Die Straffunktion bildet eine Konstante in der Geschichte der

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Die Straffunktion bildet eine Konstante in der Geschichte der abendländischen
Zivilisation und ist in den menschlichen Gesellschaften überall anzutreffen.
Obwohl aber eine Rekonstruktion ihrer Modalitäten und ihres Bezugs zur
gesellschaftlichen Struktur in verschiedenen geschichtlichen
Zusammenhängen möglich ist, fehlt einem Versuch, die in unserer Kultur
bekannten Formen dieser Funktion aus einer “natürlichen” Notwendigkeit oder
Gerechtigkeit abzuleiten, jede wissenschaftliche Grundlage. Es gab tatsächlich
Zivilisationen, in denen die Straffunktion vermutlich durch Praktiken der
Wiedergutmachung ersetzt wurde oder zumindest nicht die gewaltsamen und
grausamen Aspekte aufwies, mit denen wir sie üblicherweise verbinden; in
diesen Zivilisationen überwogen symbolische Arten der Bestrafung bzw. der
Selbstbestrafung mit einem geringen Grad an Aggressivität.
Alessandro Baratta
Hat die Kriminologie eine Zukunft?
Auf dem Weg zum heutigen Europa hat mit dem Beginn der Moderne eine
epochemachende Umwandlung stattgefunden, mit der die Straffunktion sich
endgültig sowohl von den Ritualen der persönlichen Rache als auch von den
inquisitorischen und blutigen Ritualen abkehrte; letztere stellten den prämodernen
Ausdruck einer funktionalistischen Straftheorie dar, die auf die Verteidigung der
wichtigsten öffentlichen Güter abzielte: der Autorität der Kirche und der Majestät des
Herrschers.
Selbstbeschränkung der Staatsmacht
Die “Versprechen” der Moderne, um die Terminologie De Sousa Santos’ und anderer
Autoren zu gebrauchen, bezogen sich auch auf die Straffunktion. In diesem Bereich
bestand das große Versprechen in der Selbstbeschränkung der entstehenden
“neuen” Staatsmacht, die das Monopol der physischen Gewalt für sich beanspruchte.
Diese Selbstbeschränkung bedeutete vor allem:
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die Auffassung von Strafe als Recht und zugleich Pflicht herrschaftlichen
Handelns;
die “funktionale” Rationalität der Strafe
als Instrument zur Verteidigung wichtiger Rechtsgüter (mit der allmählichen
Ausdehnung der Staatsfunktionen wächst allerdings der Katalog der
strafrechtlich zu schützenden Güter in geometrischer Folge);
die Auferlegung von Strafen nur als Antwort auf menschliche Handlungen,
welche gesetzlich als strafbar definiert sind (Gesetzlichkeitsprinzip) und in
einem gerichtlichen Verfahren nach zuvor festgelegten Regeln festgestellt
werden (Prinzip der prozessualen Wahrheit); und
die Universalität des Rechtsgüterschutzes und die Gleichheit der Bürger vor
dem Strafjustizsystem.
Allerdings wird das Programm der Moderne nur durch die Aufklärung und die
klassische liberale Theorie des Strafrechts (Bentham, Beccaria, Anselm Feuerbach)
in den Entwurf einer säkularisierten rechtlich-philosophischen Lehre über die
Verbrechen und die Strafen umgesetzt, während die Bildung der modernen
strafrechtlichen Dogmatik in Kontinentaleuropa erst zu Ende des 19. bzw. Anfang
des 20. Jahrhunderts in ihre entscheidende Phase tritt.
Krise der "gesamten Strafrechtswissenschaft"
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts tritt die positivistische Kriminologie eine ätiologische Theorie des Verbrechens und eine technologische Theorie der
Strafpolitik - als die wichtigste unter den metajuristischen Disziplinen hervor, die
zusammen mit dem Strafrecht zur Bildung des Modells einer gesamten
Strafrechtswissenschaft (von Liszt) führt.
Die Dominanz der positivistischen Kriminologie und allgemeiner des ätiologischen
Paradigmas in der Soziologie der Devianz wurde in den vierziger Jahren in den USA,
in den darauffolgenden Jahrzehnten in Großbritannien und später auch in
Kontinentaleuropa in Frage gestellt durch die Einführung und Entwicklung eines
alternativen Paradigmas, das vom symbolischen Interaktionismus und der
Ethnomethologie inspiriert war. Dieses alternative Paradigma (“Paradigma der
sozialen Reaktion”) hat im Rahmen der Erforschung der Devianz und der Kriminalität
die institutionellen und informellen Mechanismen der Definition und der Etikettierung
in den Vordergrund gestellt. Somit rückten die Prozesse der primären und der
sekundären Kriminalisierung (Entstehung strafrechtlicher Normen bzw. Anwendung
der Strafgesetze) ins Zentrum des Interesses.
Auf diese Weise ist in Europa zumindest seit Anfang der siebziger Jahre das Modell
der gesamten Strafrechtswissenschaft, wie es von Liszt konstruiert hatte, in eine
Krise geraten. Aus der Perspektive des neuen Paradigmas betrachtet, ist die
Kriminalsoziologie keine Hilfsdisziplin der Dogmatik des Strafrechts und der
“offiziellen” Kriminalpolitik; der Standpunkt der Kriminalsoziologie ist im Verhältnis
zum System der Strafjustiz nicht mehr intern, sondern extern. Das Strafjustizsystem
wird zum Gegenstand eines Wissens, das sich von der traditionellen Kriminologie
entfernt und einer umfassenden Theorie und Soziologie des Strafrechts immer näher
kommt. Untersucht werden in diesem Rahmen nicht nur die institutionellen, sondern
auch die informellen Kriminalisierungsprozesse und darüber hinaus die Reaktionen
der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung und, zumindest tendenziell, auch
die strafrechtliche Dogmatik in ihrer Rolle als einer für das System konstitutiven
Instanz.
Defizite des Strafjustizsystems
In den siebziger und achtziger Jahren richteten die Theorie, die Soziologie und die
Sozialgeschichte der Strafjustiz ihr Interesse einerseits auf die verschiedenen
Instanzen dieses Systems (Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter, Vollzugsbeamte und
Bewährungshelfer), andererseits auf die Mechanismen der öffentlichen und
veröffentlichten Meinung, welche die soziale Umwelt des Systems konstituieren und
mit ihm in Interaktion treten. Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchungen bestand
darin, das Defizit des Strafjustizsystems in Bezug auf das obengenannte
“Versprechen der Moderne” gezeigt zu haben. Auf der Ebene der Theorie und
Soziologie der Erkenntnis, d.h. ihrer wissenschaftlichen und pädagogischen
Organisation, gab es aber bisher keine entsprechenden Untersuchungen, welche die
Dogmatik des Strafrechts in ihrer doppelten Funktion als einer für das Strafsystem
konstitutiven und zugleich kontrollierenden Instanz zum Gegenstand hätten. Die
Forschung beschränkte sich auf die kritische Betrachtung der eher ideologischen
Elemente der Strafrechtswissenschaft (Straftheorien, allgemeine normative
Prinzipien). Somit wurden die Widersprüche zwischen den erklärten Funktionen, d.h.
den offiziellen Funktionsprinzipien, und den latenten Funktionen, d.h. den realen
Funktions-, Selektions- und Entscheidungsmechanismen, ans Licht gebracht.
Meiner Meinung nach ist es jedoch angebracht, durch eine Methode, die über die
Soziologie hinaus auch einen geeigneten epistemologischen und methodologischen
Ansatz benutzt, das Interesse auf den theoretischen Status des begrifflichen
Apparats der Strafrechtswissenschaft zu lenken. Ebenso ist es angebracht, die
argumentative und entscheidungskontrollierende Funktion, die von den Instrumenten
der Dogmatik de facto wahrgenommen wird, als auch dieselbe Funktion, welche von
den Entscheidungsmechanismen und den Entscheidungen des Systems in Bezug
auf die Entscheidungsstruktur wahrgenommen wird, zu untersuchen. Wenn sich
durch eine solche Analyse ergibt, dass dieses System Entscheidungen produziert
(Entscheidungsprogramme und Eingriffe in konkrete Situationen), die größtenteils mit
den Versprechen der Rationalität, der Gleichheit, der Universalität und der
Gerechtigkeit unvereinbar sind, wo liegen dann die Defizite und die
Kontrollmöglichkeiten der Strafrechtswissenschaft gegenüber dem Strafjustizsystem?
Erfassung "latenter" Variablen
Diese Art der Fragestellung beruht auf zwei Voraussetzungen: einerseits wird eine
Kontinuität und funktionale Interaktion zwischen Rechtsdogmatik und
Argumentationstheorie angenommen; andererseits werden eine
Argumentationstheorie und eine juristische Methode als “angebracht” betrachtet,
sofern sie sich sowohl von einer rein normativen als auch von einer rein deskriptiven
Vorgehensweise unterscheiden. Aufgrund der neuesten Diskussionen und
Erfahrungen in diesem Bereich müßte man folgende Hypothesen aufstellen und
überprüfen: Die “traditionelle” Strafrechtswissenschaft und juristische Methode haben
die Funktion der argumentativen Kontrolle auf diejenigen Variablen der
Entscheidungen des Strafjustizsystems beschränkt, die in der Regel in den
Begründungen der richterlichen Urteile und der Verwaltungsakte enthalten sind
(manifeste Variablen), während die latenten Variablen vernachlässigt werden
(sozialstrukturelle Variablen, Stereotypen, Alltagstheorien usw.). Bezüglich der
latenten Variablen sind die Kontrollmöglichkeiten der Strafrechtswissenschaft und der
juristischen Methode zwar strukturell begrenzt, sie sind jedoch noch nicht
ausgeschöpft.
Dabei müssen wir uns der Ergebnisse der soziologischen und sozialgeschichtlichen
Forschung über das Strafjustizsystem vergegenwärtigen. Die “neue” Kriminologie
(kritische Kriminologie) hat sich in einer ihrer beiden Dimensionen intensiv mit
diesem Forschungsbereich beschäftigt. Es handelt sich dabei um die Untersuchung
der sogenannten Dimension der Definition bzw. der sozialen Reaktion, die - wie
bereits erwähnt - Aufgaben einer Theorie und Soziologie des Strafrechts
wahrgenommen hat.
Modell der integrierten Strafrechtswissenschaft
Das Modell der integrierten Strafrechtswissenschaft, das aus dem Zusammenspiel
der Dogmatik, der Theorie und der Soziologie des Strafrechts hervorgeht,
unterscheidet sich stark von dem Modell der gesamten Strafrechtswissenschaft von
Liszts, sobald die kriminologische Komponente nicht mehr dem ätiologischen
Paradigma sondern dem Paradigma der sozialen Reaktion folgt. Und dies, weil der
Standpunkt der neuen Kriminologie nicht intern sondern extern gegenüber dem
System ist. Dies bedeutet, dass die Definitionen des kriminellen Verhaltens, die von
den Instanzen des Systems produziert werden (Gesetzgebung, Dogmatik,
Rechtsprechung, Polizei und Alltagsverstand), nicht mehr als Ausgangspunkt dienen,
sondern dass man sie als Problem und Untersuchungsgegenstand erkennt, welches
im Rahmen der Theorie, der Geschichte und der Zeitgeschichte der
Gesellschaftsstruktur behandelt werden muß.
Obwohl aber der Paradigmawechsel im Bereich der Theorie und Soziologie des
Strafrechts bedeutende epistemologische Änderungen mit sich gebracht hat,
entspricht der wissenschaftliche Diskurs im Rahmen dieses integrierten Modells
immer noch einer Auffassung von Interdisziplinarität, die ich hier als „intern“
definieren will. Als intern bezeichne ich die Interdisziplinarität, die sich ergibt, wenn
eine akademische Disziplin - oder ein Geflecht akademischer Disziplinen, die zu
einem gemeinsamen Untersuchungsgegenstand konvergieren (in unserem Fall dem
Strafrecht) - Ergebnisse anderer akademischen Disziplinen selektiert und sie im
Rahmen des eigenen wissenschaftlichen Diskurses derartig organisiert, dass die
strategische Autonomie und Hegemonie des eigenen Wissens erhalten bleibt. Eine
solche Interdisziplinarität, die das hier dargestellte integrierte Modell der
Strafrechtswissenschaft konstituiert, profitiert vom Wissen der Gesellschaftstheorie
und -geschichte, der Sozialpsychologie, der Politikwissenschaft, der
Argumentationstheorie, der sozialen Ethik usw. Die Konnotationen und die Inhalte
eines solchen interdisziplinären Diskurses werden vom Einfluß der “kritischen”
Kriminologie - in ihrer oben erwähnten Dimension der Definition oder der sozialen
Reaktion - auf den ursprünglichen Kern des Diskurses, d.h. auf das integrierte
strafrechtliche Wissen, geprägt.
Der wissenschaftliche Diskurs, der aus der internen Interdisziplinarität resultiert,
ermöglicht eine Form der Kontrolle des Strafjustizsystems, die ich ebenfalls als intern
bezeichnen möchte. Es handelt sich um eine formale und juristische Kontrolle des
Einklangs dieses Systems mit den Prinzipien der Gleichheit, der Freiheit und der
Legalität sowie den anderen Prinzipien des “liberalen” Strafrechts, die das
“Versprechen” der Moderne zum Ausdruck bringen. Als „extern“ bezeichne ich
dagegen jene Form der Kontrolle, die sich aufgrund von politischen Kriterien und
Kriterien der materiellen Gerechtigkeit mit den externen Wirkungen des Systems
befaßt. Untersuchungsgegenstand sind dabei die selektive Bestimmung und
Verteidigung von Rechtsgütern, welche sich durch die Kontrolle von Verhalten und
problematischen Situationen ergibt, sowie die soziale Kosten-Nutzen-Bilanz der
Intervention des Strafjustizsystems.
Der wissenschaftliche Diskurs, der eine solche Funktion der externen Kontrolle
übernehmen kann, hat keinen homogenen Untersuchungsgegenstand, wie es bei der
internen Kontrolle der Fall ist. Die vom Strafjustizsystem verwalteten Situationen
bilden eine Gesamtheit von heterogenen Ereignissen mit fließenden Grenzen. Ihr
einziges gemeinsames Element ist, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt und in
einer bestimmten Gesellschaft als Objekte einer Intervention des Systems definiert
werden. Die gesellschaftliche Negativität dieser Situationen und die Möglichkeit, sie
durch soziale Attributionsmechanismen mit dem Verhalten eines Subjekts zu
verbinden (wie es H.L.A.Hart gezeigt hat), können nicht als differentia specifica
dieser Situationen angesehen werden. Und dies aus zwei Gründen: erstens weil sich
immer wieder Fälle einer Intervention des Strafjustizsystems ergeben, in denen die
gesellschaftliche Negativität oder deren Verbindung mit dem kriminalisierten
Verhalten von großen Teilen der Lehre und der Gesellschaft in Frage gestellt wird;
zweitens weil diese zwei Elemente auch bei Situationen und Verhaltensweisen
anzutreffen sind, die den Gegenstand einer Intervention anderer Systeme der
sozialen Kontrolle bilden.
Definition von "kriminellem" Verhalten wissenschaftlich nicht möglich
Wenn man die Theorie des natürlichen Verbrechens nicht teilt, d.h. nicht an die
Existenz der Kriminalität als eines ontologischen Attributs von Verhaltensweisen und
Subjekten unabhängig von den sozialen Definitions- und Attributionsmechanismen
glaubt, dann wird die erwähnte Heterogenität und Verschwommenheit der Grenzen
offensichtlich. Chapman hat bemerkt, dass es für fast alle als kriminell definierten
Verhalten gesellschaftlich vergleichbare Verhalten gibt, die kein Objekt solcher
Definitionen sind. Andererseits müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, dass im
gesellschaftlich-rechtlichen Kontext unserer Untersuchung (der Länder des
europäischen Rechtskreises) in fast allen strafrechtlich “relevanten” Bereichen das
Strafjustizsystem nicht als einziges operiert. Neben ihm operieren andere Systeme
der präventiven und reaktiven Kontrolle, die von staatlichen Institutionen oder von
der Zivilgesellschaft gesteuert werden. Während aber das Zusammenspiel vieler
Instanzen meistens als ein positives Anzeichen gesellschaftlicher Politik bewertet
werden kann, kann dagegen die Priorität eines Systems der Intervention gegenüber
den anderen niemals aus der “Natur” der verschiedenen problematischen Situationen
als eine Notwendigkeit abgeleitet werden.
Wenn wir die aktuellen Strategien im Bereich der Kontrolle von problematischen und
sozial negativen Situationen1) beurteilen und neue Strategien entwickeln wollen,
ergibt sich aus unseren Überlegungen, dass die Bezugnahme auf das heutige
Strafjustizsystem nicht einmal die Herausarbeitung einer wissenschaftlich nutzbaren
Definition des Universums der “kriminellen” Situationen und Verhalten erlaubt. In der
Tat kann eine solche Bezugnahme weder Ausschließlichkeit beanspruchen, noch ist
sie ontologisch notwendig. Solche Definitionsschwierigkeiten beeinflussen direkt oder
indirekt die heutige Debatte über die “Zukunft” der Kriminologie und haben große
epistemologische Fragen aufgeworfen, die noch nicht beantwortet sind und sich im
Zentrum einer Krise (einer Entwicklungskrise?) der kritischen Kriminologie befinden.
Diese Krise wird offensichtlich, wenn wir von der “Dimension der Definition” zur
“Dimension des Verhaltens” übergehen. Gegenstand des Diskurses der kritischen
Kriminologie ist im ersten Fall das Strafjustizsystem. In ihrer Dimension der Definition
trägt die kritische Kriminologie als eine Theorie und Soziologie des Strafrechts zur
Realisierung des integrierten Modells der Strafrechtswissenschaft bei. Dieses Modell
hat die Funktion, das Strafjustizsystem intern zu kontrollieren. In der Dimension des
Verhaltens dagegen bildet der Gegenstand des Diskurses der kritischen Kriminologie
die “materielle Grundlage” der aktuellen und potentiellen Definitionen der Kriminalität.
Es handelt sich allgemeiner um die problematischen Situationen, die mit dem
Verhalten des Individuums in Verbindung gebracht werden können. Im Unterschied
aber zur Dimension der Definition hat die Gesamtheit der Ereignisse, die, wie bereits
gezeigt, den Gegenstand der (traditionellen aber auch der kritischen) Kriminologie in
ihrer Dimension des Verhaltens bilden, keine scharfe Konturen und keine
Homogenität. Was für eine Homogenität kann es denn geben zwischen
Problembereichen wie der Verletzung von Rechten des Eigentums und der
körperlichen und moralischen Integrität, die der traditionellen Kriminalität
entsprechen, und spezifischen Phänomenen der postindustriellen Gesellschaften,
wie den ökologischen Katastrophen, der organisierten Kriminalität, den
Korruptionsaffären, den technologischen Risiken, dem Drogenhandel, den
Problemen der Sicherheit im Straßenverkehr und den AIDS-Problemen? Was für
eine Homogenität kann es denn geben zwischen den Formen der traditionellen und
der neuen Kriminalität?
In der Dimension der Definition haben die Theorie und die Soziologie des Strafrechts
und der integrierte Diskurs der Strafrechtswissenschaft, in den sie sich einordnen,
einen Gegenstand, welcher ihre Autonomie und ihre Möglichkeit, Elemente anderer
Wissensbereiche zu selektieren und im Inneren des eigenen Diskurses zu
organisieren (interne Interdisziplinarität), epistemologisch rechtfertigt. Im Fall der
Dimension des Verhaltens dagegen, in der die Kriminologie und der integrierte
Diskurs der Strafrechtswissenschaft sich mit problematischen Situationen zum Zweck
der “externen” Kontrolle des Systems befassen, hören diese Autonomie und diese
Möglichkeit auf. In diesem Fall erfordert jeder Problembereich, der sich im Universum
jener Ereignisse, die den Gegenstand des Diskurses bilden, unterscheiden lässt, die
Intervention einer jeweils spezifischen Kombination akademischer Disziplinen und
spezieller Wissensbereiche, wobei prinzipiell kein Anspruch auf Hegemonie oder
Kompetenz-Kompetenz möglich ist. Eine solche Form der paritätischen Kombination
akademischer Disziplinen und spezieller Wissensbereiche kann als „externe
Interdisziplinarität“ bezeichnet werden. Es handelt sich um einen flüssigen
Aggregatzustand akademischer Disziplinen; dieses Aggregat wandelt sich nicht nur
gemäß der Natur der wissenschaftlich zu kontrollierenden Probleme, sondern auch
gemäß der eigenen Dynamik der Disziplinen und gemäß der Wahrnehmung der
Probleme seitens der sozialen Akteure, die jeweils für die Festlegung der Strategien
und Taktiken der Kontrolle politisch zuständig sind.
Die Herausarbeitung einer solchen Form der Interdisziplinarität, ihre Anwendung in
der wissenschaftlichen Kontrolle von sozial problematischen Situationen, die mit dem
Verhalten von Individuen zusammenhängen, einerseits und in der externen Kontrolle
des Strafjustizsystems andererseits setzen eine Theorie über die Organisation und
die Teilung der akademischen Arbeit sowie über die Wechselbeziehungen dieser
Arbeit mit der Politik und der Zivilgesellschaft voraus; diese Theorie muß sich mit der
Funktion der Wissenschaft in ihrer Interaktion mit der Gesellschaft gemäß dem
demokratischen Modell befassen. An dieser Stelle möchte ich folgende Hypothese
formulieren: Die externe Kontrolle des Strafjustizsystems und eine “konsistente”
Politik der Kontrolle von sozial problematischen Situationen, die mit dem Verhalten
von Individuen zusammenhängen, erfordert die Teilnahme der integrierten
Strafrechtswissenschaft an einem Netz, in dem differenzierte und aktive
Wissenselemente nach den Regeln der “externen” Interdisziplinarität konvergieren.
Meiner Meinung nach gibt es keine Zukunft für eine Disziplin, in unserem Fall der
Kriminologie, solange sie den Anspruch erhebt, sämtliche Verhaltensdimensionen
der “Kriminalfrage”, d.h. sämtliche Probleme der Gewalt und der Verletzung von
Rechten sowie der damit zusammenhängenden sozialen Konflikte, in ihre eigene
Grammatik einzubeziehen.
Nur Maximum an Variablen kann der Komplexität der Wirklichkeit
gerecht werden
Innerhalb ihrer spezifischen Grammatik kann die Kriminologie uns nur eine künstlich
systematisierte Darstellung der Variablen problematischer Situationen und ihrer
Kontexte bieten, welche aber immer fragmentarisch bleiben muß. Um koordinierte
und kohärente Antworten auf die sozialen Konflikte geben zu können, also
Antworten, die der Komplexität der Wirklichkeit gerecht werden, müssen wir ein
Maximum von Variablen berücksichtigen. Für diese Aufgabe sind aber die
heuristischen und hermeneutischen Ressourcen einer einzigen Disziplin nicht
hinreichend.
Die Kriminologie, wie auch jede andere juristische, soziologische, psychologische
oder politische Disziplin, kann an sich nur isolierte Antworten geben; somit favorisiert
sie die Isolation der wissenschaftlichen Gemeinschaften und fördert die
Institutionalisierung der verschiedenen Agenturen des Staates und der
Zivilgesellschaft, die jeweils nur Fragmente der diversen sozialen Probleme
behandeln - den Bedingungen ihrer je spezifischen Zeitlichkeit gemäß zu
unterschiedlichen Zeitpunkten.
In Bezug auf die bereits erwähnte Verhaltensdimension der Kriminalfrage kann sich
epistemologisch und politisch ein neuer Diskurs nur legitimeren, sofern er sich quer
zur traditionellen akademischen Teilung der wissenschaftlichen Arbeit artikuliert.
Träger eines solchen Diskurses kann nur ein kollektives Subjekt sein, das sich durch
die Teilnahme von Akteuren verschiedener wissenschaftlicher Gemeinschaften
konstituiert. Nur ein solcher Diskurs und ein solches Subjekt sind in der Lage, ein
gesellschaftliches Wissen zu produzieren, das sich sowohl vom demokratischen
Modell der Interaktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft inspirieren lässt, als
auch an den realen Bedürfnissen der Menschen orientiert.
Von der Kriminologie zu einer Politik des Grundrechtsschutzes
Dieses neue Wissen, das dem Prinzip der externen Interdisziplinarität gerecht wird,
kann zugleich den Beitrag der verschiedenen Disziplinen organisieren und eine
angemessene Darstellung der realen Bedürfnisse innerhalb und außerhalb der
wissenschaftlichen Forschung bewirken. Wenn wir die „kriminologische Frage“
überwinden durch eine Negation der Kriminologie als einer “natürlichen”
Wissenschaft der normverletzenden Verhalten und Individuen, dann kann dieses
neues Wissen, dessen Potential schon deutlich wird (man denke nur an die am
weitesten fortgeschrittenen Aspekte der „nouvelle prévention“ und an die integrierte
Politik, die in kommunalen und regionalen Projekten zur Sicherheit der Städte
experimentell erforscht wird), eine neue Antwort auf die „kriminelle Frage“ geben:
eine Antwort, die nicht nur zu einer alternativen Kriminalpolitik innerhalb des
Strafrechtswissenschaften und des Strafjustizsystems führt, sondern auch und vor
allem eine Alternative zur Kriminalpolitik durch das Zusammenspiel von
verschiedenen Agenturen produziert.
Somit wird es auch möglich, der strafrechtlichen „Antwort“ die subsidiäre und
fragmentarische Rolle zuzuweisen, die ihr zukommt im Einklang mit den
verfassungsrechtlichen Prinzipien des sozialen Rechtsstaats und unter
Gewährleistung des Schutzes aller reellen Bedürfnisse der Bürger. Ein minimales
Strafrecht, also das einzige Strafrecht, das in Anbetracht der erwähnten Prinzipien
legitimiert werden kann, darf gewiß nicht als Alibi fungieren für die Einsatzpflichten
des Staates und der Zivilgesellschaft gegenüber den Gewaltsituationen und der
Verletzung von Rechten, die sich in einem Kontext gesellschaftlicher Konflikte und
Probleme ereignen. Die strafrechtliche Antwort, auch wenn sie im Rahmen der
verfassungsrechtlichen Schranken und der funktionalen Grenzen bleibt, die sich aus
integrierten Modellen des Grundrechtsschutzes durch das Zusammenspiel
verschiedener Agenturen ergeben, kann höchstens ein mögliches und
ausnahmsweise notwendiges Element im Rahmen einer integrierten präventiven und
reaktiven Politik sein.
In diesem konzeptuellen Rahmen wird es auch möglich, zur Entwicklung einer neuen
„Kultur des Garantismus“ beizutragen. Dabei wird es sich nicht nur um einen
„negativen Garantismus“ als einer formellen Beschränkung der Strafgewalt handeln,
sondern vor allem um einen Projekt mit materiellen Inhalten, um einen „positiven
Garantismus“, dessen Gegenstand und Ziel eine Politik der sozialen Kontrolle und
des Grundrechtsschutzes in einer demokratischen Gesellschaft sein wird.
Anmerkungen
1) Diese Situationen bezeichnen wir so unter Berücksichtigung des Standpunkts der
beteiligten Subjekte und nach Kriterien der materiellen Gerechtigkeit, die sich in
“konsistenten” Theorien der Bedürfnisse, der Rechtsgüter und der sozialen Kontrolle
ausdrücken lassen.
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