Theorien der Kriminalität Soziologische Kriminalitätstheorien Anomietheorie der Kriminalität Durkheim, Emile 1858 – 1917 – Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt 1977 – Der Selbstmord. Neuwied, Berlin 1973 Merton, Robert 1910 – 2003 – Sozialstruktur und Anomie. In: Sack, F., König, R. (Hrsg.): Kriminalsoziologie, Frankfurt am Main, S. 283–313 Kriminologie I SS 2015 Page 3 Soziale Integration, Anomie und Kriminalität Gesellschaftliche Integration: gemeinsames Kollektivbewusstsein ("Conscience collective“, Normen und Werte) begrenzt die Bedürfnisse der einzelnen Menschen Kollektivbewusstsein (Normen) vermittelt Orientierungssicherheit und ein Gefühl der Solidarität Ein Anstieg des Suizides oder steigende Kriminalitätsraten kennzeichnen einen Verlust an Solidarität/Integration sowie einen anomischen Zustand (Unsicherheit in der Orientierung, fehlende Normen) Der Begriff der Anomie verweist nicht auf Kriminalität an sich, sondern auf einen anomischen Kriminalitätsanstieg, der Schwächung des Kollektivbewusstseins und soziale Desintegration anzeigt Kriminalität ist nicht nur ein normaler Bestandteil der sozialen Struktur, sondern funktional, da die Strafe das beeinträchtigte Kollektivbewusstsein bestärkt Das Kollektivbewusstsein darf nicht zu stark sein; eine Anpassung des moralischen Bewusstseins an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse, und damit sozialer Wandel, muss möglich bleiben – Hierzu gehört die prinzipielle Möglichkeit kriminellen Verhaltens – Das Verbrechen kann deshalb im Einzelfall zum Schrittmacher sozialen Wandels werden Kriminologie I SS 2015 Page 4 Mertons Anomietheorie Gesellschaften zerfallen in eine kulturelle und in eine soziale Struktur – die kulturelle Struktur gibt an, welche Ziele in einer Gesellschaft erreicht werden sollten und wie dies geschehen sollte (Normen und Werte) – die soziale Struktur entscheidet über die Möglichkeiten, die Ziele tatsächlich zu erreichen: objektive Bedingungen des Handelns Kriminologie I SS 2015 Page 5 Anomietheorie Sind kulturelle und soziale Strukturen nicht integriert, dann entsteht – für den einzelnen Menschen eine anomische Situation oder Stress Kriminologie I SS 2015 Page 6 Reaktion auf Anomie Innovation: Die kulturellen Ziele werden beibehalten, die normativ zugelassenen Wege werden ersetzt durch illegale oder illegitime Mittel (Abweichung, Kriminalität). Ritualismus: Die Werte und Ziele werden aufgegeben, die zugelassenen institutionalisierten Mittel werden zum Eigenwert. Rückzug aus der Gesellschaft. Sowohl Werte und Ziele als auch die Mittel werden abgelehnt. Die Anpassung besteht darin, sich aus der Gesellschaft auszugrenzen. Rebellion: Sowohl Werte als auch Normen werden abgelehnt, gleichzeitig wird versucht, die abgelehnten Werte und Normen durch ein neues (gerechteres) System von Werten und Normen zu ersetzen. Kriminologie I SS 2015 Page 7 Cloward/Ohlin: Anomie und Zugangschancen Erweiterung der Anomietheorie kriminellen Verhaltens durch Cloward/Ohlin Ergänzt wird die Anomietheorie um die Zugangschancen zu illegitimen Mitteln Bei Merton enthält die Sozialstruktur implizit eine Annahme zur Verteilung der Zugangschancen zu legitimen Mitteln, – der Unterschicht sind legitime Mittel weitgehend verbaut Cloward/Ohlin stellen die Frage nach der Verteilung der illegitimen Möglichkeiten – Rückgriff auf Theorie der differentiellen Assoziation Kriminologie I SS 2015 Page 8 Theorie der differentiellen Assoziation Theorie der differentiellen Assoziation (Edwin Sutherland): – kriminelles Verhalten wird gelernt, wie jedes andere Verhalten auch – Annahmen: – Kriminelles Verhalten wird in intimen Bezugsgruppen gelernt. – Das, was gelernt wird, besteht nicht nur darin, wie man Diebstähle oder andere kriminelle Verhaltensweisen begeht, sondern auch in bestimmten Wertemustern, Einstellungen (die für bestimmte professionelle Kriminalitätsbegehung bezeichnend sind). – Der Zugang zu derartigen Gruppen ist unterschiedlich verteilt. – Insoweit hängt die Begehung von Kriminalität davon ab, ob und inwieweit man zu bestimmten Gruppen und damit Lernmöglichkeiten Zugang bekommt. Kriminologie I SS 2015 Page 9 Theorieintegration Integration der Theorie der differentiellen Assoziation und der Anomietheorie Typisierung verschiedener subkultureller Anpassungsmuster: – Die kriminelle Subkultur (die entsprechende Lern- und Kontaktmöglichkeiten voraussetzt) – Die Konfliktsubkultur (Banden) – Gewalt als Mittel zu Statuserwerb und -erhalt – Die Rückzugssubkultur (Scheitern in jeder Hinsicht, d. h. sowohl im legalen als auch im illegalen Bereich) – Drogensubkultur Kriminologie I SS 2015 Page 10 Hauptgesichtspunkte der Anomietheorien – Strukturell erzeugter „Stress“ führt zu Kriminalität (oder anderen abweichenden „stresslösenden“ Verhaltensweisen) – Politische Reaktion: Herstellung von Chancengleichheit, Beseitigung von Armut (Politik der sechziger und siebziger Jahre; war on poverty) Kriminologie I SS 2015 Page 11 Subkulturtheorien Cohens Kultur der Gang Kulturtheorie männlicher Bandenkriminalität – Ausgangspunkt: Mertons Analyse von kultureller und sozialer Struktur – männliche Jugendliche der Ghettos können bereits in der Schule die von der Mittelschichtsgesellschaft gesetzten Erwartungen nicht oder nur schwer erfüllen. – Hieraus folgt individuelle Frustration. – Zur Lösung der Frustration werden im Wege einer kollektiven Reaktionsbildung die Mittelschichtsnormen und -werte entwertet und durch eine andere Wertekultur ersetzt. – Dies ist die Wertekultur der Bande. Kriminologie I SS 2015 Page 13 Millers Kulturkonflikttheorie Die Subkultur der Bande ist das Produkt eines größeren subkulturellen Kontextes. Miller versteht die Jugendbande als Teil einer traditionsreichen Subkultur (der Unterschicht, der Arbeiterklasse). Die Verhaltensweisen, die als deviant oder kriminell bezeichnet werden können, entstehen dabei aber nicht wie bei Merton oder Cohen aus der Frustration oder der Anomie, sondern aus der allgemeinen Motivation, mit subkulturellen Werten und Normen konform zu bleiben Die Kriminalität der Bande ist deshalb ein Nebenprodukt subkultureller Normen, die mit denen der dominanten Kultur im Widerspruch stehen. Abweichung und Kriminalität sind damit kein Produkt einer zielgerichteten Reaktion auf Mittelschichtsnormen, sondern der Versuch, nach den in der Subkultur geltenden Normen zu leben. Kriminologie I SS 2015 Page 14 Subkulturelle Werte – Schwierigkeiten mit dem Gesetz haben, – Härte und Männlichkeit (gegenüber Weichheit und Feigheit), – Gerissenheit (gegenüber Beschränktheit, Gelderwerb durch harte Arbeit), – Risiko und Aufregung, Autonomie (gegenüber Unterordnung und Autorität). Kriminologie I SS 2015 Page 15 Labeling Approach Anomietheorien verweisen auf sozial bedingten Stress auf den einzelnen Menschen, der somit zu Abweichung und kriminellem Verhalten getrieben wird und keine eigenständigen Beiträge leistet. Im Labeling Approach (oder Etikettierungsansatz) wird die einzelne Person ebenfalls in den Mittelpunkt gerückt. Hiermit wird dann auf Interaktionen (zwischen Personen oder zwischen Personen und Institutionen) verwiesen. Der labeling approach ist mit den Arbeiten von Howard Becker verbunden (wie wird man Jazzmusiker; wie wird man Haschischraucher). – Becker, H. S.: Außenseiter. Frankfurt 1981 Der labeling approach wurde in den 1960er Jahren auch in Deutschland bzw. in Westeuropa rezipiert. Der labeling approach ist methodisch mit qualitativen Verfahren verbunden (symbolischer Interaktionismus) Kriminologie I SS 2015 Page 16 Labeling Approach Ausgangspunkt: – Es gibt kein abweichendes Verhalten „an sich“ – Erst die Normsetzung schafft die Voraussetzung für die Möglichkeit des von ihnen abweichenden Verhaltens – Soziale Gruppen schaffen abweichendes Verhalten, indem sie Normen aufstellen – Moralunternehmer – Die Unterscheidung von normal und abweichend ist Gegenstand von sozialen Konflikten – Soziale Normen "verursachen" deshalb Abweichung bzw. Kriminalität Kriminologie I SS 2015 Page 17 Labeling approach Die Bewertung einer Handlung als konform oder abweichend erfordert: – Ein Bewertungsschema (Norm) – Ein Bewertungsvorgang: d. h. ein Interaktionsprozess, in dessen Verlauf Menschen anderen Menschen die Eigenschaft abweichend bzw. kriminell zuschreiben – Diese (anderen) können dann das Etikett für sich selbst übernehmen Kriminologie I SS 2015 Page 18 Zuschreibungsprozess 1. Schritt: Verhalten (oder Abweichung) 2. Schritt: Interaktionsprozesse: Handelt es sich um eine Abweichung? Ist die betreffende Person ein Dieb? 3. Schritt: Zuschreibung in Form von – Selbstzuschreibung, Identitätsveränderung – Fremdzuschreibung, Rekonstruktion der Geschichte des Individuums » erleichtert durch Aktenführung (Jugendämter, Strafakten) – Reduzierung anderer Handlungs- und Entwicklungsoptionen » Auch bedingt durch Stigmatisierung (durch strafrechtliche Verurteilung oder Gefängnisaufenthalt) – Entstehung einer „Laufbahn“, Karriere – Allerdings ist dies kein zwingender Mechanismus Kriminologie I SS 2015 Page 19