
Zur Notwendigkeit der Kampagnenkommunikation
durch Behörden (insbesondere bei Referenden)
• prädisponierte Volksmeinung wie
Behördenentscheidung: meist kein Problem,
Übereinstimmung stellt auch mit geringem
Kommunikationsaufwand ein.
• nicht prädisponierte Volksmeinung: Problem stellt sich ein,
wenn Parteien, Komitees, Meiden kurzfristig Opposition
betreiben.
• prädisponierte Volksmeinung gegen
Behördenentscheidung: an sich problematisch, kann nur
langfristig, parallel zur behördlichen Willensbildung
angegangen werden.
9
Die Kommunikationsthese
Typische Beispiele auf Bundesebene
nicht oder nur beschränkt prädisponiert,
Annahme
Negativ prädisponiert, Ablehnung
Trend Stimmabsicht Verzicht auf allgemeine Volksinitiative
Abstimmungsergebnis im Vergleich
Trend Filter Persönliche Stimmabsicht an Abstimmung vom
17. Juni 2012: "Änderung KVG (Managed Care)"
"Ganz unabhängig davon, wie sicher Sie sind, dass Sie an dieser Volksabstimmung teilnehmen würden: Wenn
morgen schon über den Verzicht auf die Einführung der allgemeinen Volksinitiative abgestimmt würde, wären
Sie dann bestimmt dafür, eher dafür, eher dagegen oder bestimmt dagegen?"
"Wenn morgen schon über die 'Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung' abgestimmt
würde, wären Sie dann bestimmt dafür, eher dafür, eher dagegen oder bestimmt dagegen?"
in % Stimmberechtigter, die bestimmt teilnehmen wollen/Endergebnis
in % Stimmberechtigter, die bestimmt teilnehmen wollen/Endergebnis
bestimmt dagegen
18
25
22
32
35
14
eher dagegen
15
bestimmt dagegen
61.3
22
23
weiss nicht/keine
Antwort
39
21
11
13
38.7
bestimmt dafür
bestimmt dafür
12
16
8
Sep 09
27. Sep 09
© gfs.bern/BfS, Abstimmung Zusatzfinanzierung IV und Verzicht allgemeine Volksinitiative vom 27. September 2009 im Trend
2. Welle, September 2009 (n = ca. 650)
10
eher dafür
14
eher dafür
13
Aug 09
weiss nicht/keine Antwort
23
41
68
eher dagegen
01. Mai 2012
15
29. Mai 2012
17. Juni 2012
© SRG-Trend/gfs.bern, Abstimmung vom 17. Juni 2012 im Trend, 2. Welle, 25. Mai. - 02. Juni 2012 (n = 801)/Endergebnis
Zwischenbilanz zur Kommunikationsthese
•
Die Legitimation der Behördenkommunikation ist durch die
Parlamentsentscheidung gegeben, sie ist nicht in jedem Fall nötig,
unter bestimmten Bedingungen aber sinnvoll:
• Vor allem Entscheidungen, die in der stimmberechtigten Bevölkerung
nicht oder nur beschränkt prädisponiert sind, können durch aktive
Behördenkommunikation zugunsten des Behördenstandpunktes beeinflusst
werden. Behördenkommunikation ist da unbestritten.
• Bei negativ prädisponierten Vorlagen sind die Kommunikationswirkungen
in aller Regel selbst bei aktiver Behördenkommunikation gering, weil trotz
parlamentarischer Mehrheit kein hinreichender Konsens möglich ist.
Behördenkommunikation ist da auch umstritten.
11
Die Politikdefizit-These
Behörden-Positionen müssen nicht immer identisch sein, mit der
vorherrschenden Bevölkerungsmeinung. Wenn sie abweichen, bedürfen
sie des gegenseitigen Dialogs. Stimmberechtigten können von Behörden
lernen, Behörden können aber auch von Stimmberechtigten lernen.
Die Problematik besteht auf Bundes- und Kantonsebene gleichermassen.
Das ganze muss als Konfliktsituation begriffen werden, bei der es
Lernprozesse braucht, verbunden mit einer wechselseitigen politischen
Annäherung.
12
Zunehmende Zahl an Initiativen mit zunehmendem
Erfolg
13
Funktionen der Volksinitiative
•
Ventilfunktion: VI dienen dem Abbau politischer oder gesellschaftlicher Spannungen
•
Agenda-Funktion: VI dienen parlamentarischen Minderheiten via via
Volksentscheiden ihre Agenda zu verfolgen.
•
Schwungradfunktion: VI als Verhandlungspfand, um Behörden zu einem direkten
oder indirekten Gegenvorschlag zu veranlassen
•
Mobilisierungsfunktion: VI zur Inszenierung von Parteien vor Wahlen, um eigene
Wählerschaft zu motivieren
•
Katalysatorfunktion: VI zur Sensibilisierung der Behörden für neue politische
Tendenzen/Themen
Erweiterte Darstellung nach Linder 1999, Vatter 2013
14
15
2014 (Pädophilie)
50.6
2014 (Masseneinwanderung)
2013 (Abzockerinitiative)
53.8 52.9
2012 (Zweitwohnungsinitiative)
2011
51.9
2010 (Ausschaffungsinitiative)
56.2 55.7
2009 (Minarett-Initiative)
51.9
2008 (Unverjährbarkeit)
2007
2006
2005 (gentechfreie
Landwirtschaft)
2004 (Verwahrungsinitiative)
2003
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994 (Alpen-Initiative)
Die Politikdefizit-These
zeitliche Darstellung
Ja-Stimmen in %
68.0
63.5
50.3
Der Globalisierungskonflikte
Konflikte, die ihre Ursache in der Globalisierung der Schweiz haben,
nehmen zu, und Differenzen zwischen Eliten und Basis werden
gerade hier häufiger. Es gilt drei Bereiche speziell zu beachten:
•
ökologisch: Wachstum belastet Umwelt/nachhaltige Entwicklung
(Zweitwohnungsbau, Alpen-Initiative, Rothenturm-Initiative)
•
kulturell: Sozialer Wandel in Konflikt mit Werthaltungen (Abzocker,
Ausschaffung, Minarett) und/oder Ordnungsvorstellungen (Pädophilie,
Unverjährbarkeit, Verwahrung)
•
ökonomisch: Vor- und Nachteile marktwirtschaftlicher Lösungen sind
ungleich verteilt (Masseneinwanderung, gentechfreie Landwirtschaft)
16
Zwischenbilanz zum Politikdefizit
•
Verschiedene Volksinitiativen der letzten 20 Jahre hatten sehr wohl
Katalysatoren-Funktion, indem sie Behörden frühzeitig auf kommende
Probleme aufmerksam gemacht haben. Insgesamt kennen
nationalistische und umweltschützerische Forderungen eine erhöhte
Zustimmung.
•
Abstrakter gesprochen gibt es heute verschiedenartige
Globalisierungskonflikte, und zwar mit Blick auf neue(re) ökologische,
kulturelle und wirtschaftliche Probleme. Dabei geht es um mehr
vernachlässigte Nachhaltigkeit, bedrohte Werte und Normen sowie
ökonomische Verteilfragen zwischen Binnen- und Aussenwirtschaft.
•
Um weitere Kollisionen zu vermeiden, braucht es hier wechselseitige
Lernprozesse.
17
Die Konkordanzthese
Die Wirkungen der Konkordanz sind in vielerlei Hinsicht nachlassend.
Die Regierungszusammensetzungen sind flexibler geworden. Damit ist die
Grenzziehung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien schwieriger
geworden.
Der Verzicht auf Volksrechte, insbesondere durch Regierungsparteien ist
nicht mehr durchsetzbar. Volksinitiativen werden von Regierungsparteien
lanciert, gerade um Konsensentscheidung zu unterlaufen.
Klar sichtbare Umkehrtendenzen gibt es gegenwärtig nicht. Einzig
umstritten ist, ob sich die Polarisierung fortsetzt oder durch wechselnde
Mehrheiten innerhalb der Konkordanz ersetzt werden kann.
18
Die Konkordanzthese
schwindender Konsens & steigender Dissens unter
Regierungs-parteien
Quelle: Vatter (2014): Das politische System der Schweiz.
Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft (Seite 535)
19
Retardierende Wirkungen des Wahlrechts
Typisierung des Parteiensystems
(nach Vatter 2013 adaptiert)
Kantone
Mehrparteien,
polarisiert
Mehrparteien,
gemässigt
4
Parteien,
stabil
3
Parteien,
rechts
BS, SH,
NE, GE
ZH, BE,
BL, AG,
VD
LU, UR,
GL, FR,
SO, SG,
TG, TI, JU,
GR (seit
2008)
SZ, OW,
NW, ZG,
GR (bis
2008), VS
mittel
gering
Fragmentierung
hoch
Volatilität
hoch
mittel bis
hoch
gering bis
mittel
gering bis
mittel
Polarisierung
Hoch
mittel bis
hoch
Mittel
gering
Positionierung
Links
(ausser
SH)
Mitte
Mitte bis
rechts
20
hoch
Mitte bis
rechts
Spezifikationen für den
Kanton Graubünden
Partei
in % der Mandate
bei Kreiswahlen
2010 (Majorz)
in % Wähleranteile
bei NR-Wahlen 2011
(Proporz, inkl.
Listenverbindungen
CVP
27.50%
16.63%
FDP
31.67%
11.90%
BDP
21.67%
20.46%
SVP
3.33%
24.49%
SP
10.0%
15.61%
GLP
1.76%
8.25%
Parteilos
4.17%
-
Verda
-
2.16%
EDU
-
0.51%
Quelle: Töndury (2012): Die "Proporzinitiative 2014" im
Kanton Graubünden.
Zwischenbilanz zur Konkordanzthese
Die schweizerische Gesellschaft ist mehrfach in Bewegung geraten. Die Politik der
abgegrenzten Milieus wird durch eine Pluralisierung von Lebenswelten abgelöst.
Auf politischer Ebene zeichnet sich das durch eine Diversifizierung und
Polarisierung des Parteiensystems aus. Wo das nicht der Fall ist, kann es auch
sein, dass das Wahlrecht diese Entwicklung aufhält, mit dem Effekt, dass sich
Opposition vermehrt in Volksabstimmungen ausdrückt.
Politik hat sich auf eine veränderte Rolle der Parteien und Medien in der
Meinungsbildung vor Volksabstimmungen einzustellen. Entweder kann die grosse
Konkordanz wieder gestärkt werden oder aber Modelle der Alternanz als politisches
System setzen sich mittelfristig durch. Unter diesen Umständen wird eine Reform
der Volksrechte erschwert, wohl aber unausweichlich sein. Denn ein Regierungsund Oppositionssystem mit ausgebauter direkter Demokratie dürfte politische
Stabilität auf Dauer nicht garantieren können.
21
Auf Wiedersehen und danke für Ihre Aufmerksamkeit
www.gfsbern.ch
Claude Longchamp
gfs.bern
Verwaltungsratspräsident und
Institutsleiter gfs.bern
Lehrbeauftragter der Universitäten SG, ZH
und BE
[email protected]
22
Herunterladen