Wiss. Mitarb. Peer Stolle Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Kriminologie Kriminologie WS 2004/05 § 3 Täterzentrierte Kriminalitätstheorien I. Allgemeines zu Kriminalitätstheorien 1. Begriff der Kriminalitätstheorie Aussage(systeme), in denen mindestens eine Bedingung (Faktor) für das Zustandekommen (die Entwicklung oder die Verbreitung) kriminellen Verhaltens angegeben wird, also eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Variablen hergestellt wird. 2. Funktion K-Theorien sollen nicht nur retrospektiv eine Erklärung kriminellen Verhaltens liefern, sondern - und darin liegt ihre praktische Bedeutung - prospektiv in eine kriminalprognostische Aussage gewendet werden, um eine Grundlage für eine rationale Kriminalpolitik bilden zu können. 3. Leistungsfähigkeit Keine K-Theorie, die eine umfassende Erklärung für Kriminalität liefert. Dazu ist der Gegenstand viel zu komplex (siehe oben). Kriminalitätstheorien sind letztlich modellhafte Erklärungen, mit denen man sich dem komplexen Phänomen der Kriminalität erfahrungswissenschaftlich zu nähern versucht. Aufzeigen von Zugangswegen. 4. Kurze Einführung in die empirische Forschung Kriminologische Theorien können somit sowohl Faktoren benennen, die die Entstehung von strafbaren Verhalten beeinflussen als auch den Ablauf und das Ergebnis eines Definitionsvorgangs. Problem: wie extrahiere ich diese Faktoren? a. Aufstellen einer Hypothese diese besteht aus Erklärungsbedürftigem Phänomen (Explanandum) – abhängige Variable z.B. höhere Kriminalitätsrate in Städten erklärende Phänomene (Explanans) – unabhängige Variablen z.B. höhere Arbeitslosigkeit in Städten intervenierende Variablen z.B. höherer Anteil junger Männer in Städten Hypothese als Verknüpfung von Explanandum und Explanans durch die Herstellung eines empirisch überprüfbaren Zusammenhangs unter Einbeziehung möglicher intervenierender Variablen Arbeitslosigkeit führt zu Kriminalität b. Methoden (Intensiv)Interview, Schriftliche Inhaltsanalyse, Experiment Befragung, Gruppendiskussion, 1 (Teilnehmende) Beobachtung, c. Operationalisierung Überprüfen, ob der in der Hypothese behauptete Zusammenhang auch in der Realität bestätigt werden kann. Dazu muss man die theoretische Begriffe in empirisch fassbare Dimensionen übersetzen. Bsp. Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Kriminalität Schicht: Einkommen, Wohnverhältnisse, Schulbildung, jeweils eigene/Eltern etc. d. Ergebnis Falsifikation: Hypothese ist unwahr Verifizierung Hypothese lässt sich als wahr bestätigen Lit.: Dieckmann, Empirische Sozialforschung, 1990. Sozialforschung, 1995/ Friedrichs, Methoden empirischer II. Einleitung 1. Differenzierungsmöglichkeiten von Kriminalitätstheorien a. Mikro-, Meso-, Makroebene Mikroebene: auf der Ebene des individuellen Täters (individualistische, psychologische Theorien) Mesoebene: Einbezug des unmittelbaren Umfeldes (bspw. sozialpsychologische Theorien) Makrotheorien: gesamtgesellschaftliche Strukturen bzw. Missstände als Erklärung (daher auch als soziologische Kriminalitätstheorien bezeichnet) b. Ursachenspezifisch Soziologisch, sozialisationstheoretisch, biologisch, psychologisch etc. c. Täter-, Tat- oder Reaktionszentriert Unterscheidung nach dem Untersuchungsgegenstand: Tat, Täter oder Reaktion Täterzentriert: gehen von einem festzustellenden Unterschied zwischen Täter und Nichttäter aus Tatzentriert: verneinen diesen generellen Unterschied und untersuchen stattdessen relevante Tatfaktoren. Reaktionszentriert: die Reaktion auf eine Straftat ist entscheidend. III. Täterzentrierte Theorien (Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit) 1. Biologische Theorien a. „Der geborene Verbrecher“ (Lombroso, 1876) untersuchte äußere Merkmale u.a. von Gefängnisinsassen. These: Schlüssel zu kriminellem Verhalten liegt in biologischer Konstitution eines jeden Menschen Kriminalität ist anlagebedingt, Straftäter ist an äußeren Merkmalen erkennbar (Schädelform, Behaarung, etc.) 2 Bewertung: Theorieansatz entspricht einem biologistischen Menschenbild, das in der Wirklichkeit nicht existiert Annahmen wurden auch durch spätere Untersuchungen widerlegt (Merkmale treten auch bei NichtKriminellen auf) b. Erbguttheorie – Zwillingsforschung (u.a. Lange 1929) bildete Vergleichsgruppen zwischen zweieiigen (ZZ) und eineiige Zwillingen (EZ). These: kriminelles Verhalten ist durch Erbanlage bedingt; eineiige Zwillinge haben identisches Erbgut und daher dieselbe kriminelle Prädisposition Forschungsergebnisse: Grad der Übereinstimmung im Delinquenzverhalten bei Zwillingspaaren (Paare, die mindestens einen delinquenten Partner haben) eineiige Zwillinge Zahl der Paare davon konkordant in % zweieiige Zwillinge Untersuchung Jahr Land Lange 1929 D 13 77 17 12 Legras 1932 F 4 100 5 0 Rosanoff et al. 1934 USA 37 68 60 10 Kranz 1936 D 31 65 43 53 Stumpfl 1936 D 18 61 19 37 Rosanoff et al. 1941 USA 45 78 27 18 Yoshimasu 1961 Japan 28 61 18 11 Dalgaard et al. 1976 N 31 26 54 15 Christiansen 1977 DK 325 35 611 13 Durchschnittliche Konkordanz 62 Zahl der Paare davon konkordant in % 19 (Quelle: nach Kaiser Kriminologie 10. Aufl. S. 240) Bewertung: besonders in früheren Studien nur kleine Bezugsgruppen. Starker sozialer Druck auf eineiige Zwillinge, sich gleich zu verhalten, kann höheren Einfluss auf die Delinquenzwahrscheinlichkeit haben, denn die biologische Tatsache. c. Erbguttheorie – Adoptionsforschung Untersuchung der Lebenswege adoptierter Kinder und Vergleich mit dem Lebensweg der leiblichen und der Adoptiveltern^. These: kriminelles Verhalten ist durch Erbanlage bedingt Kinder mit kriminellen Elternteilen müssten selbst häufiger kriminell werden, auch wenn die Erziehung von nichtkriminellen Adoptiveltern vorgenommen wurde 3 Forschungsergebnisse: Kriminalität der „Väter“ Kriminalität der Adoptivsöhne in % Beide Väter nicht kriminell 13,5% Nur Adoptivvater kriminell 14,7 Nur biologischer Vater kriminell 20,00 Beide Väter kriminell 24,5% (Quelle: nach Mednick/Gabbrielli/Hutchings Science1984 S. 891 - 894) Ähnlich Crowe (1972): Zur Adoption freigegebene Kinder einer kriminellen leiblichen Mutter wurden häufiger straffällig (18,9%) denn vergleichbare Adoptivkinder nichtkrimineller leiblicher Mütter (2,7%). Bewertung: Kriminologische Relevanz der Adoption bleibt unberücksichtigt. 2. Lerntheorien stellen auf biologische, (sozial)psychologische oder sozialisationstheoretische Variablen auf, die zum Erlernen von Kriminalität führen. Grundthese: Kriminalität ist erlerntes Verhalten. Den lerntheoretischen Ansätzen liegt die schon bei Tarde formulierte Überlegung zugrunde, dass Kriminalität als Verhaltensform gelernt wird wie jedes andere Verhalten auch. Allerdings gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Art und Weise dieses Lernprozesses und darüber, von welchen zusätzlichen Bedingungen Erfolg und Misserfolg des Lernens abhängen. a. Klassische Konditionierung (Eysenck; Pawlowscher Reflex) Hundeexperiment von Pawlow; Übertragung auf Kinder durch Eysenck These: klassische Konditionierung: Reiz-Reflex-Schema Ich verbinde einen bestimmten Reiz, durch den ich einen Reflex auslöse; diesen Reiz kann ich später ersetzen durch einen neutralen Reiz Verbindung von Delinquenz und Erwartung von Strafe. Bewertung: Mensch reagiert nicht nach Reiz-Reflex-Schema. b. Operante Konditionierung (Skinner 1975) Skinner-Box: Ratte wird in eine Box gesperrt, in der eine Scheibe angebracht, die mit einem Futtermagazin verbunden ist. Durch Berühren eines Hebels wird Futter freigesetzt. Die Ratte lernt durch zunächst zufälliges berühren des Hebels diesen gezielt einzusetzen, um Nahrung zu bekommen. Sie hat am Erfolg gelernt. These: Kriminalität erlernt man wie anderes Verhalten auch durch Erfolg nicht reflexhaft Verhalten ist willensgetragen, Bewertung: Ebenfalls sehr starke Vereinfachung sozialer Lernvorgänge: Lernen als Dressur. 4 c. Beobachtungslernen, Lernen am Modell (Bandura, 1979) These: Lernen erfolgt nicht aufgrund von positiven oder negativen Reaktionen auf das eigene Verhalten, sondern durch Beobachtung von positiven oder negativen Reaktionen auf das Verhalten von Bezugspersonen (Eltern, Lehrer) oder Vorbildern. Folge ist aber keine simple Nachahmung, sondern eine Modellierung der Verhaltensreaktion im Hinblick auf zu erwartende Reaktionen. Bandura geht von drei verschiedenen Lernprozessen aus. 1. Der Lernende macht stellvertretende Erfahrungen, indem er andere Menschen, meistens für ihn ihm wichtige Autoritäten (Lehrer, Eltern etc.) beobachtet. 2. Der Lernende macht Erfahrungen in der direkten Interaktion mit der Umwelt. 3. Instruktionen durch verbale oder bildliche Beschreibungen. Bewertung: Erlernen bedeutet nicht automatisch, dass erlerntes Wissen auch angewendet wird. Unklar bleibt das Verhältnis zum Erlernen legaler Verhaltensweisen. Lit.: Kleines Kriminologische Wörterbuch, S. 257 ff. c. Theorie der differentiellen Kontakte (Assoziation) (Sutherland, ab 1939) ist die wohl bekannteste Lerntheorie. These: Lernvorgang entscheidend von den Gruppenkontakten, die der Einzelne erfährt, abhängig. Er setzt ein, wenn Verbindungen und Kontakte zu Verhaltensmustern mit sozial abweichenden Einstellungen häufiger, länger, intensiver und früher stattfinden als mit gesetzeskonformen Verhaltensmustern. Lernvorgang bezieht sich sowohl auf die Motivation, die Techniken (zur Durchführung von Straftaten) und die Rechtfertigung der Tat. Einzelthesen: 1. Kriminalität wird in Interaktion mit anderen Personen durch Kommunikationsprozesse erlernt. 2. Der intensivste Lernprozess findet innerhalb kleiner, intimer und persönlicher Gruppen statt (weniger wichtig: Filme, Zeitungen). 3. Das Erlernte umfasst sowohl bestimmte praktische Fertigkeiten und Techniken zur Verbrechensbegehung als auch zugrundeliegende Motive, Einstellungen und Attitüden der jeweiligen Gruppe. Weiterentwicklungen: Theorie der differentiellen Identifikation (Glaser): • weniger das quantitative Überwiegen von Kontakten zu dissozialen Gruppen und Personen ist entscheidend (das haben Vollzugsbedienstete auch), sondern das Vorhandensein ganz bestimmter Personen, mit denen sich der Gefährdete identifiziert, um sie als Vorbild für die eigenen Motive und Verhaltensweisen zu nehmen. Theorie der differentiellen Verstärkung: • greift das Prinzip des operanten Konditionieren auf: Kriminalität wird erlernt, wenn der einzelne oder seine Kontaktpersonen bei der Begehung von Straftaten häufiger belohnt als bestraft werden (Verstärkerlernen). 5 Bewertung: Möglicherweise Unterschätzung des Einflusses von Lernprozessen ohne persönlichen Kontakt: z.B. Medien. Nichtberücksichtigung individuell unterschiedlicher Lernfähigkeiten. Empirie: eine Befragung von Schülern zu Identifikation mit (delinquenten) Eltern, Kommunikation über Kriminalitätstechniken und eigener Delinquenz ergab folgende Ergebnisse: (1) Je häufiger Kontakte mit delinquenten Personen, desto positiver die Einschätzung von Delinquenz und desto häufiger Kommunikation über Techniken. (2) Je stärker eine Person abweichende Normen akzeptiert und je wirksamer er die Techniken einschätzt, desto häufiger wird er eigene Gesetzesbrüche begehen, konnte dagegen nur teilweise bestätigt werden. (Vgl. dazu Lüdemann/Ohlemacher Soziologie der Kriminalität, S. 38 ff.) Lit.: Sutherland, Die Theorie der differentiellen Kontakte, Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 395 ff. 3. Kontroll- und Halttheorien Grundthese: Gehen davon aus, dass innerer und äußerer Halt dafür sorgen, dass sich Personen nicht strafbar verhalten. Die relevante Frage ist demnach: Warum begehen Menschen keine Straftaten? a. Halttheorie von Reiss/Reckless (1951/9161) Sozial konformes Verhalten entsteht vor allem durch die Einbindung in intakte familiäre Beziehungen. Dadurch wird innerer Halt und eine „Immunisierung“ gegen „kriminelle Versuchungen“ erreicht. b. Kontrolltheorie von Hirschi Soziale Bindung ist entscheidend, um die Freiheit zu verlieren, Straftaten zu begehen. Vier Faktoren entscheidend: • attachment to others (Bindung an wichtige persönliche Bezugspersonen) • belief in the moral validity of rules (Anerkennung des zentralen Wertesystems) • involvment in conventional activities (Einbindung in gesellschaftliche Aktivitäten) • commitment to achievement (Kalkulation der Folgen abweichenden Verhaltens) Weitentwicklung durch Hirschi/Gottfredson, Theorie der Selbstkontrolle (1990) Selbstkontrolle führt zu Kriminalität niedrige Bewertung: Weder verstärkte Polizeikontrollen, härtere Strafen noch Sozialmaßnahmen führen nach diesen Theorien zu Präventiveffekten. Grundlage für eine neokonservative Pädagogik, die auf klassische (Selbst)Kontrollkonzepte setzt. Spiegelbild eines konservativ-moralischen Menschenbildes, dass Abweichung als Ausdruck fhlender Beherrschung sieht. 6 4. Soziologisch orientierte Kriminalitätstheorien Stellen gesellschaftliche oder sozialisationstheoretische Variablen in den Vordergrund a. Theorie der strukturell-funktionalen Bedingtheit des Verbrechens (Durkheim, 1895) (passt nicht tatsächlich zu den täterzentrierten Kriminalitätstheorien, sondern stellt gesellschaftlichen Zustand ab) nur auf einen These: Kriminalität ist ein üblicher normaler sozialer Tatbestand. Er stellt die Kehrseite von sozialen Regeln dar und damit auch nur durch soziale Tatsachen erklärbar und dient der Erhaltung der gesellschaftlichen Struktur durch Herausbildung und Verdeutlichung von Verhaltensnormen. Kriminalität ist geradezu funktional für die Gesellschaft, ein integrierender Teil jeder gesunden Gesellschaft. Lit.: Durkheim, Kriminalität als normales Phänomen, in Sack/König Kriminalsoziologie, S. 3 ff. b. Anomietheorie Anomie: Zustand von mangelnder sozialer Ordnung und Integration und dadurch hervorgerufener Regel- und Normlosigkeit. aa. Durkheim Untersuchte Selbstmordraten in unterschiedlichen Gesellschaften. These: Durch die hohe Geschwindigkeit wirtschaftlicher Entwicklungen, sei es in Form der Prosperität oder des Niedergangs, werden die sozialen Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern geschwächt und damit Zustände der Anomie hervor gerufen, da die Gesellschaft nicht mehr mäßigend auf seine Mitglieder einwirken kann. Bewertung: Konnte einen Zusammenhang zwischen integrationsfähiger Religionsgemeinschaft, wirtschaftlicher Veränderung und Selbstmordrate entwickeln. Gibt Erklärungsmöglichkeiten für Kriminalitätssteigerungen im Zuge sozialer Umbrüche wie etwa bei der Industrialisierung oder Urbanisierung, nach Kriegen aber auch beim Anschluss der DDR. Nur zur Erklärung makrosoziologischer Vorgänge geeignet. bb. Anomietheorie von Merton (1951) These: Kriminalität entsteht als Folge einer Gesellschaftsstruktur, in der es zu einem Auseinanderklaffen zwischen den als legitim anerkannten Zielen einer Gesellschaft und den zu ihrer legalen Erreichung zur Verfügung stehenden Mitteln kommt. Anomie resultiert aus diesem Widerspruch. Sie wird von Merton dabei als gesellschaftlicher Druck auf das Individuum begriffen, nicht als Eigenschaft der Gesellschaft wie bei Durkheim. 7 5 Reaktionsmöglichkeiten: Reaktionstyp Konformität kulturelle Ziele werden anerkannt (+) legitime Mittel werden anerkannt (+) Druckreduzierung durch Innovation anerkannt (+) abgelehnt (-) Einsatz illegaler Mittel Ritualismus abgelehnt (-) anerkannt (+) Senkung des Anspruchsniveaus Rückzug abgelehnt (-) abgelehnt (-) Ausstieg aus der Gesellschaft Rebellion ersetzt (+/-) ersetzt (+/-) Umdefinierung von Zielen und Mitteln Erfolg mit legitimen Mitteln Bewertung Mertons Mikro-Makro-Modell bezieht auch die individuelle Verhaltensebene mit ein. Modell ist erweiterbar (und wurde auch verschiedenartig erweitert). Bestätigt vor allem in kriminalstatistischen Auswertungen, im geringerem Maße aber in Umfragen zu selbstberichteter Delinquenz. (1) H.-J. Albrecht, Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität, KrimJ 1984, 218-228. • Zusammenhang teilweise indirekt über durch die Arbeitslosigkeit ausgelöste Legitimitäts- und Plausibilitätsverluste von Normen, die zu einer erhöhten Delinquenzbereitschaft führen. • Zusammenhang zwischen Steigen und Fallen der Kriminalitäts-– und Arbeitslosigkeitsrate (2) Peters, Jugendkriminalität, Gegenwartskunde 1985, 357-386. • Zusammenhang zwischen Schichtangehörigkeit und Kriminalität. Anteil erhöht sich, je niedriger die Schicht (Kriminalitätsbelastung am höchsten bei Hilfsarbeitern) (3) G. Albrecht/Howe, Soziale Schicht und Delinquenz, KZfSS 1992, 697-730. • Studie über selbstberichtete Delinquenz • Wichtig: Zusammenhang Körperverletzung – Schicht. • Schicht ist sonst nicht die zentrale Variable, aber trotzdem wichtig. Zusammenhang ist nicht so eindeutig. Lit.: Merton Sozialstruktur und Anomie in: Sack/ König (Hrsg.) Kriminalsoziologie, S. 283 ff.; Ortmann, Abweichendes Verhalten und Anomie, 2000. c. Ökologische Theorien/Theorie der sozialen Desorganisation (Chicago School) (Ökologie = Wissenschaft von den Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umwelt) These: lokale Gegebenheiten bestimmen die sozialen Bedingungen für die Entstehung von Kriminalität und deren Ausprägung. Gebiete mit hoher sozialer Desorganisation weisen ein höheres Maß an Delinquenzbelastung auf. Thrasher (1929) - Untersuchung von 1313 Chicagoer Gangs – es gibt bestimmte Gegenden am Rand der City, in denen das Bandenwesen (”gang-lands”) besonders verbreitet ist. Shaw und McKay (1939, 1942) - untersuchten ebenfalls in Chicago, später auch in anderen Städten, die Wohnsitze von jugendlichen Schulschwänzern und Kriminellen - stellten dabei fünf verschiedene 8 Stadtzonen mit unterschiedlicher Sozialstruktur und Kriminalitätsbelastung fest (Zonentheorie). Da die Kriminalitätsbelastung u.a. unabhängig von der sich ändernden ethnischen Zusammensetzung war, lag der Schluss nahe, dass geographische Faktoren Kriminalität bedingen, sozusagen die Bewohner eines bestimmten Gebietes infizierten (delinquency areas). Bewertung: Erstmaliges Aufstellen eines Zusammenhangs zwischen Gebiet und Kriminalität Aber: der Zusammenhang bleibt noch ungeklärt, inwieweit räumliche Bedingungen Kriminalität verursachen oder räumliche Bedingungen nicht auch Ausfluss einer bestimmten sozialen Lage ist Trennung von Ursache und Wirkung bleibt unklar. Bsp.: In einer Untersuchung konnte die These, dass hohe Arbeitslosigkeitsraten in sozial desorganisierten Wohngegenden hohe Kriminalitätsraten bedingen, bestätigt werden (vgl. Eifler, Kriminalsoziologie, S. 27) Es war also nicht das Wohngebiet als solches, sondern die dort herrschenden sozialen Bedingungen, die delinquentes Verhalten „produzierten“. d. Subkulturtheorien Subkulturtheorien haben eine sehr große Bedeutung bekommen; ursprünglich entwickelt an der usamerikanischen Gang-Kultur werden sie mittlerweile auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Subsystemen übertragen. These: In der Gesellschaft gibt es nicht nur das herrschende Norm- und Wertesystem. Die Zugehörigkeit zu Gruppen mit eigenem Werten und Normen (Subkulturen) wirkt sich auf die Delinquenzbelastung aus. aa. Whyte (1943) Teilnehmender Beobachter für drei Jahre von Gangs in den USA. Aufstellung von Gang-Typologien. bb. Cohen (1955) These: Subkultur ist eine kollektive Antwort auf die ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen Gütern und die dabei entstehende Unzufriedenheit mit der Statuswelt der Mittelschicht. Auch Cohen geht von einer Diskrepanz zwischen Klassengesellschaft und demokratischer Ideologie (siehe Anomie) aus Grundsätzlich gibt es nur eine Statuswelt, trotzdem entstehen Subkulturen. Subkultur schafft daher eigene autonome Statuskriterien, die im Widerspruch zu der üblichen Rechts- und Sozialordnung, insbesondere zu den herrschenden Wertvorstellungen der Mittelschicht stehen, aber in der Lage sind, das Verhalten in der Subkultur zu regeln. Im Unterschied zur Theorie der sozialen Desorganisation geht dieser Ansatz davon aus, dass die delinquency areas und gang-langs keineswegs desorganisiert sind cc. Theorie der Unterschichtkultur (Miller, 1968) These: Primäre Intention ist nicht die Verletzung der Mittelstandsnormen, sondern die Anpassung an die eigenen Unterschichtsnormen. Miller hält in seiner Theorie der Unterschichtkultur die Annahme von Cohen, dass die delinquente Subkultur eine bloße Negation der Mittelstandsnormen beinhalte, für unzutreffend. Das Verhalten der Unterschichten ist gar nicht nur eine Reaktion auf die Mittelschichtkultur, sondern stellt ein eigenständiges Wertesystem dar, dessen Befolgung allerdings notwendig zu einem Konflikt mit dem Gesetz führt. 9 Miller benennt mehrere polar angeordnete „Kristallisationspunkte“ der Unterschichtkultur. positiv bewertet negativ bewertet Konflikt mit Kontrollinstanzen Konformität 1. Schwierigkeiten Mut, Tapferkeit, Männlichkeit, Weiblichkeit, Feigheit, Vorsicht, 2. Härte Furchtlosigkeit Schüchternheit, Schwäche Fähigkeit, zu übervorteilen, Gutgläubigkeit, hart arbeiten, Langsamkeit, 3. Wendigkeit hereinzulegen, Cleverness, Vertrauensseligkeit Schlagfertigkeit Spannung, Risiko, Gefahr, 4. Aufregung Sicherheit, Gleichförmigkeit, Langeweile, Abwechslung, Aktivität Passivität vom Schicksal begünstigt, Glück vom Schicksal benachteiligt, Pech 5. Schicksal Freisein von äußerem Zwang / Vorhandensein von Zwang / starker 6. Autonomie übergeordneter Autorität; Autorität; „umsorgt werden“ Unabhängigkeit Lit.: Miller Die Kultur der Unterschicht als Entstehungsmilieu für Bandendelinquenz, in: Sack/König (Hrsg.) Kriminalsoziologie (1974) S. 339 ff. Bewertung: Grundsätzlich zu den Subkulturen: Neutralisationstheorien möglich. Ideale Verbindung zwischen Lern-, Subkultur- und Keine Beschränkung auf jugendliche Bandenkriminalität nötig, da Erkenntnisse auch auf andere gesellschaftliche Kulturen übertragbar. Zu Miller: Verfeinerte Analyse, größere Konkretheit, Wertneutralität. Differenzierung zwischen angemessenen und unangemessenen deliktischem Verhalten. e. Cloward/Ohlin: Theorie der differentiellen Gelegenheiten (1961) Im Anschluss an Merton und Subkulturtheorien These: Nicht nur die Zugangschancen zu legalen Mitteln und Wertvorstellungen sind für die Begehung von kriminellen Handlungen bedeutsam, sondern auch der Zugang zu illegalen Mitteln, der ebenso wie der Zugang zu legalen Mitteln ungleich verteilt ist. Subkulturen können bei dem Zugang zu illegalen Mitteln förderlich sein (sind aber nicht ausreichend) Bewertung: Erweiterung der Subkultur- und Anomietheorie. Nicht nur auf Subkulturen (obwohl für die geschaffen), sondern auch auf Einzelpersonen anwendbar. f. Theorie der Neutralisierungstechniken von Sykes/Matza Korrektur der Subkulturtheorien, die weit darüber hinaus Bedeutung erlangt hat. These: Jugendliche entwickeln Rechtfertigungsstrategien, um ihr eigenes delinquentes Handeln mit dem durchaus befürworteten herrschenden Wertesystem in Einklang zu bringen Wirkung der Normen wird neutralisiert, das eigene Selbstbild bleibt erhalten. Sie widersprechen daher der Annahme, die Subkultur sei durch eine Ablehnung der Mittelklassenormen gekennzeichnet viele delinquente Jugendliche anerkennen grundsätzlich die herrschenden Normen und Werte. 10 5 Neutralisierungstechniken an, deren Erlernen nach dem Prinzip der differentiellen Assoziation erfolgen soll: Neutralisierungstechnik Leugnen bzw. Ablehnen der Verantwortlichkeit für die Tat Tat wird dem Zufall oder ungünstigen Umwelteinflüssen zugeschrieben („lieblose Eltern“, „unglückliche Kindheit“) Leugnung/ Verharmlosung des Schadens (vermögenden) Opfer trifft der Schaden nicht Entpersonalisierung des Opfers (bspw. bei juristischen Personen) Leugnung der Opferrolle Opfer wird Verantwortlichkeit zugeschrieben Opfer wird dehumanisiert Verdammung der Verdammenden Herabsetzung der an der Strafverfolgung beteiligten Personen Berufung auf höherstehende Maßstäbe Auf ungeschriebene Normen der eigenen Bezugsgruppe (Ehre, Freundschaft) Lit.: Sykes/Matza Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz in: Sack/König (Hrsg.) Kriminalsoziologie (1974) S. 360 ff. Bewertung: Nicht nur auf jugendliche Subkulturen anwendbar, sondern auf jegliche Form der Delinquenz. Empirische Bestätigung: (1) Amelang 1988: je ausgeprägter die Neutralisationstechniken, desto höher die Delinquenzbelastung. (2) Schahn 1995: je schwerwiegender das Delikt, desto umfassender die Neutralisationstechniken (Bsp.: am niedrigsten bei Ladendiebstahl, am höchsten bei Versicherungsbetrug und Urkundenfälschung; nach schwerer Kriminalität oder Gewaltdelikten wurde erst gar nicht gefragt). (3) Ferrarro: auch Opfer zeigen Neutralisationstechniken, beobachtet anhand von Bewohnerinnen von Frauenhäusern, die ihre Männer in Schutz nahmen oder entschuldigten/rechtfertigten. g. Theorie des Kulturkonflikts (Sellin, 1938) These: Kriminelles Verhalten von Einwanderern oder sonstigen Angehörigen kultureller Minderheiten können auf Konflikte aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen der aufeinander treffenden Kulturkreise zurückgeführt werden. Bewertung: Unklar, ob nicht Variablen der Labeling-Theorie, der Anomietheorie oder der Subkulturtheorien aussagekräftig sind. h. Marxistischer Ansatz These: Kriminalität ist auf die spezifische Form der kapitalistischen Vergesellschaftung zurückzuführen. Nichtbesitz von Produktionsmitteln führt zu Anpassungsproblemen und Widerstandsdelinquenz. 11 Bewertung: Philosophisch-makrostrukturelle Herangehensweise ermöglicht Überlegungen über die Entstehung von (Straf)Normen und deren herrschaftsstabilisierende Funktion. Außerdem kann damit der Frage nachgegangen werden, warum Menschen bestimmte Ziele (mit legalen oder illegalen Mitteln) verfolgen. Allerdings nur makrostrukturell möglich, da auf der individuellen Persönlichkeitsreduzierung auf ökonomische Umstände nicht möglich ist. eine derartige Literatur: Sack/König, Kriminalsoziologie, 2. Aufl. Frankfurt/Main 1974 (viele soziologische Theorien in Originalfassung). Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens, 7. Aufl., München 1999 (zu soziologischen Theorien, mit Bewertung und Empirie). Lamnek, Neue Theorien abweichenden Verhaltens, 2. Aufl. München 1997 (zu Kontrolltheorien. Lüdemann/Ohlemacher, Soziologie der Kriminalität, München 2002 (zu Anomie, Neutralisation und Theorie der differentiellen Kontakte mit Empirie). Eifler, Kriminalsoziologie, Bielefeld 2002 Desorganisation, Lern- und Kontrolltheorien). (zu Anomie, Brammsen, Kriminalität und Sozietät, Jura 1989, 122 ff; 186 ff. Und alle anderen einschlägigen Kriminologielehrbücher. 12 Subkultur, Kulturkonflikt, sozialer