Fall 5: Insekten-Fall

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Prof. Dr. Klaus Marxen
PÜ Strafrecht Grundkurs I
Wintersemester 2007/2008
30. November 2007
Fall 5: Insekten-Fall
Sachverhalt
A befindet sich mit seinem PKW nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause. Da
hochsommerliche Temperaturen herrschen, hat er das Seitenfenster an der Fahrerseite geöffnet. Beim Durchfahren einer leichten Kurve fliegt plötzlich ein Insekt gegen ein Auge des A. Mit einer Hand macht er eine ruckartige Abwehrbewegung. Diese Bewegung überträgt sich auf die andere Hand, die er am Lenkrad
belassen hat. Dadurch gerät das Fahrzeug in die Mitte der Straße und stößt gegen einen entgegenkommenden PKW. Dieser wird in den Straßengraben geschleudert. Der Fahrer B erleidet Knochenbrüche und Prellungen. B stellt Strafantrag gegen A.
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PÜ Strafrecht Grundkurs I
Wintersemester 2007/2008
30. November 2007
Hinweise zur Lösung
Da A den Sach- und Personenschaden keinesfalls vorsätzlich herbeigeführt hat
und auch keine schwerwiegende Verkehrswidrigkeit nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2
StGB vorliegt, kommt allein eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB in Betracht.
Vor einer Prüfung der Frage, ob der Tatbestand dieser Strafvorschrift erfüllt ist,
bedarf der Klärung, ob überhaupt eine Handlung als generelle Voraussetzung jeglicher Strafbarkeit gegeben ist. Was unter einer Handlung zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht erläutert. Es ist daher die Aufgabe von Rechtsprechung und Literatur, den Begriff der Handlung inhaltlich zu bestimmen. Über Einzelheiten gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Einig ist man sich jedoch darin, dass der Begriff der Handlung zumindest eine negative Abgrenzungsfunktion erfüllen muss. Der Bereich der Handlungen muss von demjenigen der Nicht-Handlungen abgegrenzt werden. Das sind Ereignisse, die von
vornherein jeglicher Strafbarkeitsprüfung entzogen sind.
Die Grundbedingung für jegliche strafrechtliche Zurechnung besteht darin, dass
ein willensgetragenes menschliches Verhalten vorgelegen hat. Das bedeutet: Das Verhalten muss vom Willen des Menschen beherrscht oder jedenfalls beherrschbar gewesen sein. Damit scheidet durch unwiderstehliche Gewalt (vis absoluta) hervorgerufenes Verhalten, Verhalten im Zustand der Bewusstlosigkeit und reines Reflexverhalten aus. Im vorliegenden Fall könnte eine
Nichthandlung in der Form des Reflexes gegeben sein.
Klare Fälle bloßer Reflexbewegungen sind etwa der Kniesehnenreflex oder das
Zusammenzucken beim Berühren einer Elektroleitung. Dabei wird ganz unmittelbar eine körperliche Reaktion ausgelöst, die der Mensch nicht unterdrücken kann.
Die Fallsituation liegt insofern etwas anders, als zwischen der Berührung des Auges durch das Insekt und der Abwehrreaktion mit der Hand ein gewisser zeitlicher und räumlicher Abstand liegt, der eine willentliche Einflussnahme auf den
Vorgang zulassen könnte. Doch erscheint eine derartige Steuerung allenfalls
dann möglich, wenn der Betroffene sich auf die Situation eingerichtet hat und
damit rechnet, dass er eventuelle Reaktionen unterdrücken muss. Ansonsten
verläuft der Vorgang geradezu automatisch, also wie ein unmittelbarer körperlicher Reflex. Der Sachverhalt bietet keine Hinweise darauf, dass A bei der Ausführung der Abwehrbewegung unter den genannten Voraussetzungen zu einer
Steuerung in der Lage gewesen sein könnte. Diese Bewegung selbst kann also
nicht als Handlung angesehen werden.
Aus den bisherigen Überlegungen ist abzuleiten, dass der Anknüpfungspunkt der
Prüfung vorverlagert werden muss. Ein strafrechtlicher Vorwurf könnte A daraus zu machen sein, dass er mit geöffnetem Seitenfenster fuhr, ohne auf die Gefahr reflexartiger Bewegungsabläufe eingerichtet zu sein, die durch Insekten
ausgelöst werden können. Damit ist ein willentlich steuerbarer Vorgang angesprochen, der sich als Grundlage für die Prüfung des Tatbestandes der fahrlässigen Körperverletzung eignet. Die tatbestandlichen Voraussetzungen sind auch
erfüllt. A verletzte objektive Sorgfaltspflichten, als er unter den genannten Bedingungen mit seinem Auto fuhr. Der Unfall war auch objektiv vorhersehbar.
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Denn es war nicht völlig unwahrscheinlich, dass es unter solchen Umständen zu
einem derartigen Zusammenstoß kommt. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass A seinen
persönlichen Fähigkeiten nach außerstande gewesen sein könnte, den Sorgfaltsanforderungen nachkommen. Er handelte daher auch subjektiv fahrlässig. Eine
Strafbarkeit gem. § 229 StGB ist somit gegeben.
Zum Nacharbeiten
•
OLG Hamm NJW 1975, S. 657.
•
Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 37. Aufl. 2007, Rn. 94–102 a.
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