Kapitel 5:

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Philosophische und sozialwissenschaftliche Basistheorien
1
Ansätze des Verstehens, Hermeneutik und
Phänomenologie
Beschäftigt man sich, ob als Wissenschaftler oder Alltagsmensch, mit menschlichem
Handeln, so zeigen sich schnell Charakteristika, die diese Handlungsabläufe von physikalischen Abläufen in der Natur, z.B. dem Fließen von Wasser oder einem Vulkanausbruch, unterscheiden. Zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen zählt dabei die Finalität menschlichen Handelns im Gegensatz zur Kausalität von natürlichen Abläufen.
Oder anders ausgedrückt: Hinter vielen menschlichen Handlungen steht eine Absicht,
ein Ziel oder ein Motiv, während natürliche Vorgänge ohne eine solche Zukunftsorientierung ablaufen.
Beispiel
Ein Vulkan bricht aus, weil heiße Gesteinsmassen und Dämpfe in seinem Innern
einen Überdruck geschaffen haben. Die Ursache für den Ausbruch liegt, zeitlich
gesehen, vor der Wirkung, also dem Ausbruch selbst. Dagegen bringt ein Student
ein geliehenes Buch rechtzeitig in die Bibliothek zurück, um Mahngebühren zu
vermeiden. Der Grund seines Handelns liegt also in der Zukunft und tritt eventuell niemals ein (wenn er nämlich das Buch rechtzeitig abgegeben hat).
Die Finalität menschlichen Handelns ist ein wesentlicher Grund, warum es uns – sowohl
im Alltag als auch in der Wissenschaft – mitunter so schwer fällt, Handlungen zu erklären oder gar zu prognostizieren: Zum einen existiert eine Absicht, ein Ziel oder ein Motiv nur im Kopf des Handelnden und ist somit nichts, was ein Beobachter mit seinen
Sinnen oder Instrumenten direkt erfassen könnte, zum anderen gibt es oft mehrere Wege,
zu einem Ziel zu gelangen, so daß, selbst wenn wir das Ziel kennen, die bevorstehende
Handlung nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden kann.
Beispiel
Der Student kann die Zahlung von Mahngebühren auch vermeiden, indem er nie
mehr in der Bibliothek auftaucht.
Dieses Problem ist zunächst einmal ein prinzipielles und stellt sich somit jedem, der sich
mit der Erklärung menschlichen Handelns beschäftigt, egal welche Theorie oder Methode er dazu heranzieht. Ansätze, die auf Verstehen basieren, setzen dieser Not jedoch nun
die folgende Tugend entgegen: Da auch der Beobachter ein Mensch ist, hat er zum Denken anderer Menschen einen direkteren Zugang als zum „Verhalten” von physikalischen
Objekten.
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Philosophische und sozialwissenschaftliche Basistheorien
Beispiel
Jeder zahlt ungern Mahngebühren; jeder hat schon einmal Liebe, Wut, Neid oder
Freude empfunden. Wir können unmittelbar mehrere Handlungen angeben, die
uns in einer bestimmten Situation angemessen erscheinen. Anders beim Vulkan:
ohne die entsprechenden geophysikalischen Kenntnisse kann niemand – gar aus
eigener Erfahrung! – einen Ausbruch vorhersehen.
Mit anderen Worten: Menschen sind besondere Studienobjekte, deren Erforschung besondere Methoden verlangt. Glücklicherweise ist das Rüstzeug für diese Methoden wiederum jedem Menschen mitgegeben; wir verwenden es beständig im Alltagsleben und
müssen es für den wissenschaftlichen Gebrauch nur noch modifizieren.
Diese Überlegungen gelten nicht nur für die Erfassung von Handlungen, sondern auch
für alles, was als Produkt von Handlungen angesehen werden kann: Artefakte, Symbole,
aber auch Strukturen und Institutionen. Auch sie kann letztlich nur verstehen, wer die
ihnen zugrundeliegenden Handlungen verstanden hat.
Da sich Verstehen auf vielerlei Weisen vollziehen kann, gibt es auch eine Vielzahl von
Ansätzen, die sich unter diese Überschrift einordnen lassen. Trotz der zum Teil großen
Unterschiede in ihrer Herangehensweise lassen sich nachfolgende Gemeinsamkeiten zur
Einordnung heranziehen:
„
„
„
„
„
Sie alle beschäftigen sich mit Phänomenen (in der Regel Texten oder Handlungen),
die bezüglich bestimmter Aspekte unklar sind und somit erklärt werden müssen.
Die Klärung der Probleme wird im Rückgang auf etwas Nicht-Sichtbares oder NichtOffen-Zutageliegendes vollzogen. Meist sucht man nach dem „Geist“, „Sinn“ oder
„Wesen“ eines Sachverhaltes, in den soziologisch orientierten Ansätzen auch nach
„Typen“, „Strukturen“ oder „inneren Zusammenhängen“.
Dieser Rückgang von einem äußerlich sichtbaren Phänomen auf ein „Inneres“ oder
„Dahinterliegendes“ darf nicht verwechselt werden mit einer Erklärung der psychischen Vorgänge der beteiligten Akteure. Hermeneutik und Phänomenologie haben
nichts mit (wissenschaftlicher) Psychologie zu tun.
Die Ansätze gehen von einer historischen und kulturellen Situiertheit sowohl der Akteure als auch der Beobachter aus, die nicht überwunden werden kann. Jede Handlung, jeder Text, jede Interpretation sind damit relativ und können nicht über alle Zeiten und Orte verallgemeinert werden.
Die Erkenntnisgewinnung vollzieht sich im sogenannten „hermeneutischen Zirkel“.
Dabei handelt es sich nicht um einen Zirkelschluß im logischen Sinne, sondern um
die Feststellung, daß man erstens immer schon etwas wissen muß, um etwas Neues
zu lernen. Im Gegenzug wird das bereits Gewußte durch das neu Hinzugelernte erweitert.
Philosophische und sozialwissenschaftliche Basistheorien
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Beispiel
Wenn in einem fremdsprachlichen Text eine unbekannte Vokabel auftaucht, so kann
man sich deren Bedeutung umso eher erschließen, je mehr man vom übrigen Text
versteht. Gelingt die Erschließung, so hat man sein Wissen erweitert. Kennt man
hingegen keine einzige Vokabel des Textes, so kann unter Umständen auch ein Wörterbuch, in dem man jedes Wort nachschlägt, nicht helfen.
Zweitens sind beim hermeneutischen Zirkel die Teile immer nur verständlich im Bezug auf das Ganze. Selbst wenn man das Ganze nicht kennt, muß man parallel zur
Wahrnehmung der Einzelteile ständig Vermutungen über das Ganze anstellen, um die
Einzelteile richtig einzuordnen. Diese Vermutungen werden bestätigt oder verworfen,
wenn neue Einzelteile hinzukommen. Der Wechsel zwischen Vermutung und Validierung ist kennzeichnend für den hermeneutischen Zirkel.
Beispiel
Nehmen wir als Beispiel einen uns zunächst unbekannten Text der beginnt: „Das
Atelier war voll vom starken Geruch von Rosen...“. Noch ist die Bestimmung von
Zeit und Ort des Beschriebenen relativ unklar, es muß allerdings um einen Kontext
gehen, in dem man Rosen findet und in dem sich Menschen in Ateliers aufhalten.
Aufgrund des Sprachstils könnte man bereits schließen, daß es sich wohl nicht um
Sachliteratur, sondern um einen Roman handelt. Der Beginn des nächsten Satzes:
„Von der Ecke des Diwans aus persischen Satteldecken, auf denen er lag und nach
seiner Gewohnheit unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton...“
schränkt die Möglichkeiten weiter ein, denn Zigaretten raucht man erst seit dem 19.
Jahrhundert. Der Diwan und die persischen Satteldecken sprechen dafür, daß es
sich nicht um eine zeitgenössische Situation handelt, zumal der Held ein Europäer,
genauer ein Engländer, zu sein scheint. So stellen wir Satz für Satz Vermutungen
über den Gesamtzusammenhang an, die im Laufe der Lektüre bestätigt oder verworfen werden. Umgekehrt werden manche Einzelbeschreibungen oder Einzelhandlungen erst verständlich, wenn wir wissen, wie dieser Gesamtzusammenhang, z.B.
bezüglich der Ziele der Akteure oder ihres Verhältnisses zueinander aussieht.
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