Städtische Identität als kommunikative Konstruktion.

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Reihe Soziologie
Sociological Series
Städtische Identität als
kommunikative Konstruktion.
Theoretische Überlegungen und
empirische Analysen am Beispiel
von Dresden
Gabriela B. Christmann
57
Reihe Soziologie
Sociological Series
Städtische Identität als
kommunikative
Konstruktion.
Theoretische Überlegungen und
empirische Analysen am Beispiel
von Dresden
Gabriela B. Christmann
Oktober 2003
Institut für Höhere Studien (IHS), Wien
Institute for Advanced Studies, Vienna
Contact:
Gabriela B. Christmann
(: 0049/(0)351/463-37478
email: [email protected]
Founded in 1963 by two prominent Austrians living in exile – the sociologist Paul F. Lazarsfeld and the
economist Oskar Morgenstern – with the financial support from the Ford Foundation, the Austrian Federal
Ministry of Education, and the City of Vienna, the Institute for Advanced Studies (IHS) is the first institution
for postgraduate education and research in economics and the social sciences in Austria. The
Sociological Series presents research done at the Department of Sociology and aims to share „work in
progress“ in a timely way before formal publication. As usual, authors bear full responsibility for the content
of their contributions.
Das Institut für Höhere Studien (IHS) wurde im Jahr 1963 von zwei prominenten Exilösterreichern – dem
Soziologen Paul F. Lazarsfeld und dem Ökonomen Oskar Morgenstern – mit Hilfe der Ford-Stiftung, des
Österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und der Stadt Wien gegründet und ist somit die erste
nachuniversitäre Lehr- und Forschungsstätte für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Österreich.
Die Reihe Soziologie bietet Einblick in die Forschungsarbeit der Abteilung für Soziologie und verfolgt das
Ziel, abteilungsinterne Diskussionsbeiträge einer breiteren fachinternen Öffentlichkeit zugänglich zu
machen. Die inhaltliche Verantwortung für die veröffentlichten Beiträge liegt bei den Autoren und
Autorinnen.
Abstract
The author argues from the viewpoint of the sociology of knowledge: She sees the city as a
cultural phenomenon composed of physical and non-physical objectivations. Of course both,
the physical and non-physical objectivations, are mutually dependent. In this article, however,
non-physical objectivations of the ‘municipal culture’ are focussed, especially interpretations
that city dwellers have from their city. The ‘municipal identity’ of city dwellers is a part of the
‘municipal culture’. It consists of interpretations from the city to which the city dweller has a
relationship. ‘Municipal culture’ and ‘municipal identity’ are conceived as a communicative
construction. They have arised in history within communicative processes focused on the city
as such, and within communicative processes they up to now either get stabilized or
transformed. The author outlines the most important theoretical concepts of identity which are
discussed in the social sciences, and she presents results from an empirical case study which
was done in the city of Dresden with qualitative methods.
Zusammenfassung
Es wird hier die wissenssoziologische Position vertreten, dass eine Stadtkultur aus
immateriellen und materiellen Objektivierungen besteht, die aufeinander bezogen sind. Im
Beitrag werden vor allem immaterielle Objektivierungen, also Wirklichkeitsdeutungen von der
Stadt untersucht. Sie werden als Kerne der Stadtkultur aufgefasst. Städtische Identität wird als
ein Teil von Stadtkultur betrachtet. Bei städtischer Identität handelt es sich um
Wirklichkeitsdeutungen von der Stadt, zu denen sich der Bürger in Bezug setzt. Eine
Grundannahme des Beitrages ist, dass Stadtkultur und städtische Identität historisch in
kommunikativen Prozessen, und zwar in stadtbezogenen Diskursen innerhalb der
Lokalkommunikation entstanden sind. Sie sind im Laufe der Geschichte in kommunikativen
Vorgängen tradiert, d.h. teils stabilisiert und teils transformiert, worden. Im Beitrag werden
zentrale sozialwissenschaftliche Identitätskonzepte erläutert. Ferner werden ausgewählte
Ergebnisse von empirischen Analysen vorgestellt, die am Fallbeispiel der Stadt Dresden mit
qualitativen Methoden durchgeführt worden sind.
Keywords
Sociology of knowledge, social constructivism, urban sociology, identity, qualitative methods.
Schlagwörter
Wissenssoziologie, Sozialkonstruktivismus, Stadtsoziologie, Identität, qualitative Methoden.
Bemerkungen
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag am Institut für Höhere Studien im Rahmen des Sociology
Research Seminars am 27. Mai 2003.
Contents
1. Einleitung
1
2. Theoretische Grundlagen für eine (Er-)Klärung von Identität
1
3. Identität: Begriff, zentrale theoretische Konzepte, Formen von Identität
und der Beitrag der Medien bei der Konstruktion von Identität
7
3.1 Der Begriff
7
3.2 Zentrale theoretische Konzepte
7
3.3 Formen
9
3.4 Der Beitrag der Medien bei der Konstruktion von Identität
11
4. Zur Entwicklung von Stadtkultur und städtischer Identität
12
5. Die Dresden-Studie: Anlage der Untersuchung und zentrale Forschungsergebnisse
13
5.1 Fragestellung der Untersuchung, Art und Umfang des Datenmaterials
13
5.2 Typische Themen bei der Beschreibung Dresdens: Dresden-Topoi
14
5.3 Mentalitätsbeschreibungen von Dresdnern
17
5.4 Beschreibungen des Dresdner Stadtbezugs
19
6. Fazit
20
Literatur
20
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 1
1. Einleitung
Das Thema Identität ist schwierig, weil es sehr unterschiedliche Konzepte von Identität gibt. In
verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist man sich aber zumindest soweit einig,
dass man die Herausentwicklung von Identität in Abhängigkeit von den Gruppen sehen muss,
in denen sich das Individuum bewegt. Seit geraumer Zeit wird auch diskutiert, inwiefern
Massenmedien einen Beitrag zur Identitätsentwicklung von Bürgern leisten. Die massenmedial
unterstützte Konstitution vor allem von transnationalen, nationalen und regionalen Identitäten
stand dabei bislang im Vordergrund der Diskussion. Die Rolle der Medien für lokale oder
städtische Identitäten blieb hingegen unterbelichtet.
Im Folgenden soll ein theoretischer Rahmen für die Betrachtung von Stadtkultur und
städtischer Identität vorgeschlagen werden. Eine wesentliche Grundlage hierfür bildet die
sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie, so wie sie von Peter L. Berger und Thomas
Luckmann entwickelt und wie sie später von Thomas Luckmann und von Hubert Knoblauch
erweitert worden ist. Der Ansatz wird außerdem mit einem Diskurs-Konzept kombiniert, das
passungsfähig zu Berger/Luckmanns Wissenssoziologie ist und gewissermaßen als ‚zweite
Erweiterung’ betrachtet werden kann. Innerhalb dieses Diskurs-Konzeptes spielt der sozialwissenschaftliche Topik-Begriff eine zentrale Rolle. Überdies wird das Konzept des kommunikativen Gedächtnisses hinzugezogen, um vor diesem theoretischen Hintergrund den Begriff
der Kultur zu fassen und das Konzept der Identität anzuschließen. Abschließend werden
Ergebnisse aus einem Projekt über Stadtkultur und Stadtidentität am Beispiel von Dresden
vorgestellt.
2. Theoretische Grundlagen für eine (Er-) Klärung
von Identität
Gesellschaftliche Wirklichkeit ist nach Berger/Luckmann das Ergebnis eines dialektischen
Prozesses von Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung. Subjektiver Sinn wird
zunächst externalisiert. Über Objektivierung wird er für andere Subjekte zugänglich gemacht.
Sprache ist in der ursprünglichen Version des Ansatzes ein zentrales Element für die Objektivierung von Sinn. 1 Institutionalisierung und Legitimation sind weitere bedeutende Faktoren im
Prozess der Objektivierung. Sie werden großenteils über kommunikatives Handeln bewerkstelligt und führen zu einer Verstetigung und Absicherung von Wirklichkeitskonstruktionen. Die objektivierten, institutionalisierten und legitimierten Wirklichkeitskonstruktionen
1
Vgl. Berger/Luckmann (1987, S. 69).
2 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
stehen dem Individuum in verdinglichter Form gegenüber und wirken durch Internalisierung
auf das Individuum zurück. Luckmann formuliert hierzu:
„Sobald eine Weltsicht gesellschaftlich verfestigt wird, stellt sie für den Einzelnen ein
zwingendes System von Auslegungen dar, das er sich innerlich aneignet. So erlangt die
Weltsicht die Objektivität einer kulturellen Norm, die von jedem normalen,
ernstzunehmenden Partner geteilt wird.“2
Über Internalisierung wird das Individuum mit der Gesellschaft verklammert. Gesellschaftliche
Wirklichkeitskonstruktionen bilden den Hintergrund für die Entwicklung personaler Identität:
„Identität ist (...) ein Schlüssel zur subjektiven Wirklichkeit, und wie alle subjektive
Wirklichkeit steht sie in dialektischer Beziehung zur Gesellschaft. Sie wird in gesellschaftlichen Prozessen geformt. Ist sie erst einmal geformt, so wird sie wiederum
durch gesellschaftliche Beziehungen bewahrt, verändert oder sogar neu geformt. Die
gesellschaftlichen Prozesse, durch die sie geformt und bewahrt wird, sind durch die
Gesellschaftsstruktur determiniert.“3
Das schließt nicht aus, dass Individuen aufgrund des Zusammenspiels von Gesellschaft und
individuellem Bewusstsein auf die gesellschaftliche Struktur Einfluss nehmen, bzw. dass sie sie
ihrerseits bewahren, verändern oder sogar neu formen können.
Nun ist in der ursprünglichen Theoriekonstruktion von Berger/Luckmann das Element der
Kommunikation nicht besonders hervorgehoben worden. Nur über den Theoriebaustein der
‚Sprache’ waren kommunikative Akte repräsentiert. In der theoretischen Weiterentwicklung
durch Luckmann und Knoblauch ist an die Stelle der Sprache das übergreifende Element der
‚Kommunikation’ bzw. des ‚kommunikativen Handelns’ getreten. Primäre kommunikative
Handlungen werden demzufolge als „Elementarteilchen der gesellschaftlichen Konstruktion der
Wirklichkeit“ betrachtet. 4 Auch Schütz war sich der Bedeutung von Kommunikation bewusst:
„Jedes sozial erworbene Wissen setzt Kommunikation voraus, und dies ist nur in der
menschlichen Interaktion möglich“.5 Knoblauch leitet daraus ab, dass Schütz „einen ausgeprägt kommunikativen Kulturbegriff“ vertrat. 6 In Knoblauchs theoretischem Entwurf wird die
analytische Trennung zwischen Wissen und Handeln wie auch zwischen Kultur und Ge-
2
3
4
5
6
Vgl. Luckmann (1999, S. 23f.).
Berger/Luckmann (1987, S. 185).
Luckmann (1992, S. 7).
Schütz (1982, S. 123). Srubar (1988, S. 123) weist darauf hin, dass bei Schütz die Wirkensbeziehung der Ort ist,
„an dem die Schemata unserer Erfahrung ihre soziale Bestimmung und somit ihre intersubjektive Geltung erhalten.
Sinnsetzung und Sinndeutung sind also keine Vorgänge, die sich im Bewusstsein isolierter Ego-Monaden
vollziehen. Sie stehen vermittels sozialen Handelns - Wirkens miteinander in Zusammenhang und sind in interaktiv
bestimmte Erfahrungsschemata eingebunden.“
Knoblauch (1995, S. 77).
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 3
sellschaft aufgehoben. Kultur ist danach nicht nur ein kognitives Phänomen, sie besteht also
„nicht nur aus Wissen, sondern auch aus in kommunikativen Handlungen erzeugten Objektivierungen, die gewissermaßen eine Welt zwischen dem handelnden Subjekt und Alter Ego
bilden.“7
Ein Spezialfall kommunikativer Handlungen sind ‚Diskurse’. Der Begriff des ‚Diskurses’ bzw.
der ‚Diskursanalyse’ wird unterschiedlich verwendet. Hier wird das Diskurs-Konzept zugrunde
gelegt, wie es von Foucault entwickelt und wie es in neuerer Zeit von Keller und Knoblauch für
die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie adaptiert wurde. Keller nennt das adaptierte
Konzept explizit eine ‚wissenssoziologische Diskursanalyse’. Foucault hat in seinen Werken
„Archäologie des Wissens“ und „Die Ordnung des Diskurses“ beschrieben, wie über
diskursive Praktiken intersubjektiv geteilte Wissensordnungen entstehen. 8 Im Rahmen seiner
Analysen interessierte er sich dafür, wie Diskurse Machtordnungen erzeugen und wie gesellschaftliche Wissensbestände generiert, stabilisiert und transformiert werden. Unschwer
sind partielle Übereinstimmungen mit der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie zu
erkennen. Diskurse sind in Foucaults Konzeption allerdings mehr als bloße kommunikative
Handlungen. Ein Diskurs besteht aus einem ganzen Ensemble verschiedener kommunikativer
Handlungen, die thematisch in Beziehung zueinander stehen, bzw. miteinander verschränkt
sind. Über die aufeinander bezogenen kommunikativen Handlungen entstehen thematische
Bündelungen von Wissenselementen und Verknüpfungen von Wirklichkeitsdeutungen.
„Diskurse umfassen eine große Anzahl kommunikativer Aktivitäten, sie bedienen sich
verschiedenster Kanäle, sie verwenden unterschiedliche Muster und können in verschiedenen Formen der Öffentlichkeit inszeniert werden.“9
Das, was verschiedene kommunikative Vorgänge verbindet und zu einem Diskurs werden
lässt, sind typische Themen. Die Themen werden in der Kommunikation konstruiert, sie bilden
sich im Rahmen kommunikativer Vorgänge als ‚habitualisierte thematische Kristallisationen’
heraus. Knoblauch verweist in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit mit Topoi.
Topoi sind kommunikative Ausdrucksformen, die zwar in unterschiedlicher Gestalt verfestigt
worden sind, aber ähnliche Inhalte aufweisen. 10 Bei Aristoteles sind Topoi systematische
Zusammenfassungen von Argumenten, es sind Fundorte für Argumente. Anders gesagt: Ein
Topos ist ein Argumentationsreservoir. Entscheidend ist, wie das Phänomen der Topik von
sozialwissenschaftlichen Theoretikern konzeptualisiert worden ist. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive werden Topoi als überlieferte - in bestimmten sozialen Kreisen unterschiedlich ausfallende - Deutungsmodelle verstanden, die den Angehörigen dieser Kreise zur
7
8
9
10
Knoblauch (1995, S. 77).
Foucault (1974, 1981).
Knoblauch (2001, S. 214). Zur wissenssoziologischen Diskursanalyse siehe auch Keller (2001).
Knoblauch (2001, S. 220).
4 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
gesellschaftlichen Orientierung dienen. 11 Topoi bündeln die Erfahrungen von Mitgliedern
sozialer Kreise. Sie bestimmen, was in dem kulturellen Teilbereich, in dem sie auftreten, inhaltlich relevant ist. Topoi dürfen jedoch nicht mit Diskursen verwechselt werden. Topoi sind
lediglich thematische Kerne von Diskursen.
Wie sich bestimmte Themen historisch herausentwickeln, ist eine Sache. Eine andere Sache
ist es, wie diese Themen aktualisiert werden, wie sie sich in einer Kultur halten, bzw. wie sie
tradiert werden. Der theoretische Ansatz von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis
ist in diesem Zusammenhang insofern von Bedeutung, als hier betont wird, dass die Aktualisierung von historisch entstandenen Wissenselementen vom Sozialzusammen-hang abhängig ist. Nach Halbwachs12 sind Gedächtnis und Erinnerung keine individuellen, sondern
soziale Phänomene. Ohne Sozialzusammenhang kann das Individuum kein Gedächtnis ausbilden. Das Individuum erinnert stets vor dem Hintergrund der Erinnerungen der Gruppe.
Halbwachs weist allerdings darauf hin, dass das kollektive Gedächtnis dynamisch ist. Gruppen
rekonstruieren ihre Vergangenheit aus der Gegenwart heraus und formen sie immer wieder
neu. Halbwachs unterscheidet zwischen dem ‚kollektiven’ und dem ‚historischen Gedächtnis’.
Das ‚kollektive Gedächtnis’ umfasst das tradierte Wissen im lebendigen Gedächtnis der
Menschen. Jede Gruppe verfügt über einen spezifischen Bestand an Erinnerungen über ihre
Vergangenheit. Diese gemeinsam geteilten Erinnerungen sind für die Gruppe konstitutiv. Sie
geben ihr Bestand. Den Individuen des Gruppenzusammenhangs sind die geteilten
Erinnerungen eine wesentliche Grundlage für die Ausbildung von Identität. Demgegenüber
wird das ‚historische Gedächtnis’ von den Gelehrten betrieben und setzt nach Halbwachs dort
an, wo die Tradition aufhört. Es hat nach Halbwachs keine Funktion für die
Identitätssicherung.
Jan und Aleida Assmann nehmen den Begriff des ‚kollektiven Gedächtnisses’ von Halbwachs
als Oberbegriff und unterscheiden sodann zwischen dem ‚kommunikativen’ und dem
‚kulturellen Gedächtnis’. Das ‚kommunikative Gedächtnis’ entspricht in etwa dem ‚kollektiven
Gedächtnis’ von Halbwachs. Es beruht auf Alltagshandeln, ist sozial vermittelt, vergleichsweise
unstrukturiert, zeitlich begrenzt (reicht 80 bis 100 Jahre zurück) und an Individuen (als
Mitglieder eines Sozialzusammenhanges) gebunden. Auf der anderen Seite steht das
‚kulturelle Gedächtnis’, das in Form von Bauwerken, ganzen Städten, Texten, Bildern, Mythen
aber auch Riten kulturell objektiviert ist. Nach Assmann/Assmann können Individuen nur aus
dem ‚kommunikativen Gedächtnis’ Identität beziehen. Denn: „Aus den Erinnerungen-als-Daten
(aus dem Abstellgut der Dachkammer) entsteht noch keine persönliche Identität, diese entsteht
erst
aus
den
Erinnerungen-als-Symbolen.“13
Die
starre
Trennung
zwischen
dem
‚kommunikativen Gedächtnis’ einerseits und dem ‚kulturellen Gedächtnis’ andererseits wirft die
11
12
13
Negt (1972, S. 182).
Vgl. Halbwachs (1966; 1985).
Aleida Assmann (1995, S. 180).
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 5
Frage auf, wie diese Gedächtnisformen miteinander in Kontakt treten, wie sie sich gegenseitig
speisen können. Das Konzept von Knoblauch14 bietet eine Lösung für diese Problematik.
Kommunikatives Handeln wird hier als zentrales Element eingeführt. Knoblauch greift die
Bezeichnung des ‚kommunikativen Gedächtnisses’ auf, konzipiert den Begriff jedoch anders,
als Assmann/Assmann dies tun. Er weist zunächst darauf hin, dass Erinnerungen durch
kommunikatives Handeln objektiviert werden. Die durch Kommunikation objektivierten
Erinnerungen werden anderen zugänglich gemacht. Neben subjektiven Erinnerungen erlangt
das Individuum zu einem großen Teil Erinnerungen, die sozial abgeleitet, bzw. kommunikativ
vermittelt sind. Bei der kommunikativen Vermittlung von Erinnerungen spielen auch Medien
eine Rolle, die ihrerseits verschiedene kommunikative Formen der Vermittlung ausbilden.
Medieninhalte, die bei Assmann/Assmann dem ‚Speicher-’ bzw. dem ‚kulturellen Gedächtnis’
zugeordnet werden und vom ‚kommunikativen Gedächtnis’ getrennt sind, werden in
Knoblauchs Konzept über kommunikative Vorgänge ins ‚kommunikative Gedächtnis’ integriert.
Die Parallelen zum theoretischen Ansatz der ‚kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit’
sind nicht zu übersehen. Gedächtnis wird hier als eine kommunikative Konstruktion konzipiert.
Gedächtnis ist ein in kommunikativen Vorgängen erlangtes Wissen. Genauer: Das Gedächtnis
besteht aus - kommunikativ konstruierten - Wirklichkeitsdeutungen, die auf die Vergangenheit
bezogen sind.
Gedächtnis ist nun seinerseits eine wichtige Grundlage für die Herausbildung und
Aufrechterhaltung einer Kultur. Nach Assmann/Assmann leitet sich Kultur aus Gedächtnis ab,
denn ohne Gedächtnis ist keine Tradition von Bedeutungszuschreibungen möglich.
Gedächtnis ist „Ursprung und Fundament der Kultur“.15 Dies ist unbestritten. Es wäre jedoch
besser zu sagen: Gedächtnis ist eine wesentliche Voraussetzung für Kultur. Eine andere ist
kommunikatives Handeln, mit welchem Gedächtnis konstruiert wird. Kultur soll hier begriffen
werden als ein in (kommunikativen) Handlungen konstruiertes Gefüge von immateriellen und
materiellen Objektivierungen. Zu den eher immateriellen Objektivierungen gehören Sprache,
nonverbale Zeichen, Wissen, Werte, Normen, Moralvorstellungen und religiöse Vorstellungen
aber auch institutionalisierte Formen des sozialen Handelns (wie Bräuche, Rituale etc.) und
der sozialen Beziehungen (wie Hierarchien etc.). Zu den materiellen Objektivierungen im
engeren Sinne gehören Bekleidung, Gebrauchs- und Kunstgegenstände, Waffen, Technik,
Landschaftsgestaltung, Architektur, Denkmäler etc. Dazwischen stehen teils immaterielle und
teils materielle Objektivierungen, zu denen Institutionen bzw. Organisationen wie die Kirche,
das politische System, das Wirtschaftssystem, das Bildungssystem, das Mediensystem etc.
gehören. Kulturen sind Wandlungsprozessen ausgesetzt, sie können sich in Sub-Kulturen
ausdifferenzieren. Es ist charakteristisch für Kulturen und Sub-Kulturen, dass sie sich eine
jeweils spezifische Geschichte geben, auf die sie sich beziehen und aus der heraus sie sich
verstehen. Kulturen stehen im Kontext eines raum-zeitlichen Gefüges, das sie gestalten bzw.
14
15
Vgl. Knoblauch (1999a).
Assmann/Assmann (1993, S. 267).
6 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
kulturell überformen. Kultur ist zwar einerseits geformt durch Überliefertes bzw. Erinnertes,
d.h., sie ist ein historisches und soziales Erbe. Andererseits hat Kultur aber auch einen Einfluss darauf, was weiterhin erinnert wird. Es werden Erinnerungsmedien geschaffen, die in
einer spezifischen Weise erhalten und genutzt werden. Die Tradierung von Erinnerungen
geschieht in kommunikativen Vorgängen über verschiedene Institutionen wie etwa Familie,
Schule, Vereine, Verbände, Museen, Massenmedien etc. Eine Kultur kann eine spezifische
‚Erinnerungskultur’ entwickeln. Das Erinnern wird dabei strukturiert und institutionalisiert.
Manche Dinge werden für speicherungs-, erinnerungs- und tradierungsrelevant erachtet,
andere nicht. Über die Selektionsleistung des kommunikativen Gedächtnisses wird die sonst
kaum zu bewältigende Vielfalt von Wissenselementen reduziert. 16
Kulturen haben über (interpersonale und massenmediale) kommunikative Prozesse der Tradierung und Sozialisation eine prägende Kraft. Kulturen wirken also auf ihre Mitglieder zurück.
Oder wie Greverus es formuliert: Kultur ist eine „menschliche Schöpfung“, die Mitglieder der
Kultur sind „Geschöpfe der Kultur“.17 Kulturen können somit auch identitätsstiftend sein.
Kulturgeschichte und Identität hängen eng zusammen:
„Making history is a way of producing identity insofar as it produces a relation between
what has supposedly occurred in the past and the present state of affairs. The construction of a history is the construction of a meaningful universe of events and narratives for an individual or collectively defined subject.“18
Die Mitglieder einer Kultur beziehen aus der gemeinsam geteilten Vergangenheit Sinn, mit
dem sie sich verbinden können.
3. Identität: Begriff, zentrale theoretische Konzepte,
Formen von Identität und der Beitrag der Medien
bei der Konstruktion von Identität
3.1 Der Begriff
Der Begriff der ‚Identität’ ist schillernd. Er ist zum einen in den Alltagsgebrauch eingegangen
und wird dort mit großer Selbstverständlichkeit verwendet, ohne dass ein Klärungsbedarf
bestünde. Zum anderen steht der Begriff für eine inzwischen schon unübersehbar große Zahl
16
17
18
Hier liegt ein Unterschied zwischen Geschichte und Kultur. Geschichte versucht, möglichst vollständig die
Ereignisse zu erfassen. Kulturelle Tradition beschäftigt sich mit einem Ausschnitt aus der Geschichte. Vgl. Gauger
(1986, S. 12).
Greverus (1987, S. 73).
Friedman (1994, S. 118).
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 7
von theoretischen Konzepten, die zum Teil so verschieden sind, dass einige Forscher
vorgeschlagen haben, auf die Verwendung des Begriffs besser zu verzichten. Vor diesem
Hintergrund gibt es auch keine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition. Dem semantischen Gehalt nach beschreibt der Begriff ‚Identität’ zunächst einmal eine Relation. Er besagt,
dass Dinge miteinander übereinstimmen, dass sie gleich sind. In einigen philosophischen
Theorien wird ‚Identität’ als ein Gleich-Sein mit sich selbst definiert und ausschließlich aus
dem Ego abgeleitet. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist diese Annahme unhaltbar.
Identität leitet sich hier aus Gruppenzugehörigkeit ab, sie ist von Anfang in soziale
Interaktionen eingebunden.
3.2 Zentrale theoretische Konzepte
Im Folgenden sollen die wichtigsten interaktionistisch bzw. handlungstheoretisch fundierten
sozialwissenschaftlichen Konzepte zur Identitätskonstruktion vorgestellt und die wesentlichsten
Aspekte von Identität angesprochen werden.
William James hat in seinem Werk „The Principles of Psychology“ auf eine Dualität innerhalb
der Person hingewiesen. 19 Er sah zwei Anteile des ‚Selbst’: das ‚Me’ (auch ‚empirisches Ich’)
und das ‚I’ (auch ‚reines Ich’). Das ‚I’ bzw. das ‚reine Ego’ steht für den Subjekt-Anteil, für die
eigenen Erfahrungen des Individuums. Das ‚Me’ steht für den Objekt-Anteil, für die Erfahrungen der Anderen von diesem Individuum.
George Herbert Mead hat diese Unterscheidung aufgegriffen und wesentlich ausgearbeitet.
Das ‚Selbst’ (= Identität) eines Individuums beinhaltet nach Mead zwei Komponenten: Das ‚Me’
und das ‚I’.20 Das ‚Me’ entsteht, indem das Individuum Zuschreibungen, Erwartungen und
Haltungen seines Gruppenzusammenhangs verarbeitet. Das Individuum kann sich im Sinne
des ‚Looking Glass-Self’ nach Charles H. Cooley so sehen, wie andere es sehen. Das
Individuum löst bei anderen Reaktionen aus, nimmt deren Haltungen wahr, bezieht sie auf sich
und entwickelt so ein Selbstbild. Hierbei spielen nicht nur signifikante Andere (wie im Übrigen
auch bei Cooley) eine Rolle, sondern der so genannte ‚generalisierte Andere’. Das Individuum
antizipiert Reaktionen des ‚generalisierten Anderen’, der für die ganze organisierte
Gemeinschaft bzw. Gesellschaft steht. Im ‚Me’ sind die Verhaltenserwartungen der
gesellschaftlichen Umwelt integriert. Mead räumt in diesem Zusammenhang der Kommunikation eine zentrale Stellung ein. Das ‚I’ ist der subjektive Teil des Individuums. Es repräsentiert die persönlichen Bedürfnisse und Interessen des Subjekts. Das ‚I’ wird bei Mead deutlich
weniger behandelt.
19
20
James (1890).
Mead (1991).
8 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
Anselm Strauss sieht Identität zum einen in einem engen Zusammenhang mit Interaktionen in
einer Gruppe: „Gruppenleben ist um Kommunikation organisiert“.21 Identität stellt sich durch
die Kommunikation in der Gruppe her. Zum anderen führt Strauss Zugehörigkeit und Identität
wesentlich auf die gemeinsame Geschichte einer Gruppe zurück. Gruppen sind Produkte
ihrer Vergangenheit. Sie haben ein historisches Erbe und Erinnerung. Identität ruht auf
diesem Erbe auf, sie ist eingebettet in kollektive Erinnerung.
Lothar Krappmann geht im Unterschied zu Mead davon aus, dass Zuschreibungen und Erwartungen von anderen unter Umständen widersprüchlich sein und Deutungsprobleme mit
sich bringen können. 22 Das Individuum hat daher die Aufgabe, dieses Problem zu lösen.
Darüber hinaus muss es die Erwartungen der anderen in Einklang mit seinen eigenen
Bedürfnissen bringen. Identität wird bei Krappmann daher als eine - jeweils situationsspezifische, interpretierende, kreative - balancierende Anpassungsleistung verstanden.
Bei Berger/Luckmann ist - wie wir oben gesehen haben - Identität die Nahtstelle, an der Individuum und Gesellschaft verklammert sind. Identität steht danach in einem engen Verhältnis
zur Gesellschaft. Die Autoren machen deutlich, dass Identität kein statisches Phänomen ist,
sondern dass sie als Prozess zu denken ist, der Veränderungen impliziert. Thomas Luckmann
hat das Identitätskonzept in den Folgejahren ausgearbeitet. Luckmann holt weit aus und klärt
stammes- und gattungsgeschichtliche Grundlagen von Identität. Dazu gehören bestimmte
Körper- und Bewusstseinsstrukturen. Neben den phylogenetischen Voraussetzungen stehen
ontogenetische: Das Individuum steht in einer spezifischen biographischen Situation, in der
es sich über die Personen seines Sozialzusammenhanges erfährt. Auch in Luckmanns
Konzeption ist die biographische Entwicklung des Individuums in hohem Maße durch die
Geschichte einer Gesellschaft bzw. einer Gruppe bestimmt. Die spezifische Geschichte
schlägt sich in Sprache, Kultur und Sozialstruktur der Gesellschaft nieder. Insbesondere über
Sprache werden kulturelle Muster und gesellschaftliche Strukturen im Rahmen der
Sozialisation internalisiert. Die Ausbildung von Identität ist demzufolge abhängig von einem
sozio-historischen Apriori. In modernen Gesellschaften ergeben sich im Vergleich zu
archaischen Gesellschaften aufgrund der Mobilitätsprozesse, der Pluralisierung von
Weltauffassungen und der massenmedialen Wirklichkeitsangebote neue Möglichkeiten für die
Entwicklung von Identitäten. Die Konstruktion von Identität ist nicht mehr durch ein gesellschaftlich vorgegebenes Monopol der Weltauffassung bestimmt. Sie verlagert sich angesichts der Vielfalt von Weltauffassungen „in kleine Unternehmungen privater Hand“.23 Sie wird
zur Privatsache des Individuums. Das Individuum wählt aus dem Markt der Weltauffassungsangebote aus und stellt seine persönliche Identität zusammen.
21
22
23
Strauss (1968, S. 161).
Krappmann (1988).
Luckmann (1980, S. 19). Vgl. ferner Luckmann (1988; 1991).
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 9
So geht man heute allgemein davon aus, dass Identität in der modernen Gesellschaft ein
stetiger (Re-) Konstruktionsprozess ist, dass Identität immer wieder neu ausgehandelt werden
muss. Das Individuum kann verschiedenste Gruppenbezüge und somit mehrere Teilidentitäten
haben.
Im
Lebensverlauf
können
sich
Teilidentitäten
mit
wechselnden
Interak-
tionszusammenhängen ändern. Turkle hat am Beispiel von Internet-Nutzern gezeigt, dass die
Nutzer im Rahmen ihrer Netz-Aktivitäten sogar situativ unterschiedliche plurale Identitäten
haben können.
3.3 Formen
Im Folgenden soll nun geklärt werden, was man unter personaler und unter kollektiver Identität
versteht. Außerdem soll im Bereich der kollektiven Identität unterschieden werden zwischen
globaler bzw. supranationaler, nationaler, regionaler und lokaler Identität.
Personale Identität bezeichnet Eigenschaften des Individuums. Wie wir gesehen haben, lässt
sie sich - im Sinne von Mead - unterteilen in die persönliche Identität (das ‘I’) und die soziale
Identität (das ‘Me’). Die persönliche Identität (‘I’) beinhaltet idiosynkratische Eigenschaften
der Person. Die soziale Identität (‘Me’) umfasst Eigenschaften, die aus Gruppenzusammenhängen entstammen, die von der Gruppe zugeschrieben und vom Individuum übernommen
werden. Die soziale Identität der Person speist sich somit in der Regel aus mehreren verschiedenen kollektiven Identitäten. Vor dem Hintergrund bestimmter Gruppenzugehörigkeiten
identifiziert sich das Individuum mit Eigenschaften dieser Gruppen. Soziale Identität muss man
sich als eine Summe von Identitäten vorstellen. Bausinger schlägt vor, von einem „Integral der
Identifikationen zu sprechen, um die spezifische Kompositionsleistung anzudeuten“. Was
Bausinger als ‚Kompositionsleistung’ bezeichnet, haben andere mit Begriffen wie ‚PatchworkIdentität’, ‚multiple Identität’ oder ‚Bastelmentalität’ zum Ausdruck gebracht.
Im Unterschied zur personalen Identität, die an die Person gebunden ist, beschreibt die
kollektive Identität einen Sozialzusammenhang. Bei kollektiven Identitäten handelt es sich um
Konstrukte, die einem kulturellen Traditionszusammenhang entnommen werden. Kollektive
Identitäten ergeben sich in Gruppenzusammenhängen aus der Geschichte ihrer gemeinsamen
Handlungen. Es sind ‚Diskursformationen’, die mit den gesetzten Symbolsystemen von
Mitgliedern einer Kultur eng verbunden sind. Kollektive Identitäten werden in der Literatur
verschiedener Disziplinen breit behandelt. Es finden sich zahlreiche Beiträge zu globalen bzw.
supranationalen, nationalen und regionalen Identitäten, die im Folgenden knapp thematisiert
werden sollen. Deutlich unterrepräsentiert sind Beiträge zur lokalen bzw. städtischen Identität.
Daneben gibt es Arbeiten zur kollektiven Identität von Akteuren sozialer Bewegungen, von
Männern und Frauen (Geschlechtsidentität) und von Institutionen bzw. Organisationen
(Corporate Identity), auf die ich nicht eingehen werde.
10 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
Globale und supranationale Identität: Einige Autoren gehen davon aus, dass sich im Zuge
von Mediatisierung und Globalisierung klassische kollektive Identitäten auflösen. Es komme zur
Entstrukturierung einstiger Traditionszusammenhänge und zur Nivellierung der Kulturen.
Insbesondere nationale Identitäten würden durch - eine von den USA dominierte - medial
vermittelte Einheitskultur aufgeweicht. Es entwickle sich, so die Annahme, eine Einheitskultur
mit globalisierten Identitäten heraus. In dieser extremen Formulierung scheint dies fraglich. Es
gibt auch Gegenstimmen, die eine Herausentwicklung von zwar globalisierten, aber dennoch
pluralen Synkretismen unterschiedlicher Kulturen für wahrscheinlich halten. Hall geht zwar
davon aus, dass sich nationale Identitäten in der globalen Postmoderne auflösen. Gleichzeitig
werde jedoch ein Widerstand gegen die Globalisierung einsetzen, der lokale und partikulare
Identitäten stärkt. Gleichwohl werden an die Stelle nationaler Identitäten neue - hybride Identitäten treten.
Dass die Konstruktion von supranationalen Identitäten ein schwieriger Prozess ist, zeigen
Diskussionen um eine europäische Identität. Dort wird deutlich, dass nationale Identitäten
noch dominant sind.
Nationale Identität: Der Begriff der kollektiven Identität steht insbesondere dann, wenn er auf
Nationen oder Regionen bezogen wird, in einer gewissen Nähe zu dem, was man in der alten
Völkerpsychologie als ‚Mentalität’, ‚Wesenskunde’ oder ‚Stammeseigenschaft’ bezeichnet hat.
Nationen sind in Europa seit Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden. Die Ausbildung von
Nationalstaaten brachte eine Herausentwicklung von nationalen Identitäten mit sich. Es können
verschiedene Spielarten primordialer und konstruktivistischer Konzepte für die Erklärung
nationaler Identitätskonstitution unterschieden werden. Primordiale Konzepte begründen
Identität naturalistisch. Sie gehen davon aus, dass Ethnien von Natur aus mit bestimmten
biologischen Abstammungseigenschaften ausgestattet sind, derer sich die Mitglieder bewusst
werden.
Auf
diese
Weise
entwickeln
sich
aus
den
Abstammungsgemeinschaften
Kulturgemeinschaften. Demgegenüber stehen Konzepte, die von einer - interaktiven bzw.
kommunikativen - Konstruktion von Identität durch die Akteure selbst ausgehen. Abstammungsgemeinschaften werden hier nicht als reale, sondern als gedachte Gemeinschaften
angesehen. Konstruktivistische Konzepte werden von der Mehrheit der Wissenschaftler vertreten. Pelinka unterscheidet innerhalb des Phänomens der ‚nationalen Identität’ zwischen
zwei Dimensionen: der kulturellen und der politischen. Das heißt, das Individuum kann sich
mit Eigenschaften der ‚Kulturnation’ und mit Eigenschaften der ‚Staatsnation’ identifizieren.
Für die Konstruktion politischer Identitäten sind bestimmte Symbole und Rituale politischer
Kultur von Bedeutung. Dazu gehören unter anderem die Flagge, Denkmäler, Gedenktage,
politische Feiern, politische Ansprachen etc.
Regionale Identität: Region ist zwar ein Bezugspunkt für Identifikation, die Identifikation wird
aber nicht allein über den Raum hergestellt, sondern über Gruppenzugehörigkeiten, über die
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 11
Teilhabe am wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Leben der Region, über die
Vergegenwärtigung regionaler Geschichte und nicht zuletzt über biographische Erfahrungen.
Lokale Identität: René König stellt fest, dass die Bürger einer Stadt unabhängig von ihrer
sozialen Lage „ein ästhetisches Bild ihrer Stadtgemeinde im Kopf“ haben, „dem sie sich alle
mehr oder weniger verbunden fühlen“.24 Es seien vor allem Bauwerke, die eine herausragende symbolische Bedeutung hätten, und zwar zumeist historische Gebäude wie Kirchen,
Schlösser oder Rathäuser. Doch auch neue Städte weisen entsprechende Symbole auf. Der
Begriff der Identität wird in soziologischen Studien jedoch weniger im Zusammenhang mit
ganzen Städten, sondern vielmehr mit Stadtteilen und ‚Neighborhoods’ verwendet.
3.4 Der Beitrag der Medien bei der Konstruktion von Identität
Es sind vor allem die Arbeiten der Cultural Studies, die gezeigt haben, dass Medien kulturelle
Orientierungen vermitteln und dass sie Anteil an der Konstruktion und Rekonstruktion jeweils
spezifischer Kulturen haben. Massenmedien leisten zudem einen Beitrag zur Vermittlung und
Reaktivierung von Erinnerungen. Sie unterstützen das ‚kulturelle Gedächtnis’. Verschiedene
Untersuchungen zeigen auf, wie man sich über die Vergegenwärtigung nationaler geschichtlicher Ereignisse der gemeinsamen nationalen Kultur vergewissert. Und natürlich schreibt man
Massenmedien auch einen Anteil bei der Konstruktion von Identität zu.
Bei Robert Ezra Park25 finden wir beispielsweise die Annahme, dass Lokalzeitungen Beiträge
zur Entwicklung einer lokalen Kultur leisten. Janowitz26 hat in seiner Arbeit über „The Community Press in an Urban Setting“ erstmals die Hypothese von der ‚Integrationsfunktion’ der
Lokalpresse formuliert. Er konnte zeigen, dass Lokalzeitungen das Interesse an und die
Identifikation mit der Gemeinde stärken.
4. Zur Entwicklung von Stadtkultur und städtischer
Identität
Vor dem Hintergrund der oben erläuterten theoretischen Konzepte soll nun resümiert werden,
wie man die Herausentwicklung von Stadtkultur und städtischer Identität theoretisch fassen
kann.
24
25
26
König (1959, S. 22; 1965, S. 457).
Park (1922; 1972).
Janowitz (1952).
12 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
Grundsätzlich ist eine Stadt in den übergreifenden kulturellen Kontext der Region und der
Nation eingebunden. Diese kulturellen Kontexte haben Einfluss auf die Stadtentwicklung, und
zwar dort, wo herausragende nationale und regionale geschichtliche Ereignisse untrennbar
mit der Stadtgeschichte verbunden sind (z.B. technische, wirtschaftliche, politische, rechtliche
Entwicklungen etc.). Daneben stehen zu einem großen Teil ‚stadtinterne’ Entwicklungsprozesse. Im Rahmen des städtischen Lebens - so die Annahme - bildet sich eine
spezifische Stadtkultur und mit ihr eine städtische Identität heraus.
Stadtkultur und städtische Identität sind im Sinne von Berger/Luckmann Produkte von
(kommunikativen) Handlungen. Im Rahmen von (kommunikativem) Handeln bilden sich materielle und immaterielle sowie teils materielle und teils immaterielle Objektivierungen
heraus, die die Stadtkultur ausmachen.
Durch (kommunikatives) Handeln von Stadtoberen und Stadtbürgern wird die Stadt materiell
gestaltet. Die Landschaft, in der sich die Stadt befindet, wird geformt. Die Stadt selbst wird
gebaut und umgebaut. Es werden Bauwerke, Denkmäler, Kultureinrichtungen geschaffen und
verändert. Eine umfassende Infrastruktur wird eingerichtet und beständig weiterentwickelt,
angefangen von Wegen und Straßen, über Märkte für die Versorgung bis hin zu Wasser- und
Abwassersystemen etc.
Innerhalb der Stadt entwickeln sich durch (kommunikatives) Handeln zudem Institutionen
heraus, die weder rein materielle, noch rein immaterielle Objektivierungen sind. Diese Institutionen werden nicht nur von der Stadt beherbergt, sie sind vielmehr Teile der Stadt. Sie gehören zu ihr, sie werden von der Stadt geprägt. Dazu gehören unter anderem die Institutionen
der primären und der sekundären Sozialisation (Familie, Bildungssystem), Gesellungsformen
wie zum Beispiel Vereine, Institutionen des religiösen, politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Lebens sowie Medien, die sich die Stadt und das Leben in der Stadt zum Gegenstand
machen.
Immaterielle Objektivierungen der Stadtkultur sind ideelle Kristallisationen, die auf die Stadt
bezogen sind. Durch kommunikatives Handeln werden im Rahmen der lokalen Kommunikation
- insbesondere innerhalb eines stadtbezogenen Diskurses - Wirklichkeitsdeutungen bzw.
Wissenselemente von der Stadt konstruiert. An der lokalen Kommunikation sind sämtliche
Institutionen der Stadt wie auch die einzelnen Stadtbürger als Akteure beteiligt. Eine besondere Rolle nehmen Lokalmedien und öffentliche Veranstaltungen ein, weil sie den stadtbezogenen
Diskurs
in
eine
breite
Öffentlichkeit
tragen
und
den
Stadtbürgern
Wirklichkeitsdeutungen anbieten. Im Rahmen verschiedenster kommunikativer Vorgänge des
stadtbezogenen Diskurses bilden sich im historischen Verlauf typische Themen heraus, die
regelmäßig wiederkehren: Es entwickeln sich charakteristische Topoi. Innerhalb der
kommunikativen Vorgänge bildet sich gleichzeitig ein kommunikatives Gedächtnis aus, in dem
vergangene Wirklichkeitsdeutungen von der Stadt bewahrt und als Topoi aufrechterhalten
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 13
werden. Die vergangenen und gegenwärtigen Wirklichkeitsdeutungen, die sich in Form von
Topoi verfestigt haben, bilden den Hintergrund für die Ausbildung einer städtischen Identität, in
der sich die Topoi niederschlagen. Die Stadtbürger erwerben über die kommunikativ
vermittelten Topoi Wissenselemente von der Stadt, die sie sich als Mitglieder des städtischen
Sozialzusammenhanges über Formen der kommunikativen Verarbeitung aneignen und die sie
auf sich beziehen. Topoi sind die thematischen Kerne innerhalb der immateriellen Stadtkultur.
Sie sind die Kerne des lokalen gesellschaftlichen Wissensvorrats, der sich auf die
Eigenschaften der Stadt bezieht. Das heißt, Topoi sind in kommunikativen Vorgängen des
stadtbezogenen Diskurses entstanden, ziehen sich durch die vergangenen und gegenwärtigen
Wirklichkeitsdeutungen von der Stadt hindurch und wirken bis in die persönliche Identität von
Stadtbürgern hinein.
5. Die Dresden-Studie: Anlage der Untersuchung
und zentrale Forschungsergebnisse
5.1 Fragestellung der Untersuchung, Art und Umfang des Datenmaterials
Im Forschungsprojekt zur ‘Dresdner Identität’ sind mehrere Fragen verfolgt worden. Zum
einen war die Frage leitend, welche Eigenschaften man der Stadt Dresden und seinen Bewohnern in der historischen Entwicklung typischerweise zuschrieb und wie sich diese
Zuschreibungen im Laufe der Geschichte unter Umständen änderten. Ziel war es also zu
beschreiben, welche Identifikationsangebote Dresdner Bürgern über die öffentliche Kommunikation bereitgestellt wurden und werden. Eine zweite zentrale Frage der Studie war, wie
Dresdner Identität beim heutigen Stadtbürger geartet ist, das heißt, wie sich die Einwohner im
Verhältnis zu ihrer Stadt sehen, inwiefern und aufgrund welcher Faktoren sie eine Bindung zu
ihrer Stadt formulieren. Im Rahmen der dritten Fragestellung wird untersucht, inwiefern es
Kongruenzen gibt zwischen den Identifikationsangeboten einerseits und den von den Stadtbürgern formulierten Stadtbezügen andererseits.
Das Datenmaterial, das für die Beantwortung der Fragestellungen erhoben wurde, umfasst
Werke der Dresden-Literatur (von 1607 bis 2000), Ausgaben der Dresdner Lokalpresse (von
1749 bis 2000), Dresdner Stadtvideos (der 90er Jahre) und selbstangefertigte Tonaufzeichnungen von verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen. Bei den Veranstaltungen handelte es
sich um Führungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen mit Dresden-Bezug. Sie
stammen aus den Jahren 1998 bis 2001.
Abb. 1: Art und Umfang des Datenmaterials
14 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
Massenmediale Kommunikation
Dresden-Literatur
392 Bände
22.600 Seiten
(1607-2000)
Dresdner Presse
542 Ausgaben
2.540 Seiten
(1749-2000)
Dresden-Videos
9 Videos
363 Seiten
(1993-1997)
Interpersonale Kommunikation (1998-2001)
Führungen
22 Veranstalt.
210 Seiten
Vorträge etc.
23 Veranstalt.
286 Seiten
Interviews mit Dresdner Bürger/innen
Kurzinterviews
Intensivinterviews
125 Personen
400 Seiten
28 Personen
664 Seiten
Summe
27.063 Seiten
Darüber hinaus wurden 125 Kurzinterviews (ethnographisch) und 28 Intensivinterviews
(problemzentriert) durchgeführt. Es wurden gebürtige Dresdner berücksichtigt, und zwar
Angehörige dreier Generationen: Alte Dresdner (70-jährig und älter), Dresdner mittleren Alters
(40- bis 50-jährig) und junge Dresdner (20- bis 30-jährig). Außerdem wurden zugezogene
Neu-Dresdner befragt, die in der Regel länger als zehn Jahre in der Stadt lebten. Es wurden
‘offene’ Interviews geführt, in denen die Interviewpartner ihren Bezug zur Stadt in eigenen
Worten beschreiben konnten.
5.2 Typische Themen bei der Beschreibung Dresdens: Dresden-Topoi
Die Analysen erbrachten, dass Dresden-Darstellungen wiederkehrende Themen beinhalten,
die jeweils in ähnlicher Weise behandelt werden (,Topoi’). Nicht alle der heute vorfindbaren
Dresden-Topi waren indes von Anfang an vorhanden. Sie entwickelten sich vielmehr im Laufe
der Geschichte nach und nach heraus. Dies soll exemplarisch am Beispiel der DresdenLiteratur gezeigt werden.
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 15
Abb. 2: Herausentwicklung und Kontinuität von Dresden-Topoi in der Dresden-Literatur
Jahrhundert/Drittel
17/I 17/II 17/III 18/I 18/II 18/III 19/I 19/II 19/III 20/I 20/II 20/III
Geschichte
Bauwerke
Sammlungen
Feste
Gärten
Umgebung
Fremde
Gewerbe
Künste
Kulturangebot
Dresdner
Heilwesen
Bildungswesen
Wissenschaft
Ausstellungen
Berühmte
Persön-
lichkeiten
Sorge um Stadtbild
Sport
Zerstörung
Altes Dresden
Aufbau
Epoche der Romantik
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden zunächst ,geschichtliche Ereignisse’ und ,Bauwerke’
der Stadt thematisiert. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts fanden zudem ,Sammlungen’ und
deren Schätze Erwähnung. In der augusteischen Zeit verwies man auf die aufwändigen
,Feste’ am Hofe. Außerdem traten in der Dresden-Literatur jener Zeit die ,Gärten’ der Stadt in
Erscheinung. Eine Thematisierung der ,Umgebung’, der ,Fremden’ in der Stadt, des Dresdner
,Gewerbes’, der ,Künste’, des ,Kulturangebots’ wie auch der ,Dresdner Einwohner’ kam im
zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts hinzu. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erachtete
man darüber hinaus das ,Heilwesen’, das ,Bildungswesen’, die ,Wissenschaft’ und das
,Ausstellungswesen’ als erwähnenswert. Zudem trug man dem Umstand Rechnung, dass sich
zahlreiche ,berühmte Persönlichkeiten’ für kürzere oder längere Zeit in Dresden aufhielten.
Die
fortschreitende
Industrialisierung
und
das
Anwachsen
der
Stadt
führten
zu
Veränderungen im Stadtbild. Daran wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts Kritik laut. Vor
16 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
dem Hintergrund denkmalschützerischer Motive brachte man ,Sorge um das Stadtbild’ zum
Ausdruck. Spätestens seit den 30er Jahren des Jahrhunderts stellte man Dresden als eine
Stadt dar, in der auch nennenswerte ,sportliche Veranstaltungen’ stattfinden. Die Zerstörung
Dresdens im Jahre 1945 wirkte sich nicht nur auf die Stadt, sondern auch auf die DresdenLiteratur in drastischer Weise aus. Neue Themen wurden dominant: Es ging um die
,Zerstörung’, die Erinnerung an das ,alte Dresden’, vor allem aber den ,Aufbau’ der Stadt. In
den 70er Jahren wurde der Katalog der Topoi, der sich im Laufe der Zeit nach und nach
wieder entfaltete, vorläufig um ein letztes Element erweitert: die ,Romantik’ in Dresden. Sie
findet somit erst recht spät eine regelmäßige Thematisierung.
Abbildung 2 zeigt, dass die meisten Topoi im Laufe der Geschichte kontinuierlich vertreten
sind, manche verschwinden allerdings für bestimmte Zeiträume und erscheinen dann wieder
(z.B. ,Feste’, ,Heilwesen’, Ausstellungen’ und ,Sorge um das Stadtbild’). Innerhalb der kontinuierlich auftretenden Topoi gibt es solche, die besonders häufig erscheinen. Sie gehören
zum festen Bestand. Mit ihnen wird Dresden primär gekennzeichnet. Dazu gehören die Topoi
,Geschichte’,
,Bauwerke’,
,Sammlungen’,
,Gärten’/’Parks’,
,Umgebung’,
,Künste’,
,Kulturangebot’, ,Zerstörung’ und ,Aufbau’.
Die zentralsten Topoi finden sich im Übrigen auch in den Darstellungen der Interviewpartner
wieder:
Abb. 3: Kongruenzen in der Beschreibung Dresdens (Dresden-Literatur und Interviews)
Dresden-Literatur Interviews
Häufig erwähnt:
Häufig erwähnt:
Geschichte
Geschichte
Bauwerke
Bauwerke
Sammlungen
Sammlungen
Gärten
Umgebung
Selten erwähnt:
Gärten
Umgebung/Elbe
Künste
Kulturangebot
Kulturangebot
Zerstörung
Zerstörung
Aufbau
Aufbau
Selten erwähnt:
Gewerbe
Gewerbe
Bildungswesen
Bildungswesen
Wissenschaft
Wissenschaft
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 17
5.3 Mentalitätsbeschreibungen von Dresdnern
Verschiedene Autoren von Dresden-Werken charakterisieren nicht nur die Stadt Dresden als
solche, sondern auch ihre Einwohner. Dies geschieht jedoch in der Regel nur nebenbei. Das
Phänomen zeigt sich vom letzten Drittel des 18. Jahrhundert an bis heute.
Weinart beschreibt bereits im Jahre 1777 die Dresdner.27 Folgende Eigenschaften sind
danach kennzeichnend für die Einwohner: Sie haben ein ,angenehmes Betragen’. Dafür findet der Verfasser immer wieder neue Begriffe: Die Einwohner seien ‚gesittet’, ‚überaus gefällig’, hätten einen ,reizenden Umgang’ und einen ,gesellschaftlichen Umgang’. Außerdem
hätten sie keine Allüren (‚ohne Stolz’). Sie seien auch fleißig (‚emsig’, ‚arbeitsam’, ‚weniger
zum Mußiggang geneigt’) und ‚sparsam’. In besonderem Maße hebt Weinart die ‚Gastfreyheit’
der Dresdner hervor. Heute verwenden wir den Begriff der ,Gastfreundschaft’ dafür. Die
besondere Gastfreundschaft sei ein spezielles Phänomen Dresdens. Der Fremde finde die
Einwohner vor diesem Hintergrund ‚liebenswürdig’. Das Urteil Weinarts fällt somit recht positiv
aus.
Auch in anderen Darstellungen schreibt man den Einwohnern angenehme Umgangsformen
und eine Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden zu. Die Bewohner Dresdens riefen allerdings auch Kritik hervor, die am schärfsten von Schladebach (1846) formuliert wurde. 28 Im
Wesentlichen charakterisiert Schladebach die Dresdner als heuchlerisch, arrogant, pedantisch und philisterhaft. Sie zeigten unter anderem ,steifem Formenzwang’ und ,höfische Abgemessenheit’. Körner (1895) formuliert seine Kritik gemäßigter.29 Hauptkritikpunkt des Verfassers ist die fehlende Großstadtmentalität. Er kenne kaum eine Großstadtbevölkerung die
weniger großstädtisch sei, wie die dresdnerische. In seinem Buch führt er detailliert aus,
worin sich die fehlende Großstadtmentalität zeigt: Um 18.00 Uhr wünsche man sich bereits
eine gute Nacht. Die Häuser würden ab 21.00 Uhr geschlossen. Konzerte und Theatervorstellungen würden sehr früh am Abend angesetzt.
Abbildung 4 stellt die Elemente zusammen, die man typischerweise in der Literatur findet.
27
28
29
Weinart (1777).
Schladebach (1846).
Körner (1895).
18 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
Abb. 4: Dresdner Mentalitätsbeschreibungen in der Dresden-Literatur
Positive Eigenschaften der Dresdner
Häufig erwähnt:
Selten erwähnt:
freundlich
emsig, arbeitsam, fleißig
gemütlich
sparsam
kontaktfreudig
genügsam
konservativ
macht aus allem das Beste
gastfreundschaftlich
humorvoll
hilfsbereit
friedliebend
sittsam
geschwätzig
gutherzig
reiselustig
gefällig, liebenswürdig
Ordnungssinn
ruhig
sauber
nüchtern
Negative Eigenschaften der Dresdner:
Selten erwähnt:
affektiert höflich
phlegmatisch
Kleinbeamtendünkel
Titelsucht
mangelnder Geschäftsgeist
unsolide im Geschäftsverkehr
politisches Desinteresse
kein Großstädter
Die Übersicht macht deutlich, dass man die Einwohner Dresdens in der Dresden-Literatur
eher mit positiven als mit negativen Eigenschaften beschreibt.
Dies gilt in einem noch stärkeren Maße, wenn Dresdner Stadtbürger ihresgleichen beschreiben:
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 19
Abb. 5: Kongruenzen in den Mentalitätsbeschreibungen (Dresden-Literatur und Interviews)
Dresden-Literatur Interviews
Häufig erwähnt:
Häufig erwähnt:
freundlich
freundlich
gemütlich
gemütlich
kontaktfreudig
kontaktfreudig
konservativ
konservativ
gastfreundsch.
gastfreundsch.
hilfsbereit
hilfsbereit
Selten erwähnt:
Selten erwähnt:
vigilant
vigilant
humorvoll
humorvoll
verträglich
verträglich
reiselustig
reiselustig
erfinderisch
genussorientiert
neugierig
hofsächsisch
5.4 Beschreibungen des Dresdner Stadtbezugs
Verfasser von Dresden-Werken weisen unter anderem darauf hin, dass die Einwohner Dresdens in verschiedener Hinsicht einen Bezug zu ihrer Stadt haben. Hierbei handelt es sich um
ein eher ,junges’ Thema in der Dresden-Literatur. Es zeigt sich vor allem seit der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dresdner werden in dieser Hinsicht von verschiedensten Autoren
wie folgt gekennzeichnet: Sie fühlten sich mit der Stadt ,verbunden’, seien mit ihr ,verwurzelt’.
Der Grad der Bindung wird vielfach hoch eingeschätzt: Dresdner ,liebten’ ihre Stadt, wollten
die Stadt deshalb oft nicht verlassen. Die Einwohner seien aber auch ,stolz’ auf ihre Stadt und
,identifizierten’ sich mit ihr. Hauptbezugspunkte seien einzelne Bauwerke und die Stadtgestalt
im historischen Zentrum. Der Bezug zu Bauwerken sei auch der Hintergrund für das
ausgeprägte ,Interesse’ an der Stadtentwicklung. Daneben existiert eine große Kulturverbundenheit. Wenn es um Kultur gehe, setze sich der Dresdner in Positur. Dresdner
werden überdies als ,streitbare’ Zeitgenossen dargestellt, die die Stadtentwicklung kritisch
begleiten, und die versuchen, Unpassendes zu verhindern. Dresdner seien auch Personen,
die einen ,langen Atem im Erinnern’ haben, und zwar in der Erinnerung an die Zerstörung
Dresdens und in der Erinnerung an die Schönheit der alten Stadt. Die alte Stadt diene dem
Dresdner als Maßstab, der bei der Frage hilft, was passend und was unpassend ist. Die Ein-
20 — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — I H S
wohner Dresdens werden als konservative Zeitgenossen dargestellt, die sich nach der ,alten
Stadtgestalt sehnen’ und die sie ,wieder zurückholen’ wollen. Bemerkenswert ist, dass
Dresdner im Hinblick auf ihren Bezug, ihr Interesse, ihr Engagement und ihre Erinnerungsfähigkeit regelmäßig als etwas Besonderes dargestellt werden. Es gebe nur wenige
Städte, die im Hinblick auf ihre Stadtbewohner Vergleichbares aufzuweisen hätten.
Die Beschreibungen, die Dresdner Stadtbürger im Hinblick auf ihren Stadtbezug liefern, fallen
ähnlich aus. Die zentralen Topoi der Dresden-Literatur, die sich mit dem Stadtbezug der
Einwohner beschäftigen, sind auch im Bewusstsein der Stadtbürger fest verankert.
Abb. 6: Kongruenzen in der Beschreibung von Dresdner Stadtbezug (Dresden-Literatur und
Interviews)
Dresden-Literatur
Interviews
Häufig erwähnt:
Häufig erwähnt:
stark verbunden
stark verbunden,
Selten erwähnt:
Bleibenwollen
Interesse an der
Interesse an der
Stadt(entwicklung)
Stadt(entwicklung)
Sehnsucht nach der Sehnsucht nach der
alten Stadt
alten Stadt
Kulturverbunden-heit Kulturverbunden-heit
Bezug vor allem zu
Bezug vor allem zu
Bauwerken
Bauwerken
Langer Atem des
Erinnerns an die
Zerstörung
Langer Atem des
Erinnerns an die alte
Stadt
6. Fazit
Dresdner Lokalmedien bieten den Stadtbürgern ein facettenreiches kulturelles Reservoir für
die Entwicklung eines Stadtwissens an, gleichzeitig liefern sie damit Identifikationsangebote.
Es zeigte sich, dass die zentralen Dresden-Topoi der medialen Darstellungen auch im kulturellen Selbstverständnis von Dresdnern vorhanden sind, dass sie also für eine Dresdner
Identität relevant sind. Die Tiefendimensionen der verschiedenen Topoi in Form von De-
I H S — Gabriela B. Christmann / Städtische Identität als kommunikative Konstruktion — 21
tailaspekten über die Stadt erscheinen jedoch nur schwach. Die befragten Stadtbürger warten
selten mit Einzelheiten auf, beschränken sich auf Schlagworte.
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Autorin: Gabriele B. Christmann
Titel: Städtische Identität als kommunikative Konstruktion
Reihe Soziologie / Sociological Series 57
Editor: Beate Littig
Associate Editor: Gertraud Stadler
ISSN: 1605-8011
© 2003 by the Department of Sociology, Institute for Advanced Studies (IHS),
Stumpergasse 56, A-1060 Vienna • ( +43 1 59991-0 • Fax +43 1 59991-555 •
http://www.ihs.ac.at
ISSN: 1605-8011
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