Zahnmedizin Zum Zähne ausbeißen An fast unlösbaren Problemen kann man sich die Zähne ausbeißen, und um schwierige Phasen durchzustehen, soll man die Zähne zusammenbeißen, obwohl man danach manchmal auf dem Zahnfleisch geht – der Volksmund kennt zum Thema Zähne eine ganze Reihe von Redewendungen, die mit stressigen Lebenssituationen in Zusammenhang stehen. Die Wirkung der Psyche auf entzündliche Prozesse im Mundraum wird nun auch wissenschaftlich untermauert. Der Marburger Zahnmediziner Privatdozent Dr. Rainer Mengel, Oberarzt der Klinik für Parodontologie, veranstaltete im April im Schloss Rauischholzhausen einen Workshop. Rund 60 Zahnärzte, Psychiater und Immunologen diskutierten das Thema „Psychosozialer Stress und parodontale Wundheilung“. Fotos: Mengel Parodontitis und psychosozialer Stress Die Aufnahme oben stellt den Zustand vor fünf Jahren dar. Der dunkel Schatten innerhalb der weißen Markierung im unteren Bild zeigt den rasanten Abbau des Knochenmaterials in diesem Zeitraum. Am Ende: Zahnausfall 30 in Behandlung. „Wenn das Zahnfleisch so schmerzempfindlich wäre wie beispielsweise die Muskulatur an Armen und Beinen, würde niemand den Arztbesuch so lange herauszögern“, bringt der Parodontologe das Problem auf den Punkt. Weil erste Symptome wie Zahnfleischbluten und -schwellungen oft auf die leichte Schulter genommen werden, kommen viele Betroffene erst zum Arzt, wenn es bereits zu spät ist: wenn der Zahn wackelt. Dabei kann die Krankheit schon vor diesem Stadium schwere Gesundheitsstörungen hervorrufen: Tritt sie bei Patienten mit koronalen Herzerkrankungen auf, ist besondere Vorsicht angesagt, denn die Erreger können über die Blutbahn andere Organe befallen und bis zu tödlichen Komplikationen führen. Bei Schwangeren kann die Entzündung eine Frühgeburt auslösen, denn die Botenstoffe, die die Immunreaktion in Gang setzen, lösen auch die Wehen aus. Erkennen und behandeln Leider sind selbst viele Zahnärzte zu wenig geschult, um das Problem rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu behandeln. In frühen Stadien können nämlich das Entfernen von Zahnstein und eine Verbesserung der Mundhygiene die Er- krankung ausheilen. Immer wieder gibt es aber Fälle, in denen trotz dieser Maßnahmen der Krankheitsverlauf rapide und besonders aggressiv fortschreitet. Eine internationale Studie an rund 18 000 Patienten aus Deutschland und Italien bis hin nach Brasilien, Vietnam und dem Jemen brachte zudem erstaunliche Ergebnisse: Obwohl der Gesundheitszustand in den weniger entwickelten Ländern auf einem weit niedrigeren Niveau liegt, weisen gerade die Bewohner der Industrienationen einen besorgniserregenden Zustand des Zahnumfeldes auf. Stress im Alltag könnte die Erklärung dafür sein. Die Psyche spielt mit „In der klinischen Praxis bekommt man ein Gespür für die Situation Foto: Graßmann Die Parodontitis – statt dem landläufig benutzen Begriff Parodontose die richtige medizinische Bezeichnung – gehört zu den am weitesten verbreiteten Krankheiten überhaupt. Die Vorstufe, die Zahnfleischentzündung, auch Gingivitits genannt, wird durch Bakterien im Zahnbelag hervorgerufen und ist bereits bei fast allen Kindern und Jugendlichen zu diagnostizieren. Weitet sich die Entzündung vom weichen Gewebe auf den gesamten Zahnhalteapparat, also auch den Kieferknochen aus, spricht die Zahnmedizin von einer Parodontitis. Im schlimmsten Fall führt die Rückbildung des Knochens zum Zahnausfall. Die genauen Faktoren sind aber bei der Parodontitis nicht so genau bekannt wie beispielsweise bei Karies. Hier ist das Bakterium Streptococcus mutans für die Zerstörung des Zahnschmelzes verantwortlich. Karies nimmt neueren Untersuchungen zufolge an Bedeutung ab. Ob die Gründe in der allgemein verbesserten Zahnhygiene liegen oder dem Fluor-Zusatz in Zahncremes und Speisesalz zuzuschreiben sind, ist noch nicht eindeutig geklärt. Über 60 Prozent der Erwachsenen in Deutschland weisen mehr oder weniger starke Symptome von Parodontitis auf, aber nur die Wenigsten sind mit dieser Erkrankung der Menschen“, erklärt der Parodontologe Mengel. Da sei ihm aufgefallen, dass vor allem Frauen in den Wechseljahren und in der Schwangerschaft unter heftigen Schüben der Krankheit leiden. Sicherlich sind in diesen Lebensabschnitten auch Hormonumstellungen an körperlichen Symptomen beteiligt, aber die psychische Komponente ist nicht zu unterschätzen. Das beweisen Phasen rein psychischer Belastung wie Scheidung oder Hausbau, die bei Männern wie bei Frauen oftmals den Hintergrund für eine Verschlimmerung des Zahnfleischzustandes bilden. Die Brücke vom Stress zur Parodontitis führt über das Immunsystem. „Im Bereich des Zahnhalteapparates sind Zahn- und Humanmedizin eng miteinander verbunden“, erklärt Dr. Mengel und fügt begeistert hinzu: „Das macht es ja gerade so spannend.“ Gerade bei der Parodontitis spielt das Immunsystem eine große Rolle. Der Körper will sich gegen den Angriff der Bakterien wehren und schießt dabei oft über das Ziel hinaus. Ein großer Teil der Gewebeschädigungen wird nicht von den Eindringlingen, sondern von der Reaktion des Immunsystems hervorgerufen. Generell ist die Mundhöhle ein Paradebeispiel für die Funktionen des körpereigenen Abwehrsystems, schließlich nimmt der Organismus mit der Nahrung eine Vielzahl von Fremd- und auch Schadstoffen auf, die direkt auf die Mundschleimhaut treffen. Zudem ist diese Schleimhaut noch sehr dünn und ermöglicht einen direkten Übergang von Stoffen ins Blut – da ist Kontrolle doppelt wichtig. Trotzdem gibt es nur wenige gesicherte Erkenntnisse. Denn Forschung im Bereich der Immunologie ist sehr aufwendig und teuer: Ein ganzer Park von Laborgeräten muss vor- Privatdozent Dr. Rainer Mengel Georg-Voigt-Str. 3 35033 Marburg Telefon: 06421 / 28-63297 E-Mail: [email protected] URL: http://www.uni-marburg.de /zahnmedizin/zmk/intro.htm Zahnmedizin handen sein, und die statistische Absicherung benötigt große Untersuchungsumfänge. Botschafter Für die Parodontologen der Marburger Zahnklinik sind verschiedene Ansätze von Interesse: Zum einen stellte das Team um Dr. Mengel fest, dass das entzündungshemmende Hormon Cortisol bei starken Parodontitis-Erkrankungen verstärkt in der Mundhöhle aufgefunden wird. Auffällig ist dabei, dass ein bestimmter Botenstoff, MIF (migration inhibitory factor), ebenfalls in besonders hohen Konzentrationen auftritt. In diesem Stoff vermutet man den Gegenspieler von Cortisol. Ob es zwischen den beiden Stoffen ein Gleichgewicht gibt, und ob dieses durch Stresssituationen gestört wird, soll in einer Studie untersucht werden. Dabei machen sich die Zahnmediziner den Ausbildungsbetrieb der Universität selbst zunutze: Die kompakten Abschlussprüfungen der zukünftigen Zahnmediziner dienen als quasi standardisierte Stresssituation, während der die Prüflinge untersucht werden. Von jedem Studierenden werden vor und nach der Prüfung Proben der Sulkusflüssigkeit, der Flüssigkeit zwischen Zahn und Zahnfleisch, entnommen und in Hinblick auf die beiden Substanzen MIF und Cortisol untersucht. die T-Helferzellen des Typs 2 spezifisch hemmt. Der Pilzwirkstoff weist bisher vor allem in der Therapie von Neurodermitis sehr gute Behandlungserfolge auf. Die Parallelen zwischen der Hauterkrankung und Parodontitis lassen aber auch hier auf positive Effekte hoffen. Der Vergleich mit der gefürchteten Neurodermitis liegt auf den zweiten Blick sogar nahe: Die Schleimhaut des Zahnfleisches erfüllt schließlich ähnliche Zwecke wie die Haut als Abschlussgewebe des Körpers und scheint ebenso sensibel auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Weiterhin weist die zumeist chronisch verlaufende Parodontalerkrankung Gemeinsamkeiten mit anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Niereninsuffizienz auf. Auch hier begleiten chirurgische Eingriffe und regelmäßige Kontrolluntersuchungen den Patienten ein Leben lang, obwohl der Verlust eines oder mehrer Zähne im Vergleich zu diesen lebensbedrohenden Krankheiten sicher ungleich leichter zu verkraften ist. Trotzdem sollten besonders Frauen verstärkt auf die Zahnfleischgesundheit achten, denn: Für jedes geborene Kind verliert die Mutter im Laufe ihres Lebens einen Zahn, formuliert der Volksmund diese Erfahrungen. CvS Kampf der Karies Eine fast geschlagene Schlacht Die Tendenz ist eindeutig – eindeutig positiv. Die Karies, einst Volkskrankheit Nummer eins, ist auf dem Rückzug. Die aktuellste Studie, die Professor Klaus Pieper von der Marburger Zahnklinik kürzlich vorlegte, bestätigt diesen Trend, der seit 1994 beobachtet und „Caries decline“ genannt wird. Weniger eindeutig ist, welche prophylaktischen Maßnahmen dafür verantwortlich sind. Bei verschiedenen Altersgruppen scheinen unterschiedliche Maßnahmen effektiv zu wirken. Bei den sechs- bis neunjährigen Kindern beurteilt die bundesweite Studie den Kariesrückgang als moderat. Die Hoffnung, dass in dieser Altersstufe die Zahnfäule mit Hilfe der Fissurenversiegelung weitgehend zu verhindern sei, wie die Vorläuferstudie 1997 nahe legte, hat sich nur teilweise bestätigt. Bei dieser Präventionsmaßnahme werden die Vertiefungen auf der Kaufläche, über die in 80 Prozent der Fälle die Bakterien den Zahnschmelz angreifen, mit Kunststoff oder fluoridhaltigem Zement versiegelt. So kann die Karies- Immune Helfer Außerdem analysieren die Ärzte bestimmte Zellen des Immunsystems. Von den T-Helferzellen, die durch ihre zentrale Rolle bei der HIV-Infektion traurige Berühmtheit erlangt haben, können zwei Typen unterschieden werden, die sich äußerlich kaum, hinsichtlich der produzierten Botenstoffe aber gewaltig unterscheiden. Beeinflussen die THelferzellen vom Typ 1 mit ihren Stoffen eher die zelluläre Abwehr, also die Aktivität von unspezifischen Fresszellen, bezieht sich Typ 2 mehr auf die erworbene Immunreaktion, die mit Antikörpern ganz gezielt gegen bestimmte Angreifer vorgehen kann. Bei Parodontitis-Patienten scheint das Mengenverhältnis der beiden Zelltypen gestört. Unklar sind die genauen Zusammenhänge, und auch die Therapiemöglichkeiten sind im Moment noch wenig erforscht. Aber ein Silberstreif am Horizont erscheint im Osten: Japanische Wissenschaftler arbeiten an einem Medikament, das Natürlich wirkende Implantate können die Lücken im Gebiss schließen, die durch Parodontitis oder Karies entstanden sind rate sogar bei schlechter Mundhygiene halbiert werden. Kann, muss aber nicht. Im Vergleich der Bundesländer gibt es unterschiedlich starke Effekte dieser Behandlung. Offenbar ist eine Kombination unterschiedlicher Faktoren für den Kariesschutz verantwortlich. Bei den Neun- bis Zwölfjährigen ging die Karies so stark zurück, dass die Forderungen der Weltgesundheitsorganisation erreicht oder sogar überschritten wurden. Als besonders günstig erwies sich in dieser Altersgruppe die Behandlung mit Fluoridlack. Dieser Speziallack, der Ende der sechziger Jahre von Piepers Vorgänger Professor Helmuth Schmidt entwickelt wurde, wird nicht zum Versiegeln, sondern zur Fluoridierung des Zahnschmelzes benutzt. Er besitzt den großen Vorteil, dass er auch auf feuchten Zähnen haftet und damit ohne die technische Ausrüstung einer Zahnarztpraxis zum Beispiel in der Schule angewendet werden kann. Eine weitere Maßnahme, die im Rahmen der Gruppenprophylaxe eine wichtige Rolle spielt, ist die familiäre Vorsorge. Wenn Eltern ihre Kinder zu regelmäßiger und gründlicher Zahnpflege anleiten und fluoridhaltige Zahncreme und fluoridiertes Speisesalz verwenden, können sie den Effekt der Kariesprävention verdreifachen. Der Ansatz der Ernährungsberatung hat sich nicht bewährt: Die Kinder, die eine Schulung zur richtigen Ernährung bekommen hatten, wiesen später im Vergleich zur Kontrollgruppe häufigere Schäden an den Zähnen auf. Da diese Beratung aber nur in geringem Umfang stattfanden, könnte es daran liegen, dass diese zusätzliche Maßnahme vor allem in „Brennpunkt-Schulen“ durchgeführt wurde. Der sozioökonomische Status der Familie hat nämlich einen grundlegenden Einfluss auf die Mundgesundheit der Kinder: Die Zähne der Kinder bleiben gesünder, je höher die gesellschaftliche Schicht der Familie angesiedelt ist. Insgesamt schneiden die deutschen Kinder mit zwölf Jahren gut ab im europäischen Vergleich. Die Spitzenplätze jedoch belegen, mit geringem Vorsprung, die Niederlande, Skandinavien, England und Irland. Die Tendenz in Deutschland ist also gut, kann aber noch verbessert werden. CvS 31