Neonatizid – Wenn Mütter ihre Kinder töten

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Neonatizid – Wenn Mütter ihre Kinder töten
Die Suche nach den gesellschaftlichen Ursachen für Kriminalität hat innerhalb der Soziologie
bereits eine lange Tradition. Im 20. Jahrhundert war es vor allem die amerikanische
Soziologie (Chicago School), die kriminelle Handlungen thematisierte und eine Vielzahl von
Theorien hervorbrachte, die jeweils einzelne soziale Einflussfaktoren spezifizierten. Im
Hinblick auf den deutschsprachigen Raum dominierte bis in die späten 60´er Jahre der
Mehrfaktorenansatz; anders als in der US-amerikanischen Variante wurden hier jedoch
überwiegend individualistische Merkmale unter Bezugnahme auf ihre Einflüsse auf kriminelle
Handlungen untersucht. Die Beobachtung, dass viele der Einzeltheorien in empirischen
Analysen nur wenig Unterstützung fanden, führte zu einer metatheoretischen Diskussion, in
deren Folge neue integrative Erklärungsansätze entwickelt wurden. Die bekanntesten Modelle
bilden vor allem die Anomietheorie, die Subkulturtheorie, die Konflikttheorie oder der
Labeling-Ansatz. Diese Ansätze führten zu einer Koexistenz diverser Erklärungsversuche, um
soziale Prozesse und soziale Strukturen von Kriminalität zu beschreiben. Ebenso stellen
„Rational-Choice-Ansätze“ eine bedeutende Perspektive dar. Ausgehend von Benthams und
Beccarias Theorie, derzufolge menschliche Handlungen generell dem Prinzip der
Nutzenmaximierung folgen, wurde im Rahmen der Kriminalsoziologie das Konzept des
„reasoning criminal“ entwickelt. Diese Ansätze erklären kriminelles Handeln, wie der
Begriff schon nahe legt, als Wahlhandeln; in der soziologischen Ausprägung widmet sich die
Untersuchung den sozialen Bedingungen individueller Handlungen. Trotzdem kann die
„deterrence-These“, die Bestandteil des Ansatzes ist, empirisch nicht zweifelsfrei belegt
werden. Demnach ist es fraglich, ob ein Zusammenhang zwischen Sanktion und delinquentem
Verhalten besteht. Anders formuliert: Das Wissen um eine hohe Aufklärungsrate schreckt
Täter nicht ab. Grundsätzlich sollte Kriminalität in erster Linie unter Rückgriff auf die
sozialen Bedingungen der Handlungen rekonstruiert werden. Das gilt auch für meinen
Forschungsschwerpunkt, die Tötung des eigenen Kindes durch die Mutter. An dieser Stelle
soll jedoch darauf verzichtet werden, die theoretischen Erklärungsansätze spezifisch auf
dieses Delikt zu beziehen. Vielmehr möchte ich einen kurzen Überblick über zentrale Aspekte
der Forschungsarbeit liefern. Insgesamt existieren bisher nur sehr wenig Untersuchungen zu
diesem Gewaltdelikt, bei dem Frauen als einzige weltweit die Statistik anführen.
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Diese Analyse muss auch sehr differenziert betrachtet werden, resultierend aus großen
kulturellen, historischen und ursächlichen Gründen. Grundsätzlich hat sich in allen
Zeitepochen die Motivlage der Tötung stets gewandelt, im Vortrag selbst werde ich auf diese
Differenzen ausführlicher eingehen.
Meine Arbeit verfolgt zwei Ziele: Einerseits wird sie sich explizit mit der Frage
auseinandersetzen, welche Einflussfaktoren dazu führen, dass Mütter eine der stärksten
Verbindungen unserer Umwelt unterbrechen; andererseits sollen Ursachen herausgearbeitet
werden, weshalb legitime Alternativangebote nicht in Anspruch genommen werden. Viele
dieser „Hilfsangebote“ mussten sich gerade in
letzter Zeit häufig einer Standardkritik
unterziehen, so wird ein Schwangerschaftsabbruch z. T. noch immer stigmatisiert oder die
anonyme Geburt (ist sie das tatsächlich???) würde dem Kind das Recht um das Wissen seiner
wahren
Identität
nehmen.
Pro-
und
Kontraargumentationen
über
sämtliche
Präventivmaßnahmen sollen ausreichend diskutiert werden. Des Weiteren ist interessant, ob
die Tat eine Art Reflexhandlung ist oder ob ihr bereits in der Phase der Schwangerschaft eine
intensive Planung vorausgeht?
In
Anlehnung an den Fall der Sabine H. (9-facher
Kindsmord) haben alle Partner der Frau angeblich nichts von der Geburt im Nebenzimmer
bemerkt haben wollen. Diese Tatsache ist nur schwer vorstellbar, deshalb ist die Rolle der
Kindsväter ebenfalls zu beleuchten. Auf der Anklagebank tauchen Väter jedoch nur in den
seltensten Fällen auf; Mütter werden stets zu Alleinschuldigen deklariert. Es trifft sie lediglich
eine moralische Mitschuld. Folgt man den Unterlagen der Staatsanwaltschaft bzw. den
Experten-Interviews, die ich u.a. mit der Thüringer Kripo (in diesem Bundesland treten
Tötungen dieser Art z.Zt. vermehrt auf) und anderen Mordkommissionen durchführte, so
geben jedoch über 90%der Täterinnen an, ihr Kind getötet zu haben, weil der Partner kein
Kind wollte. Nach bisherigem Kenntnisstand befinden sich die Frauen demnach in extremen
Belastungssituationen, in der sie keinen anderen Ausweg wissen. In den seltensten Fällen
wurden psychopathologische Störungen bzw. andere Persönlichkeitsstörungen festgestellt. Es
liegt daher nahe, die Ursachen und Hintergründe in den Lebensbedingungen der Täterinnen zu
suchen.
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Literaturempfehlung:
Eifler, Stefanie: Kriminalsoziologie. Bielefeld 2002.
Marneros, Andreas: Schlaf gut, mein Schatz. Bern 2003.
Rohde, Anke: Infanticide. Sociobiographical background and motivational aspects. In:
Womens Ment Health 1/1998, S. 125-130
Stegemann, Thomas/Schulte-Markwort, Michael: Neonatizid. Auftrag und Grenzen der
psychologisch-psychiatrischen Begutachtung aus der Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie
anhand eines Fallberichts. In: Bojack, Barbara (Hg.): Die Tötung eines Menschen. S. 191.
Frankfurt 2005.
Sticher-Gil, Birgitta: Polizei- und Kriminalpsychologie. Frankfurt 2003.
Swientek, Christine: Die Wiederentdeckung der Schande. Babyklappen und anonyme
Geburt. Freiburg, 2003.
Ulbricht, Otto: Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit.
Köln 1990.
Wendels, Claudia: Mütter ohne Kinder. Freiburg 1998.
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