DU HAST GEWACKELT. requiem für ein liebes kind cuvilliÉs theater Shenja Lacher Franz Pätzold Dieter Roland Gerhard Peilstein Otto Katharina Schmidt Elfi Bernd DU hast gewackelt. requiem für ein liebes kind Uraufführung ! von Regie Bühne Kostüme Licht Dramaturgie Franz xaver kroetz anne lenk judith oswald silja landsberg markus schadel Angela obst Regieassistenz Manfred Riedel Bühnenbildassistenz Swetlana Klee Kostümassistenz Lili Wanner Regiepraktikum Franz-Xaver Mayr Bühnenbildhospitanz Loris Kubeng Kostümpraktikum Marina Felix Inspizienz Ronda Schmal Soufflage Simone Rehberg Wally . 0 .3 Vo Manfred Zapatka Kurt in Ulrike Willenbacher Wally m Lukas Turtur 3 Pr em rs c ie te u re ll v m 17 un i l ä g li s É rz Ke da s in u e t h e rc Pa a e us . 1 at e STD e r 2 Bühnenmeister Ralph Walter Beleuchtungsmeister Markus Schadel Stellwerk Kilian Kleinehellefort Ton Alexander Zahel Requisite Jens Mellar, Stefan Reti Maske Kathrin von Manteuffel, Stefanie Polster, Marie Schreiber Garderobe Sandra Fuchs, Franz Schuller 4 5 Kurt Otto 6 7 Dieter Bernd 8 9 Roland Elfi 10 „Mir liegt das Böse nicht. Mir liegt mehr das Gute.“ Das sind die ersten Worte von Kurt, mit dem die männliche Rede des Textes einsetzt. Eines Textes, der um das Böse kreist wie ein Habicht über der Beute und die Worte Kurts der Lüge überführen wird. Denn ein Kind ist getötet worden. Franz Xaver Kroetz schrieb im Sommer 2003 das Theaterstück DU HAST GEWACKELT. REQUIEM FÜR EIN LIEBES KIND, als die Tosa-Klause in Burbach, einem Stadtteil von Saarbrücken, deutschlandweit zu einem Synonym für pervertierte Sexualität wurde – noch Jahre vor dem Freispruch aller Verdächtigen. Der Fall „Pascal“ brannte sich spektakulär in die deutsche Strafrechtsgeschichte ein, weil ein ungeheuerlicher Verdacht – der regelmäßige sexuelle Missbrauch mindestens zweier kleiner Jungen und die Tötung eines der beiden in einer Kneipe, in der eine Art Parallelgesellschaft organisiert war – nie in ein nachweisbares Verbrechen überführt wurde. Die Leiche des vermissten Pascal wurde nie gefunden, alle Geständnisse der Verdächtigen wurden im Laufe des mehrjährigen Prozesses widerrufen, die Aussagen des zweiten Jungen waren nicht justiziabel. Große und kleine Pannen der Ermittler, unübersehbare Verstrickungen der Angeklagten in Rede, Gegenrede, Geständnis und Widerruf und ein merkwürdiger Urteilsspruch des Richters bilden bis heute einen blinden Fleck auf der Netzhaut unseres Rechtssystems – und unseres Gewissens. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. - Kroetz hat seine Figuren in eine Wirtsstube gesetzt, die in ihrer rotweiß-karierten Enge, mit dem Dielenmuster auf dem Linoleum, mit den sparsam benutzten Heizkörpern und den höhnischen Fenstern, von denen zu Recht eins zugemauert ist (denn hinaus schaut schon lange keiner mehr), gleichmütige Armut und kalte Provinz atmet. Er lässt sie, angelehnt an die realen Vorbilder, Funktionen ausüben, die hier zu leeren Formeln geworden sind: eine Wirtin, die nichts ausschenkt; die Mutter des toten Kindes, die ihren Körper anbietet, weil sie sonst nichts mehr anzubieten hat; männliche Gäste, die nichts kaufen können, in einem Etablissement, das in sich funktioniert wie ein geöltes Uhrwerk, vergessen von der digitalen Zeit. Ein Draußen wird nur erahnbar, weil man hin und wieder Züge vorbeifahren hört. Das Leben dieser Menschen ist eng und abgeschlossen. Und einsam. Allein sitzen die Männer an ihren Tischen, warten auf Bier, das niemand bringt, spielen mit Mikadostäbchen, Puzzleteilen, Pferdekarten und Spielzeugautos und manchmal an sich selbst herum. Und sobald sie reden, steht die Welt still und hält den Atem an und sich die Ohren zu, denn in ihren Reden wird ein Kind lebendig und zugleich aufs Neue getötet. Die Reden könnten Verhörprotokolle sein, aufgenommen im unbarmherzigen Neonlicht der Polizeireviere, doch eine Instanz jenseits der Täter – eine Öffentlichkeit, einen Richter, einen Gott – verweigert der Text. Die Reden könnten auch laut geschaltete Stimmen in ihnen selbst sein, die Duelle der ach zwei Seelen in ihrer Brust, ohne Sekundant auf ewig in die Revolvermündung des Gegners starrend. Wie ein Fluch ist dieses Reden, das auf den Figuren lastet, das sie nicht verstummen lässt, nicht entlässt in die heilsame Stille, nicht in Ruhe lässt, nicht erlöst. Es scheint, als sei hier nicht mehr Sprache das Mittel, das eine Figur wählt, um sich auszudrücken, sondern als sei sie es selbst, die „sich, unmenschlich, über den Menschen entwickelt, ihm ihre Gesetze aufzwingt, trotz der Anstrengung des Sprechers, etwas zu bedeuten. Es gibt noch Figuren, doch sie sind absichtlich hohl, denn sie sind nichts weiter als das, was durch sie und von ihnen gesagt wird.“ (Jean-Paul Sartre, Mythos und Realität des Theaters) So regressiv ihr autistisches Spielen ist, so regressiv ist auch ihre Sprache. In naiven Vokabeln wird die schöne Zeit wiederbelebt, in der ein Kind die Welt bedeutete. Die Täterstimmen verlieren sich in Erinnerungen an den kleinen Jungen, sie springen in die Vergangenheit, spielen noch einmal durch, wie es gewesen war, wie es gewesen sein könnte – die (Doktor-)Spiele mit 11 „Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. - dem Kind, die Süßigkeiten und das Bauchweh danach, das Erlernen der Uhrzeit, der Besuch im Tierpark, die Hilfe beim „Pipimachen“ und „Popoputzen“, die Ausgaben für Geschenke und die Konkurrenz der andren „Onkels“, die Bussis, die eigenen Finger am Geschlecht des Kindes, im Anus des Kindes, die Deals, der Schmerz, die Gewalt. Und in ihren Reden antwortet das Kind, fragt, widerspricht, bestätigt und gibt irgendwann Ruhe, ein mundtotes Spielzeug, das „kaputt“ gemacht wurde. Aus Schuld beginnen die Täter zu reden und umkreisen das Kind mit gespaltener Zunge. Zwischen Hybris und Ohnmacht, im Chor oder einsam suchen sie Vergebung, beschwören Liebe, reden sich heraus und immer weiter hinein in das Verbrechen, das sie nicht begangen haben wollen: „Ich habe dieses Kind geliebt, wen man liebt, dem tut man nicht aua“. Wer also war es? Ist der Täter gefunden, ist die eigene Unschuld erwiesen und die Erlösung nah. Doch das Opfer nennt keinen Namen. Also wird es selbst hinterfragt, denn wer bestimmt in diesem rechtsfreien Raum, wer hier Opfer und wer Täter ist? Die Angeklagten werden zu ihren eigenen Anwälten, im Kreuzverhör: ein totes Kind. Als Beweismittel zugelassen: Geld. Ihr begrenztes Geld. In den Jungen investiertes Geld. Denn alle Handlungen, die das Kind an und mit sich erlaubte, alle Zeit, 12 die es dem Täter schenkte, wurden bezahlt: „Dann gibt man sich ein Bussi und dann gibt man ein Geld“. Da Berührungen, Zweisamkeit nicht beidseitiger Wunsch sind, musste ein Gegenwert her, um die Geste des Einverständnisses zu erwirken: ein Spielzeug, eine Süßigkeit, ein Geldschein. Mann und Kind wurden zu Geschäftspartnern eines ständig neu austarierten Handels, der den Gesetzen von Wertsteigerung und -verfall, Akkumulation, Konkurrenz und Ausschluss folgte, als hätte Adam Smith Pate gestanden: „Was kriegt man für 5 €. Für 2 €. Für 50 Cent. Zähneputzen für 1 €. Die Vorhaut ziehen für 2 €. Für 20 € lässt du dich ficken. Für 50 € kann man alles mit dir machen“. Das Verbrechen wird per Handschlag legalisiert, indem man das unmündige Kind zum geschäftsfähigen Partner erklärt. Ja, mehr noch: In dem Paradoxon des „unschuldigen Grinsens“ des Kindes zeigt sich die höhnische Fratze des Kapitalismus schlechthin. Das Kind wird als hedonistischer Verführer inszeniert, als unerbittlicher Stricher auf dem Markt der Gefühle, der den Preis des eigenen Ausverkaufs nach Belieben festlegt. Hier spielt Romantik keine Rolle, Konkurrenz dafür umso mehr: „Es gibt aber immer jemand, der mehr Geld hat. Das ist normal und vor jemand, der mehr Geld hat, hat man mehr Angst“. Geld ist an diesem Ort nur begrenzt vorhanden: Hier sind diejenigen versammelt, die „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. - Randständige der Gesellschaft sind, vom Karussell des fröhlich entfesselten Kapitalismus längst heruntergefallen. Ihr Wert bemisst sich allein an der Wertschätzung durch das Kind, an dessen scheinbar liebender Geste, die zum Akt der Anerkennung stilisiert, ja, die zur existenzbildenden Maßnahme wird. Doch die wird immer teurer erkauft. Und je mehr man zahlt, umso mehr will man machen dürfen. Der sich höher schraubende Preis hat immer enthemmtere Handlungen zur Folge. Je mehr das Kind buchstäblich seine Haut zu Markte trägt, Schmerzen erleidet, umso mehr zahlt man und umso mehr ist man wert. Der Teufelskreis kann nur tödlich gesprengt werden. In seiner Mitte liegt ein totes Kind. Und die leere Hülle einer Identitätssuche in einer Zeit, in der nur wertvoll ist, was seinen Preis hat. Die Tür zum Paradies ist auf ewig verschlossen. Die Figuren, die Kroetz uns zumutet, sind keine körperlosen Täter und ihre Handlungen nicht abstrakt. Es sind Männer, die schwitzen, die sich selbst Wunden zufügen, die sich eincremen, sich kratzen, onanieren. Und es sind Männer, die mit dem Körper eines kleinen Jungen umgehen. Es geht ums Zähneputzen, um Verdauungsprobleme, um das Waschen der Geschlechtsteile, um Schwierigkeiten beim Urinieren. „Eine Frage der Gesundheit und der Hygiene“, erklärt Otto. Doch hinter selbstverständlichen Gesten der Fürsorge und Pflege bricht sich das verbotene Begehren der Männer Bahn, aus Berührung wird Übergriffigkeit, aus Zärtlichkeit Gewalt. Jedwede körperliche Verrichtung findet in einer Gefahrenzone statt, in der beiläufig Intimität umcodiert wird: Wird der Körper des Kindes immer mehr entsubjektiviert, immer mehr zum leblosen Objekt degradiert, an dem man herumhantieren kann, bis es „kaputt“ geht, so gilt der Blick des Kindes in die Geldbörse des „Onkels“ als Einbruch in die Intimsphäre. Folgt man Freud, kann man in der perversen Libido von Kroetz‘ Figuren die Kosten unseres Kulturprozesses, der mit dem Erlernen des aufrechten Ganges begann, erkennen. Indem ihr Begehren auffällig auf Sexualzonen konzentriert ist, die uns im Laufe der Zeit verekelt wurden, und auf Ausscheidungen, deren Geruch wir nicht (mehr) ertragen, bewegen sie sich auf dem schmalen Grat zwischen Perversion und Regression und erinnern, während wir uns ekeln, an die „Bruchstelle von Natur und Kultur“. (Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung) 13 „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! - Dem Vater grauset‘s, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Goethe, Der Erlkönig Kroetz begegnet der Zumutung des Themas, dem sexuellen Missbrauch eines Kindes, indem er es unzumutbar formt und stellvertretend für uns den Blick nicht abwendet, „die Augenlider weggesprengt“ (Heiner Müller). Er seziert das Gewebe eines Verbre- chens, er lässt die Täter das Opfer verhöhnen, er lässt sie selbstverständlich detaillierte Misshandlungen des Kindes beschreiben, er lässt sie versuchen, uns zu ihren Komplizen zu machen, er lässt sie reden und reden und reden. Und doch: Er lässt sie aus der Rede nicht entkommen. Wie Untote sitzen sie in der Hölle, die sie selbst gegraben haben, und frierend verbrennen sie auf der erfolglosen Flucht vor sich selbst. Solange sie reden, schweigt die Schuld nicht. Und solange sie reden, begreifen wir auch etwas über unsere Zeit. 14 …en detail Das Residenztheater fährt VOLVO „Ich liebe Kinder, ich habe nicht gehört, dass das ein Verbrechen ist.“ RESIDENZTHEATER Spielzeit 2011/2012 Aufführungsrechte Franz Xaver Kroetz Dramatik, 83352 Altenmarkt REDAKTION Angela Obst TEXT Originalbeitrag von Angela Obst für dieses Programmheft FOTOS Thomas Dashuber GESTALTUNG Herburg Weiland, München DRUCKEREI Weber Offset HERAUSGEBER Bayerisches Staatsschauspiel, Max-Joseph-Platz 1, 80539 München Intendant Martin Kušej Geschäftsführender Direktor Holger von Berg Technischer Direktor Thomas Bautenbacher Kostümdirektorin Elisabeth Rauner Künstlerische Betriebsdirektorin Andrea Hauer Chefdramaturg Sebastian Huber Kommunikation Anna Georgiades Technik Klaus Hammer, Natascha Nouak Werkstätten Michael Brousek Ausstattung Anneliese Neudecker Beleuchtung/Video Tobias Löffler Ton Michael Gottfried Requisite Dirk Meisterjahn Produktionsleitung Kostüm Enke Burghardt Damenschneiderei Gabriele Behne, Petra Noack Herrenschneiderei Carsten Zeitler, Aaron Schilling Maske Andreas Mouth Garderobe Cornelia Faltenbacher Schreinerei Stefan Baumgartner Schlosserei Ferdinand Kout Malersaal Achim Paggen Tapezierwerkstatt Peter Sowada Hydraulik Karl Daiberl Galerie Christian Unger Transport Harald Pfähler Bühnenreinigung Adriana Elia Familienbetrieb seit 1969 Autohaus am Goetheplatz Karl Bauer & Söhne GmbH Lindwurmstr. 20-24 80337 München Telefon: 089 / 544180-0 Telefax: 089 / 544180-10 email: [email protected] www.autohaus-am-goetheplatz.de Sabrina Daldry + Annie 15 www. r e s i d e n z t h e at e r .de residenz theater cuvilliÉs theater mar stall