Kriminalitätstheorien

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Propädeutische Übung im Strafrecht AT I
begleitend zum Grundkurs I bei Prof. Dr. Kudlich
WS 2007/08
Einheit 2: Kriminalitätstheorien
Kriminalitätstheorien
Bedienen sich bei unterschiedlichsten Wissenschaften, z. B. Medizin,
Psychiatrie, Biologie, Psychologie, Soziologie,….
1. Ebene
mikro (individualzentriert, ungefähr gleich psychologischen Theorien)
makro (sozialstrukturell, gesellschaftstheoretisch)
2. Ebene
ätiologisch (Kriminalität als objektive Gegebenheit)
labeling (Kriminalität als Ergebnis einer Zuschreibung)
I.
Ätiologisch- individualisierende Ansätze
- Atiologische Ansätze gehen von der Existenz klarer Ursachen von
Kriminalität aus
- Individualisierende atiologische Ansätze gehen also von einer
defizitären Persönlichkeit des Kriminellen aus
- Bruch mit den strafrechtlichen Regeln ist persönliche Inkompetenz
zur Integration in die gesellschaftliche Wertehierarchie
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Einheit 2: Kriminalitätstheorien
- Inkompetenz stammt entweder aus Biologie/ Medizin oder aus
Erziehung/ Ausbildung
1. Biologische Theorien
- fundieren zumeist auf genetischen Dispositionen
a) Biologie (Lombroso)
- Einordnung von Verbrechern nach äußeren Merkmalen
- Beispiel: Schädel, Gesicht, Höhe der Stirn, Abstand der Augen,
Form
der
Nase,….
Aber
auch
herabgesetzte
Schmerz-
empfindlichkeit oder übermäßige Trägheit
b) Der geborene Verbrecher (Mergen)
- Untersuchungen über Chromosomenaberrationen
- Bestimmte Aberrationen sind kriminogen und Treiben den
Menschen ins Verbrechen
c) Konstitutionsbiologie (Kretschmer)
- verschiedenen Körperbautypen werden bestimmte Charaktereigenschaften und Tendenzen zur Begehung spezifischer Delikte
zugeordnet
- Zusammenspiel
zwischen
Körperbau,
Temperament
und
psychischem Zustand in Idealtypen erfasst
- Leptosome: schmaler aufgeschlossener Mensch, flacher, langer
Brustkorb, dünner Hals, kleiner Kopf, blasses Gesicht, schmale
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Hände und Füße, derbes Haupthaar => neigen zu Diebstahl und
Betrug
- Athletiker: mittel bis hochgewachsener Mensch mit breiten
starken Schultern, trapezförmiger Rumpf und schmalem Becken,
kräftiges Muskelrelief auf derbem Knochenbau, kräftiger Hals mit
derbem Hochkopf, eiförmiges Gesicht, große Hände und Füße,
kräftiges Haupthaar => neigen zu gewaltsamen Vermögens- und
Sexualdelikten
- Pykniker: kurzer, tiefer, gewölbter Brustkorb, runde, weiche
Formen, kurzer Hals und großer abgerundeter Kopf, breites
gerötetes Gesicht, zartknochige kurzbreite Hände und Füße, zartes
Haupthaar => in geringem Umfang kriminell
- Dysplastiker: Unharmonische, abnorme Wuchsformen => neigen
zu Sexualdelikten
- Problem:
völlig
unklar,
wie
die
Konstitutionstypen
zur
Kriminalität beitragen; Typen nicht klar zu diagnostizieren; Daten
zumeist
aus
Vollzug
oder
Psychatrie
und
damit
nicht
kontrollierbare/ einbeziehbare soziale Einflüsse; keine Möglichkeit
therapeutischer Maßnahmen
d) Zwillingsforschungen (Lange, Legras, Kranz, Stumpfl, Rosanoff,
Christiansen)
- Versuch durch Vergleich von Verhalten eineiiger und zweieiiger
Zwillinge den Anteil der Erbanlage bei Kriminalitätsentstehung
herauszustellen
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- Ähnlichkeiten
in
der
Begehung
krimineller
Handlungen
=> konkordant
- Keine Ähnlichkeiten => diskordant
- In etwa: Konkordanz bei eineiigen Zwillingen 67 %
- In etwa: Konkordanz bei zweieiigen Zwillingen 33 %
- Problem: völliges Ausklammern des Umweltfaktors; eineiige
Zwillinge haben in gleichem Maß hohen sozialen Druck,
gleichartiges Verhalten zu zeigen; bei zweieiigen Zwillingen, die
auch verschiedengeschlechtlich sein können, ist das nur in
wesentlich geringerem Maß der Fall
e) Psychopathenlehre (Schneider, Eysenck)
- kriminellen Erbanlage, die zu einer abnormen Persönlichkeit führt
und damit kriminelles Verhalten hervorruft
- Problem: keine Einbeziehung sozialer Faktoren
2. Lerntheorien
- Kriminelles Verhalten wird -wie jedes andere Verhalten aucherlernt
- im Wesentlichen sozialpsychologisch orientiert
- Ursachen
kriminellen
Verhaltens
in
der
Lebenswelt
des
Individuums
- Konzentration auf den Prozess der Integration des Individuums in
die Gesellschaft (Sozialisation)
- Kriminalität durch fehlgeleitete Sozialisation
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- Jeder Mensch kann in kriminelle Verhaltensweise hineinsozialisiert
werden
- Kriminalität wird also erlernt
a) Theorie der differentiellen Kontakte (Sutherland, Cressey)
- Sozialisationstheorie
- Missachtung der gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensmuster im
Prozess der Integration des Individuums in die Gesellschaft
- Kriminelles Verhalten ist gelernt – nicht vererbt oder erfunden
- Kriminelles Verhalten wird in Interaktion mit anderen Personen
gelernt
- Kriminelles Verhalten wird hauptsächlich in intimen persönlichen
Gruppen gelernt
- lehnt die Gruppe mit denen der Jugendlich in Berührung kommt
vorwiegend Kriminalität ab, so bleibt er gesetzestreu
- zwei Bezugsgegenstände: Erwerb von Techniken, Erwerb von
Einstellungen
- ist die Gruppe deviant, so werden zum einen Techniken erlernt, die
zur Verübung von Straftaten nötig sind und zum anderen eine
rechtfertigende
Einstellung
gegenüber
Gesetzesverletzungen
erworben
- Jeder Mensch hat Kontakte, die Kriminalität begünstigen und
Kontakte, die Kriminalität ablehnen („differentiell“)
- Entscheidend sind damit Häufigkeit, Dauer, Priorität, Intensität
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- Eine Person wird delinquent infolge des Überwiegens der die
Verletzung
begünstigenden
Einstellungen
über
jene,
die
Gesetzesverletzungen negativ beurteilen
- vermittelnd zwischen personen- und gesellschaftsbezogenen
Theorien
- Problem: Identifikation mit kriminellen Vorbildern geht auch
ohne persönliche Kontakte (Filme, Zeitungen,…); Polizisten und
Gefängnisangestellte bleiben auch rechtstreu
b) Kontrolltheorien (Reiss, Gold)
- Betonung liegt auf den inneren und äußeren kontrollierenden
Bindungen einer Person an die Gesellschaft
- Diese Bindungen sind für den Lernprozess von konformem
Sozialverhalten entscheidend
- Kriminalität durch Bruch oder Schwächung von Bindungen
- Also alle Menschen gleichermaßen potentielle Rechtsbrecher
II.
Ätiologisch- sozialstrukturelle Ansätze
- Gesamtgesellschaft wird in die Kriminalitätserklärung miteinbezogen
- Meist über Schichtendifferenzierung
- Fixpunkte sind auffällige gesellschaftliche Strukturmerkmale, z. B.
Ungleichheit, sozialer Druck oder Kulturkonflikte
- Im Gegensatz zu oben, wird hier davon ausgegangen, dass die
Gesellschaft keine soziale Integration ermöglicht hat
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- Keine pathologischen Ursachen
- Kriminalisierung als normale Reaktion auf ein -meist einer
bestimmten
Schicht
innewohnendes-
kriminalisierendes
Normensystem, das auf Akzeptanz stößt
- Kriminalität als „positives Instrument“ für die Delinquenten
- Kriminalität ist normal
1. Anomietheorien (Durkheim, Merton)
- Norm- soziologisches Konzept
- Verbrechen gibt es in jeder Gesellschaft jeden Typs
- Kriminalität ist mit den Gesamtbedingungen jeden Kollektivlebens
eng verknüpft
- Kriminalität ist normal, natürlicher Teil der Gesellschaft
- Anomie ist ein Zustand der Regellosigkeit
- Dieser Zustand wird wahrscheinlich, wenn die anerkannten
gesellschaftlichen Ziele über die vorgegebenen sozial-strukturellen
Wege nicht erreichbar sind
- Um diese Ziele trotzdem erreichen zu können, werden kriminelle
Mittel gewählt
- Ursache ist also die Diskrepanz zwischen den verbreiteten Werten
und Zielen und den Mitteln und Wegen
- Problem: empirische Befragungen zeigen, dass zwar die
„Wünsche“ auf allen Ebenen dieselben sind, die „Erwartungen“
aber durchaus abhängig von sozio- ökonomischen Status variieren
2. Marx, Engels
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3. Subkulturtheorien
- Subkultur ist ein soziales Verhaltens- und Wertsystem das getrennt
von der übergeordneten Kultur besteht
- Zum Beispiel in Ghettos
a) Subkulturtheorie (Cohan)
- Statussuche
innerhalb
einer
Gruppe
von
gleichaltrigen
(jugendlichen) Unterschichtsangehörigen als ausschlaggebende
Kriminalitätsbedingung
- Insbesondere
damit
die
Erklärung
von
Banden-
und
Jungenddelinquenz
- Bandenkultur
als
Reaktion
auf
Versagens-
und
Frustrationserlebnisse
- Schaffung eines abweichenden Werte- und Verhaltenssystems als
neue Statuskriterien, die auch die Unterschichtsjugendlichen
erreichen können
b) Theorie der unterschiedlichen Zugangschancen (Cloward/ Ohlin)
- Eine erfolgreiche kriminelle Karriere unterliegt den gleichen
Kontrollmechanismen wie eine erfolgreiche bürgerliche Karriere
- Nur dass nicht jeder die gleiche Chance hat Zweitere zu
verwirklichen, sodass auf Erstere zurückgegriffen wird
c) Wertsystem der Unterschicht (Miller)
- Subkultur ist keine kurzfristige Reaktion auf Frustrationserlebnisse
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- Vielmehr Ausdruck einer autonomen Welt der Unterschicht
- Wertsystem der Unterschicht bildet durch jahrhundertealte
Tradition eine eigene Geschlossenheit
- Diese Kultur kennzeichnen zum Beispiel Tapferkeit, Männlichkeit,
Sportlichkeit,…
III. Individualisierende Labeling Ansätze (Lemert, Becker)
- Kriminologische
Interaktionsmodelle:
Sekundärabweichung
(weitere Kriminalität als Folge von kriminellen Selbstbildern und
Chancenbeschneidung) als sozialer Vorgang der Stigmatisierung;
Primärabweichung
(normverletzendes
Verhalten)
hat
nicht
kontrollbezogene Ursachen
- Primärabweichung gilt hier als irrelevant
- Interesse liegt in Erklärung der Übernahme einer abweichenden
Rolle,
der
Reorganisation
des
Selbstbildes
durch
Abstempelungsprozesse
- Kriminalitätsfördernde
Einflüsse
also
durch
das
Kriminaljustizsystem
- Soziale Bedeutung von „Kriminalität“ entsteht erst durch die
Zuschreibung dieser Bezeichnung
- Kriminalität nicht als objektiv gegebene Eigenschaft einer
Handlung, sondern als soziale Bedeutung aus Zuschreibung
- Kriminalität entsteht erst durch strafjustizielle Erfassung und der
folgenden Definition
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- Immer feiner werdende Definitionen. Kriminell – nicht kriminell,
Totschlag – Mord – fahrlässige Tötung,…
=> unterschiedliche Bewertungen durch die Gesellschaft
- Interessant sind vor allem die außerstrafrechtlichen Bedingungen,
unter denen ein Verhalten als kriminell definiert wird wie z. B.
Schichtzugehörigkeit, Beschwerdemacht, soziales Verhalten von
Täter
und
Opfer,
informelle
Handlungsregeln
vom
Strafverfolgungspersonal,….
- Gesellschaftliche Gruppen schaffen abweichendes Verhalten
dadurch, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes
Verhalten konstituiert
- Es gibt also verschiedene Stufen der Erklärung von Kriminalität:
- Normgenese
(Gesetzgebung):
Strafrechtsnormen
aus
gesellschaftlichen
Entstehung
von
Machtverhältnissen
(selektive Rechtsschöpfung nach strukturellen Interessen)
- Normanwendung
(Strafverfolgung):
Zuschreibung
von
Definitionen i. R. v. formal- rechtlichen und Metaregeln,
verschiedene Einflüsse wie Verteidiger, Ressourcen,…
- Bedeutungszuschreibung (Interaktion mit der sozialen
Umgebung):
Neuer,
sozial
folgenreicher
Status
durch
Abstempelung, sich selbst verstärkender Prozess
- Also kein statischer Kriminalitätsbegriff
- Dynamischer Aspekt der gesellschaftlichen Produktion
- Erst die Intervention und Definition durch den staatlichen
Kontrollapparat macht aus normativ abweichendem Verhalten
kriminelles Verhalten
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- Prävention
also
durch
kriminalisierender
Ausschließung
oder
Abstempelungsprozesse
Verringerung
bzw.
der
stigmatisierenden Umfeldreaktionen möglich
IV. Gesellschaftstheoretische Labeling Ansätze (Sack)
- Fast jeder war schon einmal kriminell, aber nur ganz wenige sind
deswegen mit dem Staat in Berührung gekommen
- Kein Zufall sondern nach bestimmten Selektionsprozessen
hervorgehende soziologische Gesetzmäßigkeiten
- Kriminalität ist kein Verhalten, sondern ein negatives soziales Gut
- Soziale Devianzdefinitionen sind Bild von gesellschaftlichen
Machtpositionen und vorherrschenden strukturellen Interessen
(„Definitionsmacht“)
- Dadurch
werden
Normierungsprozesse
ausgelöst
und
Verfolgungsschwerpunkte durchgesetzt
- Strafrechtssystem und Strafverfolgungssystem als Ausdruck der
Macht einer sozialen Gruppe über andere
- Streben herrschender Interessengruppen nach Machtabsicherung
als wesentlicher Faktor
- Konkret durch harte Sanktionen
- Indirekt durch Diskriminierung der Betroffenen als „kriminell“
V.
Mehrfaktorenansätze
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Gesamtbetrachtung
- Ätiologische Ansätze verhalten sich zustimmend zum Strafrecht
- Strafrecht als Medium der politischen Steuerung und Kontrolle
gesellschaftlicher Krisen und Konflikte
- Individualisierende Labeling- Ansätze verhalten sich neutral
zum Strafrecht
- Das strafrechtliche Konditionalprogramm wird nicht thematisiert
- Gesellschaftstheoretische Labeling- Ansätze verhalten sich
ablehnend zum Strafrecht
- Definitionsmacht schafft Kriminalität
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