Die Straffunktion bildet eine Konstante in der Geschichte der abendländischen Zivilisation und ist in den menschlichen Gesellschaften überall anzutreffen. Obwohl aber eine Rekonstruktion ihrer Modalitäten und ihres Bezugs zur gesellschaftlichen Struktur in verschiedenen geschichtlichen Zusammenhängen möglich ist, fehlt einem Versuch, die in unserer Kultur bekannten Formen dieser Funktion aus einer “natürlichen” Notwendigkeit oder Gerechtigkeit abzuleiten, jede wissenschaftliche Grundlage. Es gab tatsächlich Zivilisationen, in denen die Straffunktion vermutlich durch Praktiken der Wiedergutmachung ersetzt wurde oder zumindest nicht die gewaltsamen und grausamen Aspekte aufwies, mit denen wir sie üblicherweise verbinden; in diesen Zivilisationen überwogen symbolische Arten der Bestrafung bzw. der Selbstbestrafung mit einem geringen Grad an Aggressivität. Alessandro Baratta Hat die Kriminologie eine Zukunft? Auf dem Weg zum heutigen Europa hat mit dem Beginn der Moderne eine epochemachende Umwandlung stattgefunden, mit der die Straffunktion sich endgültig sowohl von den Ritualen der persönlichen Rache als auch von den inquisitorischen und blutigen Ritualen abkehrte; letztere stellten den prämodernen Ausdruck einer funktionalistischen Straftheorie dar, die auf die Verteidigung der wichtigsten öffentlichen Güter abzielte: der Autorität der Kirche und der Majestät des Herrschers. Selbstbeschränkung der Staatsmacht Die “Versprechen” der Moderne, um die Terminologie De Sousa Santos’ und anderer Autoren zu gebrauchen, bezogen sich auch auf die Straffunktion. In diesem Bereich bestand das große Versprechen in der Selbstbeschränkung der entstehenden “neuen” Staatsmacht, die das Monopol der physischen Gewalt für sich beanspruchte. Diese Selbstbeschränkung bedeutete vor allem: • • • • • die Auffassung von Strafe als Recht und zugleich Pflicht herrschaftlichen Handelns; die “funktionale” Rationalität der Strafe als Instrument zur Verteidigung wichtiger Rechtsgüter (mit der allmählichen Ausdehnung der Staatsfunktionen wächst allerdings der Katalog der strafrechtlich zu schützenden Güter in geometrischer Folge); die Auferlegung von Strafen nur als Antwort auf menschliche Handlungen, welche gesetzlich als strafbar definiert sind (Gesetzlichkeitsprinzip) und in einem gerichtlichen Verfahren nach zuvor festgelegten Regeln festgestellt werden (Prinzip der prozessualen Wahrheit); und die Universalität des Rechtsgüterschutzes und die Gleichheit der Bürger vor dem Strafjustizsystem. Allerdings wird das Programm der Moderne nur durch die Aufklärung und die klassische liberale Theorie des Strafrechts (Bentham, Beccaria, Anselm Feuerbach) in den Entwurf einer säkularisierten rechtlich-philosophischen Lehre über die Verbrechen und die Strafen umgesetzt, während die Bildung der modernen strafrechtlichen Dogmatik in Kontinentaleuropa erst zu Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts in ihre entscheidende Phase tritt. Krise der "gesamten Strafrechtswissenschaft" In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts tritt die positivistische Kriminologie eine ätiologische Theorie des Verbrechens und eine technologische Theorie der Strafpolitik - als die wichtigste unter den metajuristischen Disziplinen hervor, die zusammen mit dem Strafrecht zur Bildung des Modells einer gesamten Strafrechtswissenschaft (von Liszt) führt. Die Dominanz der positivistischen Kriminologie und allgemeiner des ätiologischen Paradigmas in der Soziologie der Devianz wurde in den vierziger Jahren in den USA, in den darauffolgenden Jahrzehnten in Großbritannien und später auch in Kontinentaleuropa in Frage gestellt durch die Einführung und Entwicklung eines alternativen Paradigmas, das vom symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethologie inspiriert war. Dieses alternative Paradigma (“Paradigma der sozialen Reaktion”) hat im Rahmen der Erforschung der Devianz und der Kriminalität die institutionellen und informellen Mechanismen der Definition und der Etikettierung in den Vordergrund gestellt. Somit rückten die Prozesse der primären und der sekundären Kriminalisierung (Entstehung strafrechtlicher Normen bzw. Anwendung der Strafgesetze) ins Zentrum des Interesses. Auf diese Weise ist in Europa zumindest seit Anfang der siebziger Jahre das Modell der gesamten Strafrechtswissenschaft, wie es von Liszt konstruiert hatte, in eine Krise geraten. Aus der Perspektive des neuen Paradigmas betrachtet, ist die Kriminalsoziologie keine Hilfsdisziplin der Dogmatik des Strafrechts und der “offiziellen” Kriminalpolitik; der Standpunkt der Kriminalsoziologie ist im Verhältnis zum System der Strafjustiz nicht mehr intern, sondern extern. Das Strafjustizsystem wird zum Gegenstand eines Wissens, das sich von der traditionellen Kriminologie entfernt und einer umfassenden Theorie und Soziologie des Strafrechts immer näher kommt. Untersucht werden in diesem Rahmen nicht nur die institutionellen, sondern auch die informellen Kriminalisierungsprozesse und darüber hinaus die Reaktionen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung und, zumindest tendenziell, auch die strafrechtliche Dogmatik in ihrer Rolle als einer für das System konstitutiven Instanz. Defizite des Strafjustizsystems In den siebziger und achtziger Jahren richteten die Theorie, die Soziologie und die Sozialgeschichte der Strafjustiz ihr Interesse einerseits auf die verschiedenen Instanzen dieses Systems (Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter, Vollzugsbeamte und Bewährungshelfer), andererseits auf die Mechanismen der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, welche die soziale Umwelt des Systems konstituieren und mit ihm in Interaktion treten. Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchungen bestand darin, das Defizit des Strafjustizsystems in Bezug auf das obengenannte “Versprechen der Moderne” gezeigt zu haben. Auf der Ebene der Theorie und Soziologie der Erkenntnis, d.h. ihrer wissenschaftlichen und pädagogischen Organisation, gab es aber bisher keine entsprechenden Untersuchungen, welche die Dogmatik des Strafrechts in ihrer doppelten Funktion als einer für das Strafsystem konstitutiven und zugleich kontrollierenden Instanz zum Gegenstand hätten. Die Forschung beschränkte sich auf die kritische Betrachtung der eher ideologischen Elemente der Strafrechtswissenschaft (Straftheorien, allgemeine normative Prinzipien). Somit wurden die Widersprüche zwischen den erklärten Funktionen, d.h. den offiziellen Funktionsprinzipien, und den latenten Funktionen, d.h. den realen Funktions-, Selektions- und Entscheidungsmechanismen, ans Licht gebracht. Meiner Meinung nach ist es jedoch angebracht, durch eine Methode, die über die Soziologie hinaus auch einen geeigneten epistemologischen und methodologischen Ansatz benutzt, das Interesse auf den theoretischen Status des begrifflichen Apparats der Strafrechtswissenschaft zu lenken. Ebenso ist es angebracht, die argumentative und entscheidungskontrollierende Funktion, die von den Instrumenten der Dogmatik de facto wahrgenommen wird, als auch dieselbe Funktion, welche von den Entscheidungsmechanismen und den Entscheidungen des Systems in Bezug auf die Entscheidungsstruktur wahrgenommen wird, zu untersuchen. Wenn sich durch eine solche Analyse ergibt, dass dieses System Entscheidungen produziert (Entscheidungsprogramme und Eingriffe in konkrete Situationen), die größtenteils mit den Versprechen der Rationalität, der Gleichheit, der Universalität und der Gerechtigkeit unvereinbar sind, wo liegen dann die Defizite und die Kontrollmöglichkeiten der Strafrechtswissenschaft gegenüber dem Strafjustizsystem? Erfassung "latenter" Variablen Diese Art der Fragestellung beruht auf zwei Voraussetzungen: einerseits wird eine Kontinuität und funktionale Interaktion zwischen Rechtsdogmatik und Argumentationstheorie angenommen; andererseits werden eine Argumentationstheorie und eine juristische Methode als “angebracht” betrachtet, sofern sie sich sowohl von einer rein normativen als auch von einer rein deskriptiven Vorgehensweise unterscheiden. Aufgrund der neuesten Diskussionen und Erfahrungen in diesem Bereich müßte man folgende Hypothesen aufstellen und überprüfen: Die “traditionelle” Strafrechtswissenschaft und juristische Methode haben die Funktion der argumentativen Kontrolle auf diejenigen Variablen der Entscheidungen des Strafjustizsystems beschränkt, die in der Regel in den Begründungen der richterlichen Urteile und der Verwaltungsakte enthalten sind (manifeste Variablen), während die latenten Variablen vernachlässigt werden (sozialstrukturelle Variablen, Stereotypen, Alltagstheorien usw.). Bezüglich der latenten Variablen sind die Kontrollmöglichkeiten der Strafrechtswissenschaft und der juristischen Methode zwar strukturell begrenzt, sie sind jedoch noch nicht ausgeschöpft. Dabei müssen wir uns der Ergebnisse der soziologischen und sozialgeschichtlichen Forschung über das Strafjustizsystem vergegenwärtigen. Die “neue” Kriminologie (kritische Kriminologie) hat sich in einer ihrer beiden Dimensionen intensiv mit diesem Forschungsbereich beschäftigt. Es handelt sich dabei um die Untersuchung der sogenannten Dimension der Definition bzw. der sozialen Reaktion, die - wie bereits erwähnt - Aufgaben einer Theorie und Soziologie des Strafrechts wahrgenommen hat. Modell der integrierten Strafrechtswissenschaft Das Modell der integrierten Strafrechtswissenschaft, das aus dem Zusammenspiel der Dogmatik, der Theorie und der Soziologie des Strafrechts hervorgeht, unterscheidet sich stark von dem Modell der gesamten Strafrechtswissenschaft von Liszts, sobald die kriminologische Komponente nicht mehr dem ätiologischen Paradigma sondern dem Paradigma der sozialen Reaktion folgt. Und dies, weil der Standpunkt der neuen Kriminologie nicht intern sondern extern gegenüber dem System ist. Dies bedeutet, dass die Definitionen des kriminellen Verhaltens, die von den Instanzen des Systems produziert werden (Gesetzgebung, Dogmatik, Rechtsprechung, Polizei und Alltagsverstand), nicht mehr als Ausgangspunkt dienen, sondern dass man sie als Problem und Untersuchungsgegenstand erkennt, welches im Rahmen der Theorie, der Geschichte und der Zeitgeschichte der Gesellschaftsstruktur behandelt werden muß. Obwohl aber der Paradigmawechsel im Bereich der Theorie und Soziologie des Strafrechts bedeutende epistemologische Änderungen mit sich gebracht hat, entspricht der wissenschaftliche Diskurs im Rahmen dieses integrierten Modells immer noch einer Auffassung von Interdisziplinarität, die ich hier als „intern“ definieren will. Als intern bezeichne ich die Interdisziplinarität, die sich ergibt, wenn eine akademische Disziplin - oder ein Geflecht akademischer Disziplinen, die zu einem gemeinsamen Untersuchungsgegenstand konvergieren (in unserem Fall dem Strafrecht) - Ergebnisse anderer akademischen Disziplinen selektiert und sie im Rahmen des eigenen wissenschaftlichen Diskurses derartig organisiert, dass die strategische Autonomie und Hegemonie des eigenen Wissens erhalten bleibt. Eine solche Interdisziplinarität, die das hier dargestellte integrierte Modell der Strafrechtswissenschaft konstituiert, profitiert vom Wissen der Gesellschaftstheorie und -geschichte, der Sozialpsychologie, der Politikwissenschaft, der Argumentationstheorie, der sozialen Ethik usw. Die Konnotationen und die Inhalte eines solchen interdisziplinären Diskurses werden vom Einfluß der “kritischen” Kriminologie - in ihrer oben erwähnten Dimension der Definition oder der sozialen Reaktion - auf den ursprünglichen Kern des Diskurses, d.h. auf das integrierte strafrechtliche Wissen, geprägt. Der wissenschaftliche Diskurs, der aus der internen Interdisziplinarität resultiert, ermöglicht eine Form der Kontrolle des Strafjustizsystems, die ich ebenfalls als intern bezeichnen möchte. Es handelt sich um eine formale und juristische Kontrolle des Einklangs dieses Systems mit den Prinzipien der Gleichheit, der Freiheit und der Legalität sowie den anderen Prinzipien des “liberalen” Strafrechts, die das “Versprechen” der Moderne zum Ausdruck bringen. Als „extern“ bezeichne ich dagegen jene Form der Kontrolle, die sich aufgrund von politischen Kriterien und Kriterien der materiellen Gerechtigkeit mit den externen Wirkungen des Systems befaßt. Untersuchungsgegenstand sind dabei die selektive Bestimmung und Verteidigung von Rechtsgütern, welche sich durch die Kontrolle von Verhalten und problematischen Situationen ergibt, sowie die soziale Kosten-Nutzen-Bilanz der Intervention des Strafjustizsystems. Der wissenschaftliche Diskurs, der eine solche Funktion der externen Kontrolle übernehmen kann, hat keinen homogenen Untersuchungsgegenstand, wie es bei der internen Kontrolle der Fall ist. Die vom Strafjustizsystem verwalteten Situationen bilden eine Gesamtheit von heterogenen Ereignissen mit fließenden Grenzen. Ihr einziges gemeinsames Element ist, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Gesellschaft als Objekte einer Intervention des Systems definiert werden. Die gesellschaftliche Negativität dieser Situationen und die Möglichkeit, sie durch soziale Attributionsmechanismen mit dem Verhalten eines Subjekts zu verbinden (wie es H.L.A.Hart gezeigt hat), können nicht als differentia specifica dieser Situationen angesehen werden. Und dies aus zwei Gründen: erstens weil sich immer wieder Fälle einer Intervention des Strafjustizsystems ergeben, in denen die gesellschaftliche Negativität oder deren Verbindung mit dem kriminalisierten Verhalten von großen Teilen der Lehre und der Gesellschaft in Frage gestellt wird; zweitens weil diese zwei Elemente auch bei Situationen und Verhaltensweisen anzutreffen sind, die den Gegenstand einer Intervention anderer Systeme der sozialen Kontrolle bilden. Definition von "kriminellem" Verhalten wissenschaftlich nicht möglich Wenn man die Theorie des natürlichen Verbrechens nicht teilt, d.h. nicht an die Existenz der Kriminalität als eines ontologischen Attributs von Verhaltensweisen und Subjekten unabhängig von den sozialen Definitions- und Attributionsmechanismen glaubt, dann wird die erwähnte Heterogenität und Verschwommenheit der Grenzen offensichtlich. Chapman hat bemerkt, dass es für fast alle als kriminell definierten Verhalten gesellschaftlich vergleichbare Verhalten gibt, die kein Objekt solcher Definitionen sind. Andererseits müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, dass im gesellschaftlich-rechtlichen Kontext unserer Untersuchung (der Länder des europäischen Rechtskreises) in fast allen strafrechtlich “relevanten” Bereichen das Strafjustizsystem nicht als einziges operiert. Neben ihm operieren andere Systeme der präventiven und reaktiven Kontrolle, die von staatlichen Institutionen oder von der Zivilgesellschaft gesteuert werden. Während aber das Zusammenspiel vieler Instanzen meistens als ein positives Anzeichen gesellschaftlicher Politik bewertet werden kann, kann dagegen die Priorität eines Systems der Intervention gegenüber den anderen niemals aus der “Natur” der verschiedenen problematischen Situationen als eine Notwendigkeit abgeleitet werden. Wenn wir die aktuellen Strategien im Bereich der Kontrolle von problematischen und sozial negativen Situationen1) beurteilen und neue Strategien entwickeln wollen, ergibt sich aus unseren Überlegungen, dass die Bezugnahme auf das heutige Strafjustizsystem nicht einmal die Herausarbeitung einer wissenschaftlich nutzbaren Definition des Universums der “kriminellen” Situationen und Verhalten erlaubt. In der Tat kann eine solche Bezugnahme weder Ausschließlichkeit beanspruchen, noch ist sie ontologisch notwendig. Solche Definitionsschwierigkeiten beeinflussen direkt oder indirekt die heutige Debatte über die “Zukunft” der Kriminologie und haben große epistemologische Fragen aufgeworfen, die noch nicht beantwortet sind und sich im Zentrum einer Krise (einer Entwicklungskrise?) der kritischen Kriminologie befinden. Diese Krise wird offensichtlich, wenn wir von der “Dimension der Definition” zur “Dimension des Verhaltens” übergehen. Gegenstand des Diskurses der kritischen Kriminologie ist im ersten Fall das Strafjustizsystem. In ihrer Dimension der Definition trägt die kritische Kriminologie als eine Theorie und Soziologie des Strafrechts zur Realisierung des integrierten Modells der Strafrechtswissenschaft bei. Dieses Modell hat die Funktion, das Strafjustizsystem intern zu kontrollieren. In der Dimension des Verhaltens dagegen bildet der Gegenstand des Diskurses der kritischen Kriminologie die “materielle Grundlage” der aktuellen und potentiellen Definitionen der Kriminalität. Es handelt sich allgemeiner um die problematischen Situationen, die mit dem Verhalten des Individuums in Verbindung gebracht werden können. Im Unterschied aber zur Dimension der Definition hat die Gesamtheit der Ereignisse, die, wie bereits gezeigt, den Gegenstand der (traditionellen aber auch der kritischen) Kriminologie in ihrer Dimension des Verhaltens bilden, keine scharfe Konturen und keine Homogenität. Was für eine Homogenität kann es denn geben zwischen Problembereichen wie der Verletzung von Rechten des Eigentums und der körperlichen und moralischen Integrität, die der traditionellen Kriminalität entsprechen, und spezifischen Phänomenen der postindustriellen Gesellschaften, wie den ökologischen Katastrophen, der organisierten Kriminalität, den Korruptionsaffären, den technologischen Risiken, dem Drogenhandel, den Problemen der Sicherheit im Straßenverkehr und den AIDS-Problemen? Was für eine Homogenität kann es denn geben zwischen den Formen der traditionellen und der neuen Kriminalität? In der Dimension der Definition haben die Theorie und die Soziologie des Strafrechts und der integrierte Diskurs der Strafrechtswissenschaft, in den sie sich einordnen, einen Gegenstand, welcher ihre Autonomie und ihre Möglichkeit, Elemente anderer Wissensbereiche zu selektieren und im Inneren des eigenen Diskurses zu organisieren (interne Interdisziplinarität), epistemologisch rechtfertigt. Im Fall der Dimension des Verhaltens dagegen, in der die Kriminologie und der integrierte Diskurs der Strafrechtswissenschaft sich mit problematischen Situationen zum Zweck der “externen” Kontrolle des Systems befassen, hören diese Autonomie und diese Möglichkeit auf. In diesem Fall erfordert jeder Problembereich, der sich im Universum jener Ereignisse, die den Gegenstand des Diskurses bilden, unterscheiden lässt, die Intervention einer jeweils spezifischen Kombination akademischer Disziplinen und spezieller Wissensbereiche, wobei prinzipiell kein Anspruch auf Hegemonie oder Kompetenz-Kompetenz möglich ist. Eine solche Form der paritätischen Kombination akademischer Disziplinen und spezieller Wissensbereiche kann als „externe Interdisziplinarität“ bezeichnet werden. Es handelt sich um einen flüssigen Aggregatzustand akademischer Disziplinen; dieses Aggregat wandelt sich nicht nur gemäß der Natur der wissenschaftlich zu kontrollierenden Probleme, sondern auch gemäß der eigenen Dynamik der Disziplinen und gemäß der Wahrnehmung der Probleme seitens der sozialen Akteure, die jeweils für die Festlegung der Strategien und Taktiken der Kontrolle politisch zuständig sind. Die Herausarbeitung einer solchen Form der Interdisziplinarität, ihre Anwendung in der wissenschaftlichen Kontrolle von sozial problematischen Situationen, die mit dem Verhalten von Individuen zusammenhängen, einerseits und in der externen Kontrolle des Strafjustizsystems andererseits setzen eine Theorie über die Organisation und die Teilung der akademischen Arbeit sowie über die Wechselbeziehungen dieser Arbeit mit der Politik und der Zivilgesellschaft voraus; diese Theorie muß sich mit der Funktion der Wissenschaft in ihrer Interaktion mit der Gesellschaft gemäß dem demokratischen Modell befassen. An dieser Stelle möchte ich folgende Hypothese formulieren: Die externe Kontrolle des Strafjustizsystems und eine “konsistente” Politik der Kontrolle von sozial problematischen Situationen, die mit dem Verhalten von Individuen zusammenhängen, erfordert die Teilnahme der integrierten Strafrechtswissenschaft an einem Netz, in dem differenzierte und aktive Wissenselemente nach den Regeln der “externen” Interdisziplinarität konvergieren. Meiner Meinung nach gibt es keine Zukunft für eine Disziplin, in unserem Fall der Kriminologie, solange sie den Anspruch erhebt, sämtliche Verhaltensdimensionen der “Kriminalfrage”, d.h. sämtliche Probleme der Gewalt und der Verletzung von Rechten sowie der damit zusammenhängenden sozialen Konflikte, in ihre eigene Grammatik einzubeziehen. Nur Maximum an Variablen kann der Komplexität der Wirklichkeit gerecht werden Innerhalb ihrer spezifischen Grammatik kann die Kriminologie uns nur eine künstlich systematisierte Darstellung der Variablen problematischer Situationen und ihrer Kontexte bieten, welche aber immer fragmentarisch bleiben muß. Um koordinierte und kohärente Antworten auf die sozialen Konflikte geben zu können, also Antworten, die der Komplexität der Wirklichkeit gerecht werden, müssen wir ein Maximum von Variablen berücksichtigen. Für diese Aufgabe sind aber die heuristischen und hermeneutischen Ressourcen einer einzigen Disziplin nicht hinreichend. Die Kriminologie, wie auch jede andere juristische, soziologische, psychologische oder politische Disziplin, kann an sich nur isolierte Antworten geben; somit favorisiert sie die Isolation der wissenschaftlichen Gemeinschaften und fördert die Institutionalisierung der verschiedenen Agenturen des Staates und der Zivilgesellschaft, die jeweils nur Fragmente der diversen sozialen Probleme behandeln - den Bedingungen ihrer je spezifischen Zeitlichkeit gemäß zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Bezug auf die bereits erwähnte Verhaltensdimension der Kriminalfrage kann sich epistemologisch und politisch ein neuer Diskurs nur legitimeren, sofern er sich quer zur traditionellen akademischen Teilung der wissenschaftlichen Arbeit artikuliert. Träger eines solchen Diskurses kann nur ein kollektives Subjekt sein, das sich durch die Teilnahme von Akteuren verschiedener wissenschaftlicher Gemeinschaften konstituiert. Nur ein solcher Diskurs und ein solches Subjekt sind in der Lage, ein gesellschaftliches Wissen zu produzieren, das sich sowohl vom demokratischen Modell der Interaktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft inspirieren lässt, als auch an den realen Bedürfnissen der Menschen orientiert. Von der Kriminologie zu einer Politik des Grundrechtsschutzes Dieses neue Wissen, das dem Prinzip der externen Interdisziplinarität gerecht wird, kann zugleich den Beitrag der verschiedenen Disziplinen organisieren und eine angemessene Darstellung der realen Bedürfnisse innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Forschung bewirken. Wenn wir die „kriminologische Frage“ überwinden durch eine Negation der Kriminologie als einer “natürlichen” Wissenschaft der normverletzenden Verhalten und Individuen, dann kann dieses neues Wissen, dessen Potential schon deutlich wird (man denke nur an die am weitesten fortgeschrittenen Aspekte der „nouvelle prévention“ und an die integrierte Politik, die in kommunalen und regionalen Projekten zur Sicherheit der Städte experimentell erforscht wird), eine neue Antwort auf die „kriminelle Frage“ geben: eine Antwort, die nicht nur zu einer alternativen Kriminalpolitik innerhalb des Strafrechtswissenschaften und des Strafjustizsystems führt, sondern auch und vor allem eine Alternative zur Kriminalpolitik durch das Zusammenspiel von verschiedenen Agenturen produziert. Somit wird es auch möglich, der strafrechtlichen „Antwort“ die subsidiäre und fragmentarische Rolle zuzuweisen, die ihr zukommt im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Prinzipien des sozialen Rechtsstaats und unter Gewährleistung des Schutzes aller reellen Bedürfnisse der Bürger. Ein minimales Strafrecht, also das einzige Strafrecht, das in Anbetracht der erwähnten Prinzipien legitimiert werden kann, darf gewiß nicht als Alibi fungieren für die Einsatzpflichten des Staates und der Zivilgesellschaft gegenüber den Gewaltsituationen und der Verletzung von Rechten, die sich in einem Kontext gesellschaftlicher Konflikte und Probleme ereignen. Die strafrechtliche Antwort, auch wenn sie im Rahmen der verfassungsrechtlichen Schranken und der funktionalen Grenzen bleibt, die sich aus integrierten Modellen des Grundrechtsschutzes durch das Zusammenspiel verschiedener Agenturen ergeben, kann höchstens ein mögliches und ausnahmsweise notwendiges Element im Rahmen einer integrierten präventiven und reaktiven Politik sein. In diesem konzeptuellen Rahmen wird es auch möglich, zur Entwicklung einer neuen „Kultur des Garantismus“ beizutragen. Dabei wird es sich nicht nur um einen „negativen Garantismus“ als einer formellen Beschränkung der Strafgewalt handeln, sondern vor allem um einen Projekt mit materiellen Inhalten, um einen „positiven Garantismus“, dessen Gegenstand und Ziel eine Politik der sozialen Kontrolle und des Grundrechtsschutzes in einer demokratischen Gesellschaft sein wird. Anmerkungen 1) Diese Situationen bezeichnen wir so unter Berücksichtigung des Standpunkts der beteiligten Subjekte und nach Kriterien der materiellen Gerechtigkeit, die sich in “konsistenten” Theorien der Bedürfnisse, der Rechtsgüter und der sozialen Kontrolle ausdrücken lassen. Literaturhinweise BARATTA, Alessandro, Strafrechtsdogmatik und Kriminologie. Zur Vergangenheit und Zukunft des Modells einer gesamten Strafrechtswissenschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1980, Berlin / New York, S. 107-142 BARATTA, Alessandro, Criminologia critica e critica del diritto penale, Bologna 1982 BARATTA, Alessandro, Prinzipien des minimalen Strafrechts. Eine Theorie der Menschenrechte als Schutzobjekte und Grenze des Strafrechts, in: Kaiser, G. / Kury, H. / Albrecht, H.J. (Hg.), Kriminologische Forschung in den 80er Jahren. 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