Geschichte Joana Gasper Der Kult des Dionysos im öffentlichen Leben Athens Studienarbeit 1. Einleitung Καὶ µὴν καὶ τῶν πόνων πλείστας ἀναπαύλας τῇ γνώµῃ ἐπορισάµεθα, ἀγῶσι µέν γε καὶ θυσίαις διετησίοις νοµίζοντες, ἰδίαις δὲ κατασκευαῖς […].1 Diese wenigen Worte aus der Leichenrede des Politikers Perikles auf die Gefallenen des ersten Jahres des Peloponnesischen Krieges (431/30 v. Chr.) verdeutlichen Aspekte der Funktion von öffentlichen athenischen Festen im 5. Jahrhundert. Welche Rolle auch andere Zeitgenossen neben Perikles kulturellen Feierlichkeiten in Athen zuschrieben, insbesondere derjenigen zu Ehren des Gottes Dionysos, erfahren wir von Platon. Obwohl er bekanntlich Dionysos äußerst negativ gegenübersteht, soweit es sich um seine ekstatischen Züge handelt, hat er die als ‚politisch’ definierte Rolle des Gottes Dionysos in seinen Nomoi gewürdigt. Im Zusammenhang nach der Frage der Bedeutung der Feste für die attische Bevölkerung im Allgemeinen und der Dionysien im Besonderen hat er eine gesellschaftliche und erzieherische Funktion der Kulte hervorgehoben. 2 Aristophanes ließ in seiner gesellschaftskritischen Komödie Die Frösche Dionysos als athenischen Bürger und Gott des Theaters auftreten, der er sich auf der Suche nach seiner eigenen Identität der politischen Funktion seines Festes bewusst wird.3 Aus welchen Motiven und aus welchen Maßgaben heraus sahen die zeitgenössischen Athener Dionysos als eminent politischen Gott an? Wie konnte der Kult des Dionysos jene eminente Bedeutung im öffentlichen Leben der Polis Athen erlangen? Wie konnte sich dieser Kult in Athen zu einem überregionalen Festereignis entwickeln? Auf welche Weise wurden die normalerweise rein kultisch angelegten Handlungen politisiert? Diese Leitfragen bilden den Kern der vorliegenden Arbeit, wobei das Hauptaugenmerk auf der Bedeutung des Kultes des Dionysos Eleuthereus für die Identitäts- und Gemeinschaftsbildung der athenischen Bevölkerung als Kultgemeinschaft liegt. Ziel dieser Untersuchung ist es folglich, das Fest der Großen Dionysien als notwendigen Bestandteil des politischen Lebens der Polis Athen aufzuzeigen. Gemäß dieser Problemstellung werden die sozialen Komponenten (Tragödie, Komödie, Dithyrambos) sowie die kultischen Rituale dieser Feierlichkeit im Hinblick auf den Zusammenhang von Religion und Politik aus einem historischen Blickwinkel analysiert. 1 Thuk. 2, 38, vgl. dazu: ZIMMERMANN, Bernhard, „Stadt und Fest. Zur Funktion athenischer Feste im 5. Jahrhundert v. Chr.“, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt am Main 1991, S. 153f; KUCH, Heinrich, „Gesellschaftliche Voraussetzungen und Sujet der griechischen Tragödie“, in: Ders. (Hg.), Die griechische Tragödie in ihrer gesellschaftlichen Funktion, = Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1983, S. 20; MEIER, Christian, „Politik und Tragödie im 5. Jahrhundert“, Philologus 135 (1991), S. 73; MEIER, Christian, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 37, 54. 2 Plat. Leg. 653c7-653d5: τούτων γὰρ δὴ τῶν ὀρθῶς τεθραµµένων ἡδονῶν καὶ λυπῶν παιδειῶν οὐσῶν καλᾶται τοῖς ἀνθρώποις καὶ διαφθείρεται κατὰ πολλὰ ἐν τῶ βίῳ, θεοὶ δὲ οἰκτίραντες τὸ τῶν ἀνθρώπων ἐπίπονον πεφυκὸς γένος, ἀναπαύλας τε αὐτοῖς τῶν πόνων ἐτάξαντο τὰς τῶν ἑορτῶν ἀµοιβὰς τοῖς θεοῖς, καὶ Μούσας Ἀπόλλωνά τε µουσηγέτης καὶ Διόνυσον συνεορταστὰς ἔδοσαν, ἵν ἐπανορθῶνται, τάς τε τροφὰς γενοµένας ἐν ταῖς ἑορταῖς µετὰ θεῶν. Vgl. dazu BIERL, Anton F. Harald, Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ‚metatheatralische’ Aspekte im Text, = Classica Monacensia 1, Tübingen 1991, S. 53f. 3 Vgl. Aristophanis Comoediae, ed. by F.W. Hall and W.M. Geldart, Oxford 19072; Aristophanes, Frösche, Einleitung, Text und Kommentar von L. Rademacher, Wien 19673. 2 So soll im folgenden Abschnitt nicht nur der – gemäß den Leitfragen relevante – Forschungsüberblick vorgestellt, sondern auch die Quellenlage, aus der sich das Bild des Dionysos zusammensetzt, als notwendiges Kriterien dargelegt werden, um die Schwierigkeiten bei der Erarbeitung der Fragestellung, nach dem Kult des Dionysos im öffentlichen Leben Athens, aufzuzeigen. Um der Fragestellung dieser Arbeit gerecht zu werden, muss zunächst der Kult des Dionysos Lenaios funktional und topografisch erarbeitet werden, um die situativen Gegebenheiten für Etablierung des künstlich überführten Dionysos Eleuthereus zu einem ‚Staatskult’ festzumachen. 2. Forschungspositionen 2.1. Der Gott Dionysos und sein Kult Wer war Dionysos? Seit wann und auf welchen Zeugnissen ist sein Name schriftlich belegt? Welche Stellung hatten der Gott Dionysos und sein Kult im antiken griechischen Kulturraum? Ist Dionysos ein genuin griechischer Gott? Mit diesen oder ähnlichen Fragen setzen sich bis heute Forscher aus sämtlichen Bereichen der Altertumswissenschaften auseinander: der Alten Geschichte, der Archäologie, der Religionsgeschichte und der Klassischen Philologie.4 Sowohl in der Moderne als auch in der Antike hat Dionysos mehr als jede andere antike Gottheit die Menschen in seinen Bann gezogen. Der Grund seiner Faszination liegt in seinem Facettenreichtum, seiner Andersartigkeit zu den übrigen antiken Gottheiten und seiner Rätselhaftigkeit, wodurch Dionysos seit seinem ‚Erscheinen’ in der Antike bis heute zu einem wichtigen Forschungsgegenstand geworden ist. Als einen Ausnahmegott zeichnet er sich dadurch aus, dass er – wie es von keiner anderen Gottheit in der literarischen Tradition berichtet wird – gleichzeitig und gemeinsam mit seinen Verehrern rituell tätig sein kann.5 Schon bei Homer erscheint Dionysos in einer mythischen Szene, die ihn in mehrfachem Sinne enger als alle anderen griechischen Gottheiten an die Menschen heranrückt. Literarische sowie auch künstlerische Darstellungen bezeugen gleichermaßen die 4 Besonders hervorzuheben sind die Überblicksdarstellungen zum Theaterwesen: BLUME, Horst-Dieter, Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 1978; LATACZ, Joachim, Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 20032; LESKY, Albin, Die griechische Tragödie, 19844; SEECK, Gustav Adolf, Die griechische Tragödie, Stuttgart 2000; SIMON, Erika, Das antike Theater, = Heidelberger Texte, Didaktische Reihe 5, Heidelberg 1972. Zu Dionysos selbst: BURKERT, Walter, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, = Die Religionen der Menschheit 1, Stuttgart 1977; KERÉNYI, Karl, Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, Stuttgart 19948. Von der neuesten Forschung überholt und in Frage gestellt: OTTO, Walter Friedrich, Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt am Main 19332. Die Rolle des Dionysos innerhalb der Tragödie besonders: BIERL, Anton F. Harald, Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ‚metatheatralische’ Aspekte im Text, = Classica Monacensia 1, Tübingen 1991. Zu Agora, Orchestra und Theaterbauten: DÖRPFELD, Wilhelm, „Das Dionysos-Theater in Athen“, in: Ders. und Emil Reisch, Das griechische Theater. Beiträge zur Geschichte des Dionysos-Theaters in Athen und anderer griechischer Theater, Aalen-Darmstadt 1966, S. 1-96; insbesondere: KOLB, Frank, „Polis und Theater“, in: Gustav Adolf Seeck (Hg.), Das griechische Drama, Darmstadt 1979, S. 504-545; KOLB, Frank, Agora und Theater, Volks- und Festversammlung, = Archäologische Forschungen 9, Berlin 1981. 5 Vgl. SCHLESIER, Renate, „Dionysos als Ekstasegott“, in: Renate Schlesier und Agnes Schwarzmaier (Hg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase, = Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellung in der Antikensammlung im Pergamonmuseum Berlin 5. November 2008 – 21. Juni 2009, Berlin 2008, S. 30. 3 außerordentliche physische Präsenz des Dionysos, seine epiphanische Sichtbarkeit und seine damit einhergehende unmittelbare Nähe zu den Menschen.6 So gibt es nur von Dionysos eine antike Biografie, die mit seiner Geburt beginnt und mit der Apotheose seiner Mutter Semele endet.7 Nach dem Mythos als Sohn des Zeus8 und der thebanischen Königstochter Semele9 bildete er ferner bereits durch seine Abstammung10 eine weitere Ausnahme innerhalb der Götterwelt. In Bezug auf seinen Kult verbinden wir Dionysos mit Wein und Ekstase, Musik und Tanz, aber auch mit Verwandlung, Maske und Theater. Schon in der Antike ist Dionysos ein polyvalenter, vermischter, widersprüchlicher und sich wandelnder Gott. Als ein Gott der Vielschichtigkeit und Ambivalenz ließ Euripides ihn in den Backchen11 auftreten und sich selbst als „der furchtbarste, zugleich aber für die Menschen auch der sanfteste“12 charakterisieren. Ein Hymnus aus der Zeit um 500 n. Chr. verdeutlicht besonders eindrucksvoll, dass Dionysos kultisch und mythisch als ein Gott der Polyvalenzen13 und einer Mischung von göttlich und menschlich, Frau und Mann, Tier und Mensch, Leiden und Lust anzusehen ist wie ihn auch Renate SCHLESIER immer wieder treffend charakterisiert.14 Gerade aktuell fand unter dem Titel „Ein differenter Gott? Dionysos im Kontext des antiken Polytheismus“ eine Tagung (25. bis 28. März 2009) im Pergamonmuseum in Berlin statt und zwar in Zusammenhang mit den bis Juni 2009 gezeigten Ausstellungen der Berliner Antikensammlung im Pergamonmuseum: „Dionysos – Verwandlung und Ekstase“ und „Die Rückkehr der Götter – Berlins verborgener Olymp“. Die aktuell laufende Ausstellung „Dionysos – Verwandlung und Ekstase“ ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin und dem Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin, dem 6 Vgl. HENRICHS, Albert, „Dionysische Imaginationswelten. Wein, Tanz, Erotik“, in: Renate Schlesier und Agnes Schwarzmaier (Hg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase, = Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellung in der Antikensammlung im Pergamonmuseum Berlin 5. November 2008 – 21. Juni 2009, Berlin 2008, S. 19. 7 Apollodor, Bibliothek 3,5,1-3, Angabe aus: HENRICHS, Albert, Dionysische Imaginationswelten, S. 19. 8 Auch der Name Dionysos schien nach Auffassung früherer etymologischer Forschung darauf hinzuweisen. Der erste Teil seines Namens sei „Zeus“ (Genitiv: Διός), der zweite bedeute „Sohn“. Die neueste Forschung stellt die Etymologie – insbesondere des zweiten Teils – in Frage. Vgl. hierzu: MUTH, Robert, Einführung in die griechische und römische Religion, Darmstadt 1988, S. 122, Anm. 269. 9 Hes. theog. 940f.; Hom. Il. 14,325; Soph. Ant. 1115f. Quellenangaben aus: FAUTH, Wolfgang, s.v. Dionysos, in: Der kleine Pauly 2 (1967), Sp. 77. Vgl. dazu auch: SCHLESIER, Renate, s.v. Dionsyos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 3 (1997), Sp. 651. 10 Persephone als Mutter des Dionysos gehörte zum Mysterienwissen und ist deshalb erst später bezeugt (Diod. 5,75,4), vgl. ebd. 11 Die Backchen des Euripides lassen sich als eine der Hauptquellen für die literarische Überformung des DionysosKultes in klassischer Zeit ansehen. Vgl. GÖDDE, Susanne, „Die Polis auf der Bühne. Die Großen Dionysien im klassischen Athen“, in: Renate Schlesier und Agnes Schwarzmaier (Hg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase, = Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellung in der Antikensammlung im Pergamonmuseum Berlin 5. November 2008 – 21. Juni 2009, Berlin 2008, S. 96. 12 Euripides, Backchen, 861. Siehe hierzu auch: GÖDDE, Susanne, „Die Polis auf der Bühne. Die Großen Dionysien im klassischen Athen“, in: Renate Schlesier und Agnes Schwarzmaier (Hg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase, = Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellung in der Antikensammlung im Pergamonmuseum Berlin 5. November 2008 – 21. Juni 2009, Berlin 2008, S. 95. 13 Hymnus um 500 n. Chr, Anthologia Graeca IX 524, zitiert aus: HAMDORF, Friedrich Wilhelm, Dionysos-Bacchus. Kult und Wandlungen des Weingottes, München 1986, S. 7. 14 Vgl. SCHLESIER, Renate, s.v. Dionsyos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 3 (1997), Sp. 651; SCHLESIER, Renate; SCHWARZMAIER, Agnes, „Einleitung“ in: Dies. (Hg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase, = Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellung in der Antikensammlung im Pergamonmuseum Berlin 5. November 2008 – 21. Juni 2009, Berlin 2008, S. 13. 4