Das Bild des Straftäters in der Öffentlichkeit – Von der Schwierigkeit, sachlich über Kriminalität zu berichten Sabine Rückert, Gerichtsreporterin „Die Zeit“, Hamburg Der Straftäter ist - gleich neben dem so genannten Star - der Liebling der Presse. Er stellt für die Öffentlichkeit sozusagen den Anti-Star dar. Ohne den Räuber, Vergewaltiger, Mörder wäre die medial vermittelte Welt öde und leer. Verbrechen sind den Verkaufszahlen der Print-Medien und den Einschaltquten der elektronischen Medien überaus dienlich. Ich kann das beurteilen, ich bin selbst Teil jenes Geschäftes. Warum interessieren sich Menschen so brennend für Kriminalität? Ich glaube, weil sie Teil der menschlichen Natur ist: Manchmal ihr krankhafter Auswuchs, meistens die Folge der Freiheit des Menschen, sich für den Regelverstoß – manchmal sogar für das Böse - zu entscheiden. Für solch eine Entscheidung gibt es immer einen Grund – und der ist das Interessanteste am Verbrechen. Fast jeder noch so brave Bürger gerät im Laufe seines Lebens an biographische Weggabelungen, wo ihm der Gedanke an eine Übertretung, vielleicht sogar an eine Bluttat durch den Kopf schießt. Die Steuerhinterziehung, die Körperverletzung, die Tötung der untreuen Geliebten sind Delikte, die nicht irgendwo am anderen Ende der Welt begangen werden, sondern in der Mitte unserer Gesellschaft. Jeder ist in Gefahr in Versuchung zu geraten oder die Beherrschung zu verlieren. Es ist deshalb ganz legitim, wenn nicht nur Literaten – wie Tolstoij, Dostojewskij, Camus und Musil – sondern auch Journalisten sich dem Phänomen des Verbrechens und seiner Entstehung widmen. Wobei ich an dieser Stelle anmerken möchte, dass, auch wer Verbrechen bekämpfen will, sich zwangsläufig mit seiner Entstehung befassen muss, was dem journalistischen Interesse durchaus kriminalpolitische Bedeutung verleiht. Denn die Beschäftigung beschert dann nicht nur Einsichten in die menschliche Seele, sondern auch in politische, rechtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge die Verbrechen Vorschub leisten. Für den in einer Demokratie lebenden Leser und Zuschauer also durchaus Notwendigkeit und Gewinn. Leider aber stellt sich die Realität häufig anders dar. Die Art und Weise wie sich viele Medien mit Kriminalität befassen ist – milde ausgedrückt – problematisch: Der Straftäter, sein Motiv und sein Lebensweg werden durch die Berichterstattung nicht nur nicht erklärt, sondern ins Reich des Nichtmenschlichen verbannt. Gerade marktschreierische Organe haben die Vorliebe, Straftäter als “Bestie”, oder Monster oder Schwein zu beschimpfen und durch moralisch aufgeladene Kommentare aus der Gesellschaft der Menschen auszustoßen. Straftäter werden dem gesunden Volksempfinden als Blitzableiter vorgesetzt, auf die sich alle niederen Instinkte, aller Selbsthass projezieren lässt. Diese Regungen der Volksseele sind nicht neu. Früher ging der Bürger zur öffentlichen Hinrichtung, heute liest er Boulevardblätter, um sich selbst als guten Menschen und anständigen Kerl wahrzunehmen. Mit der Zunahme der Zeitungen, der Radiosender und Fernsehprogrammen steigt zwar die mediale Hinwendung zum Verbrechen, nicht aber das Niveau der journalistischen Arbeit. Wird ein Kind ermordet, so geht ein Aufschrei aus tausend Organen durch die Republik, wird der Täter gefasst, wird derselbe Mord wieder Thema, ebenso bei Prozesseröffnung und dann wieder, wenn das Urteil ergeht. Ein einziger Kindermord beschäftigt also viele Massenmedien und deren Konsumenten über viele Monate. Ebenso läuft es bei publikumswirksamen Vergewaltigungen, Entführungen oder Raubtaten ab. Der Bürger der in einem kriminalpolitisch ereigneislosen Land wie Deutschland wohnt, wird mit oberflächlichen und tendenziösen Berichten über Verbrechen förmlich bombardiert. Das hat Auswirkungen: Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, eine der bedeutendsten Erkenntnisquellen der Kriminalwissenschaft in Deutschland, hat durch Volksbefragungen festgestellt, dass die Deutschen bei sinkenden Kriminalitätsraten (!) dank der hohen Quantität und der niedrigen Qualität der Berichterstattung das höchstpersönliche Gefühl entwickelt haben, von Einbrechern, Sexualstraftätern und Mördern umstellt zu sein. Sie kaufen sich Alarmanlagen, beschäftigen Sicherheitsdienste und lassen ihre Töchter nicht mehr mit dem Rad zur Schule fahren. Sie geraten in den Bann von Angst und Hassgefühlen. Zahlen/Beispiele Das hat Auswirkungen auf die Täter. Öffentliche Hysterie führt zur Rigidität in der Kriminalpolitik. (Das dürfte Ihnen hier in der Schweiz bekannt vorkommen) Volksvertreter, die drakonisches Vorgehen gegen Kriminelle propagieren, haben eine gute Chance gewählt zu werden, auch wenn ihre Vorschläge sinnlos sind. Kusch/Hamburg Die verhängten Strafen werden härter, die Sicherungsverwahrung – früher Ultima Ratio der Strafjustiz – ersetzt mehr und mehr die lebenslange Freiheitsstrafe. E wird schneller und länger eingesperrt und seltener vorzeitig entlassen. Die Gefängnisse in Deutschland platzen aus allen Nähten. Die Verurteilten, um die sich keiner mehr kümmert, entfremden sich der Gesellschaft mehr und mehr und verlieren im Knast die letzten Reste der sozialen Tüchtigkeit. Die Folgen einer solchen Kriminalpolitik waren Ende vergangenen Jahres im nordrhein-westfälischen Siegburg zu besichtigen. Dort ermordeten in einem überfüllten Gefängnis aufeinander gesperrte jugendliche Häftlinge einen Mitgefangenen aufs grausamste. Die Täter waren allesamt schwer gestörte und verwahrloste junge Männer, mit vielfachen Defiziten, um die sich auch im Knast niemand kümmerte. Der Gefolterte und Getötete war ein kleiner Dieb. Inhaftiert war er, weil er einen Automaten geknackt hatte. Auch auf die Strafjustiz macht die öffentliche Stimmung immer öfter Eindruck. Fall Mederake Eine Kriminalpolitik, die das Verbrechen nicht bei seiner Ursache, also im Entstehungsstadium bekämpft, sondern – unter medialem Druck – aufs Einsperren setzt, bringt dem Land auf lange Sicht nicht nur nichts, sondern kostet eine Menge sinnloses Geld. Obwohl jeder weiß, dass Kriminalität durch Dissozialität entsteht, dass Verrohung und soziale Kälte der devianten Entwicklung eines Kindes Vorschub leisten wird in Deutschland an der Jugendfürsorge gespart. Misshandelte Kinder werden aus Kostengründen in der lebensbedrohlichen Umgebung belassen. Fall Kevin/Bremen Über solche Todesfälle wird dann in der Presse in langen kummervollen Beiträgen berichtet. Was aber wäre aus all den geprügelten, verbrannten, misshandelten, missachteten Kindern geworden, hätten sie ihr Martyrium überlebt? Gut denkbar, dass ihr finsteres Konterfei in zwanzig Jahren die Titelseiten jener Zeitungen geschmückt hätten, die jetzt laut ihren Tod beklagen. Und dass die Schlagzeilen dann gelautet hätten: “Wieder so ein Schwein”.