Die Kreaturen im Schlamm und Dreck

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Die Kreaturen im Schlamm und Dreck
Baskin, Y., 2005: Under Ground: How Creatures of Mud and Dirt Shape Our World.
Washington Covelo London, Island Press, 237 S.
Buchbesprechung von Peter Longatti
Yvonne Baskin nimmt uns mit auf eine
Reise zu einer Reihe von touristischen
Höhepunkten dies- und jenseits des
Atlantiks: Mc Murdo Dry Valleys in
der Antarktis, Great Smoky Mountains National Park in North Carolina,
Chippewa National Forest in Minnesota, Plymouth Sound in Südengland,
Olentangy River Wetland Research
Park im Mississippi Basin in Ohio,
Vancouver Island in British Columbia,
Yellowstone National Park in Wyoming, Chiltern Hill nordwestlich von
London, Wageningen und Hoge Veluwe in den Niederlanden. Manch einer
hat dort schon sein Wohnmobil stationiert, aber das Besichtigungsprogramm von Yvonne Baskin ist etwas
speziell und würde die meisten Touristen vermutlich enttäuschen. Statt Pinguine, Bären, Hirsche, Elche, Bisons
und Wölfe zu beobachten wird am Boden unter den Blättern und im Schlamm
nach allerhand unansehnlichen Kleintierchen gesucht, von denen die Regenwürmer noch die appetitlichsten sind.
An der WSL hat man sich ja auch schon
mit der Frage befasst, wie sich die
Beweidung durch Wildtiere (Herbivoren) auf die Vegetation (beispielsweise das Baumwachstum) auswirkt.
Grosse Tiere haben eine grosse Wirkung, ist da die generelle Annahme.
Aber sehr viele kleine Tiere können
auch eine grosse Wirkung haben. Wie
gross diese sein kann, ist das Thema
dieses Buchs. Die verschiedenen Orte
werden deshalb nicht wegen ihrer speziellen geographischen Lage und der
touristischen Attraktivität aufgesucht,
sondern weil an jeder Station dieser
Reise ein spezielles Ökosystem von
den entsprechenden Spezialistinnen
und Spezialisten untersucht wird und
deren Institut oder Forschungslabor in
der Regel in der Nähe gelegen ist. Wir
sind also auf einer Reise durch verschiedene wichtige Ökosysteme, wo
die Interaktion zwischen ganz kleinen
Tieren und bisweilen sehr grossen
Pflanzen untersucht wird. Mit Ausnahme der Antarktis und der Kalkrasen in
Südengland sind das alles sehr produktive Ökosysteme, die auch forst- oder
landwirtschaftlich von Bedeutung
sind. Wir lernen dabei die einzelnen
Akteure im Ökosystem unter der Oberfläche kennen, die den ganzen Kreis-
lauf von Abfall und Nährstoffen unterhalten, indem sie eine komplexe Nahrungskette bilden, und dabei unter
anderem auch die Nährstoffe für unsere Nutzpflanzen aufschliessen: Nematoden, Kopepoden, Springschwänze,
Tardigraden, Regenwürmer, Pilze,
Bakterien, Milben, Käfer, Schnecken,
usw.
Anlass für diesen Rundgang durch die
verschiedenen Ökosysteme im Boden
ist der teilweise alarmierende Zustand
dieser Systeme, welcher vielerorts einen Zusammenbruch befürchten lässt.
Die Degradation der Böden ist ein
weltweites Phänomen, das wir nicht
ignorieren können, weil unsere Existenz direkt davon abhängt, dass die
«Dienstleistungen» dieser Ökosysteme richtig funktionieren. Nach Schätzungen der FAO (United Nations Food
and Agriculture Organization) sind
weltweit 70% der Weidegebiete
(rangelands), 40% der regenabhängigen Anbaugebiete (rain-fed croplands)
und 30% der künstlich bewässerten
Anbaugebiete (irrigated croplands) degradiert. Wenn der Kreislauf im Boden
zusammenbricht, läuft nichts mehr;
die Nährstoffe für die Pflanzen versiegen, weil die Organismen fehlen, die
sie freisetzen sollten; und bald gibt es
auch für Tiere und Mensch nichts
mehr zu essen. Das Buch präsentiert
aber keine solchen Horrorvisionen.
Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die uns die verschiedenen
Ökosysteme vorführen, machen sich in
erster Linie Gedanken, wie diese Systeme erhalten und wieder leistungsfähiger gemacht werden können.
Das Buch präsentiert deshalb konsequent den Blick auf die Ecosystem
Services, die «Dienstleistungen», die
uns diese Systeme wie selbstverständlich erbringen. Es wird nicht das Aussterben von seltenen Arten bedauert
oder versucht die Schönheit und Unberührtheit einer Landschaft wiederherzustellen. Es geht um die Funktionen
der Ökosysteme und was es braucht,
diese zu erhalten. Dabei wird immer
wieder festgestellt, dass die Akteure in
den Böden teilweise sogar noch unbekannt sind (d.h. sie sind noch nie
bestimmt worden) und sehr wenig bekannt ist über ihre Rolle und dement-
sprechend ihre Wichtigkeit für das
Funktionieren des Systems. Man weiss
also nicht, welche Organismen es unbedingt braucht, damit das System
noch funktionieren kann, welche ersetzbar und welche entbehrlich sind.
Warum weiss man eigentlich so wenig
über die Bewohner des Bodens? Das
wird einem bei dieser Reise durch die
verschiedenen Ökosysteme auch klar:
man kann den Tierchen und Mikroorganismen nicht einfach beim Fressen und Gefressen-werden in ihrer
natürlichen Umgebung zuschauen. Es
braucht teilweise komplizierte Verfahren, um ihre Tätigkeit nachzuweisen
und lange Beobachtungsreihen. Ausserdem ist das Interesse der Öffentlichkeit gering; daran kann auch der ausserordentliche Enthusiasmus der Spezialistinnen und Spezialisten nichts
ändern. Der «Jö-Faktor» dieser Tierchen ist quasi Null und dass sie im
Schlamm und Dreck hausen, macht sie
auch nicht sympathischer. Aber im
Schlamm und Dreck hat sich nun mal
das Leben entwickelt, und das Buch
führt uns vor Augen, dass sich dort
noch immer die zentrale Maschinerie
des Lebens auf unserem Planeten befindet. Wir nehmen die Existenz der
Böden einfach als gegeben und immerwährend hin. Man kann Böden aber
tatsächlich so weit ruinieren, bis sie
nicht mehr funktionieren. Es soll deshalb eine unserer Aufgaben sein zu
erforschen, wie man die Bodenfunktionen erhalten bzw. wiederherstellen
kann. Um etwas darüber zu erfahren,
muss man halt bisweilen im Dreck herumwühlen und schmutzige Hände in
Kauf nehmen. Die Leute, die Yvonne
Baskin besucht hat, zeigen, dass es
auch Spass machen kann. Im Boden
kann man quasi vor der Haustüre noch
die grossen Entdeckungen machen wie
einst die Afrika-Forscher im 19. Jahrhundert, man braucht lediglich eine
Schaufel und ein Mikroskop dazu.
Impressum
Redaktion:
PD Dr. Otto Wildi
Peter Longatti
[email protected]
[email protected]
Autor:
Florian Boller
[email protected]
Inf.bl. Landsch. 70, 2008
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