Neuer Arzneistoff zur Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms Degarelix - Firmagon Seit Juni 2009 steht mit Degarelix ein weiterer Arzneistoff zur Behandlung von Männern mit hormonabhängig wachsendem, fortgeschrittenem Prostatakarzinom zur Verfügung (Firmagon 80 mg bzw. 120 mg Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung). Nach dem im Februar 2008 zugelassenen Abarelix (Plenaxis) ist Degarelix der zweite Vertreter aus der Gruppe der Gonadotropin-ReleasinghormonAntagonisten (GnRH-Antagonisten) für diese Indikation. Im Fertigarzneimittel liegt Degarelix als Acetatsalz vor. Die meisten Prostatakarzinome wachsen sexualhormonabhängig, d.h.Testosteron fördert deren Proliferation. Demzufolge stellt das körpereigene GonadotropinReleasinghormon (GnRH, Gonadorelin) eine interessante Zielstruktur zur Bekämpfung dieser Tumoren dar. Die Synthese des Testosterons in den Gonaden unterliegt einem dreistufigen Regelkreis, an dessen Regulation die Peptidhormone GnRH, LH (Luteinisierendes Hormon) und FSH (Follikel-stimulierendes Hormon) beteiligt sind. Im Hypothalamus wird GnRH beim Mann etwa alle zwei Stunden pulsatil freigesetzt und bindet an GnRH-Rezeptoren in der Hypophyse. Dies wiederum stimuliert im Hypophysenvorderlappen die Freisetzung von LH und FSH (Follikel-stimulierendes Hormon). Die Gonadotropine LH und FSH fördern in den Testes die Testosteronproduktion und -sekretion. Testosteron seinerseits hemmt die Ausschüttung der übergeordneten Hormone GnRH sowie LH und FSH. Mit den bisher zugelassenen GnRH-Analoga lässt sich dieser Regelkreis effizient beeinflussen. Letztendlich kommt es bei allen zu einer langanhaltenden und nach Absetzen wieder reversiblen Absenkung des Testosteronspiegels auf Kastrationsniveau (Androgendeprivation). Als GnRH-Analoga stehen einerseits schon seit geraumer Zeit sogenannte Superagonisten wie beispielsweise Leuprorelin (Eligard), Goserelin (Zoladex) oder Buserelin (Profact) zur Verfügung. Initial kommt es hier zu einem Anstieg der Testosteronproduktion. Bei kontinuierlicher Gabe führen diese Substanzen durch eine Dauerstimulation jedoch zu einer DownRegulation der hypophysären GnRH-Rezeptoren. LH-, FSH- und demzufolge auch Testosteronspiegel sinken nach ungefähr drei bis fünf Wochen unter die Kastrationsschwelle ab. Andererseits kann eine sofortige Hemmung der Gonadotropin- und Testosteronproduktion durch GnRH-Antagonisten wie bisher Abarelix und nun auch Degarelix erreicht werden. Beide führen zu einer kompetitiven und reversiblen Rezeptorblockade nicht aber wie im Fall der Superagonisten zu einer Down-Regulation der GnRH-Rezeptoren. Der Vorteil der Antagonisten besteht demnach sicherlich darin, dass es nach Therapiebeginn nicht wie bei den Agonisten zu einem vorübergehenden Anstieg der Testosteronproduktion kommt (TestosteronSurge), sondern dass der Serum-Testosteronspiegel ähnlich wie bei einer Orchiektomie direkt auf Katrationsniveau absinkt (< 0,5 ng/dl). Unter der Therapie mit Deagrelix erreichten 96 % der Patienten nach drei Tagen dieses Niveau. Hier wird 1 CA 5.1.2011 sogar ein sehr tiefes Absinken des Testosterons auf median 0,08 ng/dl erzielt. Somit sind die für GnRH-Agonisten in der Anfangsphase typischen Nebenwirkungen („Flare-up-Phänomen“, bei ca. jedem 9. Patienten) wie z.B. Knochenschmerzen, akute Miktionsbeschwerden oder kardiovaskuläre Komplikationen bei den Antagonisten nicht zu erwarten, und es entfällt die für Agonisten häufig notwendige, zusätzliche Gabe eines Antiandrogens wie z.B. Bicalutamid in den ersten zwei bis drei Wochen der Therapie. Ebenso unterbleiben sogenannte Microsurges, d.h. kleinere Testosteronanstiege, die bei jeder Reinjektion eines Agonisten auftreten können. Gerade diese Testosteronausreißer bei der Androgenentzugstherapie unter Agonisten scheinen eine immense Verkürzung des progressionsfreinen Überlebens zu bedingen. Hinsichtlich des PSA-Markers ergibt sich für Degarelix im Vergleich zu Leuprorelin eine signifikant schnellere Absenkung: am Tag 14 bzw. 28 wird bei DegarelixPatienten unter Standardtherapieschema ein PSA-Abfall von 64 bzw. 85 % erreicht im Gegensatz zu 18 bzw. 68 % bei Leuprorelin-Patienten (7,5 mg). GnRH-Analoga sind Peptide und würden somit im Gastrointestinaltrakt zerstört werden, was eine perorale Verabreichung verhindert und eine parenterale Applikation notwendig macht. Größtenteils werden sie heutzutage subkutan gespritzt. Die schon seit den 1980er Jahren verwendeten GnRH-Agonisten mussten anfangs noch täglich appliziert werden. Mittlerweile hat man länger wirksame und für die Patienten wesentlich bequemere Depotarzneiformen entwickelt. Beispielsweise wird Leuprorelin alle sechs Monate als subkutane Injektion verabreicht. Goserelin steht ebenfalls als subkutan zu spritzendes Implantat zur Verfügung. Bei Buserelin hat man einerseits ein subkutan zu applizierendes 2-Monatsimplantat entwickelt, andererseits existiert aber auch eine nasale Arzneiform. Man startet hierbei für sieben Tage mit einer dreimal täglichen subkutanen Injektion, anschließend wird auf das Nasenspray umgestellt (12 Sprühstöße pro Tag). Der GnRH-Antagonist Abarelix wird intramuskulär gespritzt. Nach drei Injektionen in den ersten vier Wochen (1., 15. und 29. Tag) beträgt die Erhaltungsdosis eine Injektion alle vier Wochen. Der neue Antagonist Degarelix wird subkutan verabreicht. Nach Applikation von Firmagon erfolgt sofortige Gelbildung und langsame, gleichmäßige Freisetzung des Wirkstoffes aus seinem Depot an der Injektionsstelle ins Blut über Wochen. Die Therapie beginnt mit 240 mg, d.h. zwei subkutanen Simultanjektionen von je 120 mg (2 × 3 ml). Danach wird jeden Monat einmal eine 80 mg-Injektion als Erhaltungsdosis appliziert (1 × 4 ml). Ein Drei-Monatsdepot von Degarelix befindet sich in der Entwicklung. Frühe GnRH-Antagonisten hatten die Eigenschaft, eine Mastzelldegranulation mit anschließender massiver Histaminfreisetzung einzuleiten, was die Entwicklung dieser Arzneistoffklasse lange Zeit behinderte. Noch beim Abarelix wird darauf verwiesen, dass Männer nach der Injektion für 30 Minuten auf Anzeichen einer allergischen Reaktion hin zu beobachten sind. Auch Cetrorelix (Cetrotide), ein GnRH-Antagonist zur Anwendung bei Frauen, die sich einer kontrollierten ovariellen Stimulation bei unerfülltem Kinderwunsch unterziehen und der zur Vermeidung eines vorzeitigen Eisprungs eingesetzt wird, besteht die Gefahr einer allergischen Reaktion. Beim Degarelix fehlt dieser Hinweis in der Fachinformation, da der Wirkstoff keine 2 CA 5.1.2011 signifikanten allergischen Reaktionen vom Soforttyp hervorruft. Hier decken sich die Erfahrungen aus dem humanen Hautmodell mit den Beobachtungen aus der Klinik. Die Pharmakokinetik von Degarelix ist dosis- und konzentrationsabhängig. Der maximale Plasmaspiegel wird erst nach ca. 40 Stunden erreicht. Die Halbwertszeiten betragen nach Applikation der höheren Initialdosis ca. 43 Tage, nach Applikation der Erhaltungsdosis ca. 28 Tage. Die Plasmaproteinbindung beträgt ungefähr 90 %. Der Abbau erfolgt wie für Peptide normal hepatobiliär, Fragmente des Dekapeptids werden hauptsächlich mit den Fäzes eliminiert. Degarelix stellt kein Substrat für das CYP450-System dar. Somit sind pharmakokinetische Wechselwirkungen bedingt durch das CYP450-System unwahrscheinlich, und es können auch Arzneistoffe, die über dieses System metabolisiert werden, gleichzeitig mit Degarelix angewendet werden. Die Therapie mit einem GnRH-Antagonisten kann das QT/QTc-Intervall verlängern. Dementsprechend ist Vorsicht geboten bei der gleichzeitigen Anwendung mit Arzneistoffen, die das QT-Intervall bekanntermaßen verlängern oder Torsades de Pointes hervorrufen. In diese Gruppen fallen u.a. die Antiarrhythmika der Klasse IA Chinidin und Procainamid oder aber der Klasse III Sotalol und Amiodaron. Die Nebenwirkungen des Degarelix sind größtenteils auf die Testosteronsuppression zurückzuführen und vergleichbar mit denen der herkömmlich zur Androgenentzugstherapie eingesetzten Agonisten. Dies sind vorwiegend Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen, eine sexuelle Dysfunktion, ein metabolisches Syndrom mit erhöhtem Bauchumfang und erhöhten Fettwerten, Hypertonie und Diabetes sowie eine erhöhte kardiovaskuläre Morbidität und eine Beeiträchtigung der kognitiven Fähigkeiten. Während der Therapie mit Degarelix sollten regelmäßige Kontrollen des SerumTestosteronspiegels sowie des PSA-Wertes erfolgen. Empfohlen wird eine Anwendungsdauer von einem Jahr, da für eine weitergehende Therapie keine Daten bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit vorliegen. GnRH ist ein lineares Dekapeptid. Alle enthaltenen Aminsäuren sind bis auf das achirale Glycin L-konfiguriert. Am Aminoende enthält das GnRH genauso wie das Thyrotropin-Releasinghormon (TRH) eine Pyroglutaminsäure, die durch intramolekulare Zyklisierung der α-Amino- und der γ-Carboxylgruppe einer Glutaminsäure entsteht. Der Abbau des GnRH erfolgt sehr schnell mit einer Halbwertszeit von 5-10 Minuten durch hypothalamische und hypophysäre Peptidasen vorwiegend am Glycin 6 des Dekapeptids. Der Austausch dieses Glycins durch D-konfigurierte Aminosäuren mit großen, hydrophoben Resten führt zu metabolisch wesentlich stabileren Analoga mit verlängerter Wirkdauer. Zusätzlich stabilisieren derartige Substituenten eine biologisch aktive Konformation des Moleküls. 3 CA 5.1.2011 Tabelle 1: Aminsäuresequenzen von GnRH und einigen Agonisten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 GnRH: Pyr His Trp Ser Tyr Gly Arg Leu Pro NH2 Gly Agonisten variabler Teil identischer Teil variabler Teil identischer Teil Triptorelin Pyr His Trp Ser Tyr D-Trp Leu Arg Pro Gly NH2 Trp Ser Tyr D-Ala -2-Naph Leu Arg Pro Gly NH2 Nafarelin Pyr His Leuprorelin H Pyr His Trp Ser Tyr D-Leu Leu Arg Pro N CH2CH3 Buserelin H Pyr His Trp Ser Tyr D-Ser -tert-Buty l Leu Arg Pro N CH2CH3 Goserelin H Pyr His Trp Ser Tyr D-Ser -tert-Buty l Leu Arg Pro N O N H 4 H 2N CA 5.1.2011 Tabelle 2: Strukturen von GnRH und einigen Antagonisten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 GnRH: Pyr His Trp Ser Tyr Gly Leu Arg Pro Gly NH2 Cetrorelix Ganirelix Abarelix und Degarelix andere Aminsäure als bei GnRH Aminosäure identisch zu GnRH Beispielsweise ist beim GnRH-Agonisten Triptorelin Glycin an Position 6 durch ein DTryptophan, das einen heterozyklischen, hydrophoben Indolsubstituenten enthält, ersetzt. Ein weiterer Agonist, Nafarelin, besitzt an Position 6 der Peptidkette einen 3(2-Naphthyl)-D-alanin-Rest. Die biologische Aktivität des Nafarelins ist allein durch diesen Austausch um den Faktor 200 größer als die des GnRH. Diese Wirkverstärkung erklärt den Begriff „Superagonist“. Die Halbwertszeit beträgt mehr als zwei Stunden, was teilweise auch dadurch erklärt wird, dass Nafarelin vermehrt an hydrophobe Stellen des Serumalbumins bindet als GnRH. Das so gebundene Nafarelin entzieht sich einer Proteolyse bzw. einer renalen Elimination und kann als zirkulierendes Depot des Arzneistoffs angesehen werden. Eine weitere Wirkverstärkung lässt sich bei den Superagonisten durch eine Strukturmodifizierung am C-Terminus der Peptidkette erreichen, indem Glycinamid gegen Ethylamid ausgetauscht wird. Leuprorelin und Buserelin sind 5 CA 5.1.2011 Arzneistoffbeispiele, bei denen beide Strukturvariationen - sperrige D-Aminosäuren an Position 6 anstelle von Glycin und ein Ethylamid anstelle des Glycinamids an Position 10 - vorkommen. Die Aminosäuresequenzen der wichtigsten GnRHAgonisten sind in Tabelle 1 aufgeführt.. Im Gegensatz zu den Agonisten sind die Strukturmodifikationen innerhalb der Gruppe der Antagonisten wesentlich größer. Schon vor über 20 Jahren hatte man mit der Synthese von GnRH-Antagonisten begonnen. Allerdings waren die ersten Generationen dieser Verbindungen entweder zu lipophil oder aber aufgrund einer immensen Histaminfreisetzung für den klinischen Einsatz nicht zu gebrauchen. Auch heute noch besteht die größte Herausforderung bei der Entwicklung eines neuen GnRH-Antagonisten darin, bei möglichst großer Wirksamkeit die histaminfreisetzenden Effekte so gering wie möglich zu halten. Abbildung 1: Stukturformeln von Degarelix und Abarelix HN Cl HO O H N O H N 1 N H 3 N H 2 O O H N O H N 5 N H 4 O R2 O 7 O N H 6 O 8 O N 9 N H2 N 10 H N O R1 O N H2 NH R1 = R2 = Degarelix NH H N O O NH O O R1 = R2 = Abarelix NH2 OH 6 CA 5.1.2011 Schon frühzeitig wurde erkannt, dass hydrophobe D-Aminosäuren an den Positionen 1, 2 und 3 der Peptidkette zu einer verminderten agonistischen Aktivität führen, wobei aber die Rezeptorbindungsaffinität erhalten bleibt. Die heute zugelassenen Antagonisten sind allesamt Dekapeptide - allerdings mit einer im Vergleich zu GnRH und den Agonisten stark veränderten Aminosäuresequenz. Gemeinsam sind allen Substanzen die C- und- N-terminalen Schutzgruppen (Amid- bzw. Acetylgruppe). Sie verleihen den Molekülen einerseits eine höhere metabolische Stabilität, andererseits sind sie aber auch zwingend erforderlich für eine komplette antagonistische Aktivität. Hinsichtlich der Aminosäuresequenz sind bis heute lediglich die Positionen 4 (Serin) , 7 (Leucin) sowie 9 (Prolin) aus dem ursprünglichen GnRH erhalten geblieben (bei Abarelix und Degarelix) (siehe dazu Tabelle 2). Cetrorelix (Cetrotide) - angewendet bei unerfülltem Kinderwunsch zur Vermeidung eines vorzeitigen Eisprungs - ähnelt strukturell dem natürlichen GnRH noch am meisten. Fünf Aminosäuren innerhalb des Dekapeptids liegen in der unnatürlichen D-Konfiguration vor. Die Aminosäuren 4,5,7,8 und 9 sind identisch zum natürlichen GnRH. Beim Ganirelix (Orgalutran), das dieselbe Indikation wie Cetrorelix besitzt, sind es nur noch vier Aminosäuren. Abarelix und Degarelix sind sich strukturell am ähnlichsten. Sie unterscheiden sich an den Positionen 5 und 6 der Sequenz (Abbildung 1). Literatur: Fachinformation Firmagon, Ferring Arzneimittel, Juni 2010 Produktmonografie Firmagon, Ferring Arzneimittel, 2010 Fachinformation Plenaxis, Speciality European Pharma, November 2009 Akaza, H., Pharmacology, 2010, 85, 110-20 Conn, P.M. et al., Biol. Reprod., 1987, 36, 17-35 Counis, R. et al., Reprod. Nutr. Dev., 2005, 45, 243-54 Davidson, J.S. et al., J.Biol. Chem., 1996, 271(26), 15510-14 Frampton, J.E. und Lyseng Williamsen, K.A., Drugs, 2009, 69(14), 1967-76 Lüllmann, H., Mohr, K. und Hein, L., aus Pharmakologie und Toxikologie, 2010, 17.Aufl., pp 399-401 Millar, R.P. et al., Front. Neuroendocrinol., 2008, 29(1), 17-35 Reissmann, T. et al., Human Reproduction Update, 2000, 6(4), 322-31 Samant, M.P. et al., J.Med.Chem., 2005, 48(15), 4851-60 Samant, M.P. et al., J.Med.Chem., 2006, 49(12), 3536-43 Steinhilber, D., Schubert-Zsilavecz, M. und Roth, H.J., Medizionische Chemie, 2010, 2. Aufl., pp 497-98 7 CA 5.1.2011