julien-chaim soussan, rabbiner von düsseldorf, über

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INTERVIEW: JOCHEN FÖRSTER.
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FOTOS: ALFRED JANSEN.
DUMMY: HERR RABBINER, WAS UNTERSCHEIDET EINEN GLÄUBIGEN JUDEN
VON EINEM CHRISTEN?
Julien Soussan: Zunächst Jesus. Christen glauben an ihn als den Messias, für Juden hingegen ist das Erscheinen des Messias unabdingbar gekoppelt an die Erlösung der Welt. Wir glauben: Wenn der Messias
kommt, hört das Schlechte in der Welt auf, Frieden wird herrschen, das
Böse als solches wird ausgemerzt. Im Hinblick auf Jesu Tod und die folgende Jahrtausende bezweifeln wir ernsthaft, dass ein solcher Zustand
eingetreten ist. Für uns ist Jesus, wenn überhaupt, eine historische Person, die möglicherweise im Konflikt mit dem jüdischen Establishment
stand. Die meisten jüdischen Schriften über ihn aus dieser Zeit wurden
allerdings von Christen vernichtet, vielfach wurde Zensur geübt, etwa
wurden sämtliche Jesus-Passagen aus dem Talmud getilgt, um dessen
Vernichtung vorzubeugen.
WIE IST DAS VERHÄLTNIS VON KÖRPER UND GEIST?
Wir alle wissen, dass der Mensch in dieser Dualität auf die Welt gekommen ist. Weite Teile von Christentum und Islam gehen allerdings davon
aus, dass die Seele im Körper gefangen ist. Daraus folgt die Ansicht,
dass alles, was dem Körper Spaß und Freude bereitet, a priori negativ
sein müsse.
DER GEIST IST WILLIG, DAS FLEISCH SCHWACH.
»
EIN NORMALES
VERHÄLTNIS
WÄRE ANORMAL
«
JULIEN-CHAIM SOUSSAN, RABBINER VON DÜSSELDORF, ÜBER
DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN JUDEN UND DEUTSCHEN, GOTTES
613 GEBOTE UND CHRISTLICHE ÜBERMENSCHLICHKEIT
Genau. Das Judentum siedelt sich in der Mitte der Geist-Körper-Dualität
an. Gott hat mit ihr Sinn gestiftet. Zwar ist es richtig, dass ich mit dem
Körper sündigen kann, gleichermaßen kann ich nur mit ihm Gottes Gebote erfüllen. Das Judentum will Lustempfinden daher nicht unterbinden, sondern verbinden mit dem Dienst an Gott. Es gebietet beispielsweise den Genuss eines guten Essens als Teil jedes Schabats. »Sie wollten
uns töten, wir haben gewonnen, kommt lasst uns essen«, lautet ein, nicht
ganz ernst gemeinter, Leitspruch jüdischer Festtage. Aber es ist ein Genuss mit Einschränkungen. Fleisch essen wir – allerdings nicht alles.
Wein – aber nicht jeden. Jeder Schabat startet am Freitagabend mit der
Heiligung des Weins. Übrigens zählt es zu den Mizwot, den göttlichen
Geboten, sich freitagnachts mit der Ehefrau körperlich zu vereinen.
WIR CHRISTEN ESSEN UND LIEBEN UNS AN FESTTAGEN AUCH GANZ GERN
Sammlung jener Gesetze, die Gott Moses diktiert hat. Insgesamt sind
es 613 – 365 Verbote und 248 Gebote. Jeder Mensch hat aber nur eine
gewisse Anzahl zu erfüllen. Für Priester etwa gelten manche nicht, für
Männer andere als für Frauen, für Nicht-Israeli wieder andere, für
Nicht- Juden nur die sieben Noachidischen Gebote der Zivilisation.
ICH DACHTE IMMER, ES SEIEN NUR ZEHN GEWESEN.
Da übernehmen Sie den Fehler christlicher Überlieferung. Selbst demnach stehen auf den zwei Tafeln 13 Gebote. Im Satz »Ich bin der ewige
Dein Gott« steckt nach unserer Vorstellung bereits ein Gebot. Aber in
Wirklichkeit waren es, in der gesamten Tora, weit mehr. Gott gab uns
ein detailliertes Regelwerk. Unser Ziel ist, durch Erfüllung der Gebote
das Kommen der messianischen Zeit zu ermöglichen, in der ein Nachfolger Davids, ein König, ein neues Reich begründet, in dem alle
Menschen gottesgläubig sind und das Böse nicht mehr existiert. Dies
wird dann kein exklusiv jüdisches Reich sein, sondern eins aller Völker.
DAS BÖSE IST ALSO KEIN FAKTUM PER SE, DAS NUR MITTELS GESETZEN ZU
BÄNDIGEN WÄRE, SONDERN DURCHAUS ELIMINIERBAR. ANDERS ETWA ALS
DIE SÜNDEN-IDEE DER CHRISTEN, INSBESONDERE DER PROTESTANTEN.
Auch innerhalb des Judentums herrschen hierzu unterschiedliche Vorstellungen, etwa chassidische, kabbalistische oder rational geprägte.
Zur Zeit vor der Sünde, also im Paradies Adams und Evas, war das
Böse passiv in der Welt – angelegt zwar, aber noch nicht passiert. Als
Adam und Eva das Böse aktivierten, erlitt die Welt einen Abfall, seither
kann das Böse jederzeit zuschlagen. Die Gebote – als objektive Instanz
zur Erkennung des Falschen – sollen uns davor bewahren. Maimonides,
ein jüdischer Denker des Mittelalters, stellt hierzu zwei Fragen. Erstens:
Warum werden Adam und Eva für etwas bestraft, das sie nicht kannten,
weil es vorher nicht da war? Und zweitens: Sollten wir nicht dankbar
sein, dass sie vom Baum der Erkenntnis genascht haben, weil uns eben
das von den Tieren unterscheidet? Maimonides antwortete, der Mensch
habe einen Abfall in der Bewertungskompetenz erlitten. Bereits Adam
und Eva hätten diese nämlich besessen, allerdings nicht gemäß den Kriterien Gut und Böse, sondern Richtig und Falsch. Diese seien überlegen, weil objektiv. Die Sonne scheint. Das Göttliche Gesetz sagt, was
richtig und falsch ist – unerheblich, ob gut oder böse.
UND TRINKEN HEILIGEN WEIN IN DER EUCHARISTIE.
Jedoch mit anderem Hintergrund. Nach jüdischer Vorstellung schuf Gott
die Welt in sechs Tagen, am siebten ruhte er. In unserer Zahlenmystik
steht die Sechs für alles Physische, für alles Metaphysische hingegen
die Sieben. Diese Welt ist eine Abfolge von Sieben. Ich beginne den
Schabat, indem ich etwas Physisches nehme – ein Glas Wein, mit dem
ich mich in der Kneipe betrinken kann – und es einem heiligen Zweck
zuführe. Ich schaffe eine Verbindung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Wofür steht also die Acht?
UNENDLICHKEIT?
Für alles, was nach dieser Welt kommt. Die Acht ist das Paradies. Wie
kommt ein Mensch dahin? Indem er Gottes Gebote erfüllt. Die erste religiöse Pflicht, die ein Jude erfüllen kann, die Beschneidung, findet statt
am achten Tage seiner Geburt.
DAS GESETZ ANSTELLE DES IDEALS, DAS NICHTBEFOLGEN ANSTELLE DER
SÜNDE IST EINE ANDERE GRUNDWESENHEIT DES JUDENTUMS.
Die Tora, das heiligste Buch des Judentums, verstehen wir vor allem als
CHRISTEN NENNEN DAS BEGEHEN VON FEHLERN SÜNDE. KATHOLIKEN PFLEGEN
ZU BEICHTEN, PROTESTANTEN BETRACHTEN SÜNDE ALS UNABDINGBAR. WAS
TUN JUDEN?
Jeweils zum jüdischen Neujahr ziehen wir Bilanz. Gott schreibt uns in
das Buch der Lebenden ein, eine Art persönliche Buchhaltung jedes
Einzelnen. Wir neigen zu der Vorstellung, das Verhältnis richtiger und
falscher Taten stehe bei uns allen etwa bei 50:50. Das heißt, jede gute
Tat zählt, sie kann die Welt zum Guten auspendeln und dem paradiesischen Zustand zuführen. Wir kennen keine Heiligen zu Lebzeiten,
niemand macht alles richtig, jeder kann mehr tun. Aber wir kennen
Menschen, die mehr Richtiges als Falsches tun. Sie sind die Gerechten.
WIE KANN ICH FEHLER WIEDERGUTMACHEN?
Wir unterscheiden zwei Sorten von Fehlern – gegenüber Menschen
und Gott. Wenn ich etwa den Sabbat falsch feiere oder unkoscher esse,
ist das eine Sache zwischen mir und Gott. Wenn ich meinen Nachbarn
bestehle, ist das zunächst mal eine Sache zwischen mir und ihm. Wenn
ich also ein Gesetz breche gegenüber Gott, kann ich dies auf verschiedene
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Gott. Egal. Wichtig ist, dass ich im Alltag Gebote anhand von Äußerlichkeiten einübe. Ein Beispiel: Am Sabbat sagen wir den Segen auf den
Wein, waschen uns die Hände, dann erst wird das Brot aufgedeckt. Warum decken wir das Brot zu, fragte ich als Kind meinen Vater. »Damit
es sich nicht schämt«, entgegnete er. Eines Tages, ich war inzwischen
älter und kritischer, fragte mich Vater erneut, warum das Brot zugedeckt
werde. Ich also, gefällig: »Damit es sich nicht schämt.« Mein Vater blickte
mich an, schüttelte den Kopf und sagte: »Brot. Brot schämt sich? Junge,
wir reden von Brot!« Für mich brach eine Welt zusammen, bis ich verstand: Natürlich schämt sich kein Brot. Aber es übt mich im Alltag, sogar
auf Brot Rücksicht zu nehmen. Um wie viel mehr muss ich Rücksicht
auf Menschen nehmen! Dieser alltägliche Übertrag fehlt mir im Christentum. Es ist solchermaßen idealisiert, dass seine Forderungen oft unerfüllbar erscheinen. »Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst« etwa ist eine so unglaublich hohe Anforderung, dass ich ohne Beiblatt gar nicht
weiß, wie ich sie bewältigen kann. Was bedeutet das Gebot? Wie geht
ein Masochist damit um? Soll er den anderen prügeln, weil er sich an
ren angedeihen lassen soll?
Nicht-Juden, eher gelassen, alles andere kam schließlich nach uns. Außerdem haben Nicht-Juden es viel leichter, sie müssen aus jüdischer Sicht
ja nur die sieben Noachidischen Regeln befolgen, sechs Verbote und
ein Gebot: An einen Gott glauben. Ihn nicht lästern. Nicht morden.
Nicht rauben. Von lebendigem Tier nichts abschneiden. Inzest. Und
das Gebot, eine Gerichtsbarkeit aufzustellen, die Absage an die Anarchie. Wenn ein Nicht-Jude dies befolgt, hat er Anteil an der kommenden Welt. Wenn also jemand zum Judentum konvertieren möchte, lautet meine erste Frage an ihn: Warum wollen Sie die Chance, mit nur
sieben Geboten in den Himmel zu kommen, eintauschen gegen 613 Gebote, die kaum zu bewältigen sind? Dann braucht er gute Argumente.
CHRISTEN NEHMEN EINEN BESONDEREN PAZIFISMUS FÜR SICH IN ANSPRUCH.
RICHTIG, DASS TORA UND TANACH WEITAUS KRIEGERISCHER WIRKEN ALS
DAS NEUE TESTAMENT?
Sicher, womit wir jedoch wieder bei der ideellen Ebene wären. Die Tora
schafft eine Umgebung, in der wir täglich den Frieden erringen können.
IST DAS CHRISTLICHE FRIEDENSIDEAL ZU ABSTRAKT?
GENAU GENOMMEN HEISST ES, WENN ICH MICH SELBST HASSE, SOLLTE ICH
ANDERE EBENSO VERABSCHEUEN.
Weise wieder gutmachen: durch Gebet oder Fasten etwa. Am Jom Kippur, dem jüdischen Feiertag der Versöhnung, essen wir nicht, trinken
nicht, beten fast nur, haben keinen ehelichen Kontakt, kurz: geben dem
Körper keine Chance, Falsches zu tun. Es ist ein Symbol, Gott zu sagen:
Tut mir leid. Eine Art von Tschuwa, von Rückkehr auf den richtigen
Weg. Wenn ich einem Menschen gegenüber fehle, ist es meine erste
Pflicht, mich mit ihm zu versöhnen. Wir haben hierzu eine praktische
Faustregel – sich dreimal ernsthaft zu entschuldigen reicht. Ein frommer Mensch probiert es natürlich öfter.
Der Satz ist bekanntlich der Bergpredigt entnommen, er kommt aber
auch schon in der Tora vor. Das hebräische Original lässt aber eine nachvollziehbarere Übersetzung zu: »Liebe Deinen nächsten ka-mocha, ich
bin Gott«. »Ka-mocha« bedeutet »wie Du«. Manche interpretieren den
Satz im Sinne »denn er ist wie Du«. Dein Nächster hat die gleiche
Göttlichkeit in sich, Du sollst in ihm das Ebenbild Gottes lieben. Wir
haben dafür eine praktische Umsetzung: In den 613 Mizwot ist klar geregelt, wie viel ich von meinem Geld abzugeben habe, in welchen Fällen ich einem Bedürftigen helfen muss, wann ich jemandem helfen muss,
seinen Esel zu be- oder entladen. In manchen Fällen allerdings enthalten die Fünf Bücher Mose nur Etiketten – sie brauchen Erläuterungen. In der Tora etwa steht sinngemäß: »Du sollst diese Worte als
Zeichen auf Deine Hand binden und als Denkzeichen zwischen Deine
Augen.« Irgendwann später kam es dann zu einem normativen Prozess, weshalb jüdische Gebetsriemen heute auf der ganzen Welt gleich
aussehen. Auch die Tora benötigt Interpretationen.
DIE HELDEN DES JUDENTUMS, VON ABRAHAM, MOSES, UND DAVID BIS ESRA,
DEN TALMUD ALSO. TORA UND TANACH BILDEN DEMNACH DIE REGELN, DER
BEGEHEN JEDE MENGE FEHLER. DER FLEISCH GEWORDENE ÜBERMENSCH
TALMUD DIE AUSLEGUNG.
JESUS CHRISTUS HINGEGEN IST OHNE FEHL UND TADEL. WELCHE FOLGEN
Nicht ganz. Die Tora, also die Fünf Bücher Mose, beinhalten die jüdischen Grundregeln, weshalb sie sich, auf Pergamentrolle geschrieben,
in jeder Synagoge befinden, in Richtung Jerusalem gerichtet. Der Tanach, die schriftliche Überlieferung, gleicht im Wesentlichen dem Alten
Testament. Die mündliche Überlieferung, sprich die Sammlung der
Lehrmeinungen zur Tora, verlangten nach der Zerstörung des Zweiten
Tempels nach einer Verschriftlichung, da es kaum noch Rabbiner gab.
So entstand die Mischna, um 200 n.C. in Israel, sowie die Gemara,
um 400 in Babylonien. Zusammen ergeben sie den Talmud. Wenn
man jeden Tag eine Doppelseite aus ihm liest, braucht man sieben
Jahre, bis man durch ist. Manche Rabbiner können ihn auswändig.
HAT DAS FÜR DIE RELIGIONEN SELBST?
Es trägt unter anderem dazu bei, dass das Christentum eine idealistischere, das Judentum eine realistischere Religiosität ausprägt. Indem
ich mich an Figuren orientiere, die in ihrem Leben zweifelten, gestrauchelt sind, aber trotzdem am Ende das Richtige getan haben, fühlen wir
uns als Juden nie außen vor, es gibt immer ein Zurück, bis zum Tag
des Todes besteht die Fähigkeit zur Tschuwa. An eine Überfigur reiche
ich nie heran.
NACH PROTESTANTISCHER SICHTWEISE IST DER MENSCH ZUR SÜNDE
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SENDJÄHRIGE GEBIETSANSPRÜCHE DORT NACHZUVOLLZIEHEN?
Ich glaube nicht. Die meisten Siedler beziehen sich keineswegs auf die
Geschichte, sondern auf eine neue Wehrhaftigkeit infolge des Holocaust.
Das »So etwas passiert uns nie wieder« hat sich in der Siedlermentalität
auf teils kriegerische Weise niedergeschlagen, etwa in einem kompromisslosen Nationalstolz, der sich paart mit Religiosität. Die traditionelle
Toleranz des Judentums wird so ad absurdum geführt. Dass die Siedler
heute nicht gern Land und Häuser verlassen, die sie eigenhändig aus
der Wüste gestampft und unter ständiger Lebensgefahr ihrer Umwelt
abgetrotzt haben, ist für mich aber nachvollziehbar – immerhin haben
sie vielerorts etwas geschaffen, was den Palästinensern trotz Unsummen
auch europäischer Finanzierung nicht gelungen ist. Dennoch bleibe ich
dabei: Wenn wir uns durch die Rückgabe von Land Frieden erkaufen
können, müssen wir das tun. Abgesehen davon haben viele Israelis zu
Recht wenig Verständnis für die Berichterstattung des Westens. Wenn
man unter akuter Bombenbedrohung lebt, stellt sich die Frage, ob dies
genug berücksichtigt wird bei der Beurteilung der politischen Konsequenzen. Die Medienpräsenz ist jedenfalls unverhältnismäßig.
WARUM?
Weil Juden und Deutsche ein nicht normales Verhältnis haben.
Gute Religionen halten die Ebenen Mensch-Mensch und Mensch-Gott
im Gleichgewicht. Alles andere führt zur Katastrophe.
VIELLEICHT AUCH, WEIL PALÄSTINA DER GLOBALE SCHLÜSSELKONFLIKT UNSERER TAGE IST? SCHLIESSLICH HABEN KEINE PUTIN-HASSENDEN TSCHETSCHENEN DAS WORLD TRADE CENTER IN DIE LUFT GEJAGT, SONDERN JUDEN-
WÄRE EIN BISSCHEN SÄKULARISIERUNG NICHT FÖRDERLICH?
HASSENDE ARABER.
Schauen Sie sich doch die Bilanzen einmal an. Die Schoa geschah, weil
der Nationalsozialismus beide Ebenen negierte. Der Kommunismus ist
eine tolle Idee, die allerdings zu Recht nicht überlebte, weil der Mensch
kein Übermensch ist und der Kommunismus das göttliche Prinzip negiert. Umgekehrt ist, wenn ich nur das göttliche Prinzip gelten lasse,
der Weg zum Selbstmordattentat nicht mehr weit.
Wobei diese auch die Amerikaner hassen – und die westliche Zivilisation als solche. Ich persönlich habe den Eindruck, dass die ständige
Tendenz zu Bewertung, Kritik und moralischer Einordnung eine sehr
deutsche Eigenschaft ist. Vor ein paar Jahren lernten wir im Urlaub in
Portugal ein englisches Paar kennen. Sie fragten uns, ob wir gemeinsam
ausgehen, es war Freitagabend und wir sagten ab. Sie: Klar, kennen
wir, wir haben jüdische Bekannte in England; damit war das Thema
Judentum für die kommenden Wochen erledigt. Wenn ich einem NichtJuden in Deutschland meine Identität eröffne, ist dies das Thema der
folgenden Stunden. Es gibt keine Normalität, und sie zu deklamieren,
ist sinnlos. Es wäre ja auch völlig anormal, wenn wir bereits wieder
ein normales Verhältnis hätten.
STICHWORT ATTENTAT – FINDEN SIE ALS IN DEUTSCHLAND LEBENDER JUDE
DIE BERICHTERSTATTUNG ÜBER DEN PALÄSTINA-KONFLIKT FAIR?
Warum fragen Sie mich das? Inwiefern, glauben Sie, werte ich die
deutschen Medien anders als andere?
WEIL SIE VIELLEICHT BESSER VERSTEHEN KÖNNEN, WARUM EINE HANDVOLL
JÜDISCHER SIEDLER UNBEDINGT IM GAZA-STREIFEN LEBEN MUSS.
SIND JUDEN UND DEUTSCHE AUF EINEM GUTEN WEG?
Ja, weil ich in Israel lebte und auch Familie dort habe. Und doch verstehen wir deutschen Juden uns nicht als Botschafter Israels – ich habe
dort nicht einmal Wahlrecht.
Manche ja. Das größte Problem liegt heute nicht im Antisemitismus
rassistischer Prägung, sondern in stereotypischen Mustern wie »Ihr
seid ja selber schuld« und, vor allem, im Tatbestand allgemeinen Ignorierens. Die kommenden Generationen werden sich um Missstände,
Minderheiten, unliebsame »Bad Vibes« immer weniger kümmern.
Dort liegt für uns die eigentliche Gefahr in der Zukunft.
DAS JUDENTUM SIEHT SICH GERN ALS GROßER ONKEL VON CHRISTEN UND
JUDE BETET TÄGLICH NACH JERUSALEM. SCHWINGT BEI IHNEN UNMUT MIT,
MUSLIMS. RÜHRT DAS FEHLEN DES MISSIONARISCHEN AUS DIESEM BEWUSST-
DASS SIE FÜR VORGÄNGE IN ISRAEL VERANTWORTLICH GEMACHT WERDEN?
SEIN? ES IST JA HEUTZUTAGE EHER SCHWIERIG, JUDE ZU WERDEN.
Genau, viele trennen einfach nicht. Ich persönlich hätte Gaza schon vor
Jahren zurückgegeben, allein viele Israelis sehen das anders, und zwar
aus anderen Gründen, als Deutsche es tun. Viele – und nicht nur Siedler – sind überzeugt, dass aus geografisch-militärischen Gründen eine
Juden hatten in den letzten Jahrtausenden kaum Gelegenheit zu missionieren, in der Diaspora waren sie ja fast durchweg in der Minderheit. Aber es stimmt: Wir Juden sehen den Glauben der Gojim, der
ZURÜCK ZU GAZA – FEHLEN UNS KENNTNIS UND BEWUSSTSEIN, UM VIELTAU-
NUR, WIE KOMME ICH DAHIN?
UND DOCH DEFINIERT SICH ISRAEL DEZIDIERT ALS JÜDISCHER STAAT, JEDER
VERDAMMT.
Für mich ist das Christentum nicht weitreichend genug in dieser Hinsicht. Das Judentum umfasst als Lebensplan alle Bereiche und ist als
solches sehr praktisch. Ich persönlich achte genau darauf, in welcher
Reihenfolge ich mir die Schuhe binde. Erst den rechten, dann den linken, dann mache ich den linken zu und dann den rechten. Der Grund
liegt in der Kabbala – rechts und links bezeichnen gewisse Aspekte von
In seiner üblichen Weise ist ein solch hehres Ideal nicht realisierbar.
Das Judentum ist da, wenn Sie so wollen, viel kantianischer: Was Du
nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu, steht
schon im Talmud. Bei Kant verläuft dies Handlungsanweisung horizontal, im Judentum auch vertikal, indem sie Gott als Ursprung des Gebotes mit einschließt. Das Hauptprinzip der Tora ist der Frieden. Man grüßt
mit Schalom, Frieden, jedes Gebet schließt mit diesem Wunsch. Allein
den Begriff nenne ich pro Tag mindestens zehnmal.
Rückgabe der besetzten Gebiete Israels Sicherheit weiter gefährden
könnte. Ich glaube, für manche Deutsche, die mit der Schuld gegenüber den Juden aufwachsen, bedeutet es eine moralische Genugtuung,
wenn man diesen nun Unmoral oder gar kriminelle Energie unterstellen kann.
JULIEN CHAIM SOUSSAN, 37, wuchs als Sohn eines marokkanisch-sephardischen Rabbiners und einer
deutsch-jüdischen Mutter in Freiburg auf. Seine Ausbildung zum Rabbiner absolvierte er in Jerusalem.
Seit zwei Jahren ist er orthodoxer Rabbiner der jüdischen Einheits-Gemeinde von Düsseldorf, der mit
7400 Mitgliedern drittgrößten Jüdischen Gemeinde in Deutschland. Soussan ist einer der jüngsten
amtierenden Rabbiner im Bundesgebiet
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