1 Wirtschaftsethik Hartmut Kliemt Frankfurt School of Finance and Management Kursmaterial Vorläufiges Skriptum (Endgültige Überarbeitung, Vereinheitlichung und Korrekturen etc. stehen noch aus, doch dürfte das vorliegende dem Endprodukt nahe genug stehen, um schon dessen wesentliche Funktionen zu erfüllen) Alle Rechte vorbehalten! 2 I. Einleitung: Grundannahmen, -probleme und –methoden einer Wirtschaftsethik im freiheitlichen Rechtsstaat 1. Grundwerte freiheitlicher Gesellschaften 2. Gewachsene Grenzen der Gemeinwohlverantwortung 3. Ethik und individuelle (Vertrags-)Autonomie 4. Die Suche nach Kohärenz II. Exemplarische wirtschaftsethische Falldiskussionen 1. Vorstandsgehälter und leistungsgerechte Entlohnung 1.1. Primär faktische Überlegungen 1.2. Primär normative Überlegungen 2. Der „Schrecken von Geld wie Heu“ und die Heuschrecken 2.1. Geld wie Heu und seine Schrecken 2.2. Heuschrecken 2.3. Von Wincor-Nixdorf zu Grohe und zurück 3. Patentrechte und der Schutz von Menschen in der „Dritten Welt“ 3.1. Patentschutz 3.2. Patentschutz von Medikamenten 3.3. Suspendierung des Patentschutzes angesichts der AIDS-Epidemie 4. „Trafigura“, Recht und Moral 3 III. Moral am Werk 1. Moralische Bindung und rationale Interessenverfolgung 1.1. Proximat, ultimat und tugendhaft 1.2. Das Beispiel des Ultimatumspiels und der Besitz der Tugend 1.3. Vorteilhaftigkeit von Bindungen 1.4. Bindungen in Aktion 2. Profiterzielung als moralische Aufgabe? 4 IV. Allgemeine ethische Hintergründe und Methoden der Wirtschaftsethik 1. Ethik und Entscheidung 1.1. Entscheidungsverantwortung 1.2. Kerncharakteristika des Entscheidungsbegriffes 1.3. Elementare Präzisierungen 1.4. Entscheidungen und ethische Methodologie 2. Ein Entscheidungsverfahren für die normative Ethik nach Rawls 2.1. Kennzeichen eines kompetenten Moralbeurteilers 2.2. Kennzeichen eines wohlerwogenen Moralurteils 2.3. Begriff der Explikation bei Rawls 3. Utilitarismus, Rawls und Vertragstheorie 3.1. Klassischer Utilitarismus 3.1.1. Hedonistische und andere Wertlehren 3.1.2. Prinzipien utilitaristischer Verallgemeinerung 3.1.3. Kommensurabilität und interindividuelle Substitutierbarkeit 3.1.4. Utilitaristische Politiken 3.2. Entscheidungstheoretische Präzisierungen des Utilitarismus 3.2.1. Die Lotterie des Lebens 3.2.2. Grobe Formalisierung der Lebenslotterie 3.2.3. Unparteilichkeit und ihre Grenzen 5 3.3. Rawlsscher Antiutilitarismus 3.3.1. Vor dem Wiederaufstieg der praktischen Philosophie 3.3.2. Die Situation bei Veröffentlichung der Rawlsschen Theorie 3.3.3. Der Grundansatz von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie 4. Habermas, Kant und der Diskurs 4.1. Verständigungsorientiertes als strategisches Handeln und umgekehrt 4.1.1. Hypothetische Imperative und institutionelle Pflichten 4.1.2. Nicht-konsequentialistische, insbesondere „transzendentale“ Rechtfertigungen von Pflichten 4.1.2.1. Eine Prise Kant 4.1.2.2. Von Kant über Apel zu Habermas 4.2. Diskurs-Ethik ohne transzendentale Begleitmusik 4.3. Lehrer-Wagner-Modelle intersubjektiven Konsenses 4.3.1. Das Grundmodell von Lehrer und Wagner 4.3.2. Die Frage nach dem Grenzverhalten 4.3.3. Die Interessen- oder Nutzendimension 4.3.3.1. Gemeinwohlbezogene Nutzenurteile 4.3.3.2. Die Aggregation von individuellen Gemeinwohlurteilen 4.3.4. Einige abschließende Beobachtungen zu Lehrer-Wagner-Modellen V. Kurze Schlüsse 1. Loyalität und Widerspruch 2. Ethik ist keine Ingenieurwissenschaft 6 Präambel Die nachfolgenden Überlegungen profitierten wesentlich von der Lektüre der in der aller Regel ausgezeichneten Fallstudien, die die Studenten des Wirtschaftsethik-Kurses im Masterprogramm der Frankfurt School of Finance and Management im WS 2006/2007 anfertigten. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Gewiss stimmen die Kursteilnehmer nicht sämtlich mit meinen eher libertären Grundhaltungen überein. Ich gehe in den nachfolgenden Ausführungen keineswegs davon aus, dass meine eigenen Wertüberzeugungen die allein richtigen und verbindlichen sind. Das ist der Grund, warum ich sie von Beginn an als eine unter alternativen mögliche Ansichten der Dinge offen lege. Ich gehe nicht davon aus, dass es „die“ Wirtschaftethik im Sinne einer einzigen rational verbindlichen Auffassung gibt. Auch der Anspruch, dass es bestimmte fundamentale Überzeugungen gebe, über die sich alle vernünftigen Diskursteilnehmer einig seien, führt nur zu Selbstgerechtigkeit und dazu, andere vorschnell als irrational oder moralisch verwerfliche Individuen anzusehen. Jeder, der sich mit angewandter Ethik im allgemeinen und Wirtschaftsethik im besonderen auseinandersetzt, muss wissen, dass es immer eine Vielfalt von Auffassungen geben wird, die jeweils in sich einigermaßen kohärent vertreten werden können, doch zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Ich plädiere dafür, sich dessen stets bewusst zu bleiben und nicht nach der richtigen Lösung zu suchen, sondern nach einer im Rahmen der eigenen letzten Wertüberzeugungen vertretbaren. Das feste Eintreten für die eigenen Überzeugungen und das Bemühen, die eigene Position soweit wie möglich argumentativ auszubauen und zu stützen schließen nicht aus anzuerkennen, dass, erstens, andere Individuen abweichende Wertüberzeugungen haben und dass, zweitens, bestimmte Kontroversen sich argumentativ nicht entscheiden lassen. Wer etwas zeigen will, der muss auch etwas annehmen! Erst an konkret vorgeschlagenen Problemlösungen und Argumenten kann sich Kritik abarbeiten. Wenn es diesem Skriptum gelingt, zur Kritik und zur Schärfung abweichender Positionen beim Leser anzuregen, hat es seinen Zweck erfüllt. Der Leser sei ausdrücklich aufgefordert, meine Argumente von seinem möglicherweise abweichenden Wertstandpunkt zu prüfen. In der wirtschaftsethischen Ausbildung muss es primär darum gehen, kontrovers wirtschaftsethisch argumentieren zu lernen. Das Predigen von Werten ist eine Sache, die die akademische Lehre anderen überlassen sollte. Das sollte aber nicht daran 7 hindern, einen eigenen Wertstandpunkt einzunehmen und dann auszuarbeiten, was folgt, wenn man von ihm ausgeht. Ich bin überdies der Überzeugung, dass de facto die argumentative Beschäftigung mit unseren wirtschaftlichen, moralischen und rechtlichen Praktiken ganz unabhängig von den inhaltlichen Wertstandpunkten, die wir in der Auseinandersetzung einnehmen mögen, als solche positive Auswirkungen auf unsere Praxis haben kann. Dazu gehört vor allem auch ein vertieftes Verständnis für die Vielfalt der wirtschaftsethisch relevanten Wertüberzeugungen. Auch einander widersprechende solche Überzeugungen kann man jeweils mit guten Gründen vertreten. Wirtschaftethik wird nie eine IngenieurDisziplin sein, die uns allgemeine evidenz-basierte Regeln angemessenen Handelns an die Hand gibt. Nicht der wirtschaftsethisch informierte Sozialingenieur, sondern der zu kluger eigenständiger Urteilbildung befähigte wirtschaftliche Akteur muss das Ideal einer wirtschaftsethischen Bildung sein. Zu wissen, wo es lang geht und anderen auf der Basis dieses Wissens zu sagen, welche Ziele sie letztlich verfolgen sollen, wird allenthalben in Anspruch genommen. Das entsprechende Orientierungswissen gibt es jedoch bei nüchterner Betrachtung nicht. Es kann in der wirtschaftsethischen Bildung deshalb nicht um die Vermittlung von Orientierungswissen gehen. Man darf aber hoffen, dass man anhand einer Kenntnis von wirtschaftsethischen Argumenten und Diskussionen lernen kann, sich selbst besser zu orientieren. 8 I. Einleitung: Grundannahmen einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Wirtschaftsethik Wer heute eine Anhebung der ethischen Standards des Wirtschaftens verlangt, kann auf breite Zustimmung hoffen. Dabei stellen sich freilich alle vor, dass durch die „Anhebung der Standards“ genau ihre eigenen ethischen Vorstellungen und Ziele gefördert werden sollen. In Theorie und Praxis vergisst man leicht, dass die Vorstellungen davon, was denn ethisch falsch und richtig sein soll, weit auseinander gehen können. Psychologisch ist dies verständlich, doch sind die Auswirkungen dieser „Parteilichkeit für die eigene Form der Unparteilichkeit“ in Theorie und Praxis eher fragwürdig. Weil man ein ethisches, über das eigene Interesse hinausreichendes Anliegen hat, fühlt man sich tendenziell berechtigt, was man für das Interesse aller hält, auch für alle durchzusetzen. Der Glaube, wir verfolgten das Allgemeininteresse, verführt uns leicht dazu, uns weniger Zurückhaltung aufzuerlegen. Doch gerade dann, wenn es darum geht, das Gemeinwohl zu fördern und ethische Anliegen zu verfolgen, ist Misstrauen auch gegenüber dem angebracht, was man selbst für ethisch richtig und wünschenswert hält. Man erhebt zwar möglicherweise einen ethischen Allgemeinheitsanspruch, doch wird dieser Anspruch de facto immer von einer nicht allgemein geteilten Position aus erhoben. Mit einiger Plausibilität lässt sich zwar im Rahmen bestimmter ethischer Prämissen behaupten, dass alle eine bestimmte Auffassung teilen sollten; unplausibel ist es hingegen zu behaupten, dass alle de facto eine bestimmte Position teilen. Der viel beschworene Konsens aller ist niemals ein Faktum, sondern benennt allenfalls eine normative Vorstellung, von der man behauptet, alle sollten sie vernünftigerweise teilen. Eine Theorien und Probleme reflektierende Beschäftigung mit Ethik im allgemeinen und mit Wirtschaftsethik im besonderen ist dennoch sinnvoll. Diese Beschäftigung kann zur Ausbildung unserer eigenen „Tugenden“ rationaler, wertender Urteilsbildung beitragen. Sie kann uns auch die Einsicht in die Notwendigkeit der Bescheidung lehren. Unsere eigenen ethischen Auffassungen bilden niemals mehr als eine Position in einer Vielfalt vertretbarer ethischer Auffassungen. 9 Mehr als die Vertretbarkeit und Kohärenz (innere Nicht-Widersprüchlichkeit und wechselseitige Plausibilität) unserer vielfältigen wertenden, vorschreibenden und auch beschreibenden Überzeugungen können wir sinnvoll nicht anstreben. Wenn es dazu noch gelingt, vielfältige ethische Theorien und vorherrschende rechtliche wie moralische Überzeugungen in unsere Überlegungen einzubeziehen, haben wir viel erreicht. „Die“ eine, allein richtige, mit für alle Beteiligten und Betroffenen zwingenden Gründen versehene Lösung praktisch-ethischer Probleme werden wir nicht finden. Wir werden allerdings viele antreffen, die genau solche Ansprüche erheben, doch bezeichnenderweise für ganz unterschiedliche Thesen. Die Vielfalt der ethischen Überzeugungen anzuerkennen, heißt nicht, dass man andere Überzeugungen nicht vom je eigenen Standpunkt kritisieren dürfte. Selbst dann, wenn man für die eigene Position nicht in Anspruch nimmt, dass sie in irgendeinem argumentativ-logischen Sinne besser fundiert sei als alle anderen, bleibt sie doch die eigene Position, die die eigenen Ideale und Lebensentwürfe ausdrückt. Auch dann, wenn man nicht behauptet, zwingende Gründe für die eigenen Auffassungen und deren Überlegenheit gegenüber anderen Auffassungen zu haben, kann man völlig widerspruchslos eine feste Position einnehmen und versuchen, die eigenen Überzeugungen umzusetzen. Vor allem kann man aber auch versuchen, andere zu überzeugen und für die eigene Position und deren Vorteile in der Konkurrenz mit anderen Auffassungen argumentativ zu werben (das ist im wesentlichen die Position des kritischen Rationalismus; vgl. dazu einführend Albert, H. (1968), Albert, H. (1978)). Man muss allerdings akzeptieren, dass man nur dann etwas argumentativ zeigen kann, wenn man etwas anderes annimmt bzw. voraussetzt. Alles auf einmal kann man weder sinnvoll bezweifeln noch sinnvoll begründen. Mit irgend etwas muss man beginnen, ohne dafür weitere Argumente präsentieren zu können. Mit Bezug auf die Wirtschaftsethik in einem freiheitlichen Rechtsstaat spricht viel dafür, mit Grundprinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft zu beginnen. Jedenfalls ist die Variante der sogenannten „angewandten Ethik“, die im weiteren skizziert wird, von der Akzeptanz einer bestimmten Version westlicher Rechtsstaatlichkeit und dem sogenannten Vorrang der Freiheit, der diese kennzeichnet, geprägt (vgl. zum Vorrang der Freiheit vor allem auch Rawls, J. (1975)). Man muss die entsprechenden Grundwerte freiheitlicher Gesellschaften nicht akzeptieren, wenn man sie akzeptiert, hat das jedoch bestimmte Konsequenzen, für das, was man noch kohärent vertreten kann. 10 1. Grundwerte freiheitlicher Gesellschaften Die Liberalität und Freiheitlichkeit einer Gesellschaft zeigen sich nicht nur darin, dass man die einzelnen ihr jeweils eigenes Interesse und ihre je eigenen Ziele verfolgen lässt, sondern vor allem auch darin, dass man die Vielfalt von Konzeptionen des Allgemeininteresses anerkennt und sich in der Verfolgung allgemeiner Interessen Beschränkungen auferlegt. Nehmen wir Immanuel Kant ernst und benutzen sein Werk nicht nur zum üblichen Obsthandel mit Lesefrüchten, so ist das erste Anliegen einer freiheitlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung ‚die größte Freiheit jedes einzelnen zu sichern, die mit der gleichen Freiheit jedes anderen zusammengehen kann’. Diese programmatische Formel bedarf der Ausfüllung. Im Sinne eines solchen Programms ist jedoch klar, dass die Rechtsordnung für den Wirtschaftsbereich zunächst und vor allem eine Fahrordnung für den Verkehr unter Menschen zu sein hat. Wie die Straßenverkehrsordnung erlaubt eine freie Wirtschaftsordnung es jedem einzelnen, seine eigenen Ziele mit seinen eigenen Mitteln anzustreben, soweit dadurch andere nicht in der gleichen Zielverfolgung behindert werden. Die freiheitliche Rechtsordnung gibt den Menschen nicht die Ziele vor, zu denen ihre persönliche Lebensreise zu gehen hat. Ihre Hauptaufgabe besteht vielmehr darin, Zusammenstöße und Konflikte zu verhindern. Im Gegensatz zu landläufigen Überzeugungen drohen Zusammenstöße zwischen den Bürgern vor allem dann, wenn die Individuen nicht ihre eigennützigen, sondern durchaus selbstlos Interessen verfolgen, die ihre je persönliche Sicht vom allgemeinen Wohl zum Ausdruck bringen. Die Durchsetzung für alle verbindlicher Politiken, mögen diese auch aus Sicht ihrer Befürworter dem allgemeinen Wohl dienen, ist immer mit Zwang verbunden. Allgemeine Politiken zur Wahrung des allgemeinen Wohls müssen eine bestimmte Sicht vom Gemeinwohl für alle verbindlich festschreiben und damit jene, die eine andere Sicht vertreten, unter die allgemeine Politik zwingen. Das ist völlig unausweichlich, sofern man überhaupt allgemein verbindliche Regeln in einer Gesellschaft festlegen will. Damit ist auch klar, dass Zwangsausübung auch im freiheitlichen Rechtsstaat unvermeidlich ist. Man kann schon deshalb als Anhänger des Rechtsstaates nicht kohärent sagen, dass jede Form der Zwangsausübung ethisch illegitim sein muss. Man darf jedoch durchaus behaupten, dass das Bemühen darum, mit so wenig Zwang wie möglich auszukommen, eine ethische Forderung ist, die alle glaubwürdigen freiheitlichen Positionen teilen. 11 Die westlichen Normen der Toleranz und des wechselseitigen Respekts fügen sich nahtlos in diesen Kontext. Aber auch die Forderung, den Bereich staatlichen Handelns im Zweifel eher zu beschränken als auszudehnen, erscheint als direkte Folge solcher Überzeugungen. Da staatliches Handeln immer damit verbunden ist, bestimmte Regelungen für alle verbindlich festzuschreiben (und sei es nur durch Zwangsfinanzierung), muss es unweigerlich jenen, die bestimmte Regelungen ablehnen, mit einem gewissen Maß von Zwang begegnen. Rechtsstaatlich gezähmter Zwang ist gewiss annehmbarer als jede Form staatlicher Zwangsausübung außerhalb rechtsstaatlicher Verhältnisse und der Prüfbarkeit durch unabhängige Gerichte. Da aber dennoch Zwang das bleibt, was er ist, nämlich Zwang, sollte man im Rahmen einer Suche nach maximaler gleicher Freiheit versuchen, dieses Übel, soweit es geht, zu vermeiden. Es ist wichtig zu erkennen, dass es sich bei der Zwangsausübung nicht nur für den Gezwungenen, sondern auch für den andere zwingenden Anhänger freiheitlicher Prinzipien um ein Übel handelt. Sofern derjenige, der Zwang ausübt, die Individualität und Eigenständigkeit anderer Menschen respektieren möchte, muss er zögern, andere zu etwas zwingen zu wollen – und sei es zu deren eigenem Wohl. Diese Selbstbeschränkung gilt auch und gerade für die Durchsetzung von Normen, die andere dazu zwingen, das aus Sicht der Zwangsausübenden ethisch Richtige zu tun. Auch die Durchsetzung höchster ethischer Normen gegen widerstrebende Auffassungen anderer bleibt für den Anhänger freiheitlicher Prinzipien grundsätzlich ein ethisches Übel; wobei unbestritten ist, dass das Zwangsübel um höherer Güter willen gerechtfertigt sein kann. Im Rahmen von Normen wechselseitigen Respekts gibt es sehr gute ethische Gründe dafür, vom Staat Zurückhaltung zu erwarten. Diese Zurückhaltung kann man allerdings nicht in allen Bereichen gleichermaßen üben. Zum Beispiel kann man die Festlegung und Durchsetzung von Grundrechten beziehungsweise grundlegenden strafrechtlichen Normen nicht – jedenfalls ist dies die ganz herrschende Meinung fast aller Theoretiker – außerhalb staatlicher Rechtsordnungen sinnvoll vornehmen (partiell abweichend hierzu, de Jasay, A. (1997)). Ebenso scheint es nicht möglich, fundamentale Kollektivgüter wie etwa das der Verteidigung der Rechtsordnung nach außen und innen privater Initiative zu überlassen. Dennoch kann man weite Bereiche privater Lebensführung und insbesondere den Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit nahezu vollständig von staatlicher Bevormundung und Fixierung einzelner Regeln der Zielverfolgung freihalten. 12 Wer es ernst meint mit der Formel von der größtmöglichen Freiheit jedes einzelnen, die mit der gleichen Freiheit jedes anderen zusammengehen kann, der hat einen starken ethischen Grund, Wirtschaftsleben und private Lebensführung so weit wie möglich der Gestaltungshoheit der einzelnen Individuen zu überantworten. Das ist die einzige Möglichkeit zu vermeiden, dass Individuen etwas durch allgemeine Regelungen aufgezwungen wird. Diese Einsicht ist zugleich ein starkes Motiv dafür, strengere Varianten des Subsidiaritätsprinzips zu befürworten und dem Staat nur dann einen Eingriff zu erlauben, wenn die Bürger ohne Staatseingriff ihre Ziele nicht verwirklichen können (vgl. zu letzterem ausführlicher ergänzend Kliemt, H. (1995)). Vor allem im Wirtschaftsleben ist Zwangsvermeidung auch häufig tatsächlich möglich. Gegenüber der häufig leichtfertig erhobenen Forderung nach mehr staatlich verordneter ethischer Orientierung des Wirtschaftslebens ist der ordnungspolitische Grundwert des Primats der individuellen Zielverfolgung nachdrücklich zu betonen (vgl. dazu auch Eucken, W. (1948/1981)). Nicht nur, doch insbesondere im Wirtschaftsbereich ist der freiheitliche Rechtsstaat als eine Privatrechtsgesellschaft (im Sinne von Franz Böhm, Böhm, F. (1966)) zu sehen. Was mündige Bürger in freier vertraglicher Übereinkunft vereinbaren, verdient den Respekt der Gesellschaft und der von ihr getragenen Rechtsordnung. Das gilt auch dann, wenn die Vereinbarungen anderer bestimmten ethischen Auffassung widersprechen. Denn abgesehen von einem rechtsethischen Kernbereich, der zentrale negative Abwehrrechte und gewisse positive Teilhaberecht umfasst, beruht die Freiheitlichkeit unseres Rechts- und Sozialstaats wesentlich auf der Bereitschaft, gerade die Unterschiedlichkeit und Vielfalt individueller Lebensentwürfe einschließlich der Vielfalt ethischer Überzeugungen anzuerkennen (wo immer das möglich ist, ohne die gleichen Rechte Dritter zu tangieren). 2. Gewachsene Grenzen der Gemeinwohlverantwortung Die Unterschiedlichkeit und Vielfalt individueller Lebensentwürfe wird im Rahmen von freien Markinstitutionen auf selbstverständliche Weise respektiert. Das ist ein ethisches Verdienst freier marktlicher Institutionen, was immer sonst für oder gegen sie sprechen mag. Der marktliche Respekt für das Individuum ist darüber hinaus im allgemeinen mit einer Wohlfahrtsteigerung gegenüber alternativen Organisationsweisen des Wirtschaftens verbunden. 13 Die Freisetzung der individuellen Wirtschaftstätigkeit von übergeordneten Gemeinwohlzielen war zentraler Faktor für die Wirtschaftsentwicklung des Westens (vgl.Rosenberg, N. and L. E. J. Birdzell (1986), Jones, E. L. (1991)). Der Westen wurde reich, gerade weil es eine Festlegung auf bestimmte ethische Ziele im Wirtschaften nicht mehr gab. Unternehmen sind ebenso wenig wie Individuen auf eine direkte Verfolgung des Gemeinwohls verpflichtet, sondern werden rechtlich und moralisch dazu autorisiert, ihre je eigenen partikularen Ziele mit ihrem je eigenen partikularen Wissen zu verfolgen (vgl. zu dieser Sicht Hayek, F. A. v. (1971)). Die Freistellung von der moralischen Pflicht zur Verfolgung des allgemeinen Wohls zugunsten der moralischen Befugnis zur Verfolgung des partikularen Wohls des Individuums und der ihm unmittelbar Nahestehenden wirft eine Reihe von wichtigen moralischen Fragen auf, die breit in der Literatur diskutiert wurden. In der Diskussion dieser Fragen wird allerdings gewöhnlich recht einseitig auf eine enge Interpretation der Metapher von der unsichtbaren Hand abgestellt (vgl. zu dieser die Originaltexte in Schneider, L. (1967)). Es wird anerkannt, dass auf Märkten die unsichtbare Hand des Eigeninteresses das Gemeinwohl fördernde Wirkungen haben kann. Es wird dann aber sogleich betont, dass dieses Argument nur für eng umgrenzte wirtschaftliche Ziele zu gebrauchen sei. Man übersieht darüber, dass die betreffende Sichtweise im Prinzip völlig allgemeiner Natur ist. In einer freiheitlichen Gesellschaft sind menschliche Individuen umfassend zur Verfolgung ihrer je eigenen Ziele ermächtigt. Die meisten „liberalen“ Moralphilosophen würden dieser Sichtweise grundsätzlich zustimmen (zum Verhältnis zwischen dem ethischen Liberalismus und seinen ethischen Konkurrenten vgl. Kymlicka, W. (1996)). Viele würden jedoch zugleich der Auffassung sein, dass man die Verfolgung partikularer Interessen aus moralischen Gründen um übergeordnete Gesichtspunkte moralischer Art ergänzen muss. Wenn solche Theoretiker die Gemeinwohlorientierung einschränken, dann in der Regel nur aus pragmatischen Gründen einer motivationalen Überforderung des Individuums. Die Freiheit von der Pflicht zur Verfolgung des Gemeinwohls (auf und außerhalb von Märkten) wird aus instrumentellen Gründen gewährt, nicht aber als ein Wert in sich angesehen. Eine Minderheit liberaler Moralphilosophen befürwortet die Vielfalt der Individualität als solche als primären, anderen ethischen Zielen übergeordneten Wert (vgl. dazu ursprünglich Humboldt, W. v. (1851/1967)). Einige dieser Theoretiker halten eine Gemeinwohlorientierung des individuellen Handelns in 14 der Regel nicht nur für unmöglich, sondern für tendenziell schädlich. Die Grundintution hierbei ist, dass man gar nicht wissen kann, was das je eigene Handeln für andere bedeutet. Nach dieser Sicht kann das einzelne Individuum in der Regel überhaupt nicht einschätzen, welche seiner möglichen Handlungen, den über alle potentiell betroffenen Individuen größten Beitrag zum allgemeinen Wohl oder zum Wohl aller leistet. Deshalb scheidet eine Orientierung am Gemeinwohl für die individuellen Handlungen aus. Der einzelne soll sich allein lokal, in seinem jeweiligen Umfeld um eine Förderung des Wohls der von seinen Handlungen direkt betroffenen Individuen bemühen. Eine Pflicht sich an übergreifenden ethischen Zielsetzungen in seinem alltäglichen Handeln zu orientieren, besteht nicht. Eine solche Orientierung würde vielmehr im allgemeinen schlechte Folgen haben. Mit den Worten eines der klassisch liberalen Anhängers solcher Gedanken: “All the possible differences in men’s moral attitudes amount to little, so far as their significance of social organization is concerned, compared with the fact that all man’s mind can effectively comprehend of the facts of the narrow circle of which he is the center; that, whether he is completely selfish or the most perfect altruist, the human needs for which he can effectively care are an almost negligible faction of the needs of all members of society. The real question, therefore, is not whether man is, or ought to be, guided by selfish motives but whether we can allow him to be guided in his actions by those immediate consequences which he can know and care for or whether he ought to be made to do what seems appropriate to somebody else who is supposed to possess a fuller comprehension of the significance of these actions to society as a whole. To the accepted Christian tradition that man must be freed to follow his conscience in moral matters if his actions are to be of any merit, the economists added the further argument that he should be freed to make full use of his knowledge and skill, that he must be allowed to be guided by his concern for the particular things of which he knows and for which he cares, if he is to make as great a contribution to the common purposes of society as he is capable of making. Their main problem was how these limited concerns, which did in fact determine people's actions, could be made effective inducements to cause them momentarily to contribute as much as possible to needs which lay outside the range of their vision. What the economists understood for 15 the first time was that the market as it had grown up was an effective way of making man take part in a process more complex and extended than he could comprehend and that it was through the market that he was made to contribute ‘to ends which were not part of his purpose’. “ (Hayek, F. A. v. (1948), 14-15) Es bleibt eine offene Frage, ob die Sicht Hayeks, die für Marktinstitutionen und ein Verhalten im Rahmen dieser Institutionen volle Berechtigung zu haben scheint, auch außerhalb dieses Kontextes ausnahmslos zu beachten ist. Es scheint insbesondere im politischen Kontext zumindest weit fraglicher, ob eine Freisetzung von allen moralischen Gemeinwohlorientierungen vertretbar sein kann. Wenn es beispielsweise um eine allgemeine Abstimmung in politischen Fragen geht, wird man vermutlich dazu neigen, Intentionen, die sich auf das allgemeine und nicht nur auf das spezielle oder partikulare Wohl richten, für politisch wünschenswert und möglicherweise sogar erforderlich zu halten. Es ist plausibel, dass in einer gut funktionierenden Demokratie die Wähler in der Niedrigkosten-Situation der Wahlentscheidung zumindest teilweise ihre allgemeinen politisch-moralischen Überzeugungen ausdrücken und nicht allein ihr privates Wohl strategisch verfolgen sollten. Denn es ist so überaus unwahrscheinlich, dass eine einzelne Stimme die Entscheidung insgesamt kausal zum Umschwung bringt, dass der einzelne mit Bezug auf diesen Aspekt seines Handelns nicht strategisch vorgehen wird (vgl. dazu Brennan, H. G. and J. M. Buchanan (1984), Brennan, H. G. and L. Lomasky (1984), Brennan, G. and L. Lomasky (1985), Brennan, H. G. and L. E. Lomasky (1993), Kliemt, H. (1986)). Wenn es darum geht, dass Individuen in der Wahlentscheidung ihre Überzeugungen durch ihre Stimme zum Ausdruck bringen, dann ist das sicher manchmal für die Durchsetzung im weiteren Sinne ethischer Ziele in der Politik günstig. Man darf aber in diesem Zusammenhang auch Hannah Arendts Verweis auf die merkwürdige Selbstlosigkeit der Massen in der Verfolgung des Gemeinwohls – oder dessen, was den Massen als solches nahegelegt wird – nicht vergessen (vgl. Arendt, H. (2003)). In solcher selbstloser Gemeinwohlorientierung liegt die Ursache vieler politischer Übel auch im demokratischen Prozess. Selbstlose Folgebereitschaft und die Bereitschaft zur Aufopferung der eigenen partikularen für übergreifende Ziele, die von selbsterklärten politischmoralischen Eliten vorgegeben werden, bildet eine wesentliche Ursache des modernen Totalitarismus (und auch der Gedanke an die Selbstmordattentäter liegt nicht fern). 16 Angesichts der Gefahren totalitärer Bewegungen wären wir am Ende womöglich besser gestellt, wenn wir eine Orientierung an jeglichen übergreifenden Motiven bekämpften, anstatt die Orientierung an übergeordneten Zielen in der Politik manchmal fordern und manchmal ablehnen. Vielleicht ist es besser, sich gegen alle Propheten des Gemeinwohls zu wenden. Um die falschen Propheten zurückzudrängen, muss man womöglich auch auf die rechten verzichten. Die Fehler erster müssen gegen die zweiter Art abgewogen werden und am Ende könnte es besser sein, einen „bias“ gegen die Fehler, die von moralischen Orientierungen an gemeinsamen Zielen erzeugt werden, zu entwickeln. Für die weiteren Überlegungen wird von der insoweit optimistischeren Annahme ausgegangen, dass wirtschaftsethische Reflexionen das Gemeinwohl eher fördern als schädigen werden. Dabei spielen vor allem konkrete Beispiele und das Ziel, eine Kohärenz unserer Überzeugungen vorschreibender und beschreibender Art zu erreichen, eine Rolle. 3. Ethik und individuelle (Vertrags-)Autonomie Die Respektierung freier Übereinkünfte im Vertragsrecht, die sogenannte „Vertragsfreiheit“, ist wesentlicher Ausdruck des ethischen Zieles Individuen als autonome Akteure zu behandeln. Sehr viele Vorschläge, ethische Standards im Wirtschaftsleben zu verbessern, lassen es aber gewollt oder ungewollt am Respekt für die Vertragsfreiheit fehlen. Wenn beispielsweise die schlechten Arbeitsbedingungen in bestimmten Unternehmen des Einzelhandels beklagt werden, dann geschieht das gewiss nicht grundlos. Es gibt Gründe für Kritik. Doch ist auch daran zu erinnern, dass die Beschäftigten nicht in irgendeinem vernünftigen Sinne des Begriffs dazu gezwungen wurden, die betreffenden Arbeitsverträge abzuschließen. Sofern der Beschäftigte jederzeit der Arbeit (ohne über den Verlust des Lohnes hinausgehende Nachteile) fernbleiben kann, ist davon auszugehen, dass er in einem grundlegenden Sinne freiwillig der Beschäftigung nachgeht. Wieso dürfen wir, wenn wir sonst für die Respektierung freier Übereinkünfte zwischen mündigen Bürgern eintreten, in diesem Bereich, wie von vielen wirtschaftsethischen Konzeptionen gefordert, eingreifen? Die Tatsache, dass gerade niedrig qualifizierte Menschen Schwierigkeiten haben, Arbeit zu finden und daher häufig besonders ungünstige Arbeitsbedingungen hinnehmen müssen, ist unstrittig und muss aus Sicht jedes mitfühlenden besser gestellten Individuums bedauert werden. Unstrittig scheint es aber auch, dass die ethische Verantwortung für diese Schwierigkeiten, soweit es überhaupt eine solche Verantwortung gibt, gewiss nicht bei den beschäftigenden 17 Einzelhandelsunternehmen, sondern allenfalls beim Gesetzgeber und dessen Sozialpolitik liegt. Wenn sie mit einem potentiellen Mitarbeiter einen Vertrag schließen und im Vertragsschluss dessen Rechte respektieren, warum sollten wir als Dritte diese freier Vereinbarung kritisieren wollen? Relativ zu ihrer jeweiligen lokalen Verantwortung haben alle angemessen gehandelt. Sie darüber hinaus auf die Verfolgung von außen vorgegebener sozialer Ziele festzulegen, erscheint als falsch. Jedenfalls dann, wenn es dem Arbeitnehmer ohne größere zusätzliche Einbußen möglich ist, jederzeit aus dem Vertrag auszuscheiden, beziehungsweise diesen ohne zusätzliche Strafzahlungen zu brechen, indem er einfach nicht mehr zur Arbeit erscheint, sollte man von der Freiwilligkeit der Beziehungen ausgehen dürfen. Es ist daher vom Standpunkt einer Privatrechtsgesellschaft kein Grund ersichtlich, die betreffenden Verträge nicht anzuerkennen. Über die Frage, ob man die Umgehung von Vorschriften etwa für die Bildung von Betriebsräten in Einzelhandelsunternehmen für legitim hält oder nicht, darf ordnungspolitisch und rechtsethisch gestritten werden. Es gibt gerade auch bei Abwägung der Arbeitnehmerinteressen ethische Argumente für und wider bestimmte arbeitsrechtliche Regelungen. Klar ist jedoch, dass bei nüchterner Betrachtung der Adressat solcher ethischer Vorschläge primär der Gesetzgeber und nicht der einzelne Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, der mit einem Arbeitgeber Verträge schließt, sein müssen. Wenn der Gesetzgeber eingreift, dann ist das allerdings, daran sei erinnert, notwendig mit fundamentaler Zwangsausübung verbunden und bedarf besonderer Rechtfertigung, wenn man den Vorrang der Freiheit der einzelnen ernst nimmt. Ebenso wie den Wirtschaftsunternehmen ethische Verfehlungen im Niedriglohnsektor allenthalben angekreidet werden, so werden auch bestimmte Praktiken an der Spitze der Einkommens-Pyramide als moralisch anstößig beurteilt. Wenn es so wäre, dass das Angebot finanzieller Zahlungen als solches schon Zwang auf denjenigen ausübt, dem diese Zahlungen geboten werden, wäre das aus einer Sicht, die Zwang ablehnt, zu verurteilen. Dann würden Vorstandsmitglieder in besonders hohem Maße dem Zwang unterliegen: Je höher die Zahlung, desto größer müsste der Zwang sein den ein Arbeitnehmer erleidet, wenn ihm Bezüge angeboten werden. Das scheint einigermaßen absurd, ist aber in der Logik jener sehr verbreiteten Positionen angelegt, die finanzielle Belohnungen ablehnen, weil sie die Autonomie des Belohnten gefährden. Um zu veranschaulichen, worum es hier geht, ist es womöglich hilfreich, an ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich zu denken: an die Diskussion um die 18 Frage der Entgeltlichkeit und Unentgeltlichkeit der Lebendspende menschlicher Organe. Solange die Lebendspende in der Familie für nahe stehende Menschen geschieht, wird die Freiwilligkeit der Spende fast selbstverständlich unterstellt. Sobald es jedoch um die Spende gegen Entgelt geht, soll die Freiwilligkeit gefährdet sein. Schenkungsverträge werden also offenkundig völlig anders als Verkaufsverträge hinsichtlich menschlicher Organe behandelt. Die Ersteren gelten als freiwillig, die Letzteren jedoch als erzwungen. Für diese Unterschiedlichkeit der Behandlung mag es andere gute Gründe geben, doch bleibt die Ansicht, dass derjenige, der seine Organe für Geld hergibt, durch das Angebot der Geldzahlung zur Hergabe „gezwungen“ wurde, so absurd, dass man sich unwillkürlich fragt, warum hartnäckig Thesen vorgebracht werden, die nur bei Unterstellung dieser Absurdität plausibel sind. Diese Hartnäckigkeit erklärt sich womöglich damit, dass viele Gegner der Entgeltlichkeit der Lebendorganspende zugleich Anhänger der Grundprinzipien wechselseitigen Respekts für die Autonomie menschlicher Individuen sind. Sie spüren, dass sie dann, wenn sie die entsprechenden Respektsnormen akzeptieren, an sich auch autonome Vertragsschlüsse über die Hergabe von Organen gegen Geld respektieren müssten. Sie versuchen zugleich eine Widersprüchlichkeit der eigenen Position zu vermeiden. Da Zwang die Autonomie aufhebt, könnte man ohne Verletzung der Autonomie – die ja ohnehin aufgehoben ist – Zwang gegen Geldzahlungen ausüben. Die eigene Position des erklärten Respektes bliebe kohärent, wenn Geldzahlungen Zwang, dem man durch Zwang entgegentreten muss, beinhalten könnten. Die Gegner der Entgeltlichkeit der Organvergabe empfinden es einerseits aufgrund ihrer anderweitigen Grundüberzeugungen als ethisch erforderlich, jede Form des Handels mit menschlichen Organen zu verbieten, andererseits haben sie aber auch etwas dagegen, andere Menschen ethisch zu bevormunden. Ethische Bevormundungen können sie mit der eigenen Position nur dann in Übereinstimmung bringen, wenn sie dem Schutz der Autonomie des Betroffenen selber dient. Der Schutz vor Zwang bietet hier einen Ausweg. Wenn das Angebot von Geldzahlungen wirklich wie bei einem Süchtigen die Droge die üblichen Mechanismen der Selbstkontrolle außer Kraft setzen würde, dann wäre es plausibel, Entgeltlichkeit der Organhergabe zum Schutz der Autonomie der betroffenen Individuen zu untersagen. Aber es scheint ziemlich absurd, eine solche Abhängigkeit von der „Gelddroge“ allgemein zu unterstellen. Es hängt vielmehr alles davon ab, wie gut derjenige, dem Geld geboten wird, wenn er das Angebot ausschlägt, gestellt 19 sein würde. Dann ist es aber nicht generell zu verbieten, die betreffenden Verträge zu schließen, sondern allein denen, die sich nicht in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen befinden. 4. Die Suche nach Kohärenz Die Frage der Entgeltlichkeit oder Unentgeltlichkeit der Lebendorganspende ist wirtschaftsethisch durchaus aufschlussreich, aber an dieser Stelle nicht weiter zu diskutieren. Sie dient im gegenwärtigen Zusammenhang nur als Beispiel für einen allgemeineren Sachverhalt. Man erkennt an dem Beispiel, wie schwer wir uns mit der Respektierung autonomer Entschlüsse anderer tun, wenn wir abweichende ethische Vorstellungen vom „guten und rechten Leben“ haben. An der etwas verqueren Argumentation von der Zwangsausübung durch Geldangebote wird auch deutlich, dass bis in die politische Auseinandersetzung hinein Normen der Kohärenz beziehungsweise der Vermeidung von Widersprüchen in den eigenen Auffassungen eine Rolle spielen. Da die ethische Auseinandersetzung im Rahmen der Philosophie wesentlich getragen wird von Kohärenzüberlegungen, treffen sich philosophisch ethische und alltägliche ethische Überlegungen an dieser Stelle. Insoweit hat die philosophische Ethik durchaus etwas für die rationale praktische Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft zu bieten. Im Bereich der philosophischen Ethikdiskussionen wird nämlich vorgeführt, auf welche Weise man systematisch die Kohärenz der jeweiligen eigenen Überzeugungssysteme prüfen und steigern kann. Wer einander widersprechende Wertüberzeugungen zu vertreten sucht, wird normalerweise auf den Nachweis der Widersprüchlichkeit mit dem Versuch reagieren, seine Auffassungen so zu revidieren beziehungsweise zu ergänzen, dass sie wieder kohärent zu sein scheinen. Eine Kenntnis der philosophischen Ethikdiskussion kann hierbei sehr hilfreich sein. Bei dem Bemühen um Kohärenz spielen allerdings nicht nur Wertüberzeugungen eine Rolle, sondern immer auch empirische Bedingungen. In dem Beispiel von der Entgeltlichkeit der Organhergabe etwa ist es eine wichtige empirisch-psychologische Frage, unter welchen Bedingungen das Angebot von Geldzahlungen die Autonomie von Menschen untergräbt. So wird man – wie bereits mit der Anforderung geordneter wirtschaftlicher Verhältnisse implizit unterstellt – vermutlich beim hoch verschuldeten Menschen, der keinen anderen Ausweg mehr aus seiner persönlichen Schuldenfalle sieht, eine höhere Gefährdung unterstellen als bei einem durchaus wohlsituierten Bürger, der für einen sehr hohen Geldbetrag bereit ist, eine Niere zu verkaufen. 20 Die potentielle Gefährdung der Autonomie des Spenders ist aber noch kein hinreichender Grund, die betreffenden freien Übereinkünfte anderen zu verbieten. So, wie man die Freiwilligkeit einer Lebend-Organ-Schenkung unter Verwandten zu prüfen hat, um die Autonomie des Schenkenden zu sichern, so könnte man die Autonomie eines Organ-Verkäufers durch entsprechende Prüfungen zu sichern versuchen. Warum die Autonomie in dem einen Falle in der Regel und in dem anderen Fall in der Regel nicht gegeben sein soll, scheint zunächst eher unerfindlich. Daher hat man wieder ein Kohärenzproblem, wenn man im einen Falle eine Vergabe verbieten und im anderen erlauben möchte. Beides unter autonomie-sichernden Bedingungen zu erlauben oder beides zu verbieten, weil die Autonomie nie hinreichend gesichert werden könnte, scheint plausibler als die tatsächlichen rechtlichen Vorgehensweisen. Arbeitsverträge sollten eigentlich in noch höherem Maße als freie Verträge über die Hergabe von Organen respektiert werden. Geldangebote als solche wird man nicht mit einer Zwangsausübung auf den Arbeitnehmer gleichsetzen können. Am unteren Ende der Lohnskala gefährdet nicht das Gebot eines Lohnes die Autonomie. Entscheidend für die Freiheitlichkeit ist die Existenz und Art von Alternativen. Je besser die Alternative der Zurückweisung des angebotenen Vertrages beziehungsweise der Verletzung eines bestehenden Vertrages, umso besser scheint die Freiwilligkeit geschützt zu sein. Geht man davon aus, dass die Absicherung gegen die Risiken der Arbeitslosigkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, dann fällt es nicht in die Verantwortung der Arbeitsverträge anbietenden Arbeitgeber, für die Freiwilligkeit der entstehenden Arbeits-Beziehungen Sorge zu tragen. Insoweit würden wirtschaftsethische Vorhaltungen hinsichtlich der Gestaltung von Arbeitsverträgen gegenüber Unternehmen ins Leere laufen. Wenn man autonome Verträge respektieren will, dann sollten auch autonom eingegangene Arbeitsverträge respektiert werden. Wenn es demgegenüber beispielsweise eine Reduzierung der Freiwilligkeit beinhalten würde, die Lohnangebote zu erhöhen, dann hätte ein der Norm der Freiwilligkeit verpflichteter Arbeitgeber eine moralische Pflicht, möglichst geringe Löhne zu zahlen. Umgekehrt, je höher die angebotene Lohn-Zahlung würde, desto größer müsste, wie gesagt, der ausgeübte Zwang auf den Arbeitnehmer sein. Das scheint nicht besonders plausibel zu sein. Wenn also Arbeitnehmer aufgrund der höheren Löhne aus einem bestimmten Vertragsverhältnis bereit sind, sehr unangenehme Arbeitsbedingungen auf sich zu nehmen, dann sollte man auch diese Handlungen zunächst als freiwillig 21 ansehen. Warum man Arbeitnehmer dagegen schützen sollte, freiwillig die Pflicht zu unangenehmen Handlungen auf sich zu nehmen, ist für den Anhänger der Autonomie zunächst kaum ersichtlich. Jedenfalls solange für den Arbeitnehmer akzeptable Alternativen außerhalb des Vertrages oder bei Ausscheiden aus dem Vertrag existieren, sollte man den autonomen Entschluss des Vertragsnehmers, im Vertragsverhältnis zu verbleiben, als Ausdruck seiner freien Entscheidungen respektieren. In dem vorangehenden zeigt sich bereits ein wesentlicher Aspekt jeder theoriegeleiteten wirtschaftsethischen Diskussion, die nicht einfach wechselnde gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen widerspiegeln will: Die Frage nach einer wirtschaftswissenschaftlichen Erklärung jener Phänomene, die einer wirtschaftsethischen Bewertung unterzogen werden sollen, ist ein integraler Bestandteil seriöser wirtschaftsethischer Überlegungen. Man muss sich über verschiedene potentielle Erklärungen für eine Sachlage Gedanken machen und dann zu einem Schluss darüber kommen, welche diese Erklärungen man für wahrscheinlich oder gar für die eine wahre Erklärung hält. Von zentraler Bedeutung für einen angemessenen Zugang zu wirtschaftsethischen Diskussionen ist es, zwischen Werturteilen und Sachaussagen zu trennen und zugleich die überragende Bedeutung von Sachfragen auch für die Wertfragen anzuerkennen. Es ist selbst eine ethische Forderung, Werturteile nur auf der Basis der jeweils besten empirischen Theorien und Hypothesen, über die wir verfügen, zu fällen. Das Bemühen um möglichst umfassende Informationen über die sachlichen wirtschaftlichen Zusammenhänge gepaart mit dem Bemühen um eine Kohärenz aller Sach- und Werturteile sind primäre Tugenden des Wirtschaftsethikers. Die Ernsthaftigkeit dieser Bemühungen und das Training darin, wie man in diesen Bemühungen zu verfahren hat, sind wichtiger als die „Indoktrination“ mit irgendwelchen inhaltlichen Werten. Wie schon Schopenhauer wusste, ist es schwierig, Moral zu begründen, während es leicht fällt, Moral zu predigen. Die Wirtschaftsethik selbst sollte es sich nicht in diesem Sinne leicht machen und die Ausbildung in wirtschaftsethischen Argumentationsweisen ebenfalls nicht. Die nachfolgende Einführung wird mit einigen Fallstudien aus dem Wirtschaftsleben beginnen, um an diesen ganz pragmatisch das vorangehend Gesagte zu illustrieren. Es geht darum, in wirtschaftsethischen Fragestellungen zunächst einmal fern von den ohnehin eher abgehobenen Diskussionen der theoretischen philosophischen Ethik möglichst kohärente und empirisch informierte „Gleichgewichte von Überlegungen“ zu erreichen. 22 Dabei wird, wie bereits in dieser Einleitung deutlich geworden sein dürfte, generell unterstellt, dass bestimmte Standardauffassungen der Wirtschaftstheorie Geltung besitzen. Ebenso wird vorausgesetzt, dass bestimmte Grundauffassungen von den Prinzipien freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit akzeptiert sind. Beides geht in jede Suche nach wirtschaftsethischen Überlegungsgleichgewichten gleichermaßen ein. Hinzutreten Kenntnisse gewisser allgemeiner ethischer Theorien, weil die Suche letztlich einem so genannten allgemeinen oder weiten Überlegungsgleichgewicht, WÜG, gelten muss (zum WRE „wide reflective equilibrium“, vgl. ursprünglich Daniels, N. (1979)). Die Suche nach einem WÜG bezieht intuitive moralische Einzelurteile, allgemein akzeptierte ethische Regeln und Prinzipien sowie allgemeine ethische Hintergrundtheorien in einen kohänrenzsteigernden wechselseitigen Anpassungsprozess aller spezifischen und allgemeinen Überzeugungen ein. Alle Voraussetzungen der nachfolgenden Diskussionen, die im weiteren Sinne einer Suche nach einem WÜG dienen, kann man selbstverständlich angreifen. Ein solcher Angriff ist immer begrüßenswert, da jede Theorie und jede umfassendere theoretische Positionen nur dadurch verbessert werden kann, dass man sie grundsätzlich herausfordert. Jeder, der in der Wirtschaftsethik konstruktiv etwas beizutragen sucht, muss von vornherein anerkennen, dass seine Ausführungen von vielerlei Annahmen abhängen und schon insoweit der Herausforderung und steten Prüfung bedürfen. Wer aus Sicht der Wirtschaftsethik spricht, erhebt immer strikt nur eine Stimme in einem übergreifenden größeren Diskurs konkurrierender Stimmen. Die Vielzahl der Stimmen in diesem Diskurs sollte uns jedoch nicht davon abhalten, an den Auseinandersetzungen teilnehmen zu wollen. Jedermann sollte vielmehr versuchen, seine je eigenen Positionen möglichst gut auszuarbeiten. Sowie auf Märkten Konkurrenz zu besonders guten Produkten und Dienstleistungen führt, so ist es auch in der theoretischen und intellektuellen Auseinandersetzung hilfreich, auf die freie Konkurrenz zu setzen. Es gibt so etwas, wie einen Markt der Ideen. Wer diesen Markt betritt, der sollte allerdings auch über gewisse Voraussetzungen und Fähigkeiten verfügen, wenn er dort bestehen will. Deshalb wendet sich diese Einführung im nächsten Schritt Fallbeispielen (II.) zu, an denen man seine Intuitionen schärfen und erste Schritte auf dem Weg zu mehr Kohärenz probieren kann. Dann geht es darum, in einem Zwischenschritt zu überlegen, wie und in welchen Kontexten im weiteren Sinne moralische Motive real wirksam werden. Dabei geht es mit Bezug auf spezifisch wirtschaftsethische Fragen zum einen um den Nachweis, 23 dass es sich lohnen kann, moralische Bindungen einzugehen, zum anderen um die Frage, welchen moralischen Status das Profitmotiv selbst angesichts der Koordinations- und Informationsfunktion von Gewinnen hat bzw. haben kann (III.). Dann wenden wir uns der Aufgabe zu, einige inhaltliche ethische Theorien wie den Utilitarismus, Rawls’ Anti-Utilitarismus oder die Diskurstheorie wenigstens in elementaren Grundzügen vorzustellen und abschließend exemplarisch zu überlegen, wieweit Konsens verfahrensmäßig angesichts fortbestehender Überzeugungsvielfalt womöglich gesichert werden kann (IV.). Abschließend gebietet es die intellektuelle Redlichkeit, eine Warnung vor einer Überschätzung der Wirtschaftsethik als „Orientierungswissen“ auszusprechen; da sie uns allenfalls helfen kann, uns selbst zu orientieren, aber nicht inhaltlich darüber informiert, wo es lang gehen soll (V.). 24 II. Exemplarische wirtschaftsethische Falldiskussionen 1. Vorstandsgehälter und leistungsgerechte Entlohnung 1.1. Primär faktische Aspekte Vorstandsgehälter großer Aktiengesellschaften sind zumindest in Deutschland allgemein ins Gerede gekommen. Es überrascht nicht, dass im Zuge dieser Entwicklung die Vorstandsgehälter der Deutschen Bank besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Die Deutsche Bank ist als größte deutsche Geschäftsbank immer von besonderem Interesse. Darüber hinaus war – betrachtet man allein die deutschen DAX-30 Unternehmen – sowohl das Gehalt des Vorsitzenden des Vorstandes als auch das durchschnittliche Gehalt eines Vorstandsmitgliedes der Deutschen Bank in jüngerer Vergangenheit und insbesondere in den Jahren 2004 und 2005 im deutschen Unternehmensvergleich am höchsten. Es hat einen allgemeinen Anstieg der Vergütung von Vorständen von DAX-30 Unternehmen in den letzten Jahren gegeben. Die Vergütungssteigerung für Vorstände der Deutschen Bank war eher geringer als in anderen Unternehmen. Doch die Deutsche Bank hat schon zuvor höhere Gehälter gezahlt und insofern trifft es weiterhin zu, dass die Vorstandsgehälter bei der Deutschen Bank insbesondere auch für den Vorsitzenden eine Spitzenposition in Deutschland einnehmen. Vom Jahre 2003 bis zum Jahr 2005 stieg z.B. die Vergütung für Josef Ackermann, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, von 7,72 Millionen € auf 11, 9 Millionen € an. In der gleichen Zeit veränderten sich aber auch alle wesentlichen Kennzahlen des Geschäftserfolges deutlich zum Besseren. Beispielsweise wurde die Eigenkapitalrendite von 10,2% im Jahre 2002, dem Jahr des Amtsantritts von Josef Ackermann, auf über 30% im Jahre 2006 gesteigert. Auch der Börsenkurs der Aktie, die im Jahre 2001 schon einmal bei über 105 € notierte, hat 2007 diese Marke wieder erreicht. Diese vorteilhafte Entwicklung ist gewiss nicht allein auf das Wirken von Josef Ackermann zurückzuführen. Andere deutsche Wirtschaftszweige entwickelten sich, zumal von 2004-2006, ebenfalls sehr gut. Speziell der Bankensektor 25 konnte nach der Konsolidierungsphase zu Beginn des ersten Jahrzehnts des 21ten Jahrhunderts recht positive Nahrichten verbreiten. Die Gewinnentwicklung der Commerzbank darf man insoweit hervorheben. Doch muss man, will man einen Vergleich zur Deutschen Bank vornehmen, auch feststellen, dass die Commerzbank tatsächlich von sehr weit unten antrat, während die Deutsche Bank sich bereits auf einem vergleichsweise günstigen Ausgangsniveau befand. In den Fällen, in denen ein Umschwung überhaupt gelingt, wird aber ein in der Krise befindliches Unternehmen besonders starke Gewinnsteigerungen aufweisen: Wenn es aus der Verlustzone in die positive Zone und dann weiter geht, sind die prozentualen Steigerungen naturgemäß besonders hoch. Insoweit sind die Fälle der Deutschen Bank und der Commerzbank nicht vergleichbar. Eine vergleichsweise prozentual höhere Verbesserung bestimmter Erfolgsparameter der Commerzbank darf nicht überbewertet werden. Man kann der Deutschen Bank insgesamt bescheinigen, dass sie in den letzten Jahren auch Branchenvergleich sehr erfolgreich war. Mit Bezug auf zukünftige Erwartungen scheint sie sich überdies in einer günstigen Volatilitäts- und Risikosituation zu befinden. Es handelt sich beim Erreichten also vermutlich um eine nachhaltige Verbesserung und zwar selbst dann, wenn man die günstige Ertragssituation bestimmter Unternehmensteile nicht einfach in die Zukunft fortschreiben will. Schwer vermittelbar für eine breitere Öffentlichkeit war es, dass die Deutsche Bank ungeachtet der skizzierten grundlegend positiven Entwicklung Entlassungen in größerem Umfang vornahm. Die öffentliche Meinung empörte sich ziemlich stark darüber, dass auf ein und derselben Hauptversammlung positive wirtschaftliche Ergebnisse berichtet und Entlassungen angekündigt wurden. Dabei war die Berichterstattung in der veröffentlichten Meinung allerdings wenig ausgewogen. Es wurde kaum darüber berichtet, dass viele der Entlassungen mit Umstrukturierungen innerhalb der Bank zu tun hatten. Zum einen ließ die konjunkturelle Lage zu der Zeit, als die Entlassungen vollzogen wurden, keine Besserung des allgemeinen wirtschaftlichen Klimas erwarten. Zum anderen wurde keineswegs hinreichend bedacht, dass viele Entlassungen im Ausland und zudem in Geschäftsbereichen stattfanden, die zuvor eher zu stark ausgebaut worden beziehungsweise aufgrund von Zukäufen überbesetzt waren. Zwar waren die entsprechenden personellen Überkapazitäten für die Bank gewiss nicht unmittelbar existenzbedrohend, doch hätten sie bei weiterem Zuwarten zumindest zu einer Unterbewertung der Aktie geführt und das Unternehmen womöglich zu einem Übernahmekandidaten werden lassen. 26 Wenn man im übrigen davon ausgeht, dass effizientes und vorausschauendes Wirtschaften zu den Pflichten einer Unternehmensführung gehört, dann kann man es ihr kaum vorwerfen, wenn sie sich von unrentablen Bereichen trennt. Alles spricht dafür, dass es sich keineswegs um eine frivole Willküraktion gehandelt hat, als die Deutsche Bank Entlassungen und im gleichen Atemzuge hohe Gewinne ankündigte. Höchst scheinheilig wirkt es, wenn die gleichen Personen, die das Thema zum Anlass orchestrierter Empörung nahmen, auf entsprechende Vorhaltungen hin einräumten, dass es sich zwar möglicherweise um rechtfertigungsfähige Maßnahmen handelte, dass aber das Medienmanagement der Deutschen Bank unprofessionell gewesen sei. So wechselte man vom Vorwurf einer moralischen Verfehlung zum Vorwurf unprofessionellen schlechten Managements und zwar nicht in der Sache selbst, sondern nur mit Bezug auf die Medien. Kritische Medien sind im freiheitlichen Rechtsstaat von ausschlaggebender Bedeutung. Selbst dann, wenn sie in der Berichterstattung eigene Voreingenommenheiten zum Ausdruck bringen, können sie bei Wahrung der Vielfalt unterschiedlicher Voreingenommenheiten ihre kritische Funktion weiterhin erfüllen. Funktionsträgern ist auch überschießende Kritik durchaus zuzumuten. Zugleich ist es aber Aufgabe des jeweils besser informierten Teiles der Öffentlichkeit, nicht jeder neuen Aufgeregtheit nachzulaufen, sondern die Stimme der Vernunft und Sachlichkeit zu erheben. Insbesondere in notorisch emotionsgeladenen Debatten um Themen wie das der leistungsgerechten Entlohnung, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit gilt es mit Beharrlichkeit Grundtatbestände und -prinzipien einer Wettbewerbswirtschaft immer wieder hervorzuheben. Die Diskussionen um Vorstandsgehälter, die im Fokus des Interesses der gegenwärtigen Überlegungen stehen, bilden insoweit keine Ausnahme.1 Wie bereits festgestellt wurde, liegen die Gehälter der Vorstände der Deutschen Bank im Durchschnitt und in der Spitze des Vorstandsvorsitzenden deutlich höher als in anderen deutschen Unternehmen. Es ist allerdings ebenfalls festzuhalten, dass die Bezüge des Vorstandsvorsitzenden zum allergrößten Teil aus Zahlungen besteht, die von bestimmten Ertragskennziffern abhängig sind. Das feste Grundgehalt ist zwar hoch (ca. 2 Millionen Euro), doch weit entfernt von den aufgrund eines Bonussystems gezahlten Gesamtbezügen. Der 1 Selbstverständlich kann man gegen die Wettbewerbsgesellschaft argumentieren. Ebenso kann man gegen die den Wettbewerb stützende freiheitliche Grundordnung argumentieren, aber das ist im Rahmen der hier zugrunde gelegten ethischen Prämissen nicht möglich. Es bleibt konkurrierenden ethischen Ansätzen vorbehalten, die entsprechenden Auffassungen auszuarbeiten. 27 Forderung, dass die Bezüge der Führung eines Unternehmens von der Entwicklung der wesentlichen Kennziffern für den Unternehmenserfolg abhängig sein sollen, wurde insoweit im Falle der Deutschen Bank Genüge getan. Es scheint allerdings zweifelhaft, dass Bonuszahlungen in der tatsächlich verfügten Höhe erforderlich sind, um (zusätzliche) Verhaltenswirkungen auf Vorstände auszuüben. Ob Herr Ackermann nun 6 Millionen € oder 12 Millionen € verdient, dürfte vermutlich für sein Verhalten recht unerheblich sein. Vernünftige Aktionäre und Aufsichtsräte hätten insoweit guten Grund, die Erfolgsprämien niedriger anzusetzen bzw. eine niedrigere Skala zu benutzen. Dem könnte jedoch entgegenstehen, dass andere Beschäftigte der Deutschen Bank, die im Investmentbereich selbst unter heutigen Bedingungen mehr als Herr Ackermann verdienen, dann das Vielfache des Vorsitzenden der Deutschen Bank erhalten würden. Das schiene zumindest merkwürdig. Überdies wäre zu bedenken, welche Angebote Spitzenkräften aus dem Bereich der Deutschen Bank von außen gemacht werden könnten, wenn man das Gehaltsniveau massiv nach unten skalieren würde. Denn klarerweise würden die anderen Vorstandsmitglieder weniger verdienen müssen als Herr Ackermann und die darunter liegenden Etagen müssten entsprechend herabgestuft werden. Doch selbst dafür gäbe es vermutlich einen Spielraum. Und dieser Spielraum besteht auch in anderen Unternehmen angesichts der gewöhnlich exorbitanten Einkommensunterschiede zwischen Vorständen und der jeweils nächsten Führungsebene unterhalb des Vorstands. Damit erhebt sich ganz generell die Frage, warum Vorstandsgehälter allenthalben in solche Höhen gestiegen sind, wie wir es de facto beobachten. Wenn man als Ökonom davon überzeugt ist, dass Wettbewerbsmärkte grundsätzlich in Richtung auf effiziente Anpassungen der auf ihnen tätigen Akteure hinwirken, dann stellt sich die Frage nach einem möglichen „Effizienzgrund“ für die Steigerung von Vorstandsgehältern. Erst dann, wenn man diese Frage beantwortet hat, kann man zu einer ethischen Beurteilung kommen, die allen Gesichtspunkten, die für die normative Beurteilung von Vorstandsgehältern relevant sind, auch nur annähernd gerecht werden kann. Sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass es keinerlei einsichtige Effizienzgründe für die hohen Vorstandsgehälter gibt, dann gäbe es einen einsichtigen Spielraum und wohl auch gute Gründe dafür, die Gehälter etwa durch Satzungen im Unternehmen zu begrenzen. Man könnte sogar an gesetzliche Normen denken wollen, um die Höhe der Vorstandsgehälter in Unternehmen generell begrenzen zu können. Zumindest 28 wären solche Erwägungen nicht so vollkommen unvernünftig wie im Falle von Effizienzverlusten. Zwar sprächen grundlegende ordnungspolitische Erwägungen, an denen die überzeugten Anhänger einer freien Ordnung aufgrund ihrer moralischen Grundüberzeugungen festhalten würden, immer noch gegen gesetzliche Eingriffe in die Vertragsautonomie von Unternehmen und der in ihnen tätigen Vorstände. Aber man könnte unter anderem auf das Organisationsproblem von Kleinaktionären, die eine Begrenzung wünschen, aber aufgrund von Transaktionskosten nicht durchsetzen können, verweisen. Warum die Kleinaktionäre ihre diesbezüglichen Präferenzen nicht durch den bevorzugten Ankauf von Aktien solcher Unternehmen, die geringere Vorstandsgehälter zahlen, ausdrücken könnten, bleibt zwar unerfindlich, doch kann man ein Organisationsproblem in Unternehmen mit Streubesitz durchaus anerkennen. Ganz abgesehen davon, ist wirtschaftsethisch anzuerkennen, dass auf Vertragsfreiheit hinauslaufende ordnungspolitische Vorstellungen einfach deshalb schon einen schweren Stand haben, weil die Prinzipien individueller Entscheidungsautonomie in der ethischen Beurteilung des Wirtschaftens einen schweren Stand haben. Die meisten Menschen unserer Gesellschaft teilen zwar Normen und Ideale wechselseitigen Respekts in bestimmten Lebensbereichen. Sie denken aber letztlich nicht über die Wirtschaftsordnung in solchen Kategorien nach. Sie erscheint ihnen nicht in dem einleitend vorgeschlagenen Sinne als eine Fahrordnung für den Verkehr zwischen Menschen, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen, sondern als einen Prozess gemeinsamer Zielverfolgung. Es sind nicht viele Einzelindividuen, die in freien Verträgen ihr Handeln koordinieren, um ihre unterschiedlichen persönlichen Ziele zu fördern. Es ist vielmehr, so, dass „wir“ als Gesellschaft in den Augen der meisten Bürger gemeinsam wirtschaften und gemeinsame Ziele der Wohlstandsmehrung verfolgen. Wenn es um die Ethik des Wirtschaftens geht, sind die meisten Bürger Anhänger gemeinwirtschaftlicher Ideale. Sie sind in diesem Sinne „Sozialisten“, ohne dass ihnen das bewusst sein müsste und sie es vielleicht sogar als beleidigende Unterstellung ansehen würden, als Sozialisten qualifiziert zu werden. Das mag man bedauern, doch hat man es gerade als jemand, der die Autonomie anderer respektiert, zunächst anzuerkennen. Erkennt man an, dass die sozialen Präferenzen großer Teile der Bürgerschaft der Politik nicht nur eine Verantwortung für den steuerlichen Ausgleich der Einkommensverteilung zuerkennen, sondern auch einkommensausgleichende Aufgaben außerhalb der Steuerpolitik zuschreiben, dann spräche insoweit etwas für gesetzliche 29 Regulierungen von Vorstandsgehältern. Wenn deren Höhe keine wesentlichen Auswirkungen auf die Effizienz des Wirtschaftens haben sollte, könnte man sich wirtschaftlich vielleicht entsprechende Regelungen leisten. Regelungen, die eine „zu starke“ Ungleichheit des Einkommensniveaus in Unternehmen begrenzen, würden unter solchen Voraussetzungen geringe gesellschaftliche Kosten in Form weniger effizienter Ressourcen-Allokation aufweisen und zugleich den Wünschen einer breiten Öffentlichkeit entgegenkommen. Das Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft würde gestärkt. Der soziale Friede würde symbolisch gefördert und auf diese Weise ein wesentlicher positiver und produktiver Standortfaktor ordnungspolitisch unterstützt. Da zuvor bereits festgestellt wurde, dass eine zusätzliche Steuerungswirkung von einer Hochskalierung der Bonussysteme im Falle von Vorstandsgehältern ab einer gewissen Höhe der Bezüge nicht plausibel ist, scheint, jedenfalls im Rahmen einer anreizbasierten (principal-agent) Konzeption von der Unternehmenssteuerung das zentrale Argument für hohe Bonuszahlungen zu entfallen. Allokationsentscheidungen der Vorstände mögen zwar auch von den erwarteten Prämien motiviert werden. Sie mögen sich auch in Erwartung von Geldzahlungen besonders anstrengen. Aber es ist einfach unplausibel, dass ein Vorstand bei Erwartung von zusätzlichen Gratifikationen in Höhe von, sagen wir 100.000 €, wesentlich anders entscheiden würde als in der Erwartung von, sagen wir 200.000 €. Unterschiedliche Erfolgsprämien bei unterschiedlichem Erfolg kann man auch auf niedrigerem Skalenniveau zahlen. Dafür, dass die Unterschiedlichkeit so hochskaliert wird, wie das gegenwärtig zu beobachten ist, gibt es bei Zugrundelegung einer plausiblen Motivationspsychologie zunächst keinen einsichtigen effizienzbezogenen Grund. Zwar sollten diejenigen, die höhere Gewinne mit einem Unternehmen erzielen, deshalb höhere Einkommen haben, doch ist nicht zwingend erforderlich, dass die Einkommen eine bestimmte absolute Höhe übertreffen müssten. Um wieder an das Beispiel der Bezahlung von Herrn Ackermann anzuschließen, so hat es gewiss eine Wirkung auf Herrn Ackermann, ob er bei höheren Gewinnen mehr verdient und bei niedrigeren Gewinnen weniger als die jeweilige Vergleichsbasis. Die Erfolgssignale, die sich unmittelbar auf sein eigenes Einkommen und auch auf seinen Status auswirken, werden ihn dazu bringen, soweit das durch Anreizstrukturen überhaupt erreicht werden kann, vernünftige Allokationsentscheidungen im Sinne des Unternehmens zu treffen. Wenn es aber für ein Unternehmen möglich ist, durch geringere Anreize, die gleichen Allokationswirkungen zu erzielen wie durch hochskalierte Anreizsysteme (zum Beispiel um den Faktor zwei), dann gebietet die allokative 30 Effizienz selbst, das Anreizsystem zu wählen, welches für das Unternehmen preiswerter ist. Insoweit sprechen unternehmensbezogene Effizienzerwägungen zumindest auf den ersten Blick nicht nur nicht dagegen, sondern im Gegenteil dafür, Vorstandsbezüge in der Höhe, wie sie gegenwärtig für Vorstände der Deutschen Bank gewährt werden, abzubauen. Man hat, sollten die vorangehenden Überlegungen zutreffen, als Aktionär einen prima facie Grund, Zahlungen der beobachtbaren Höhe für eine Verschwendung und damit für ineffizient zu halten. Vor diesem Hintergrund sollte man ceteris paribus Aktien von Unternehmen kaufen, die geringere Vorstandsgehälter zahlen. Auch die Finanzinvestoren sollten entsprechende Entscheidungen treffen. Eine solche Bestrafung „exzessiver“ Vorstandsbezüge findet auf den Finanzmärkten aber offenkundig nicht statt. Das könnte an der Internationalisierung der Wirtschaft und der relativen Marktführerschaft US-amerikanischer Unternehmen auch auf den Märkten für Humankapital liegen. Es wäre dann immer noch zu erklären, warum die US Entwicklung so verlaufen ist, wie wir das beobachten konnten, aber es wäre möglich, dass es sich um eine von Merkwürdigkeiten der US-Rechtsordnung induzierte Sonderentwicklung handelt, die auf das Ausland abgestrahlt hat. Man hätte es mit einer US „Gehalts-Bubble“ zu tun, die auf die Welt abstrahlte. Wenn das so wäre, dann würde womöglich die Gefahr der Abwerbung in die USA ausländische Unternehmen dazu zwingen, ihre Vorstandsgehälter zu erhöhen, selbst dann, wenn sie nicht in den USA tätig sind. Die relative Stellung von Vorständen und die relative Höhe von deren Gehältern zu Verdienstmöglichkeiten etwa als Fondsmanager oder Einzelunternehmer könnte angesichts der Öffnung von Kapitalmärkten und anderen Märkten ebenfalls eine Rolle spielen. Die Konkurrenz um Humankapital könnte die Erhöhung der Vorstandsgehälter auch in deutschen Unternehmen erzwingen. Nun scheint die Konkurrenz auf Märkten für Humankapital tatsächlich in hohem Maße die jeweils besten Talente in bestimmten Sektoren – oder doch zumindest diejenigen, die für die besten Talente gehalten werden – zu begünstigen. Zur gleichen Zeit erscheint es jedoch als eher unplausibel, dass die vorgenannten Faktoren allein ausreichend sein könnten, um Vorstandsgehälter in der heutigen Höhe zu erklären. Die Auffassung, dass diese rund um die Welt aufgrund einer Zufälligkeit der Entwicklung ohne systematische, wettbewerbsbedingte Gründe in dem beobachtbaren Maße gestiegen seien, ist unplausibel. Es hätten sich in jedem Falle Unternehmen herausbilden beziehungsweise Länder der westlichen 31 entwickelten Welt zeigen müssen, in denen die Entwicklung grundsätzlich anders verlaufen wäre. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Und auch die Steuersysteme sind fast überall im Spitzensteuersatz zurückgefahren worden.2 Die Frage nach einer angemessenen Erklärung für die Höhe heutiger Vorstandsgehälter muss man als offen betrachten. Die vorangehenden Faktoren erklären vielleicht bestimmte Effekte und Aspekte. Andere Faktoren wie etwa der Aufstieg der großen institutionellen Anleger wie etwa der Hedge Fonds wurden nur gestreift. Eine umfassende und vollständige Erklärung wird mit Sicherheit zusätzliche Faktoren einbeziehen müssen. Solange wir diese nicht gefunden haben, haben wir weder ein Überlegungsgleichgewicht erreicht, noch sollten wir uns in unseren Bewertungen sicher fühlen. Denn es ist keineswegs so, dass wir in allen Bereichen unseren Wert-Intuitionen einfach folgen würden, ohne uns davon beeinflussen zu lassen, aufgrund welcher Faktoren beispielsweise bestimmte Einkommens Verteilungen zustande gekommen sind. Es ist eine ganz wesentliche Einsicht, dass wir uns in Bereichen, in denen wir über die Ursachenzusammenhänge allenfalls oberflächlich informiert sind, vernünftigerweise auch in unseren Bewertungen und darauf gestützten Politikvorstellungen zurückhalten sollten. Man kann allerdings nicht behaupten, dass diese Art von Vernunft besonders weit verbreitet sei. Wenn man sich dennoch mit Politikvorschlägen befassen, so muss man eine Vielzahl potentieller Erklärungen zumindest in Erwägung ziehen, bevor man sich guten Gewissens für eine Intervention entscheiden darf. Ein potentieller Erklärungsfaktor könnte beispielsweise darin bestehen, dass große Unternehmen wesentlich davon abhängen, dass es ihnen gelingt, auf motivationaler Ebene das tribale Erbe des Menschen zu mobilisieren. Jedes große Unternehmen ist ein Stammesverband mit vielen Unterstämmen. Der Stamm bietet Gemeinschaftserlebnisse, die „dem Flüstern in uns“ entgegenkommen. Nicht nur das Gefühl der Zugehörigkeit, sondern vor allem auch das Interesse an einer herausgehobenen Position im Stamm und damit das Interesse an der Erlangung eines so genannten positionalen Gutes dürften bei den meisten Menschen auch in der heutigen Zeit hochgradig verhaltenswirksam sein. Das Interesse an positionalen Gütern scheint in der menschlichen Natur fest verankert zu sein. Doch der wachsende Reichtum unsere Gesellschaften verstärkt diesen Effekt noch. Menschen sollten nach ökonomischer Logik nämlich an positionalen Gütern umso stärker interessiert sein, desto besser es 2 Es sei nochmals betont, dass die Wirtschaftsweise der amerikanischen Unternehmen hier zwar eine Rolle spielen mag, doch bestimmt nicht allein ausschlaggebend sein kann. 32 ihnen materiell geht (vgl. zu diesem Argument Fred Hirshs etwa Frank, R. (1985)). Denn wenn man an beiden Arten von Gütern, den materiellen und den positionalen interessiert ist und die Versorgung mit den materiellen Gütern anwächst, dann sollte der Grenznutzen zusätzlicher Einheiten materieller Güter relativ zu den positionalen Gütern sinken. Der größere Reichtum an vermehrbaren Gütern in der Gesellschaft verstärkt die Nachfrage nach unvermehrbaren positionalen Gütern. Wenn man nicht genug zu essen hat, geht es zunächst einmal darum, genug Nahrungsmittel zu bekommen. Ob man in der eigenen Gruppe einen hohen Status hat oder nicht, ist nur insoweit bedeutsam, als der Status zur Beschaffung der Nahrungsmittel beitragen kann. Statusbedürfnisse werden von dem Wunsch, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, insoweit also unterstützt, als in menschlichen Populationen hoher Status auch die Chance zur Befriedigung der Grundbedürfnisse erhöht. Das Statusstreben ist in armen Gesellschaften gewiss dem Ziel der Überlebenssicherung nachgeordnet. In reichen Gesellschaften, in denen die materiellen Grundbedürfnisse ohnehin befriedigt sind, bleibt aber das ursprüngliche Streben nach Status bestehen. Biologisch sind wir auf diesen Zustand nicht gut vorbereitet und agieren deshalb emotional nach wie vor so wie in Stammesumgebungen. Status wird in lokalen Hierarchien keineswegs nur durch Einkommen verliehen. Positionale Güter können vielmehr nach vielfältigen Kriterien vergeben werden. Die starke Korrelation mit dem monetären Einkommen, die wir heute beobachten, ist insoweit nicht zwingend. Es ist aber so, dass die Öffnung von Konkurrenzmärkten für Humankapital, auf eine Stärkung der Rolle des Einkommens bei der Statuszuteilung hinausläuft. Andererseits legt die ökonomische Logik es nahe, dass Individuen für hohen Status, der nicht nur aus Einkommen resultiert, bereit sind, Gehaltsabschläge hinzunehmen. Lokale Hierarchien bieten solche herausgehobenen „Stammespositionen“ bestimmten hoch qualifizierten Individuen. Firmen können sich das zu Nutze machen, indem sie positionale Entlohnung statt monetärer vergeben. Wäre das so, müsste allerdings das Einkommen von Vorständen erst recht verwundern. Denn sie werden ja schon durch nicht-monetäre Statusgüter belohnt Der eigentlich entscheidende Faktor der Zahlungen für Vorstände liegt womöglich nicht in der Wirkung auf diejenigen, die bereits Vorstände sind. Denn das Unternehmen ist nicht nur ein Stamm mit vielen Unterstämmen. Es ist auch ein Stamm, in dem Turniere stattfinden. Die Auslobung hoher Preise für Erlangung der Spitzenpositionen regt den Wettkampf im Turnier an. Es geht um 33 eine Intensivierung des Strebens all jener, die sich (noch) nicht in den höchsten Positionen befinden, doch sich noch Hoffnung darauf machen können, solche Positionen einmal zu erlangen. So wie der Jackpot die Phantasie der Menschen anregt, sich – aus Sicht der materialen Gewinnaussichten – irrationaler Weise zusätzliche Lottoscheine zuzulegen, so wird das Streben gerade der entscheidenden jüngeren Führungseliten in einem Unternehmen durch die großen Siegprämien im unternehmensinternen Turnier angeregt. Zusätzlich wird die Loyalität zum Unternehmen gestärkt werden, wenn der Jackpot gerade dieses Unternehmens besonders groß ist. Um, soweit das überhaupt nötig sein sollte, anschaulicher zu machen, worum es geht, ist es vermutlich sinnvoll, zunächst einmal auf andere Bereiche zu schauen. Im Sport erkennen wir ganz ähnliche Phänomene. Da nur einer Weltmeister sein kann, müssen sich alle ganz besonders anstrengen, in diese ausgezeichnete Position zu gelangen. Die man allenthalben beobachten kann, steigt das Leistungsniveau gewöhnlich auf breiter Front an. Am Ende ist jedoch immer nur einer Weltmeister. Die Öffentlichkeit sieht nur jene, die es bis an die Spitze geschafft haben. Kinder träumen davon, einmal Olympiasieger zu sein. Darüber gerät das Heer derer in Vergessenheit, die ursprünglich zu dem Wettrennen angetreten waren, doch unterwegs ausschieden. Von denen träumt kein Kind und wenige nicht-betroffene Erwachsene gedenken ihrer. Dem Profi-Sportler, der es geschafft hat, sieht man nicht mehr an, dass vielleicht nur wenig fehlte und er hätte es nicht geschafft. Es gibt immer sehr viele, die nur wenig geringer leistungsfähig sind und sich ebenso sehr wie der Erfolgreiche, doch vergeblich anstrengten. In einem typischen Turnier, haben sich alle verstärkt angestrengt, um am Ende zu den Besten zu gehören. Je größer die Turniere, die einen einzelnen Sieger ermitteln, umso mehr Individuen strengen sich vergeblich an. Denn aus analytischen Gründen kann immer nur einer der erste sein. Aus gleichen Gründen bleibt das oberste Prozent das oberste Prozent, gleichgültig wie hoch die absoluten Niveaus skaliert wurden. Das Leistungsniveau hat sich im Leistungssport nicht nur in der Spitze, sondern vor allem auch in der Breite stark angehoben. Auch die Trainingsintensität hat sich auf breiter Front vergrößert. Das ist in vielen Sportarten eindeutig erkennbar. Was den Sport anbelangt, hat man vermutlich einen guten Grund, den fortwährenden Rüstungswettlauf zwischen denen, die für ihn die besten Jahre ihres Lebens verschwenden, zu begrenzen. Hier könnte es durchaus ethische Erwägung geben, die Spielregeln in einer konkurrenzmindernden Weise festzulegen. Die Frage ist, ob sich das Argument auch auf 34 Vorstandbezüge übertragen ließe, um eine Verschwendung durch unproduktive Statuskonkurrenz zu vermeiden. Zur Beantwortung dieser Frage trägt es womöglich bei, zunächst einen Blick auf die Ganoven und deren Organisationsformen zu werfen. Die Gangster sind, wie einer der größten Philosophen des 20-ten Jahrhunderts, John Mackie (vgl. Mackie, J. L. (1985)) bemerkte, ohnehin die besten Lehrer, wenn es um die soziale Rolle von Moralsystemen geht. Denn angesichts des Fehlens staatlicher Unterstützung muss die Ganovenehre und Ganovenmoral für den Zusammenhalt und die Kooperation sorgen (natürlich auch mit Unterstützung unseres tribalen Erbes). Die in vielen Hinsichten aufschlussreiche Branche des illegalen Drogenhandels bietet mit Bezug auf den im gegenwärtigen Kontext besonders interessierenden Turniercharakter von organisationsinternen Wettbewerben besonders aufschlussreiches Anschauungsmaterial. Wie Steven Levitt in seinem gar nicht so „freakigen“ Buch „freakonomics“ (vgl. Levitt, S. and S. J. Dubner (2006)) schildert, geht es den meisten kleinen Drogenhändlern im Crack-Trade sehr schlecht. Sie sind bereit, für Hungerlöhne die Risiken der Illegalität auf sich zu nehmen. Sie könnten durch legale Arbeit häufig leicht mehr verdienen, als im Crack-Trade, ohne Gefahr zu laufen, ins Gefängnis zu kommen oder von konkurrierenden Banden verletzt oder gar erschossen zu werden. Tatsächlich ist es so, dass jene Drogenhändler, die den Aufstieg in der Hierarchie nicht schaffen, nach wenigen Jahren ausscheiden – wenn sie die frühen Jahre ihrer Karriere überlebt haben und ggf. aus dem Gefängnis heraus sind – und dann in legalen Tätigkeiten mehr verdienen als zuvor. So weit geht die Ganovenehre nicht, dass nicht die Ganoven legale Tätigkeiten illegalen grundsätzlich bei ähnlichen Verdienstmöglichkeiten vorziehen würden. Die Erklärung dafür, warum sich Kleindealer dennoch im Zuge einer Selbstausbeutung freiwillig für Hungerlöhne in der Drogenszene engagieren, liegt nach Levitt darin, dass alle unteren Chargen für eine Weile darauf hoffen dürfen, einer der Glücklichen zu sein, die es bis an die Spitze schaffen. Die extremen Einkünfte an der Spitze der Drogenhändlerpyramide motivieren alle unteren Stufen dazu, „überhöhten“ Einsatz zu zeigen. Alle hoffen darauf, das große Los in der Lotterie des Drogenhandels zu ziehen. Wie beim Lotto ist die Hoffnung auf den Gewinn des Turniers insgesamt nicht mit rationalen Erwartungen vereinbar, doch verhaltenswirksam. 35 Die Analogien zu dem hier interessierenden legalen Tätigkeitsbereich scheinen offenkundig. In ähnlicher Weise wie im Crack-Trade hat womöglich die Aussicht auf die großen Vorstandsgehälter in Unternehmen eine Anreizwirkung, die der Turnierwirkung im Leistungssport und in der Drogenszene vergleichbar ist. Die Unternehmen können dadurch auf eine letztlich überzogene Selbstausbeutung ihrer befähigsten jungen Kräfte hoffen. Da diese für den Unternehmenserfolg letztlich ausschlaggebend sind, darf man diese Wirkung unternehmensinterner Turniere mit hohen Prämien nicht unterschätzen. Diese Turniere entfalten ihre Anreize sowohl auf der Basis der materiellen Wohlstands-Wirkungen als auch der immateriellen positionalen Auswirkungen erfolgreichen Abschneidens. Die Mitarbeiter werden zu übergroßen Anstrengungen motiviert. Erfolgreiche Unternehmen leben insofern möglicherweise von einer sozial ineffizienten Überinvestition ihrer Mitarbeiter. Der in gewisser Weise „zu hohe“ Humankapitaleinsatz durch die Mitarbeiter findet sich aufgrund der Konkurrenz zwischen den Unternehmen praktisch in allen Unternehmungen. Da die anderen Unternehmen sich „auf die Zehen“ stellen, muss jedes sich auf die Zehen stellen. Dies erfordert aber, dass sich die Mitarbeiter „auf die Zehen“ stellen müssen. Man induziert das womöglich am preiswertesten durch die große Prämie an der Spitze der Einkommenshierarchie. Da sich diejenigen mit Aufstiegshoffnung vermehrt anstrengen, müssen die anderen es auch tun. Alle werden mitgerissen. Die Auslobung eines insgesamt für jedes Einzelunternehmen recht kleinen Preises hat große multiplikative Wirkungen (es kommt zu einer work ethic ohne ethische Motivation im engeren Sinne vgl. zur work ethic Buchanan, J. M. (1999)). Wieweit man die von unternehmensinternen Turnieren erzeugten Verhaltenswirkungen selbst für ethisch akzeptabel hält, ist eine weitere Frage. Um im Bilde zu bleiben, sieht dann, wenn sich alle auf die Zehen stellen, am Ende keiner besser. Insoweit wären die Anstrengungen letztlich vergeblich. Doch es kommt insgesamt zu besseren Leistungen. Anders als im Sport und in der Drogenszene bringen die Leistungen in und durch Unternehmen aber vermutlich für die Allgemeinheit einen beachtlichen zusätzlichen Nutzen in Form verbesserter Dienstleistungen und Produkte. Die für die Turnierbeteiligten direkt unproduktiven Investitionen sind für die Gesellschaft insgesamt voraussichtlich produktiv. Insoweit das wirklich der Fall ist, gibt es gute Effizienzgründe dafür, die entsprechenden Anreize und Anstrengungen zuzulassen. Offen ist allerdings die Frage, ob insgesamt die Wohlfahrtsteigerungen der Allgemeinheit die Einbußen bei denen, die sich übermäßig anstrengen, aufwiegen. Da sich alle 36 freiwillig in die betreffende Situation begeben, sollte man darin jedoch innerhalb einer liberalen wirtschaftsethischen Grundposition, die vom Respekt für die autonomen Entscheidungen auch der Selbstausbeuter getragen wird, kein größeres ethisches Problem erblicken. Ob die hohen Vorstandsgehälter tatsächlich die ihnen in der vorangehenden Erklärungsskizze zugeschriebenen Wirkungen haben, bedarf selbstverständlich weiterer Prüfungen. Für den gegenwärtigen Zusammenhang machen die Überlegungen jedoch klar, wie wichtig es ist, in wirtschaftsethischen Erwägungen der normativen Analyse und der ethischen Bewertung eine klare Faktenanalyse oder eine Sichtung potentieller Erklärungen vorausgehen zu lassen. Dabei will das vorangehende Argument mit seiner eher ungewöhnlichen ökonomischen Erklärungsskizze für die Einsicht werben, dass gerade auch in wirtschaftsethischen Kontexten nicht nur wie in der herkömmlichen Ethik gedacht werden sollte. Diejenigen, die Wirtschaftsethik betreiben, sollten sich davor hüten, den für den Ökonomen typischen Blick auf die soziale Realität zu vernachlässigen. Empirisch muss insbesondere das Modell des Homo oeconomicus keineswegs immer zutreffen (wie unten noch argumentiert werden wird, scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein). Menschen sind de facto nicht nur an materiellen Gütern, sondern beispielsweise auch an der Verteilung von Gütern interessiert (wie vorgeführt ihm positionalen Sinne, aber auch etwa im Sinne der Gerechtigkeit). Darüber darf man jedoch nicht vergessen, dass in einem wirtschaftsethischen Kontext, wie das vorangehende Beispiel illustriert, im engeren Sinne ökonomisches Denken neue Perspektiven eröffnen kann (und sei es nur als Kontrast). Sollte an dem vorangehenden Argument etwas sein, dann hat man selbst als Befürworter gesellschaftlicher Egalität unter Umständen einen guten Grund, hohe Vorstandsgehälter im Namen der Wohlstandsmehrung für alle hinzunehmen. Der klassische „trade off“ zwischen Effizienz und Gerechtigkeit wäre auch mit Bezug auf Vorstandsgehälter und deren Höhe anzutreffen, obwohl ein solcher trade-off bei einer ersten Betrachtung nicht erkennbar ist. Verkennt man aber den Preis der Egalität, dann bezahlt man unter Umständen für die Realisierung der ethischen Ideale mehr an Effizienzverlust als man eigentlich gewillt ist, dafür aufzugeben.3 3 Bezüge zu der später noch diskutierten Auffassung von Rawls, dass Ungleichheiten, die den schlechter Gestellten nützen, erlaubt sein sollen, sind offenkundig. 37 Letztlich wird auch der Turniercharakter des unternehmensinternen Wettbewerbs allein nicht erklären können, wie es tatsächlich zu der auf breiter Front beobachteten Erhöhung der Vorstandsgehälter kam. Diese sind insbesondere bestimmt nicht eingeführt worden, um Turniere einzurichten. Hier dürften vermutlich Kapitalmärkte und die Bedürfnisse von Pensionsfonds und ähnlichen Investoren eine größere Rolle gespielt haben. Die Erhöhung der Vorstandsgehälter ergab sich als um intendierte Nebenfolge anders motivierter Verhaltensweisen. 1.2. Primär normative Überlegungen oft Immer wieder wird mit dem Argument von der leistungsgerechten Entlohnung argumentiert. Dahinter stehen alte Vorstellungen vom gerechten Preis und vom moralischen Verdienst, das sich mit ehrlicher Arbeit verbindet. Überdies geht es wie im Falle des positionalen Denkens um die Verteilung von Gütern in einem Stamm. Aus einer gemeinschaftlichen oder Wir-Perspektive heraus wird einer Referenzgruppe eine einheitliche Zielsetzung und eine Entlohnung mit Bezug auf den Beitrag zum Ziel unterstellt. Der Preis insbesondere für Arbeitsleistungen ist nicht einfach das, was andere zu zahlen bereit sind. Es gibt vielmehr einen angemessenen, gerechten oder wahren Preis, der mit Leistung, Verdienst und Anstrengung in der Verfolgung gemeinsamer Ziele verbunden ist. Solche häufig religiös eingefärbten Vorstellungen werden in Deutschland gern auch von Kreisen vorgebracht, die sich für Befürworter der freien Marktwirtschaft halten. Der Slogan „Leistung muss sich wieder lohnen!“, wurde von den Christdemokraten gegen die Sozialdemokratie benutzt, um deren marktfeindliche Einstellungen zu diskreditieren. Daran, dass die Einstellungen der Sozialdemokratie zur fraglichen Zeit zumindest nicht marktfreundlich waren, besteht nach allgemeiner Auffassung und auch der Selbstwahrnehmung der Sozialdemokraten wenig Zweifel. Jene, die ihnen den erwähnten Slogan entgegenhielten, befanden sich jedoch im Zustand der Selbsttäuschung, wenn sie sich damit als Verteidiger freier Marktwirtschaft und der ihr zugrunde liegenden Vorstellung autonomer Vertragsgestaltung begriffen. Auffassungen vom leistungs- im Gegensatz zum marktgerechten Lohn sind im Kontext einer modernen Marktwirtschaft nämlich als höchst fragwürdig einzuschätzen. Denn wenn es wirklich um subjektive Leistung und Anstrengung ginge, dann dürfte manche Medienberühmtheit mit höchstem Einkommen fast nichts verdienen, während ein ehrlicher Müllwerker sehr hoch in der Einkommenspyramide 38 stehen müsste. Vorstände würden insoweit vermutlich irgendwo in der Mitte zwischen diesen Extremen stehen. Die Forderung, dass sich Leistung lohnen müsse, ist im Kern marktfeindlich. Denn auf einem Markt lohnt sich nicht die Leistung als solche, sondern das Angebot dessen, was die Nachfrager wünschen. Ob man das, was die Nachfrager wünschen, durch Anstrengung oder ohne Anstrengung bereitstellen kann, spielt keine Rolle für den Marktpreis. Der Witz an einer freien Marktwirtschaft ist es gerade, dass sie den Anbieter von Leistungen zu Gunsten des Nachfragers zu entmachten sucht. Was eine „Leistung“ ist, die sich lohnt, bestimmt der Nachfrage nicht der Anbieter. Der Markt ist, wie die Freiburger Schule der deutschen Ordnungstheorie immer betonte, eine Entmachtungsinstrument. 4 Ist er das nicht, dann haben wir es typischerweise mit einem Marktversagen zu tun. Gegen Macht haben die meisten von uns etwas. Deshalb ist es auch ein gutes Werbeargument für den Markt, wenn man die ihm zugeschriebene Entmachtungswirkung tatsächlich plausibel machen kann. Wann immer das gelingt, wachsen dem Markt und der Konkurrenz moralische Legitimität zu. Die Entmachtungswirkung des Marktes geht aber so weit, dass er Angebote generell unabhängig davon bewertet, wie diese Angebote moralisch zu Stande kamen. Der arme behinderte Arbeiter, der zur Ernährung seiner Familie in einem Dritte-Welt Land 50 Paar Schuhsohlen am Tag unter die Sportschuhe heften kann, erhält ungeachtet seiner schier unmenschlichen Anstrengung dafür nicht mehr, als der junge extrem geschickte Kleber von Schuhsohlen, der es mit Leichtigkeit auf 500 Paar Schuhsohlen pro Tag und in dem Dritte-Welt Land zu gemessen am dortigen Standard hohem Lohn und Status bringt. Wir in der ersten Welt zahlen für die Schuhe uniforme Preise und nicht für die dahinter stehenden Leistungen unterschiedlich. Wir sorgen insoweit gerade nicht dafür, dass nach Leistung bezahlt wird. Zwar gibt es auch Konsumenten, die bereit sind, für Produkte von Behindertenwerkstätten mehr zu zahlen als für andere Produkte. Die Bewertung auf dem Markt erfolgt jedoch generell nicht in dieser Weise. Sie ist gerade unabhängig von der Bewertung der moralischen Qualitäten des Bereitstellers oder der Bereitstellung von Dienstleistungen und Gütern. 4 Deren zentrale Gründerfigur war sicher Walter Eucken heute werden entsprechende Auffassungen in Freiburg insbesondere vom jetzigen Leiter des Walter Eucken Instituts, Viktor Vanberg vertreten. Im weiteren Umkreis der Freiburger Schule ist im übrigen auch F.A. v. Hayek anzusiedeln. 39 Wenn die Leistungsgerechtigkeit zunächst einmal nichts mit der Bewertung von marktgängigen Produkten zu tun hat, dann sollte auch die Bewertung der Dienstleistungen von Vorständen nichts mit subjektiver Leistungsgerechtigkeit zu tun haben. Natürlich kann sich niemand in der Rolle von Herrn Ackermann so anstrengen, dass die subjektive Anstrengung die Verhundertfachung der Bezüge gegenüber dem Einkommen von einem durchaus auch gut qualifizierten Studienrat rechtfertigen könnte. Herr Ackermann würde überdies vermutlich auch bei gleichem Gehalt nicht mit dem Studienrat tauschen wollen. Der Markt gibt ein entsprechendes Studienratsgehalt ohnehin nicht her. Er zahlt nicht in diesem Sinne „leistungsgerecht“. Dass das nicht immer eine positive Einstellung der Lehrerschaft zum Markt fördert, ist kaum verwunderlich. Daran kann man nichts ändern. Die Befürworter freier Marktwirtschaft sollten diese aber nicht mit den falschen Argumenten gegen die dem Markt entgegengebrachte natürliche Skepsis verteidigen. Vor allem sollten sie das unangemessene Moralisieren lassen. Sie unterstützen mit dem fehlgeleiteten moralischen Argument von der Leistungsgerechtigkeit den Markt gerade nicht. Einer im weiteren Sinne moralisch-ideologischen Unterstützung des Marktes durch einen diesem angemessenen Gerechtigkeitssinn wirken sie sogar auf fatale Weise entgegen. Denn indem gerade die Marktbefürworter, die moralisch-ethische Dignität des Marktes nicht darin sehen, dass sich jeder auf dem Markt den Bewertungen anderer zu unterwerfen und diese in diesem Sinne zu respektieren hat, bauen sie keineswegs Marktskepsis ab. In den tatsächlich vorhandenen wohlfahrtsfördernden und machtbegrenzenden Wirkungen des Marktes könnte man zusätzlicher starker Argumente sehen. In der tatsächlich gerade nicht vorhandenen Leistungsgerechtigkeit liegt die Rechtfertigung der Marktpreise beziehungsweise der Marktpreisbildung gewiss nicht. Diejenigen, die auf Leistungsgerechtigkeit in diesem Zusammenhang Bezug nehmen, schießen mehr als ein Eigentor, sie unterminieren das Tor selbst. Aus Sicht einer wohlverstandenen Wirtschaftsethik ist diese Art von Moralisieren ebenso bedauerlich wie aus Sicht eines Individuums, das den Markt aus – wie jedenfalls der Autor dieser Zeilen meint – einsichtigeren ethischen Gründen für gerechtfertigt hält. Was nun das Verhältnis von Konkurrenzmärkten und Unternehmen anbelangt, ist allerdings eine gewisse Vorsicht angebracht. Unternehmen funktionieren gerade in der Entlohnung ihrer Mitarbeiter auf eine Weise, die marktüblichen Prozessen zumindest partiell entzogen ist. Im Unternehmen wirken die Mitarbeiter zusammen, ohne dass sie über jeden Akt der Kooperation Verträge schließen würden. Das Unternehmen verlässt sich gerade darauf, dass die 40 unternehmerisch organisierte Tätigkeit – insbesondere auch aufgrund der erwähnten Mobilisierung des tribalen Erbes menschlicher Motivation – einer Koordination des Wirtschaftens durch freie Marktverträge überlegen ist. Insoweit kann man sich in dem vorangehenden Beispiel auch nicht – zumindest nicht allein und nicht vollständig – auf das Argument von der Marktgängigkeit der jeweiligen Leistung von Vorständen berufen. Ihre Gehälter sind vermutlich allenfalls indirekt von der Preisbildung auf unternehmensexternen Humankapitalmärkten bestimmt. Sie stehen insoweit in einem unternehmensinternen Vergleich. Unternehmensintern wird aber, da der Markt im Unternehmen gerade außer Kraft gesetzt wird, nach Leistungsgerechtigkeit (Stammesgerechtigkeit) entlohnt. Unternehmensintern könnte es daher durchaus ein Problem der Leistungsgerechtigkeit der Entlohnung geben. Denn relativ zu den anderen Beschäftigten des Unternehmens Deutsche Bank etwa dürfte der Vorstandsvorsitzende tatsächlich bezogen auf seine Leistungen „zuviel“ verdienen. Mit Bezug auf derartige Verteilungsfragen, wie sie sich innerhalb eines Unternehmens stellen, ist die Leistungsgerechtigkeit nach den vorangehenden Erwägungen sicherlich ein angemessener Maßstab. Dennoch sollte man sich klarmachen, dass die externe Kritik an den hohen Vorstandsgehältern diesen Maßstab gerade nicht im Auge hat. Zur gleichen Zeit scheint es so zu sein, dass die Mitarbeiter der Deutschen Bank den betreffenden Maßstab selbst nur beschränkt in Ansatz bringen. Sie wären diejenigen, die Grund dazu haben könnten, entsprechende Gerechtigkeitsforderungen vorzubringen. Ihre diesbezüglichen Einstellungen müssten vom Unternehmen auch in besonderem Maße berücksichtigt werden. Allerdings könnten jedoch die demotivierenden Wirkungen, die von der Disparität der Einkommen im Unternehmen ausgehen, von den positiv motivierenden Wirkungen überkompensiert werden. Das würde jedenfalls dann gelten, wenn die vorangehende Spekulation über den Wettkampfcharakter der unternehmensinternen Bestrebungen um Aufstieg zutreffen. Denn dann würde die Aussicht auf den „Jackpot“, Vorstandsgehalt, gerade die für den Erfolg des Unternehmens besonders wichtigen hoch motivierten jungen potentiellen Aufsteiger zu Höchstleistungen jenseits dessen motivieren, was durch das Gehalt an sich zu erwarten wäre -- und dies würde ihre Gerechtigkeitspräferenzen überwiegen. Die vorangehenden Überlegungen wollen exemplarisch aufzeigen, wie facettenreich eine angemessene wirtschaftsethische Betrachtung einer anscheinend so einfachen Frage wie die er nach der angemessenen Höhe von 41 Vorstandsbezügen in deutschen Aktiengesellschaften ist. Dabei nimmt das vorangehende keineswegs in Anspruch, bereits eine vollständige und angemessene Analyse zu bieten. Es handelt sich vielmehr um eine Skizze dessen, was in einer vollständigen und angemessenen Analyse zu untersuchen wäre. Wenden wir uns nun in der gleichen einführenden Weise weiteren Beispielen zu, so sollte keineswegs vergessen werden, dass die Behandlung der Beispiele nicht den Anspruch erhebt, eine abschließende Würdigung mit ethischem Alleinvertretungsanspruch zu bieten. Es wird im Gegenteil unterstellt, dass man immer auch mit ebenfalls vertretbaren Argumenten anderer Auffassung sein kann. Die eine wirtschaftsethische richtige Sicht der Dinge gibt es gewiss nicht, sondern nur weniger gut und besser vertretbare. Ein solcher ethischer Pluralismus erkennt an, dass die eigene Position gewöhnlich nur eine von vielen möglichen und gleich akzeptablen Auffassungen darstellt. Ein solches Anerkenntnis bringt psychologisch vermutlich eine gewisse Toleranz hervor. Argumentationslogisch legt sie ihre Anhänger jedoch keineswegs darauf fest, darauf zu verzichten, für die eigene Position einzutreten und sie gegebenenfalls auch mit Machtmitteln -denn diese den zur Verfügung stehen -- durchzusetzen. 2. Der „Schrecken von Geld wie Heu“ und die Heuschrecken Die Rede von der Deutschland AG ist wohl bekannt. Sie verweist darauf, dass die deutsche Wirtschaft über einen langen Zeitraum insbesondere durch vielfältige Beteiligungen der Großbanken auf eine Weise miteinander verflochten war, die man etwa in England oder den USA nicht kannte. Da erfolgreiche Industrienationen wie Japan oder Korea ähnliche oder noch stärkere Verflechtungen wie Deutschland in der Phase ihres Aufstieges kannten, darf darüber spekuliert werden, ob gerade diese Art von Koordination die Schlagkraft der Industrien der jeweiligen Nationen während ihres Aufstiegs gestärkt haben könnte. Es scheint allerdings einiges dafür zu sprechen, dass erfolgreiche Industrieunternehmen und Industrienationen nach ihrem Aufstieg als ganze nicht davon profitieren, wenn zu starke Verflechtungsstrukturen auf den internen Märkten und insbesondere auch den Kapitalmärkten existieren. Insoweit darf man vermutlich davon ausgehen, dass die steuerliche Begünstigung der Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen, die ja auch in unserer bundesrepublikanischen 42 internen Diskussionen keineswegs unstrittig war und ist, durch ihren Beitrag zur Entflechtung sehr viel positives bewirkt hat. Dass die Entflechtung, die in Deutschland eingesetzt hat, einige Einzelunternehmen auch angreifbarer für externe Angriffe und Übernahmeversuche gemacht hat, scheint klar. Weit strittiger ist es, ob darin eher etwas positives als etwas negatives gesehen werden sollte. Die ordnungspolitischen und ordnungsethischen Bewertungen gehen weit auseinander. Auf der einen Seite betont man zu Recht, dass es insgesamt wünschenswert sei, Kapital den jeweils profitabelsten Verwendungen zuzuführen. Da Effizienz auch immer zum Wohlstand und damit zu weiteren Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten beiträgt, ist die Effizienzförderung vor allem auch eine ethische und nicht nur eine ökonomische Forderung. Ein Management, das sich fern von Risiken einer Unternehmenspleite sieht und beispielsweise liquide Mittel hortet, anstatt sie auszuschütten oder profitabel zu investieren, könnte und wird häufig dazu tendieren, sich auf den Lorbeeren auszuruhen.5 Da externe Beobachter der Unternehmenstätigkeit möglicherweise effizientere Formen der Leistungserstellung und des Kapitaleinsatzes im Blick haben, werden sie – beziehungsweise wird ihre bloße Existenz – darauf hinwirken, dass auch in einem Management, das ansonsten vielleicht zur Trägheit neigen könnte, eine stetige Anpassung der Ansprüche nach oben erfolgt. Die latente Drohung mit einer Übernahme durch einen externen Investor scheint insoweit in jedem Falle insgesamt segensreich. Auf der anderen Seite darf keineswegs übersehen werden, dass in den so genannten „Übernahmeschlachten“ Motivationen eine Rolle spielen, die sich in ihren Auswirkungen nur schwer mit einer Wahrung langfristiger Interessen von Unternehmen oder der Gesellschaft insgesamt vereinbaren lassen. Auch wenn die scheinbare oder wirkliche Irrationalität von Unternehmensübernahmen und eine dabei stattfindende Kapitalvernichtung häufig übertrieben dargestellt werden dürften, weil die betreffenden Einzelfälle so große Aufmerksamkeit erregen, darf das Problem keineswegs vernachlässigt werden. Unternehmer und Investoren sind eben auch nur Menschen und werden häufig von nahe liegenden übermächtigen Situations-Eindrücken und Situations-Anreizen in einem Maß beeinflusst, welches der Wahrung fern liegender langfristiger Interessen nicht förderlich ist. Überdies ist das Vertrauen in die Weisheit von Märkten und die überlegene Informationsverarbeitungskapazität von Märkten nur begrenzt zutreffend Wie anfällig auch Kapitalmärkte für Täuschungsmanöver sind, 5 Siemens hat man früher manchmal als eine Bank mit angeschlossenem Elektrobetrieb karikiert. 43 zeigen die großen Finanzskandale der letzten Jahre, wobei die Karriere Enrons vom überbewerteten Börsenstar zum Pleitier vermutlich besonders hervorgehoben werden muss. Ordnungspolitisch sollte Effizienzverlusten, die Aufgrund der Schwächen der menschlichen Natur eintreten, insgesamt entgegengewirkt werden. Da man Vorteile von Kapitalmärkten nicht ohne gewisse Nachteile haben kann, muss bei der Festlegung von Regeln für die Zulässigkeit externer Übernahmen eine Abwägung stattfinden, die neben den effizienzfördernden Wirkungen rationaler Übernahmevorhaben auch Rationalitätsmängel im menschlichen Bewertungsund Entscheidungsverhalten in die Bilanz aufnimmt. Die Abwägung der Vor- und Nachteile von Regeln, die den Kapitalmarkt und Unternehmensübernahmen steuern sollen, sollte im übrigen nicht in einem Zuge am grünen Tisch erfolgen. Sie sollte tunlichst in einem erfahrungsbasierten Prozess schrittweiser Anpassung vollzogen werden. Angesichts der Komplexität wirtschaftlicher Institutionen muss man eher auf eine allmähliche Evolution als auf eine Konstruktion angemessener Strukturen von Grund auf setzen. Das enthebt uns aber nicht der Aufgabe, Ordnungspolitik zu betreiben und die Politik ethisch zu begleiten. Ordnungsethisch betrachtet sind in Wahrnehmung dieser Aufgabe in jedem Schritt möglichst umfassend die Vor- und Nachteile einzelner Regelungen abzuwägen. Dabei gilt es, nicht nur Effizienzfragen, sondern auch die grundlegenden Wertsetzungen freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit und die Wertvorstellungen der Allgemeinheit im Auge zu behalten. Versuchen wir also wiederum von diesem Grundwert ausgehend „in Ordnungen zu denken“ und eine wirtschaftsethische Bewertung von Vorgängen zu skizzieren, die sich im Zuge von Übernahmen und ähnlichem vollziehen (zum Denken in Ordnungen ausführlicher, vgl. Kliemt, H. (1991)). 2.1. Die Mannesmann Übernahme Das prominenteste Beispiel einer Unternehmensübernahme, welches die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte zu bieten hat, bildet die sogenannte „Übernahmeschlacht“ um Mannesmann in den Jahren 1999 und 2000. Mannesmann hatte insgesamt in den Vorjahren außerordentlich erfolgreich beim Aufbau eines Mobilfunknetzes operiert. Der Kurs der Aktie war stetig gestiegen. Durch die Übernahmephantasien und schließlich die konkreten Übernahmeangebote stieg die Aktie weiterhin in hohem Maße an. Zunächst gab es ein 44 freundliches Übernahmeangebot, dem dann ein so genanntes feindliches Angebot folgte. Schließlich kam es zu einer Einigung über die Übernahme. In jedem Schritt profitierten die Aktionäre. Ob sie in noch höherem Maße hätten profitieren können, lässt sich nur schwer einschätzen. Allerdings spricht sehr viel dafür, dass sie durch das Verhalten des Mannesmann-Vorstandes – ob nun von diesem intendiert oder nicht – dem maximal von ihnen zu erzielenden Ertrag nahe kamen. Von der Aufteilung des Unternehmens in einen Mobilfunkteil und andere dann selbstständig operierende Unternehmensbereiche, die im Vorfeld und im Zuge der Übernahme vollzogen wurde, scheinen auch die anderen Unternehmensbestandteile und damit viele andere „Stakeholder“ von Mannesmann im Großen und Ganzen profitiert zu haben. Bei vernünftigem unternehmerischem Handeln wäre eine Quersubvention durch die Mobilfunksparte in keinem Falle vertretbar gewesen. Unabhängig handelnde Unternehmensteile konnten sich, wenn man von den – bereits verworfenen –illegitimen Möglichkeiten einer dauerhaften Quersubvention absieht, vermutlich besser entwickeln als im Verbund des größeren Gesamtunternehmens. Da nennenswerte Synergie-Effekte zwischen Mobilfunk und anderen Sparten nicht zu erwarten waren. Ob die Aktionäre des übernehmenden Unternehmens in gleicher Weise profitierten und das entstehende Gesamtunternehmen tatsächlich den Übernahmepreis rechtfertigende Synergie-Effekte innerhalb der entstehenden größeren Mobilfunksparte realisieren konnte, ist relativ schwer zu beantworten, weil man die alternativen, getrennten Expansionspfade von Vodafone und Mannesmann-Mobilfunk nicht leicht beurteilen kann. Aber auch insoweit besteht vermutlich kein Anlass zu einer übertrieben negativen Einschätzung. Alles in allem wird man die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone von der Managementseite wie von der Frage des Gemeinwohls her eher positiv beurteilen. Es gibt keine Indizien dafür, dass das unternehmerische Handeln offenkundig auf Kapitalvernichtung und irrationale Augenblicksorientierungen hinauslief. Unter den normativen bzw. ethischen Gesichtspunkten der Wahrung gesellschaftlicher Wohlfahrt und der Einhaltung rechtsstaatlicher Normen erscheint die Übernahme auch ex post insgesamt ethisch wünschenswert oder doch in jedem Falle vertretbar, selbst dann, wenn man nicht von vornherein eine wirtschaftsliberale Position vertritt. Wie allgemein bekannt hatte der Übernahmevorgang für einige maßgeblich daran beteiligte Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder ungeachtet der 45 vorangehenden Bemerkungen ein Nachspiel. Dieses Nachspiel bestand zum einen aus einer breiten moralisch motivierten Kritik der Öffentlichkeit an den im Zuge der Übernahme gezahlten Prämien insbesondere für Herrn Esser und, vermutlich nicht ganz unabhängig von dem ersten Faktor, einer gerichtlichen Überprüfung der Vorgänge. Es lohnt sich, wenn auch unter Vermeidung rechtlicher Details, einen etwas näheren Blick auf diese Vorgänge zu werfen. Zunächst einmal erregte die bloße Höhe der gezahlten Prämien Aufsehen. Mehrstellige Millionenbeträge, die an einen ausscheidenden Vorstandsvorsitzenden gezahlt werden, sind in der deutschen Wirtschaftsgeschichte bis dahin ohne Beispiel gewesen. Es kann kaum überraschen, dass es deshalb zu Nachfragen nach einer Rechtfertigung der Zahlungen kam. Wenn sich Herr Esser seine Zustimmung zur Übernahme hätte direkt „abgelten“ lassen, so wäre das ökonomisch sehr plausibel gewesen. Da er ohnehin als Agent anderer zu handeln hatte, wäre es aber rechtlich überaus fragwürdig, weil korruptionsnah gewesen. Die Prämie wurde ihm jedoch (offiziell) im Nachhinein für sein Wirken zugunsten des Unternehmens in der Vergangenheit gewährt. Es handelte sich also nicht um eine Prämie im Zuge eines „do ut des“ (ich leiste, damit Du leistest), sondern um eine (positiv vergeltende) „retributive“ Gratifikation, die nicht um den Erhalt eines Vorteils, sondern wegen des Erhalts von Vorteilen bedingungslos rückwirkend als Dank gewährt wurde. Solche retributiven Gratifikationen spielen in unserer moralischen Wirklichkeit eine bedeutende Rolle, doch weniger in der wirtschaftlichen. Akzeptieren wir das vorangehende als zutreffende Schilderung des Sachverhalts, so lassen sich daran einige Bemerkungen knüpfen: 1. Nach dem Modell zukunftsgewandt rationalen Verhaltens, das wir unserem Verständnis des Wirtschaftslebens zumindest als Ökonomen gewöhnlich zu Grunde legen, gab es keine rationale Veranlassung für die Herrn Esser gewährte Prämie. Weder konnte Herr Esser dadurch zusätzlich mit Bezug auf die Zukunft des Unternehmens motiviert werden, noch konnte man plausibel davon ausgehen, dass es positive Wirkungen dieser Prämie auf das Verhalten der Mitarbeiter des Unternehmens in der Zukunft geben würde. 46 2. Die Aktionäre wurden um Mittel gebracht, die im Unternehmen hätten bleiben können. Das würde aber auch in Fällen geschehen, in denen Spenden für wohltätige Zwecke aus der Unternehmenskasse gemacht würden. Es ist eine interessante Frage, ob eine großzügige Spende aus dem Vermögen der Firma Mannesmann etwa an das Rote Kreuz zum Abschluss von deren eigenständiger Existenz ebenfalls auf einen dem erhobenen Untreuevorwurf vergleichbaren Vorwurf gestoßen wäre. Und wie wäre es mit einer Abschlussprämie an alle Mitarbeiter gewesen? Was die Benutzung von anvertrauten Geldern anbelangt, wäre der Fall jedoch nicht anders zu beurteilen gewesen. Möglicherweise noch aufschlussreicher wäre der Fall einer Dankesprämie an alle Mitarbeiter. Wäre eine solche Zahlung erfolgt, hätte es sich ebenso um eine Benutzung des Geldes der Aktionäre gehandelt. Rechtlich und moralisch wäre der entscheidende Aspekt auch in diesem Falle die Verletzung beziehungsweise die mögliche Verletzung der Intentionen der Aktionäre gewesen. 3. Diejenigen, die in der öffentlichen Meinung und vor allem der veröffentlichten Meinung besonders stark als Kritiker der Verwendung von Geldern des Unternehmens Mannesmann durch die abschließenden Beschlüsse der Aufsichtsgremien aufgetreten sind, waren typischerweise keineswegs Personen, die sich in anderen Zusammenhängen für die Rechte von Aktionären beziehungsweise die Rechte der Kapitaleignerseite stark machen würden. Von der Aktionärsseite selber war vergleichsweise wenig, wenn überhaupt Protest gegen die Bonuszahlungen zu vernehmen. Das ist mit Bezug auf die Motive der Kritiker verdächtig und mit Bezug auf die Interessen der Aktionäre eher beruhigend. Die Aufgeregtheit der Debatte war vermutlich weniger einer real empfundenen 47 Interessenverletzung der Betroffenen als dem allgemeinen Interesse an Kapitalismuskritik und Skandalen geschuldet. 4. Die Deutsche Bank selber hat in ihren Verlautbarungen darauf verwiesen, dass man sich in einer rechtlichen Grauzone bewege. Sie hat sich von ihrem Vorsitzenden nicht distanziert, doch betont sachlich Stellung bezogen. Das war insgesamt sicherlich eine ausgezeichnete Strategie. Es war überdies eine Strategie, die auch dem Vorsitzenden des Vorstandes der Bank, weil er sich diesem Vorgehen keineswegs widersetzt zu haben scheint, positiv anzurechnen ist. 5. Der außen stehende Betrachter kann sich des Verdachtes nicht erwehren, dass der Wille zum Gelingen und vielleicht auch eine gewisse „Kameraderie der Macher“ ein eher hemdsärmeliges Vorgehen im Zuge der Übernahmeverhandlungen begünstigt haben. Wenn es dazu kam, so ist das menschlich sicherlich verständlich, da gerade die entsprechenden Qualitäten pragmatischer Entscheidungsfreude an Managern besonders geschätzt werden. Auf der anderen Seite begünstigen solche Handlungen grundsätzlich auch rechtliche beziehungsweise moralische Fehltritte – und zwar unabhängig davon, ob man die Motive, aus denen die betreffenden Schritte unternommen werden, für respektabel hält oder nicht. Zwar scheint das allfällige Skandalgeschrei in den moralischen und rechtlichen Auseinandersetzungen um die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone verfehlt. Nicht verfehlt, sondern dringend angezeigt ist aber eine sachliche Diskussion der Vorgänge aus Wirtschafts- uns rechtsethischer Perspektive. Zunächst müssen wir uns fragen, ob es tatsächlich neuer rechtlicher Regeln bedarf, um vergleichbare Sachverhalte in Zukunft allgemein zu regeln. Womöglich ist es besser, die betreffenden Fragen mit dem bestehenden Regel- 48 und Rechtssystem behandeln zu wollen. Die rechtlichen Verfahren sind ja in einer bestimmten Weise abgeschlossen worden. Dadurch hat implizit eine Rechtsfortbildung stattgefunden. Daraus kann man für die Zukunft Schlüsse ziehen. Wer in einem vergleichbaren Fall in Zukunft zu handeln hat, wird sich jedenfalls sehr deutlich rechtlicher Risiken bewusst sein. Er kennt nun Grenzen, die im Mannesmann-Verfahren ausgelotet wurden. In der Tendenz muss man die rechtlichen Ergebnisse der Auseinandersetzung als eine Stärkung einer am Anteilseigner ausgerichteten Konzeption des Unternehmens ansehen. Das ist durchaus ironisch, da es die Anteilseigner gerade nicht waren, die „Skandal“ riefen, sondern Kreise, denen das Konzept der Steigerung des Shareholder values als Maxime unternehmerischen Handelns suspekt ist (vgl. dazu unten mehr in der Diskussion der wirtschaftsethischen Position Milton Friedmans). Aber Vorwürfe wie der der Untreue lassen kaum eine andere Deutung zu als die, dass es primär um die Interessen der Aktionäre ging. Im vorangehenden wurde bereits betont, dass viel dafür spricht, dass die Entscheidungen, die im Zuge der Übernahme getroffen wurden, vom Standpunkt des Allgemeinwohls – auch dann, wenn dies nicht intendiertes Ziel der Entscheidungen war – vermutlich insgesamt positiv zu werten sind. Denkt man an ein alternatives Szenario, in dem es beispielsweise wegen großer Vorsicht der Beteiligten nicht zu einem Abschluss gekommen wäre, wären vermutlich nicht nur allgemeine Gesichtspunkte des Gemeinwohls, sondern auch ganz speziell Aktionärsinteressen zunächst auf der Strecke geblieben. Die Mannesmann Aktionäre hätten ein weniger gutes Geschäft mit ihren Aktien gemacht. Wenn man Aktionäre also generell davor schützen will, Geld zu verlieren, dann sollte man diesen Gesichtspunkt in die Gesamtbewertung einbeziehen. Herrn Essers Verhalten hat erkennbar zu Zugewinnen für die Aktionäre geführt. Natürlich hätte Herr Esser nicht das Recht gehabt, sich seine Zustimmung abkaufen zu lassen. Zur gleichen Zeit scheint es realitätsfern, ihn in seine Führungsposition zu heben und dann zu vernachlässigen, dass er wie jedermann immer auch eigene Interessen verfolgen wird. Zumindest nach der Auffassung jener, für die immer die Interessen aller Stakeholder und nicht nur der Shareholder zu berücksichtigen sind, müsste auch Herr Esser in einen fairen Ausgleich der Interessen im Verhandlungsprozess einbezogen sein. Die Anhänger der Stakeholder-Auffassung werden allerdings betonen, dass die Herrn Esser gewährte Summe jenseits fairer Anteile zu liegen scheint. 49 Ein Gutteil der Kritik an den Vorgehensweisen im Rahmen der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass die gezahlten Boni als maßlos empfunden wurden. Aus Sicht der Beteiligten, die mit schwindelerregenden Summen zu operieren hatten, stellte sich das gewiss nicht so dar. Verglichen mit der Größe des „Deals“ handelte es sich um moderate Beträge. Absolut waren die Zahlungen jedoch außergewöhnlich hoch. Die Beteiligten verkannten gewiss, die Brisanz ihres Vorgehens in der Außenwahrnehmung. Ob dieser Irrtum als solcher eine rechtliche oder ethische Verfehlung darstellt, scheint offen. Um eine Management-Fehleinschätzung handelte es sich gewiss. Insoweit scheint auch Kritik an Herrn Ackermann berechtigt. Dennoch muss man festhalten, dass die öffentliche Vorverurteilung und die generelle Beurteilung des Verhaltens der Beteiligten selbst jenes Maß vermissen ließ, dessen Fehlen man den maßgeblichen Personen vorwarf. Wenn man auf diese Feststellung mit dem üblichen Schulterzucken reagieren würde, um es einem Mangel an Sachinformation anzulasten, läge man nicht völlig falsch. Auch gab es eine Skandalpresse, die dem Mangel an Sachinformation noch kräftig durch Desinformation nachhalf. Dennoch macht man es sich zu leicht, das große Unbehagen gegenüber den Mechanismen der heutigen Wirtschaft und der Bewertung durch die Kapitalmärkte allein auf Unkenntnis und Irrationalität zurückzuführen. Es gibt tiefere Ursachen für das Unbehagen an unserer Wirtschaftskultur. Diese zeigen sich vor allem auch in der sogenannten Heuschrecken-Debatte, der wir uns nun an konkreten Beispielen zuwenden werden. 2.2. Heuschrecken Politik wird mit Worten gemacht. Fähige Politiker haben dies zu allen Zeiten verstanden. Indem sie bestimmte Begriffe mit einem bestimmten Wertgehalt aufladen, suchen sie ihre eigenen Ziele zu fördern. Sobald bestimmte Begriffe einmal in einer bestimmten Weise auf breiter Front verstanden werden, ist dem betreffenden Begriffsgebrauch politisch kaum noch beizukommen und der Transport bestimmter Wertungen gesichert. Das muss man als Theoretiker anerkennen. Es wäre albern, gegen derartige Windmühlenflügel zu kämpfen. Auf der anderen Seite ist es aber auch verfehlt, sich von der Politik die eigene theoretische Analyse diktieren zu lassen. Das bedeutet mit Bezug auf die so 50 genannte Heuschreckendebatte, dass wir als wirtschafts-ethische Theoretiker die negative Besetzung des Begriffes der Heuschrecken keineswegs von vornherein als unumstößliche Wahrheit hinzunehmen haben. Wie bereits in den einleitenden Überlegungen zu diesem Abschnitt festgestellt, haben externe Investoren, die über Kapitalmärkte auf Unternehmen zuzugreifen suchen, durchaus eine heilsame, hygienische Funktion in der wirtschaftlichen Realität. Wenn die hässlichen Geier, um mit den Metaphern im Tierreich zu bleiben, Aas eliminieren und Raubtiere bevorzugt schwache Individuen zur Beute nehmen, dann verhalten sich die Heuschrecken des Finanzbereiches auf vergleichsweise angenehme Art. Sie bringen gleichsam fett und faul gewordene Unternehmen wieder auf Trab, um daraus einen Profit zu ziehen. Das Potenzial des von ihnen auserkorenen Unternehmens wird von ihnen höher eingeschätzt als das, was durch die Unternehmensleitung selber realisiert wird. Und wenn die Heuschrecken Recht mit ihrer Einschätzung haben, dann hilft das dem Unternehmen ebenso wie der Allgemeinheit und ihnen selbst. Ein Unternehmen muss in irgendeiner Weise unterbewertet sein, damit sich die bessere Werteinschätzung der externen Investoren zu deren Vorteil durchsetzen kann. Die unbestechlichen Wahrheiten der Marktwirtschaft sagen immerhin so viel. Das schließt allerdings nicht aus, dass Investoren, die sich Übernahmekandidaten auserkoren haben, zum Opfer von eigenen Fehleinschätzungen werden können. Wenn das der Fall ist, dann kann es durchaus zu wirtschaftlichen Verwerfungen kommen, die zur Kapitalvernichtung nicht nur auf Seiten der externen Investoren, sondern auch auf Seiten der übernommenen beziehungsweise angegriffenen Unternehmen führen. Dass es unter den hedge fonds auch so genannte Geier-Fonds gibt steht dem vorangehenden nicht entgegen. Die Geier-Fonds zerlegen Unternehmen in ihre Bestandteile, weil sie erkannt haben, dass die Teile mehr wert sind als das Ganze. Nach dem Verkauf der Einzelteile ist das ursprüngliche Unternehmen zerschlagen, doch insgesamt, falls die Einschätzung einer Unterbewertung korrekt war, ein Mehrwert realisiert worden. Auch hier wird nichts kahl gefressen oder vernichtet; sondern es kommt zu einem „recycling“. Wenn Großunternehmen derartiges selbst vollziehen, indem sie Teilbereiche eines Konzerns als unabhängige Einzelunternehmen an die Börse bringen, so werden derartige Strategien gewöhnlich mit weniger Skepsis und häufig durchaus mit einem gewissen Wohlwollen bzw. sogar Applaus begleitet. Es ist nicht einzusehen, warum ähnliche Handlungen, welche von private equity Unternehmen oder hedge fonds vollzogen werden, als zerstörerische Angriffe 51 auf zuvor intakte Gesamtunternehmen angesehen werden sollen. Die schlechte Presse, die solche Strategien häufig auf sich ziehen, erklärt sich vermutlich zum großen Teil daraus, dass bei der Zerschlagung der größeren Konglomerate erkennbar wird, dass zuvor versteckte Quersubventionen stattfanden. Hoch profitable Unternehmensteile, die sich weit besser entwickeln könnten als im Unternehmensverbund wurden dazu herangezogen, wenig profitable Unternehmensteile aufrechtzuerhalten. Die Angehörigen dieser Unternehmensteile werden den Wegfall der „Stütze“ naturgemäß beklagen und die Sympathie „sozial“ gesonnener externer Beobachter wird ihnen sicher sein. Wer gegen Subventionen in der öffentlichen Wirtschaft ist, der sollte es eigentlich auch im Bereich der Privatwirtschaft sein. Dann kann er letztlich nur begrüßen, dass sich wirtschaftliche Vernunft auf welchen Wegen auch immer gegen Subventionen durchsetzt. Dass dabei wie bei allen Anpassungen an neue Marktbedingungen auch soziale Härten auftreten können und in der Regel werden, ist vollkommen unbestritten. Zur gleichen Zeit spricht vermutlich nahezu alles dafür, diese Härten über die Sozialpolitik zu mildern und nicht dadurch, dass man Unternehmen dazu verurteilt, auf weniger effiziente Weise zu wirtschaften als das möglich wäre. Das Letztere läuft auf eine Art versteckter Sondersteuer hinaus und kann ohnehin nicht von nachhaltigen Erfolgen gekrönt sein. Alle diese Sachverhalte lassen sich vermutlich mit Bezug auf die deutschen Verhältnisse besonders gut am Beispiel der Übernahme der Firmen WincorNixdorf und Grohe durch externe Investoren illustrieren. Das erste wird im allgemeinen als geglückte, das zweite als missglückte Übernahme angesehen. Wenden wir uns also diesen Beispielen zu. 2.3. Von Wincor-Nixdorf zu Grohe und zurück Bis zum Jahre 1999 gehörte Wincor-Nixdorf zur Firma Siemens. Das Unternehmen wurde im Jahr 1999 an einen externen Investor verkauft. Zu diesem Zeitpunkt hatte es 3400 Mitarbeiter und einen Umsatz von 1,3 Milliarden €. Im Jahre 2004 wurde Wincor-Nixdorf wiederum an die Börse gebracht. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Mitarbeiterzahl auf 6200 erhöht, wobei sogar 1000 zusätzliche Stellen in Deutschland geschaffen wurden. Die Ertragslage und andere Parameter hatten sich nachhaltig verbessert. Ganz offenkundig handelt es sich in diesem Falle um eine Erfolgsgeschichte, die zum einen kein besonders gutes Licht auf die Managementfähigkeiten im 52 Siemens-Konzern wirft, zum anderen aber auch zeigt, dass die Einschätzungen externer Investoren ebenso wie deren eigene Fähigkeiten zur Entwicklung eines Unternehmenspotenzials häufig Vorteile für alle Beteiligten bringen können. Wer überhaupt für freie Märkte und insbesondere für freie Kapitalmärkte eintritt, der wird kaum in der Lage sein, ein überzeugendes normatives Argument gegen derartige Entwicklungen vorzubringen. Was die Ordnungspolitik und Ordnungsethik anbelangt, so erscheint es generell wünschenswert, dass die Marktregeln Raum für solche Praktiken wie die Übernahme von Wincor-Nixdorf einräumen. Der nächste Fall illustriert demgegenüber, wie es zu problematischen Entwicklungen nach Übernahmen kommen kann. Das Familien-Unternehmen Grohe wurde im Jahr 1999 von der Firma BC-Capital gekauft. Zum Zeitpunkt des Kaufes war das Unternehmen börsennotiert. Die Investoren zahlten geschätzte 1,2 Milliarden € an die Eignerfamilie, weitere 800 Millionen € kamen als Darlehen hinzu. Die Börsennotierung wurde aufgehoben. Zunächst stiegen die Investitionen und auch die Mitarbeiterzahl blieb im wesentlichen konstant. Es kam zu einer gewissen Verlagerung von Produktion ins Ausland, doch geschah dies in Absprache mit Betriebsrat und Gewerkschaften. Im Jahre 2003 wurden dem Unternehmen von den Erst-Investoren circa 350 Millionen € entzogen und im Jahre 2004 wurde Grohe an die nächste Investorengruppe weiterverkauft. In diesem Falle wurden zwischen 1,5 und 1,8 Milliarden € zuzüglich der Übernahme der Verbindlichkeiten erlöst. Dieser Preis erscheint aus Sicht der meisten Experten als überhöht. Die Investoren begannen nach der Übernahme auf ziemlich hektische Weise, das Unternehmen „auf Effizienz zu trimmen“. Das gesamte Management wurde ausgetauscht und Arbeitsplätze insbesondere in Deutschland wurden in hohem Maße abgebaut. Soweit diese Entscheidungen wirklich aus Effizienzgründen nötig waren, sollte man sie begrüßen. Im vorliegenden Falle erheben sich jedoch Zweifel, ob die betreffenden Entscheidungen nicht von fehlerhaften Vorentscheidungen induziert waren, ohne wirtschaftlich indiziert zu sein. Das Verhalten des ersten Erwerbers war zunächst das eines auf mittel- bzw. langfristige Unternehmensentwicklung abstellenden Investors. Ob Grohe unter den ursprünglichen Eigentumsverhältnissen schlechter, ebenso gut oder besser gestellt gewesen wäre, lässt sich nur schwer beurteilen. Dass Grohe jedoch nach der Erstübernahme in keinem Falle eine negativ aus dem Rahmen fallende Entwicklung durchlief, scheint klar zu sein. Mit dem Weiterverkauf hat auch der Investor nach recht kurzer Frist seine Ziele erreicht oder kam doch, falls er nach tieferer Einsicht in den Markt nicht mehr die gleichen Chancen wie ursprünglich 53 sah, „gut“ aus der Sache heraus. Da externe Finanzinvestoren stets Gebühren für ihre Tätigkeit erheben und weil sie dem Unternehmen auch regelmäßig einen Teil der Übernahmekosten in Form zusätzlicher Kreditaufnahme aufbürden, zeigt die fortbestehende Ertragskraft von Grohe bis zum Weiterverkauf an, dass die ursprüngliche Einschätzung des Erstinvestors, der von der Steigerungsfähigkeit der Ertragskraft ausgegangen war, richtig gewesen sein dürfte. Die Erzielung eines zusätzlichen Ertrages ist grundsätzlich positiv zu bewerten – und zwar ungeachtet der Tatsache, dass der zusätzliche Ertrag an einen externen Investor ging. Alles in allem blieb der erste Eigentümerwechsel kanonisch innerhalb des Rahmens, in dem man von externen Investments bzw. von deren genereller Zulassung überwiegend positive Wohlfahrtseffekte und insoweit auch ethisch wünschenswerte Ergebnisse erwarten darf. Durch den zweiten Verkauf ist Grohe jedoch möglicherweise in eine Abwärtsspirale geführt worden. Durch überzogen optimistische Markteinschätzungen und überzogene Erwartungen an Ertragskraft und Entwicklungspotential der Firma geriet das Unternehmen in eine Situation, in der ihm zu viele externe Lasten aufgebürdet wurden. Eine an sich mögliche endogene Entwicklung wurde damit anscheinend verstellt. Die Verlagerung von Produktionsprozessen in Schwellenländer wurde in einer für den Außenstehenden doch eher überraschenden Geschwindigkeit und Radikalität vollzogen. Nun haben auch andere international operierende Unternehmen in vergleichbarer Lage ungeachtet fortbestehender großer Ertragskraft Produktion ins Ausland verlagert. Das außergewöhnlich erfolgreiche britische Unternehmen Dyson etwa hat seine Staubsaugerproduktion in Großbritannien gänzlich zugunsten auswärtiger Produktion im asiatischen Raum aufgegeben. Das geschah vorausschauend und nicht aufgrund einer Krise, die eine entsprechende Verlagerung existentiell erforderlich machte. Arbeitsplätze in Großbritannien wurden in der Produktion abgebaut, dafür aber in anderen Unternehmensbereichen geschaffen. Eine ähnliche Neupositionierung wäre womöglich auch bei Grohe ohnehin anhängig gewesen, es deuten jedoch, soweit das von einem externen Standpunkt aus beurteilt werden kann, viele Indizien darauf hin, dass bestimmte Restrukturierungsmaßnahmen im Fall Grohe überstürzt vollzogen wurden. Die Ertragslage der Finanzinvestoren und nicht die Markt- und Entwicklungsbedingungen der Firma selbst scheinen die Haupttriebfeder der Entscheidungen gewesen zu sein. 54 Man hat plausibler Weise davon auszugehen, dass die zweite Übernahme von Grohe dem Unternehmen, seiner Ertragskraft und seinen Entwicklungspotenzialen überwiegend geschadet hat. Die erste Übernahme hingegen scheint dem Unternehmen ähnlich gut bekommen zu sein, wie die Übernahme von Wincor-Nixdorf durch externe Investoren. Vor dem Hintergrund dieser beiden Feststellungen kann man die ordnungs-ethische Kernfrage genauer anvisieren. Die Kernfrage besteht darin, ob man Aktivitäten von private equity und hedge fonds samt deren modernen Finanzierungsstrategien und Instrumenten bei Einbeziehung der Vor- wie der Nachteile zulassen soll oder nicht. Diese Frage ist keineswegs durch den Verweis auf mögliche negative Konsequenzen wie im Fall Grohe entschieden. Man muss Regeln, die bestimmte Praktiken erlauben, als generelle Regelungen mit Regeln vergleichen, die solche Praktiken insgesamt verbieten. Es ist eine Illusion, dass man Regeln einführen könnte, die die Übernahmetätigkeit genau auf die erfolgsversprechenden Fälle einschränken würden. Chancen, die sich daraus ergeben, dass man Entscheidungsträgern Freiräume gibt, nach ihren spezifischen Einschätzungen und Kenntnissen zu entscheiden, gehen mit Risiken der Fehleinschätzung und Fehlentscheidung derselben Entscheidungsträger notwendig einher. So wie es in der Statistik neben Fehlern erster, immer auch Fehler zweiter Art gibt, so muss man bei der Regelfestlegung immer Abwägungen vornehmen. Erlässt man restriktive Regeln, dann vermeidet man womöglich gewisse Verluste, die durch Fehlentscheidungen im Bereich der Finanzierung entstehen, aber man vergibt Chancen auf Gewinnsteigerungen, die durch die Steuerungswirkungen von Kapitalmärkten erst ermöglicht werden. Im Falle von Grohe scheint es sich bezogen auf Finanzunternehmen um normale unternehmerische Fehleinschätzungen zu handeln. Diese Fehleinschätzungen fallen besonders auf, weil sie nach der Übernahme sichtbar wurden beziehungsweise mit dieser systematisch verknüpft waren. Die möglichen Fehlentscheidungen, die sich auf den Kapitaleinsatz durch die Eignerfamilie bezogen, bleiben unsichtbar oder wurden ausgeblendet. Denn solange die Firma Grohe unter den vorherigen Besitzverhältnissen operierte, wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass Entscheidungen nur die unternehmerischen Kernaufgaben in Produktion-, Absatz, Marketing, der Produkt- und Kapazitätsentwicklung usw. betrafen, nicht jedoch die Frage der Kapitalverwendung selbst. Damit wurde eine wesentliche Dimension unternehmerischen Handelns vernachlässigt. Die Kapitalisierung der Gruppe durch die Eigentümer wurde als gegeben 55 vorausgesetzt. Das übersah jedoch, dass aus ökonomischer Sicht die Eigentümer zu prüfen haben, ob sie selbst diejenigen sind, die aus den eingesetzten Mitteln den höchsten Ertrag erwirtschaften können. Natürlich konnten sie bei einer insoweit negativen Diagnose versuchen, durch Fremdmanager den Wert des eigenen Vermögens zu mehren und den besten Kapitaleinsatz sicherzustellen. Aber auch die Delegation der betreffenden Entscheidungen an Agenten stellt den oder die Prinzipale vor grundlegende Managementaufgaben, für die sie sich womöglich nicht optimal befähigt sehen. Volkswirtschaftlich betrachtet, ist es wünschenswert, dass auch der Kapitaleinsatz selbst noch hinsichtlich seiner Effizienz über die Kapitalmärkte bewertet wird. Es ist höchst fragwürdig, so wie in vielen Familienunternehmen den Kapitaleinsatz einfach als gegeben, gleichsam als sunk costs anzusehen. Lässt man aber die stetige Bewertung des Kapitaleinsatzes durch Kapitalmärkte zu, um dadurch eine zusätzliche effizienzsichernde Bewertungsdimension einzuführen, dann wird man auf diesem wie auf allen Märkten auch mit Fehlentscheidungen zu rechnen haben. Sie werden allerdings leichter sichtbar sein als die stillschweigenden Fehlentscheidungen, die sich daraus ergeben, dass beispielsweise bestimmte Bewertungen nicht vorgenommen und bestimmte Entscheidungen deshalb unterlassen werden. Die vielen kleinen Fehlentscheidungen, die sie aus dem Festhalten an alltäglichen Gewohnheiten ergeben, bemerken wir nicht mehr. Durch Verschleierung können wir sie verstecken, doch nicht eliminieren. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive können wir derartige Faktoren jedenfalls nicht ignorieren. Wer eine Regel festlegt und sich von der Regel als solcher positive Wirkungen erwartet, der muss sich klar darüber sein, dass er die Einzelfälle, die im Entscheidungsspielraum, der von und unter der Regel eingeräumt wird, entschieden werden können, gerade nicht mehr kontrollieren kann. Wer ordnungspolitisch Regeln festlegt, um davon zu profitieren, dass Akteure ihre eigenen Mittel und ihr eigenes Wissen für ihre eigenen Zwecke einsetzen, der muss einsehen, dass er damit grundsätzlich von der Einzelfallintervention Abstand nimmt. Eine Bindung an Regeln, die sowohl positive als auch negative Folgen haben, fällt uns auch deshalb schwer, weil wir alle dazu tendieren, Verluste gleichsam doppelt wichtig zu nehmen (vgl. Kahneman, D. and A. Tversky (1984)). Sie sind zudem konkret und anschaulich, während die Gewinne häufig unbemerkt bleiben oder als selbstverständlich hingenommen werden. Grohe und der Abbau von Arbeitsplätzen im Inland sind skandalträchtige Nachrichten. Die von 56 Wincor-Nixdorf verbreiteten positiven Nachrichten werden zwar wahrgenommen. Es wird aber nicht die an sich recht offenkundige Beziehung zwischen beiden Arten von Nachrichten gesehen. Beide Entwicklungen beruhen auf freiheitlichen Spielregeln für Finanzmärkte. Vorteile der Spielregeln kann man nur um den Preis der Nachteile der gleichen Regeln haben. Etwas anderes möchte, in der kann gerade nicht nach Regeln vorgehen, sondern muss an die Einzelfalleingriffe wohlwollender Despoten glauben. Ein solcher Glaube ist in sich noch nicht moralisch verwerflich, doch grenzt er mit seiner Naivität an das Begehen einer moralischen Verfehlung. Die vorangehenden Überlegungen rechtfertigen keineswegs bereits die heutigen Regeln für Finanzmärkte. Ein abschließendes ordnungspolitisches und ordnungsethisches Urteil müsste die möglichen alternativen Systeme von Spielregeln sichten. Dabei würde die spieltheoretische und ökonomische Analyse der Regelsysteme auf deren voraussichtliche Ergebnisse hin größeres Gewicht haben als im engeren Sinne ethische Erwägungen. Das liegt jedoch nicht daran, dass fundamentale ethische Erwägungen etwa zur Struktur der grundlegenden Eigentumsordnung oder den grundlegenden Freiheitsrechten für unser Wirtschaften und unser Leben insgesamt unbedeutend wären. Das Gegenteil ist der Fall. Der Vorrang der Freiheit spricht unabhängig von Effizienzgesichtspunkten dafür, auch im Falle von Finanzmärkten zumindest die Beweislast bei den Befürwortern und nicht bei den Gegnern von Regulierungen zu sehen. Es ist generell festzuhalten, dass die meisten uns unmittelbar bewegenden ordnungspolitischen Fragen eine Vielzahl von Antworten zulassen, die sämtlich mit den ethischen Grundlagen eines freiheitlichen Rechtsstaats westlicher Prägung und der in diesen inkorporierten Privatrechtsgesellschaft vereinbar sind. Hier helfen ethische Theorien zunächst wenig, um zwischen alternativen Vorschlägen direkt zu diskriminieren. Allerdings haben grundlegende ethische Orientierungen als Hintergrundüberzeugungen sehr wohl großen Einfluss darauf, ob wir z.B. unter zwei vertretbaren Regelungen eher eine wählen, die auf Realisierung zusätzlicher Möglichkeiten und Chancen aufgrund der Einräumung zusätzlicher Freiheitsräume setzt oder auf eine Regelung, die sich auf die Vermeidung konkreter Verluste konzentriert und dafür Entscheidungsspielräume beschneiden will. 57 3. Patentrechte und der Schutz von Menschen in der „Dritten Welt“ 3.1. Patentschutz Der Schutz von Patenten und so genanntem „geistigem Eigentum“ ist eine zentrale Institution entwickelter westlicher Privatrechtsgesellschaften. Zwar hat es am staatlichen Patentschutz Kritik von Seiten „libertärer“ Staatsskeptiker gegeben. Nach deren Auffassung ist es keineswegs zwingend, dass man ein staatlich durchgesetztes Patentrecht braucht, um Innovationen anzuregen. Allzu plausibel scheint diese These jedoch nicht. Wäre es tatsächlich so, dass das gleiche Ausmaß an Innovation – oder ein nahezu gleiches Maß – ohne Patentrecht und Patentschutz erreicht werden könnte, dann würde das gegen das Patentrecht sprechen. Denn es hätte offenkundige Wohlfahrtgewinne zur Folge, wenn das vorübergehend vom Patentrecht eingeräumte Nutzungsmonopol für die geschützten Informationen fortfiele. Denn Informationen sind ja so genannte reine öffentliche Güter, bei denen keinerlei Rivalität im Konsum besteht. Das heißt, die Nutzung der Information durch den einen hat grundsätzlich keine negativen (externen) Effekte auf die Nutzung der gleichen Information durch einen anderen. Konkret, wie viele Köche das gleiche Kochrezept auch benutzen, es nutzt sich nicht ab. Wie viele Firmen die gleiche Blaupause für ihre Produkte zugrunde legen, die Blaupause wird dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen usw. Die Folgen, die eine Nutzung der Information für den jeweiligen Nutzer hat, können sich jedoch gravierend danach unterscheiden, wie viele andere die Information frei nutzen dürfen. Wenn durch Errichtung von Nutzungsbarrieren ein Ausschluss von der Nutzung der Informationen und der Realisierung von Informationserträgen erreicht werden kann, nützt das den privilegierten Nutzern. Derjenige, der über ein staatlich geschütztes Patent verfügt, wird damit zu einem temporären Monopolisten gemacht. Er hält kein so genanntes natürliches, sondern ein von der Rechtsordnung künstlich errichtetes Monopol. Die künstliche Einrichtung des Rechtes exklusiver Nutzung verhindert vorübergehend, dass der volle Nutzwert der Information realisiert wird. Diese zeitlich begrenzte Nutzenminderung muss man um der Schaffung von Anreizen willen in Kauf nehmen. Sie hat zur Folge, dass sehr viele sich anstrengen, ein solches vorübergehendes Monopol zu erlangen. Dadurch schaffen sie erst jene nützliche Information, um die es geht. Man hat es beim Patentrecht mit einer Turnierstruktur zu tun, die Anreize zu verstärkter Anstrengung bietet. 58 Monopolrenten und deren künstliche Einrichtung durch Benutzung der staatlichen Zwangsgewalt sind immer rechtfertigungsbedürftig. In praktisch allen Fällen, in denen es nicht um die Generierung neuer Informationen und damit nicht um Innovationen geht, kann man dieser Rechtfertigungspflicht nicht plausibel nachkommen. Diejenigen, die sich um die Erlangung des Monopols bemühen, verzehren in dem Wettbewerb um die Erlangung des Monopols nur Ressourcen, die für andere Zwecke eingesetzt werden könnten. Es geht darum, das Monopol zu erlangen, ohne dass dabei – wie etwa bei der Generierung von Informationen – neue Werte (Erfindungen) geschaffen würden. In solchen Fällen, in denen im Wettbewerb um den Turniersieg also keine externen Werte für andere geschaffen werden, handelt sich um sogenanntes reines „rentseeking“ mit den entsprechenden Verlusten an gesellschaftlicher Wohlfahrt (vgl. dazu etwa Tullock, G. (1993), Rowley, C. K., R. D. Tollison and G. Tullock (1988)). Ordnungspolitisch sollte man alles unternehmen, um Wohlfahrtsverluste durch ein „rent-seeking“, das keine indirekten positiven Wohlfahrtswirkungen hat, zu vermeiden. Das spricht aber nicht dagegen, so genanntes produktives „rent-seeking“ zuzulassen. Die frühere Praxis etwa, ein so genanntes Zündholzmonopol staatlich durchzusetzen, lud zu einem unproduktiven „rent-seeking“ ein. Sie lief letztlich auf eine verkappte Steuer hinaus. Die Konsumenten zahlten höhere Preise. Der Monopolist schöpfte seine Vorteile als Monopolist aus. Wenn das Monopol an einen privaten Anbieter vergeben wurde, so erzeugte das Konkurrenz unter diesen privaten Anbietern und ein guter Teil der ökonomischen Vorteile wurde darauf verwendet, der Monopolhalter zu werden. Direkt unproduktive Handlungen wurden durchgeführt, nur um das Monopol zu erlangen. Im Falle von Patentrechten sind hingegen die Handlungen, die zur Erzeugung des Patentes führen, beziehungsweise dazu, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass ein Patent gewährt werden kann, soweit erfolgreich, direkt produktiv. Sie schaffen neues Wissen und technische Möglichkeiten, die zur gesellschaftlichen Wohlfahrt beitragen. Ordnungspolitisch scheint somit ein recht guter Grund für den Schutz von Patenten gegeben. Das gilt jedenfalls insoweit wie Patente tatsächlich nur für echte Neuerungen vergeben werden. Nach Vergabe des Patentes hat man es jedoch mit allen Nachteilen von Monopol-Positionen zu tun. Die Vergabe des Patentes beziehungsweise der gesellschaftliche Nutzen der Patentvergabe insgesamt sollten diese Nachteile – und die Ressourcenverschwendung durch vergebliche Bemühungen um Innovation – aufwiegen. 59 Ungeachtet der zuvor erwähnten Kritik bestimmter libertärer Theoretiker herrscht heute ein recht breiter Konsens darüber, dass Patente und das Patentrecht insgesamt auch bei angemessener Würdigung der vorübergehenden Nachteile von staatlich geschützten Monopolpositionen zur Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt entscheidend beitragen können. Der internationale Patentschutz ist unter den zivilisierten Nationen unstrittig, weil sie davon überzeugt sind, dass ein wesentlicher Teil ihres informationsbasierten Wohlstandes auf ihre geglückten Regeln zum Schutz geistigen Eigentums zurückgeht.6 3.2. Patentschutz von Medikamenten Insbesondere der medizinisch-technische Fortschritt ist so weit gehend erwünscht und trägt in solchem Maße zur Wohlfahrt der betroffenen Individuen bei, dass die möglichst weit reichende Anregung der Innovationstätigkeit allgemein als wünschenswert erscheint. Es ist im Interesse von fast jedermann, dass im Bereich der Arzneimittelforschung intensiv investiert wird. Jeder von uns könnte in bestimmten Situationen potentieller Nutznießer neuartiger Arzneimittel sein. Jeder ist bereit, im Krankheitsfalle auch hohe Summen für eine mögliche Gesundung auszugeben. Da die medizinischen Güter superiore Güter sind, deren Nachfrage sich mit steigendem Wohlstand überproportional erhöht, ist das Interesse an medizinischen Innovationen in den reichen Ländern der entwickelten Welt besonders ausgeprägt. Die allgemeine Praxis des Patentschutzes führt dazu, dass Forschungen weit intensiver als ohne den Schutz durchgeführt werden. Ohne den Patentschutz würde es Innovationen noch nicht in einem annähernd so großen Umfang geben, wie das gegenwärtig der Fall ist. Alles spricht insoweit dafür, gerade auch im internationalen Maßstab Patentrechte für Arzneimittel weiterhin zu schützen und jene Institutionen zu unterstützen, die Patentrechte international durchsetzen. Man kann zwar beklagen, dass in forschenden Unternehmen des Arzneimittelsektors etwa doppelt so hohe Beträge in Marketingaktivitäten gehen 6 Strittiger ist der reine Markenschutz als solcher. Es ist häufig nicht klar, inwieweit der Schutz von bestimmten Markenprodukten gegen Imitationen in gleicher Weise wie der Schutz von Patenten zur Schaffung neuer wertvoller Produkte beiträgt. Die Grenzen mögen manchmal verschwimmen. Häufig ist die Marke als solche wesentlicher Teil des Produktes und nicht nur dessen technische Eigenschaften. Auch für den Markenschutz lässt sich insoweit vermutlich eine Rechtfertigung. Doch scheint es klar, dass sich erst recht eine solche Rechtfertigung für den Bereich der innovativen Patente und hier insbesondere den Bereich der Arzneimittelforschung geben lässt. 60 wie in Forschungsaktivitäten. Das zeigt jedoch keineswegs, dass die Forschungstätigkeit nicht von dem Streben nach Patenten abhängt. Vermutlich sind bestimmte Regeln des Arzneimittelmarktes nicht so angelegt, dass die gesellschaftliche Wohlfahrt durch die Regeln optimal gefördert wird. Es scheint insbesondere so zu sein, dass die von den betreffenden Firmen erlangten Monopolpositionen zu übertriebenen Marketingaktivitäten führen, um, nachdem Patente erlangt sind, daraus den maximalen Ertrag ziehen zu können.7 Sobald das Patent ausläuft und Generika erlaubt sind, werden zuvor patentierte Informationen gewöhnlich breit genutzt. Die Informationen tragen dann, wenn auch mit der durch das Patent bedingten zeitlichen Verzögerung das Maximum zur gesellschaftlichen Wohlfahrt bei. Davon profitieren insbesondere auch Länder der so genannten Dritten Welt. Sie können bestimmte Arzneimittel aufgrund der nun frei verfügbaren Informationen, die zuvor von den PharmaUnternehmen in der entwickelten Welt generiert wurden, preiswert produzieren bzw. importieren. Insoweit ist der Patentschutz in der entwickelten Welt gerade auch im Interesse der Bürger der weniger entwickelten Länder. Denn die billigen Kopien von Generika werden nur dadurch möglich, dass die Information zunächst einmal erzeugt beziehungsweise geschaffen worden ist. Dass es sich um Ressourcen handelt, die ausschließlich in den technisch entwickelten Ländern aufgebracht werden und die – mit zeitlicher Verzögerung – aber ohne eigenen Aufwand Nutzen auch bei denen schaffen, die zur Generierung der Information selber nichts beitrugen – sollte jedem, der die Förderung von Interessen der Bürger der ärmeren Länder im Auge hat, bewusst sein. Jedenfalls solange, wie der Grenznutzen zusätzlicher erfolgreicher Forschung im Pharmabereich von uns weiterhin so hoch veranschlagt wird, wie er gegenwärtig von fast allen eingeschätzt wird, gibt es somit sehr gute Gründe, am Patentschutz festzuhalten. Dieser wirkt sich zu unser aller Nutzen und vermutlich langfristig gerade auch zugunsten derer aus, die sich anfänglich die Nutzung der patentierten Information nicht leisten können. Es fragt sich allerdings, ob von den vorangehenden Überlegungen nicht abgewichen werden kann oder sollte, wenn es um die kurzfristige Bekämpfung akuter Epidemien geht. Entsprechendes scheint insbesondere mit Bezug auf die Situation in Ländern der Dritten Welt zu gelten. Die heutige Situation AidsKranker in Schwarzafrika bildet hierfür das vermutlich markanteste Beispiel. Man muss großes Verständnis für jene haben, die angesichts des Ausmaßes der 7 Die Beeinflussbarkeit von Ärzten dürfte auf unberechtigte Einschränkungen der Konkurrenz etwa zwischen Krankenversorgern und Krankenkassen beruhen. 61 Aids-Epidemie daran denken, den Patentschutz für anti-retrovirale Medikamente nicht mehr zu respektieren. 3.3. Suspendierung des Patentschutzes angesichts der AIDSEpidemie Da die Pharma-Unternehmen ohnehin nur einen geringen Anteil ihrer Gewinne aus dem Absatz patent-geschützter Medikamente in Schwarzafrika beziehen, könnte man argumentieren, dass Plagiat-Strategien in Afrika kaum Einfluss auf die Forschungsneigung großer Pharma-Unternehmen in der Ersten Welt haben würden. Mit Bezug auf neue Arzneimittel erwarten diese Pharma-Unternehmen ihre Gewinne zunächst aus dem Absatz in der Ersten Welt. Deshalb könnte man ohne Gefahr für den Nutzen exklusiver Patenrechte Ausnahmen in der Dritten Welt zulassen. Im übrigen müssen Pharmaunternehmen ein grundsätzliches Interesse daran haben, dass sich die so genannte Dritte Welt entwickelt, weil dies die Märkte auch für ihre innovativen Produkte erweitern würde. Insoweit spricht sehr viel dafür, dass sogar die Pharma-Unternehmen selbst interessiert sein müssten, dass die Aids-Epidemie Afrika nicht noch weiter zurückwirft. Das zentrale Problem der Generika-Produktion vor Ablauf des Patentschutzes ist damit jedoch noch nicht angesprochen. Dies ist der potentielle Rückimport in Länder der ersten oder der entwickelten Welt. Sofern es gelingen könnte, den Rückenimport von Aids-Medikamenten in die Erste Welt wirksam zu verhindern und zu kontrollieren, könnte es der Pharmaindustrie und auch uns relativ gleichgültig sein, wenn Patentrechte in der Dritten Welt nur mehr eingeschränkt respektiert würden. Es würde die Gewinnerwartungen nur unwesentlich senken und weitgehend folgenlos für die Innovationstätigkeit der heutigen Pharma-Unternehmen sein, wenn in Ländern der Dritten Welt Generika zur Aids-Bekämpfung produziert und eingesetzt würden, sofern Rückimporte unterbunden werden könnten. Der Kern des Problems liegt nicht in der Profitgier von Pharmaunternehmen, die an der Dritten Welt verdienen wollen. Die Unternehmen wissen, dass sie in der Dritten Welt nicht viel verdienen können. Der Kern des Problems liegt in der Sicherung der Verdienstmöglichkeiten in der entwickelten Welt. Er liegt in der Möglichkeit von Rückimporten. Was die Möglichkeit einer generellen Verhinderung von Rückimporten anbelangt, scheint jedoch einige Skepsis 62 geboten zu sein. Die Pharma-Unternehmen ebenso wie wir alle, die wir an der Innovationskraft der pharmazeutischen Industrie interessiert sind, könnten kaum darauf vertrauen, dass eine wirksame Kontrolle von Rückimporten unter heutigen politischen und rechtlichen Bedingungen durchgesetzt würde. Insoweit besteht tatsächlich zunächst ein nicht-frivoler Grund, am Patentschutz auch in den Ländern der Dritten Welt festhalten zu wollen. Es ist nicht angemessen, in diesem Kontext nur auf die Pharma-Industrie und deren Interessen zu schauen. Es geht ethisch um allgemeine gesellschaftliche Interessen und deren Förderung. Es ist darüber nachzudenken, ob die allgemeinen gesellschaftlichen Interessen ebenso wie die Interessen künftiger Generationen in der Dritten Welt gewahrt werden können, ohne dass der Patentschutz in der Dritten Welt gewahrt wird. Es geht also um die Frage, ob wir in unserem Interesse an Innovationen im Medizinbereich darauf verzichten können, Patente in der Dritten Welt weiterhin durchzusetzen bzw. deren Durchsetzung auch angesichts der großen Leiden der dortigen Bevölkerung zu verlangen. Es geht primär um ordnungs-ethische und ordnungspolitische Fragen, die auf einer Ebene oberhalb der Unternehmen entschieden werden müssen. Die großen Pharma-Unternehmen sind insoweit nicht die richtigen Adressaten für Schuldzuweisungen. Man kann den Pharma-Unternehmen allerdings vorwerfen, dass ihre Lobby-Tätigkeit in die falsche Richtung geht. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, für sie ungünstige Regelungen zu verhindern, sollten sie versuchen, eine „positive“ Lobbyarbeit in Richtung auf günstigere Regelungen für alle zu betreiben. Wären wir uns in den fortgeschrittenen Rechtsordnungen einig, für wirksame Einschränkungen von Rückimporten von Arzneimitteln aus der Dritten in die Erste Welt zu sorgen, wäre vermutlich viel gewonnen. Ein auf entsprechende Einschränkungen gerichteter Lobbyismus der Pharma-Unternehmen ist allerdings kaum zu erkennen. Dabei spielt sicherlich auch eine Rolle, dass es „die“ Pharma-Industrie nicht gibt, sondern nur einzelne pharmazeutisch forschende Unternehmen mit unterschiedlichen Interessen. Probleme des kollektiven Handelns und des sogenannten Trittbrettfahrens betreffen selbstverständlich auch diese Akteure. Im Umgang mit den Ländern der so genannten Dritten Welt stellen sich besondere Probleme für die entwickelte Welt. Unter diesen Problemen wird aus ethischer Sicht häufig eher eine irreführende Rangordnung vorgenommen. Insbesondere wird gern übersehen, dass das eigentliche Problem der so genannten Dritten Welt nicht die Armut, sondern Defizite in den GovernanceStrukturen und den Rechtsordnungen sind. 63 Die Fehleinschätzung hinsichtlich der eigentlichen Wurzeln der Rückständigkeit hat auch zur Folge gehabt, dass die übliche Entwicklungshilfe gewöhnlich auf materielle Hilfen und weniger auf institutionelle Entwicklung gerichtet wurde. Hinzukam die in der entwickelten Welt weit verbreitete Tendenz, die eigenen internen ideologischen Projekte und Konflikte auf die so genannte Dritte Welt zu projizieren. Daraus haben sich große Verwerfungen durch Zerstörung lokaler Rechts- und Regierungsstrukturen ergeben. Zusammen mit den durch den Kolonialismus bewirkten, ebenfalls den lokalen Traditionen widersprechenden Aufteilungen in unabhängige Staaten beziehungsweise große Regierungs- oder Rechtseinheiten wurden durch alle diese Faktoren die Entwicklungsmöglichkeiten der Drittweltländer behindert. Alles dies muss man in einer angemessenen Urteilsbildung berücksichtigen. Für den gegenwärtigen Kontext geht es ohnehin nicht darum, Klage über die Vergangenheit zu führen, sondern darum, aus der Diagnose fehlender Rechtsund Regierungs(Governance-)Strukturen die richtigen Schlüsse für unser jetziges ethisches Handeln zu ziehen. Dabei zeigt sich vor allem, dass uns in den entwickelten Rechtsordnung eine Fürsorgepflicht für jene Menschen trifft, die unter schlechteren rechtlichen Bedingungen als wir agieren müssen. Das Problem der besonderen Schutzpflichten gegenüber einzelnen Individuen, die unter weniger verlässlichen Rechtsordnungen zu leben haben, stellt sich in dem nächsten hier zu betrachtenden Fall erneut und verschärft. Dieser Fall exemplifiziert das genannte wirtschafts-ethische Kernproblem besonderer Fürsorgepflicht für Menschen in der sogenannten Dritten Welt. 4. „Trafigura“, Recht und Moral, Das holländische Unternehmen Trafigura ist als Rohstoffhändler und Dienstleister beziehungsweise Transportunternehmen vor allem auf dem Gebiet des Rohstoffhandels tätig. Es hat in den letzten Jahren große Wachstumsraten realisieren können. Nicht die erfolgreiche Unternehmenstätigkeit brachte die Firma jedoch in die Schlagzeilen, sondern ein tragischer Umweltskandal großen Ausmaßes. Bei der Entsorgung von Rückständen aus einem Tankschiff, das von der Firma betrieben wurde, kam es in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, zu einem Umweltzwischenfall mit sechs Toten und tausenden von Verletzten. Zufolge einschlägiger Darstellungen der Vorgänge scheint die Firma Trafigura sämtliche in Europa und in Afrika geltenden Vorschriften eingehalten zu haben. 64 Rechtlich scheint Trafigura nichts vorzuwerfen zu sein. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Firma mit Einhaltung der Rechtsnormen auch ethisch aus dem Schneider ist. Das Tankschiff, dessen Reinigungsrückstände schließlich die Katastrophe verursachten, wurde auf dem Rückweg durch die Ostsee von Rückständen gereinigt. Die Rückstände sollten nach ursprünglicher Planung in den Niederlanden entsorgt werden. Die Hafenoffiziellen in Rotterdam monierten jedoch den strengen Geruch der Rückstände und traten von dem ursprünglichen Vorhaben zurück. Nach Darstellung der Firma brachten die Verhandlungen über die Entsorgung den Terminplan für das Schiff in Gefahr. Hohe Konventionalstrafen für Verspätungen drohten. Deshalb und auch gewiss deswegen, weil in Abidjan die größte afrikanische Entsorgungsstation für solche Rückstände zugleich Preise anbot, die um 500 € unter den in Europa möglichen Entsorgungsgebühren pro Tonne lagen, wurde das Tankschiff mit den Rückständen nach Abidjan gesendet. Auch dafür lagen anscheinend hinreichende offizielle Genehmigungen der Behörden vor. Zugleich hatte sich die Firma Trafigura erkundigt, ob der Vertragspartner in Abidjan über eine Lizenz für die Entsorgung solcher Rückstände verfügte und hatte die Auskunft erhalten, dass die Lizenz drei Monate zuvor von der Regierung erteilt (beziehungsweise erneuert) worden war. Nach den vorliegenden Informationen wurden die Rückstände auf der örtlichen Mülldeponie in Fässern gelagert, denen möglicherweise auch noch andere Giftrückstände beigegeben wurden. Aus den Fässern traten schließlich giftige Substanzen aus. Es waren infolge der Ereignisse sechs Todesopfer zu beklagen. Tausende klagten über Atembeschwerden und suchten die örtlichen Krankenhäuser auf. Die Mülldeponien wurden geschlossen, was zu einem MüllChaos in der Stadt und vermutlich zu weiteren Gesundheitsschäden führte. Sucht man Verantwortlichkeit zuzuschreiben, so ist nicht klar, wessen Opfer die zu beklagenden Toten und Verletzten in Abidjan waren. Selbstverständlich hätte es die Opfer ohne die aufgrund der in der westlichen Industriewirtschaft anfallenden Giftrückstände nicht gegeben. Wenn es keine Industrieproduktion gibt, dann gibt es auch keine Rückstände aus solcher Produktion. Aber die Politikoption, die Industrieproduktion wegen möglicher Schäden hier oder in der Dritten Welt gänzlich einzustellen, weisen wir fast alle von vornherein als absurd zurück. Anstatt uns mit Zivilisationskritik zu befassen, ist ein Blick auf das nahe liegende angebracht. Es ist eine politische Aufgabe, für die es sehr gute 65 rechtsethische Argumente geben dürfte, spezielle rechtliche Regelungen zum Schutz von Bürgern in der Dritten Welt zu erlassen. Wenn Individualrechte aufgrund des Fehlens rechtlicher Strukturen und Institutionen in anderen Ländern nicht gesichert werden können, wir aber in unseren entwickelten Ländern etwas zu deren Schutz unternehmen können, so trifft uns zumal dann, wenn wir den Respekt des Individuums als primäres Ziel auf unsere moralische Fahne geschrieben haben, eine ethische Pflicht, entsprechend zu handeln. Die besondere Sorgfaltspflichten für Individuen bestehen für den politischen Gesetzgeber beziehungsweise auch für Organisationen, die UN etc. auf der Ebene des Regelerlasses. Auf der darunter liegenden Ebene einzelner Individuen und deren Handlungen ist im vorliegenden Fall nach besonderen Pflichten der Firma Trafigura im Umgang mit Individuen aus der Dritten Welt zu fragen. Selbst wenn das Unternehmen, wie es tatsächlich der Fall gewesen zu sein scheint, alle rechtlichen Pflichten und Regulierungen in Europa beachtet hat, stellt sich doch die Frage, ob die Beteiligten nicht leichtfertig Vertrauen gegenüber Institutionen und Individuen in einem Drittwelt-Land gezeigt haben. Vielleicht hätten sie genauer nachfragen müssen. Auch dazu, wie man sich zu informieren hat, lässt sich aus ethischer Sicht etwas sagen. Nehmen wir an, was im vorliegenden Falle nicht zutraf, das betreffende Schiff wäre ein so genannter Seelenverkäufer kurz vor dem Sinken gewesen. Nehmen wir an, dieses Schiff wäre tatsächlich auf dem Weg von Estland nach Rotterdam in der Ostsee gesunken. Unterstellen wir, die Führung des Unternehmens Trafigura hätte durch einfache Nachforschung erfahren können, aber nicht geprüft, ob der Seelenverkäufer, bevor er auf seine letzte Reise geschickt wurde, voraussichtlich am Ziel ankommen würde. Unterstellen wir auch, dass es keineswegs sicher gewesen wäre, dass der Seelenverkäufer untergehen musste. Es war nur so, dass eine besondere Gefahr für einen solchen Zwischenfall bestand und dass man sowohl einen Anfangsverdacht hegen als auch unter zumutbarem Aufwand prüfen konnte, ob dieser Anfangsverdacht real berechtigt war. Vermutlich hätten wir in einem solchen Fall eine ethische Schuld der Verantwortlichen von Trafigura diagnostiziert. Auf der rechtlichen Seite hätten wir aller Voraussicht nach zumindest Fahrlässigkeit und möglicherweise sogar bewusste Inkaufnahme des Schadensfalles bejaht (zu einer solchen Form von „dolus eventualis“ vgl. schon Clifford, W. K. (1974/1879)). Nicht nur der moralische, sondern auch ein rechtlicher Vorwurf wäre damit gegeben gewesen. Überträgt man diesen Gedanken auf die Reise nach Abidjan, dann stellt sich sehr wohl die Frage, ob die Firma Trafigura nicht, selbst wenn auf der 66 Oberfläche alles in Ordnung war und selbst wenn die Regierungsstellen der Elfenbeinküste alle Vorgänge mit Lizenzen versahen, einen Anfangsverdacht und besondere Nachforschungspflichten gehabt hätte. Auch die Tatsache, dass es in den Augen vieler als eine Diskriminierung erscheinen könnte, Länder wie die Elfenbeinküste anders zu behandeln als andere Rechtsordnungen, hätte die Firma Trafigura nicht zurückhalten dürfen. Eine an individuellen Rechten und dem Respekt für einzelne Individuen orientierte ethische Grundposition würde es vielmehr nahe legen, in ethischen Urteilen gegen Regierungen zu diskriminieren, die Individualrechte mit Füßen treten, beziehungsweise keinen besonderen Wert darauf legen, diese gegen Übergriffe zu schützen. Die Rechtsordnung der Elfenbeinküste und deren Regierungsstrukturen sind, wie die meisten derartigen Institutionen in afrikanischen Ländern keineswegs als vorbildlich mit Bezug auf den Schutz individueller Rechte anzusehen. Man darf auch davon ausgehen, dass die endemische Korruption in diesen Ländern dazu führt, dass Regierungslizenzen nicht unbedingt vertrauenswürdige Signale von Vertrauenswürdigkeit sind. Wer hochgiftige Stoffe in Länder der Dritten Welt entsorgt, weiß alles dies oder kann und muss es doch wissen. Er muss überdies in Rechnung stellen, dass mit diesen Stoffen Schindluder getrieben werden könnte. Er muss antizipieren, dass es mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen von Individuen in diesen Ländern kommen wird. Denn die allgemeine Lebenserfahrung lehrt ihn, dass auf die angemessene Behandlung der durch ihn erzeugten Gefahren durch Regierungen und Rechtsordnungen der Drittwelt-Länder kein Verlass ist. Die Firma Trafigura hat, so weit das bekannt ist, keine besonderen Vorkehrungen getroffen, sondern gehandelt, als habe sie es mit einem Land mit gefestigter Rechtsordnung und sicheren Prüfungsverfahren zu tun. Das scheint ethisch so vorwerfbar, wie der Entschluss, einfach an die Seetüchtigkeit eines Apfelkahnes zu glauben. Wenn allerdings die Regierungsstellen der Elfenbeinküste zu einem Hilfsunternehmen angereiste Trafigura Mitarbeiter ins Gefängnis werfen, dann ist das für die betreffenden Personen ziemlich tragisch, aber auch von bitterer Ironie. Denn letztlich sind die Politiker der Elfenbeinküste und die fehlenden Aufsichtsmechanismen dortiger Politik weit stärker verantwortlich für das Geschehen als Beschäftigte der Firma Trafigura. Da Trafigura anscheinend alle Rechtsregeln eingehalten hat, ist es illegitim, sogar selbst ein ethisches Vergehen fundamentaler Art, rechtlich gegen die Unternehmensführung vorzugehen. Die Tatsache, dass unerwünschte Konsequenzen innerhalb der gültigen Rechtsnormen aufgetreten sind, weil vor 67 Ort bestimmte Personen Rechtsnormen gebrochen haben, darf man der Firma Trafigura rechtlich nicht ankreiden. Moralisch scheint aber ein durchaus gravierender Vorwurf der Verletzung besonderer Sorgfaltspflichten bestehen zu bleiben. Unterscheidet man zwischen Moral und moralischen Standards auf der einen Seite und ethisch-theoretischen Maßstäben auf der anderen Seite, dann kann man über die Differenzierung in rechtliche und moralische Pflichten hinaus noch weitere Differenzierungen vornehmen. Etwas kann beispielsweise nach den Standards der tatsächlich gelebten Sitten und den tatsächlich angelegten Moralvorstellungen als falsch gelten, doch von einer bestimmten ethischen Theorie her untadelig erscheinen. Man denke etwa an frühere sexuelle Tabus, die auch in früheren Zeiten bereits im Lichte ethischer Theorien als höchst fragwürdig erschienen, in der gesellschaftlichen Praxis aber als Tabus bestehen blieben. Verhaltensweisen, die zumindest nach Auffassung der meisten ethischen Theorien als harmlos gelten mussten, wurden im Sinne der gelebten Sitte und Moral weiterhin kritisiert und mit Sanktionen belegt. Als konkretes Beispiel denke man nur an private homosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen. Umgekehrt kann es Verhaltensweisen geben, die nach der Alltagsmoral weit gehend akzeptiert werden, die jedoch nach den Standards bestimmter ethischer Theorien als tadelnswert erscheinen. So ist es angesichts der Reiselust der Westeuropäer eine weit gehend akzeptierte Praxis, auch in Länder mit diktatorischen Rechtsordnungen zu reisen. Nach Auffassung bestimmter ethischer Theorien gibt es jedoch gute Gründe, von solchen Verhaltensweisen Abstand zu nehmen, beziehungsweise diese zu kritisieren. Wer vom Primat des Respekts für das Individuum und seine Rechte ausgeht, hat gute Gründe, auch in seiner persönlichen Lebensführung entsprechenden Differenzierungen zumindest zu erwägen. Wenn von „Wirtschaftsethik“ gesprochen wird, dann ist es häufig unklar, ob an eine primäre Anwendung herkömmlicher Moralvorstellungen auf das Handeln von Wirtschaftssubjekten gedacht wird oder an die Anwendung theoretisch begründeter oder reflektierter ethischer Standards. Wieder konkret bezogen auf das Beispiel von Trafigura und die Katastrophe in Abidjan, lässt sich wohl feststellen, dass es auch in Verlängerung der Alltagsmoral so zu sein scheint, dass Trafigura eine Pflicht gehabt hätte, über die normativen Vorgaben der Rechtsordnung hinauszugehen. Die Erfüllung des rechtlichen Pflichtprogramms scheint nicht auszureichen, um die moralischen Pflichten zu erfüllen. Nach den 68 Maßstäben einer reflektierten Moralbetrachtung scheint es noch eindeutiger, dass eine Pflicht der Verantwortlichen bestanden hätte, genaue Erkundigungen einzuziehen. Eine Verletzung der alltags-moralischen oder aufgeklärt moralischen Pflichten impliziert aber als solche gerade noch keine Verletzung von rechtlichen Pflichten. Eine rechtliche Belangung von Verantwortlichen der Firma Trafigura ist, um es zu wiederholen, sofern alle Rechtsnormen von der Firma eingehalten wurden, nach einem der wichtigsten ethischen Grundsätze zivilisierter Rechtsordnungen, dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ nämlich (keine Strafe ohne gesetzliche Grundlage), selbst eine moralische Verfehlung. Die Unterscheidung zwischen dem, wozu wir nach etablierten Regeln verpflichtet sind und dem, wozu uns eine persönlich „gefühlte“ ethische Pflicht anhält, ist von übergreifender Bedeutung. Sie führt zu Spannungen auf verschiedenen Verpflichtungsebenen. Sie ist von größter Bedeutung für verschiedene reale ethische Konflikte. Auf solche Fragen wird abschließend zurückzukommen sein. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist es sinnvoller, auf eine mittlere Ebene zu gehen und die Frage zu untersuchen, bis zu welchem Grade moralische Motivationen überhaupt real verhaltenswirksam werden können. Dabei stellt sich zugleich auch die Frage, inwieweit feste moralische Bindungen selbst ein Mittel der Interessenverfolgung sein können. Viele Diskussion in der Wirtschaftsethik leiden unter einem unangemessenen Verständnis des durchaus komplexen Verhältnisses von Moral und Interesse. Viel häufiger als der Gegensatz zwischen Moral und Interesse dürfte nämlich der Fall sein, in dem moralisch akzeptables oder zumindest breit akzeptiertes Verhalten im Interesse des Akteurs liegt. 69 III. Moral am Werk 1. Moralische Bindung und rationale Interessenverfolgung Wer im sogenannten moralischen Diskurs die Frage stellt, wozu Moral und moralische Orientierungen denn eigentlich gut sein möchten (vgl. Hegselmann, R. (1988)), hat sich damit in den Augen der „professional good men and women“, die in der Debatte den Ton angeben, schon als moralisch „halbseidener“ nicht den wirklich höheren Werten zugewandter Mensch „geoutet“. Bei nüchterner Betrachtung ist es jedoch schwer nachzuvollziehen, warum es nicht zu den positiven Eigenschaften eines Moralsystems gehören sollte, dass seine allgemeine Befolgung seinen Befolgern nützt. Wenn die Akzeptanz und Befolgung eines Moralsystems dem einzelnen Betroffenen ebenso wie einer Gruppe von Individuen, zum Vorteil gereicht, sollte das ganz im Gegenteil zu den hervorstechendsten positiven moralischen Qualitäten des Systems gehören (vgl. zur antiken gleich lautenden Ansicht McIntyre, A. (1980), allgemein sozialtheoretisch Hegselmann, R. and H. Kliemt (1997)). Viele der gängigen Verwirrungen, die eine zutreffende Analyse des Verhältnisses von Moral und Interesse verhindern, beruhen auf einer einfachen Ebenenverletzung. Man hält die Ebene der Regelfestlegung und der Institutionen nicht hinreichend getrennt von der Ebene der Befolgung der Regeln (vgl. dazu programmatisch Brennan, H. G. and J. M. Buchanan (1985)). Die erste, konstitutionelle Ebene erfordert andere Betrachtungsweisen und andere Argumente als die zweite, nach-konstitutionelle Ebene. Worum es geht, versteht man vielleicht am besten, wenn man zunächst einen kleinen Ausflug in die Biologie unternimmt. 1.1. Proximat, ultimat und tugendhaft In der Biologie unterscheidet man ultimate von proximaten Erklärungen. Wenn beispielsweise gefragt wird, warum Polar-Hasen weiß sind, besteht die proximate Erklärung in dem Verweis auf die Reflexionseigenschaften des Fells dieser Hasen. Das Fell von Hasen, die weiß aussehen, reflektiert bevorzugt Licht einer bestimmten Wellenlänge. Das erklärt den hellen Eindruck. Neben diese proximate Erklärung tritt die ultimate Erklärung, dass in der polaren Umgebung Hasen mit einer dunkleren Farbe eher auffallen und daher von den Fressfeinden 70 der Hasen – insbesondere den Polar-Füchsen – leichter gefangen werden können. Da dunklere eher als hellere gefressen werden, haben dunklere weniger Nachkommen als hellere Hasen. Allmählich setzen sich in der Population Hasen mit einem immer helleren Fell durch. Das Interesse an der Zusammensetzung von Hasenpopulationen dürfte wirtschaftsethisch eher unterentwickelt sein. Wirtschaftsethisch Interessierte tun allerdings gut daran, sich den Unterschied zwischen ultimaten und proximaten Erklärungen vor Augen zu halten. Das führt sie zu Fragen der folgenden Art: Was sind die Bedingungen, unter denen sich ein moralisch motivierter Verzicht auf nahe liegende („proximate“) monetäre Vorteile letztlich („ulitmat“) auszahlt? Werden „am Ende“ (ultimat) jene sich durchsetzen, die jede sich bietende (proximate) Chance ergreifen oder jene, die um langfristiger Interessenverfolgung auch Nachteile hinnehmen? Werden sich in der Population derer, die unternehmerische Entscheidungen zu treffen haben, die Homines oeconomici durchsetzen, die jeden proximaten Vorteil wahrnehmen, oder kann es unternehmerisch von Vorteil und möglicherweise objektiv Profit steigernd sein, gerade kein Homo oeconomicus zu sein? Die Kernfrage lautet: „If Homo economicus (a company) could choose his (its) own utility function would he (it) want one with a conscience?“ (Frank, R. (1987), Klammer-Ergänzungen vom Verfasser) Im Gegensatz zu einigen landläufigen Überzeugungen ist es keineswegs so, dass sich, salopp gesprochen, Moral nicht lohnen kann. Intrinsisch von moralischen Erwägungen motivierte Akteure können sehr wohl auf Dauer wirtschaftlich erfolgreicher sein als Akteure, die in jedem Einzelfall dem kurzfristigen Gewinn nachjagen. Tugend kann sich lohnen (vgl. ausführlich dazu Baurmann, M. (1996)). Dabei geht es zum einen um die Fähigkeit, aufgrund langfristiger Erwägungen kurzfristigen Versuchungen widerstehen zu können. Wer diese Fähigkeit besitzt, vermeidet es, Gelegenheiten auf Kosten eines anderen wahrzunehmen, wo das interessen- insbesondere rufschädigend für ihn wäre. Hier ist die Tugend eher eine Gehhilfe für die, deren rationale langfristige Interessenwahrung eine Stütze braucht. Denn eigentlich hilft die Tugend nur dem Verstand dabei, gegen die kurzfristig wirkenden Emotionen und Versuchungen das langfristige Eigeninteresse durchzusetzen. Es gibt aber auch eine über die Versicherung gegen die Schwächen der menschlichen Natur hinausgehende Funktion der Tugend. Bei dieser geht es 71 darum, dass der Besitz echter Tugend für andere erkennbar ist und das Verhalten der anderen durch diese Erkenntnis beeinflusst wird. Andere wissen, dass man eine konstitutionelle Bindung besitzt, die für sie vorteilhaft ist und versuchen daher mit dem gebundenen Individuum bevorzugt zu interagieren. Der ehrenhafte Kaufmann hat sich an eine Kodex innerlich gebunden, der ihn auch am versteckten und gänzlich unentdeckbaren Betrug hindert. Die Hinderung am Betrug ist im Einzelfall gerade nicht zu seinem Vorteil. Man wird ihn aber als Handelspartner suchen, wenn man ihn von anderen Kaufleuten, die nicht so gewissenhaft sind, unterscheiden kann. Das und nicht der Verzicht im Einzelfall gereicht dem ehrlichen Kaufmann zum Vorteil. Zwar ist, im Gegensatz zu dem vorangehenden Fall der Versuchungsresistenz das tugendhafte Verhalten als solches in dem Augenblicke, in dem es gezeigt werden muss, nicht einmal langfristig direkt vorteilhaft. Es beinhaltet echten Verzicht auf einen Vorteil, der wegen seiner unentdeckt (z.B. aus einer völlig unentdeckbaren kleinen Unterschlagung) auch langfristig keine negativen Folgen haben wird. Aber die Tatsache, dass andere den Besitz bestimmter moralischer Orientierungen oder Tugenden erkennen können, führt zu Verhaltensveränderungen bei den Nachfragern von Tugend. Dies kann als Besitzer der Tugend oder als Anbieter dieser Eigenschaft vorteilhaft sein. Um diese zunächst vielleicht kompliziert scheinenden Überlegungen genauer zu verstehen, müssen wir das Verhältnis von ultimater Tiefenstruktur (bzw. der Ebene, auf der sich Tugend auszahlt) und proximater Oberflächenstruktur (bzw. der Ebene, auf der moralisch motivierte Entscheidungen eine Einbusse darstellen) näher betrachten. Zum Einstieg eignet sich in besonderer Weise ein einfaches spieltheoretisches Experiment zur „Phänomenologie“ moralisch motivierten Verhaltens. Nachdem wir auf diese Weise die Oberfläche genauer untersucht haben, werden wir dann nochmals versuchen, die tieferen Strukturen besser zu verstehen. 1.2. Das Beispiel des Ultimatumspiels und der Besitz der Tugend Neben dem bekannten Gefangenendilemma-Spiel dürfte das so genannte Ultimatumsspiel heute das meist verwendete Bei-Spiel innerhalb der so genannten experimentellen Ökonomik bilden (vgl. Güth, W., R. Schmittberger and B. Schwarze (1982), Slonim, R. and A. E. Roth (1998)). Es wurde unter den verschiedensten Bedingungen gespielt, um hohe und kleine Beträge, unter 72 Angehörigen von Naturvölkern, unter studentischen Spielern, als Zeitungsexperiment usw. Die Ergebnisse unterscheiden sich in interessanten Hinsichten, sind jedoch im Kerngehalt ziemlich stabil. Sie stellen sich unter dem folgenden grundsätzlichen experimentellen Design ein: Ein sogenannter Zuteiler erhält einen Betrag (pie) in Höhe von, p. Man denke konkret etwa an 10 €. Der Zuteiler darf beliebige ganzzahlige Aufteilungen (x, y) mit x,y≥0 und x+y=10 vornehmen. Nachdem der Zuteiler seine Aufteilung (x*, y*) vorgenommen hat, kann er sie nicht mehr verändern. Dem Empfänger wird die Aufteilung (x*, y*) mitgeteilt und er kann entscheiden, ob er diese annehmen will. Nimmt der Empfänger an, so erhält er den Betrag y* und der Zuteiler den Betrag x*. Lehnt der Empfänger jedoch ab, so erhalten beide einen Betrag von jeweils 0. Der Kuchen geht für sie verloren. Das Spiel wird typischerweise unter Bedingungen der Anonymität jeweils genau ein Mal zwischen den gleichen Partnern ohne weiteres Nachspiel gespielt. Dazu kommunizieren die beiden Akteure etwa über Briefumschläge, die von einem Raum in einen anderen getragen werden oder auch über Computer-Terminals. Auf diese Details kommt es nicht wesentlich an. Wesentlich ist die Beobachtung, dass selbst unter Anonymitätsbedingungen die Zuteilungen typischerweise mehr als eine Einheit betrugen. An sich sollte der Empfänger aber dann, wenn er völlig rational mit Bezug auf seine zukünftigen Interessen handelt, unter Anonymitätsbedingungen jeden Betrag y*>0, der ihm zugeteilt wird, akzeptieren. Der Zuteiler sollte dies unter rationalen eigeninteressierten Akteuren antizipieren und nur einen minimalen Betrag anbieten. Das widerspricht dem tatsächlich beobachteten Verhalten. Minimale Beträge werden nur in Einzelfällen angeboten und dann auch gewöhnlich abgelehnt. Häufig werden sogar weit höhere Beträge zurückgewiesen. Das gilt sogar dann, wenn das Spiel nicht nur um 10 €, sondern um Beträge gespielt wird, die in der Kaufkraft von mehreren Monatslöhnen liegen. Bei dem Verstoß gegen die Gebote rein eigeninteressierten zukunftsgerichteten Verhaltens handelt es sich somit weder um eine Ausnahmeerscheinung, noch um etwas, das mit der Geringfügigkeit der auf dem Spiele stehenden Interessen erklärt werden kann. Der Zuteiler in dem Spiel muss dann, wenn er mehr als minimale positive Beträge zuteilt, entweder selbst von einer inneren Motivation geleitet werden, die mit Eigeninteressiertheit nicht übereinstimmt, oder er muss erwarten, dass der Empfänger von Motiven geleitet wird, die von der Wahrung des eigenen zukünftigen Vorteils abweichen (beides zugleich kann auch der Fall sein). Der 73 Empfänger, der einen positiven Betrag zurückweist, zeigt damit, dass ihm andere Gesichtspunkte als der materielle persönliche Vorteil wichtig sind. Wenn er positive Beträge insbesondere auch unter Anonymitätsbedingungen und dann, wenn viel auf dem Spiele steht, zurückweist, bringt er eine innere moralische Orientierung zum Ausdruck. Man spricht hier auch von einer intrinsischen gegenüber einer extrinsischen Motivation. Das innere Motiv überwiegt unter Umständen den äußeren Anreiz. In Ultimatumspielen kommen entsprechende intrinsische Motive zum Tragen. Der weit überwiegende Anteil solcher Experimente zeigt, dass die Aufteilung (0.5 p, 0.5 p) vom Zuteiler vorgenommen wird und der Empfänger diese praktisch immer annimmt. Werden jedoch Aufteilungen wie zum Beispiel (0.7 p, 0.3 p) vorgenommen, dann kommt es in einer recht großen Anzahl von Fällen zu einer Zurückweisung und beide Akteure gehen leer aus. Erstaunlicherweise kann man auch beobachten, dass Aufteilungen wie etwa (0.2 p, 0.8 p) unter bestimmten Umständen abgelehnt werden. Insgesamt geben die Ergebnisse zu erkennen, dass Menschen intrinsisch motiviert werden durch bestimmte Vorstellungen davon, wie materielle Güter inter-personal verteilt werden sollten. Sie lassen sich insbesondere von Gerechtigkeitsvorstellungen und nicht nur vom eigenen Vorteil leiten. Jemand, der in dieser Weise angeleitet ist, besitzt – jedenfalls wenn noch gewisse Zusatzbedingungen erfüllt sind –, insgesamt die Tugend der Gerechtigkeit. Diese Arten von Motivationen bilden zumindest die Grundlage entsprechender Tugend. Der Empfänger im Ultimatumspiel bringt diese Tugend insbesondere dann zum Ausdruck, wenn er Zuteilungen y>0 für sich als zu niedrig oder als zu hoch ablehnt. In diesen Fällen geht es ihm darum, eine bestimmte Verteilung der materiellen Vorteile sicherzustellen und nicht darum, seinen eigenen Vorteil zu wahren. Der Besitz der Tugend der Gerechtigkeit ist im Ultimatumspiel für den Empfänger zunächst immer materiell nachteilig. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Spiel nur einmal und unter Anonymitätsbedingungen gespielt wird. Insoweit kann sich Tugend nicht lohnen. Das gleiche gilt für einen Zuteiler, der es mit einem rationalen Interessen orientierten Empfänger zu tun hat. Ein solcher Zuteiler kann dadurch, dass er mehr als den minimalen positiven Betrag zuteilt, nur verlieren. Wenn er sich an Gerechtigkeitsvorstellungen orientiert, hat das zunächst nur Nachteile für ihn. Die Sachlage ändert sich jedoch dann, wenn das Spiel mehrfach und/oder nicht unter Anonymitätsbedingungen gespielt wird. Dann hat das, was man in einem 74 Spiel tut, Auswirkungen auf die Zukunft. Es gibt nicht nur das Spiel, sondern es hat auch noch ein Nachspiel. Die Folgen für das Nachspiel müssen bedacht werden. Insbesondere dann, wenn man mehrfach mit dem gleichen Akteur interagiert, hat man den eigenen Ruf als gerechtes oder ungerechtes Individuum etc. zu bedenken. Über diese Arten von Effekten, insbesondere die Reputationseffekte, wird das gerechte Handeln Ausdruck der langfristigen Wahrung des eigenen Interesses. Die Tugend der Gerechtigkeit kann den Akteuren nur insoweit helfen, als sie die Vernunftseinsicht in das, was das langfristige Eigeninteresse gebietet, unterstützt. So könnte etwa jemand als Empfänger eine starke Versuchung spüren, einen gegenüber seinen Gerechtigkeitsvorstellungen zu kleinen Betrag zu akzeptieren. Es fällt ihm womöglich schwer, das Geld, das er für eine andere Verwendung gut gebrauchen könnte, liegen zu lassen. Die Vernunft mag ihm zwar sagen, dass es mit Bezug auf zukünftige Interaktionen der gleichen Art besser wäre, dem Zuteiler zu signalisieren, dass er als Empfänger generell zu niedrige Gebote ablehnen wird, doch er könnte den Betrag, der geboten wurde, im Augenblick sehr gut gebrauchen. In diesem Falle hilft ihm eine emotionale Orientierung an Normen der Gerechtigkeit und der Besitz emotional verankerten der Tugend der Gerechtigkeit, seine langfristigen Interessen zu wahren. Genau Analoges gilt für einen Zuteiler. Er könnte ebenfalls von der Versuchung übermannt werden, von Gerechtigkeitsvorstellungen abzuweichen und gegen sein eigenes Interesse zu wenig zu bieten. Das würde in der unmittelbaren Interaktion einen Nachteil darstellen, weil es zur Ablehnung käme. Es würde aber auch möglicherweise seinen Ruf für andere Arten späterer Interaktionen beeinträchtigen. Wenn die Akteure, die die betreffenden Spiele durchzuführen haben, einander frei suchen und finden können, ist es etwas anders. Dann kann es sein, dass die Tugend nicht nur eine Gehhilfe für die Vernunft bildet, sondern der Besitz der Tugend auf eine andere Weise vorteilhaft wird. Wenn man nämlich erkennen kann, ob andere Tugenden besitzen, dann kann man nach den Tugendhaften als Interaktionspartnern suchen. Akteure, die selbst tugendhaft sind und etwa im Ultimatumspiel in der Rolle des Empfängers dazu neigen, zu niedrige Gebote abzulehnen, haben einen starkes Interesse daran, einen tugendhaften Partner in der Rolle des Zuteilers zu finden. Wenn Sie nun die Tugend beziehungsweise das Vorliegen der Tugend bei betreffenden Partnern durch äußere Symptome oder Signale feststellen könnten, dann werden sie, sofern sie sich die Partner aussuchen können, nur mit denen interagieren, die die betreffende Signale senden. Damit wird der Besitz der Tugend unter Umständen vorteilhaft, weil andere sie erkennen können. Man erhält mehr Chancen zu wechselseitig 75 vorteilhafter Zusammenarbeit, wenn man tugendhaft ist (vgl. zu solchen Argumenten in Simulationsstudien Schüssler, R. (1990), Vanberg, V. J. and R. Congleton (1992)). Das gilt insbesondere auf Märkten, die daher besonders günstige Anreize für die Entwicklung der Tugend setzen. Selbstverständlich lassen sich Signale fälschen. Das Tierreich ist voll von Beispielen des so genannten Mimikry’s. Warum sollte die spezielle Spezies Mensch insoweit gänzlich verschieden sein? Tugend mag im übrigen auch in verschiedenen Ausprägungen oder in verschiedenen Stärken auftreten. Sie mag nur gegenüber bestimmten Individuen und nicht gegenüber allen Menschen gleichermaßen wirksam sein ... und so weiter. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist zunächst allein wichtig, dass man verstanden hat, auf welche beiden Weisen innere Bindungen, die unmittelbar unvorteilhaft sind, dennoch mittelbar von Vorteil für ihren Besitzer sein können: 1. Der Besitz einer inneren Bindungen kann uns dagegen schützen, unmittelbaren Versuchungen in Situationen, in denen das für uns langfristig von Nachteil wäre, aufgrund kurzfristiger Eindrücke nachzugeben. 2. Der Besitz einer inneren Bindungen kann uns dann, wenn deren Existenz für andere erkennbar ist, zu einem gesuchten Partner machen und insoweit unsere langfristigen Interessen fördern. 1.3. Vorteilhaftigkeit von Bindungen Das vorangehende nennt allgemein zwei Bedingungen, unter denen der Besitz von Moral und Tugend sich für jemanden lohnen kann. Was für Individuen gilt, gilt in analoger Weise auch für Unternehmen. Auch für Unternehmen als Ganze gibt es Situationen, in denen die Mitarbeiter, die als Agenten des Unternehmens Entscheidungen zu treffen haben, der Versuchung zu kurzfristiger Orientierungen am materiellen Vorteil des Unternehmens erliegen können. Ebenfalls kann es offenkundig für ein Unternehmen von Vorteil sein, wenn es möglichen Geschäftspartnern innere Bindungen an bestimmte Standards im weiteren Sinne moralischer Art signalisieren kann. Denn dann werden die potentiellen Geschäftspartner sich gerade dieses Unternehmen für ihre Geschäfte 76 aussuchen. In solchen Fällen wird der Besitz der Moral, der Tugend oder die Neigung zur Beachtung bestimmter ethischer Maßstäbe im praktischen Handeln eines Unternehmens selbst zum Produktions- bzw. Vertriebsfaktor. Moral und Tugend lohnen sich. Die Rolle innerer (moralischer) Bindungen im Rahmen einer aus Eigeninteresse zu übenden Selbstkontrolle wird häufig unterbewertet. Sie ist jedoch angesichts der vielen Einzelentscheidungen und der mit diesen einhergehenden Versuchungen, die wir als Privatpersonen, Unternehmer oder Angestellte zu treffen haben, keineswegs unbedeutend. Derjenige, der es sich beispielsweise zur Regel macht, seine Geschäftspartner nicht „über’s Ohr zu hauen“, muss nicht in jedem Einzelfall überlegen, ob er nun eine goldene Gelegenheit vor sich hat, bei der er unentdeckt und daher ungestraft einen einseitigen Vorteil für sich herausholen könnte. Er erspart sich damit nicht nur den Aufwand, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob das Risiko, erwischt zu werden und den guten Ruf zu verspielen, niedrig genug ist, um den einseitigen Ausbeutungsversuch lohnend werden zu lassen. Er schützt sich auch gegen das Risiko, in einem der Einzelfälle der unmittelbaren Versuchung aus emotionalen Gründen nachzugeben, obwohl die langfristigen Interessen eher ein gegenteiliges Verhalten gebieten würden (vgl. ausführlich Frank, R. (1992)). Die Schwierigkeit, unmittelbaren Versuchungen aufgrund von deren zeitlicher Nähe widerstehen zu können, hängt mit Verhaltensneigungen zusammen, die tief in der menschlichen Natur verankert sind. Konkret werden die meisten Menschen, wenn man ihnen beispielsweise im Juni eines Jahres zwei Investitionsalternativen, die „am 24. Dezember 1000 €“ bzw. die „am 31. Dezember 1050 €“ einbringen, vorlegen würde, die zweite Alternative wählen. Die zweite erbringt eine sehr ordentliche Verzinsung für die zusätzliche Woche. Wenn man die gleichen Personen jedoch am 24. Dezember fragte, würden sie vielfach die erste Alternative wählen, obwohl eine 5% Verzinsung in Wochenfrist ansonsten kaum jemals erreicht werden könnte (vgl. umfassend auch Ainslee, G. (2002), ursprünglich Hume, D. (1739/1978), book III, 7). Wenn jemand es vermag, sich an feste innere Regeln zu binden, dann kann er womöglich solchen Versuchungen besser widerstehen. In vielen Fällen wird es ihm möglicherweise sogar gelingen, aufgrund der festen Regelbindung bestimmte Optionen gar nicht mehr wahrzunehmen. Soweit dies der Fall ist, besteht auch keine Gefahr, in Versuchung zu geraten und die langfristigen Interessen aufgrund emotionaler Faktoren nicht hinreichend in den Entscheidungen zu berücksichtigen. 77 Die in dem vorangehenden Argument skizzierte Fristigkeit der Interessenverfolgung ist von großer Bedeutung. Im Rahmen dieses Argumentes dienen innere Regelbindungen als Instrument langfristiger Interessenverfolgung. Sie schützen uns dagegen, zum Opfer von Rationalitätsmängeln zu werden. Diese Funktion von Regelbindungen bildet einen guten Grund, in sich moralische Tugenden aus eigenem Interesse zu entwickeln. Die Tugenden haben nach dieser Sicht für einen emotionalen Versuchungen unterliegenden Entscheider in etwa die gleiche Funktion wie der Mast des Ulysses für den griechischen Helden. Die Gebundenheit hilft, die langfristigen Ziele ungeachtet der Schwäche der eigenen Natur zu erreichen (vgl. dazu ergänzend in einem konstitutionellen Kontext, auf den ich hier nicht eingehen kann, Brennan, H. G. and H. Kliemt (1990)). Es gibt über diesen traditionellen Grund für die Entwicklung von Tugenden hinaus den anderen, zweiten, der nicht unmittelbar mit Rationalitätsschwächen verknüpft ist. Es kann nämlich, wie bereits am Beispiel des Ultimatumspiels aufgezeigt, auch auf einer höheren Ebene rational sein, in sich die Tugend zu entwickeln, unmittelbare Chancen selbst dann nicht wahrzunehmen, wenn es sich dabei um eine goldene Gelegenheit handelt, in der man nicht ertappt werden kann. In dieser Situation wäre es rational, z.B. Chancen zur Ausbeutung eines anderen wahrzunehmen, weil das Risiko der Entdeckung vernachlässigt werden kann. Trotzdem gibt es einen tieferen Grund, sich auch hier zu binden. Das ist überraschend, weil es gleichsam per definitionem in einer solchen Situation unmittelbar und langfristig vorteilhaft ist, die sich bietenden Chancen wahrzunehmen. Es muss zunächst aussichtslos scheinen, Moral und Interesse auch im Falle solcher goldener Gelegenheiten in Übereinstimmung zu bringen. Weil es sich um eine goldene Gelegenheit handelt, fallen das langfristige und das kurzfristige Interesse auf der Seite der opportunistisch ungebundenen Ausbeutungschance zusammen. Was könnte einen guten eigen-interessierten Grund dafür darstellen, sich die Tugend zuzulegen, auch solche Chancen, deren Wahrnehmung unter Berücksichtigung aller Kausalfolgen des Handelns rational ist, nicht wahrzunehmen? Der Witz einer Bindung besteht gerade darin, dass man auf die Wahrnehmung eines Vorteiles aufgrund der Bindung verzichtet. Es ist insoweit zutreffend, dass eine innere Bindung an moralische Prinzipien in Situationen, in denen es rational wäre, die Chance wahrzunehmen, gegenüber der Fähigkeit die Chance tatsächlich wahrzunehmen, von Nachteil sein muss. Dadurch, dass für andere als den Akteur selbst das Vorliegen einer inneren Bindungen erkennbar ist, wird die 78 Bindung jedoch, wie wir sahen, u.U. dennoch vorteilhaft. Akteure, die ihre eigene Bindungen glaubwürdig signalisieren können, werden als Interaktionspartner von anderen bevorzugt werden. Sie werden von anderen Akteuren für wechselseitig vorteilhafte Projekte der Zusammenarbeit ausgewählt werden. Gebundene Akteure werden insgesamt mehr Erfolg haben als Individuen, die ungebunden sind, weil Dritte mit ihnen und nicht den ungebundenen Akteuren bevorzugt zusammenarbeiten. Voraussetzung dafür, dass die gebundenen erfolgreicher als die nicht gebundenen Individuen sind, ist es, dass man das Vorliegen echter gegenüber nur vorgespiegelter Bindung feststellen kann. Die Möglichkeiten zur Täuschung sollte man weder unter- noch überschätzen. Ohne dem an dieser Stelle umfassend nachgehen zu können, dürften einige kursorische Überlegungen ausreichen, um den Schluss zurückzuweisen, das echte innere Bindungen aufgrund der Täuschungsmöglichkeiten generell nicht überlebensfähig sind, sondern wie die dunkleren Hasen eliminiert werden würden. Es ist nicht zwingend so, dass die Opportunisten diejenigen, die inneren Bindungen unterliegen, verdrängen müssten. Dafür sprechen eine Vielzahl alltäglicher Beobachtungen und auch Experimente (Da die vorangehende wichtige Argumentation an dieser Stelle nur angedeutet werden kann, hier einige Hinweise auf breitere und formal genauere Ausarbeitungen der Überlegungen, vgl. ausführlich dazu Frank, R. (1992), die einführende ausführliche Übersicht Güth, W. and H. Kliemt (2006) und ergänzend Güth, W. and H. Kliemt (1993), Güth, W. and H. Kliemt (1994), Güth, W., H. Kliemt and B. Peleg (1999), Güth, W. and H. Kliemt (2000), Berninghaus, S., W. Güth and H. Kliemt (2003), die generelle Argumentation von Baurmann 1996 bleibt wesentliches Hintergrundwissen). 1.4. Bindungen in Aktion Zunächst zu den weniger alltäglichen Beobachtungen: Menschen springen in reißende Flüsse um andere zu retten, sie opfern sich auf, um Schaden für viele zu verhindern und Ähnliches mehr. Häufig mag dies aufgrund spontaner Augenblicksentschlüsse geschehen. Insoweit könnte man kurzfristige Rationalitätsmängel für das Auftreten dieser Phänomene verantwortlich machen. Doch selbst im Falle von Spontanhandlungen lässt sich nicht bezweifeln, dass die betreffenden Bindungen in dem jeweiligen Augenblick vorliegen und als proximate Ursache verhaltenswirksam werden. Die betreffenden opferbereiten 79 Akteure handeln insbesondere keineswegs immer ausschließlich im Sinne einer Wahrung des langfristigen Eigeninteresses. Die negativen Reputationseffekte etwa, die sich ergeben könnten, wenn man keine heroischen Handlungen vollzieht, dürften eher gering, die positiven, die bei Vollzug eintreten, dürften kaum geeignet sein, eine rationale Rechtfertigung für das Eingehen großer Risiken zu bieten (das gilt selbst dann, wenn man das Argument des sogenannten Handicap-Prinzips einbezieht, wonach Tiere, die an sich für sie selbst nachteilige Risiken und Nachteile eingehen, gerade dadurch einen Vorteil in der sexuellen Selektion für sich erlangen, weil sie eine Fitness signalisieren, die von den Sexualpartnern gesucht wird und weil auch dort das Handicap in jedem Falle ein echtes ist, vgl. Zahavi, A. (1975), Zahavi, A. and A. Zahavi (1998)). Alles spricht dafür, dass gewisse innere Bindungen in diesen und ähnlichen Fällen eine Rolle spielen. Dem steht nicht entgegen, dass die betreffenden inneren Bindungen dann, wenn sich die entsprechenden Anforderungen wiederholt stellen, allmählich ihre Wirksamkeit verlieren können und vermutlich auch verlieren werden. Denn selbst dann, wenn Bindungen im Einzelfall gleichsam koste es, was es wolle, wirksam werden können, wird das wiederholte Auftreten kostenträchtigen Anforderungen regelmäßig zu einer Erosion der betreffenden Verhaltensdispositionen zu Gunsten alternativer Verhaltensweisen führen. Das Ausmaß, in dem Klatsch und Tratsch unter Menschen gepflegt werden, bildet ebenfalls ein Indiz dafür, dass echte Gebundenheit in menschlichen Populationen eine Rolle spielt. Wir würden uns keineswegs in dem Maße, in dem dies tatsächlich festzustellen ist, für die normrelevanten Verhaltensweisen anderer interessieren, wenn wir nicht davon ausgingen, dass die betreffenden Phänomene als Symptome tiefer liegender Bindungen anzusehen sind. Denn wären sie nicht als Symptome für echte Bindungen zu betrachten, dann würde es sich letztlich nicht lohnen, das betreffende Verhalten nachzuhalten. Denn Klatsch und Tratsch trügen nur zu einem kollektiven Gut bei, ohne dass der einzelne Akteur etwas davon hätte. In einer Welt etwa, in der alle Akteure stets nur an der Maximierung des langfristigen monetären Einkommens interessiert wären, würde es wenig aussagen, wenn jemand in einer bestimmten Situationen unmittelbare Chancen vergeben würde. Man wüsste, dass man am Ende auf eine Erklärung stoßen müsste, die langfristigen Opportunismus beinhaltet. Man könnte allenfalls etwas über die objektiven Determinanten der Handlungssituation lernen, jedoch nichts über die inneren Motive des Akteurs. Der Homo oeconomicus classicus, der strikt an monetärer Einkommensmaximierung interessiert ist und in jedem 80 Einzelfall rational nach Maßgabe der langfristigen Folgen entscheidet, lässt keine Typenunterscheidungen zu. Der gebundene Typus existierte in Wirklichkeit gar nicht. Demgegenüber leben wir in einer Welt, in der es offenkundig sinnvoll ist, den Versuch zu unternehmen, sich über den Typ von Interaktionspartnern zu informieren (bei Annahme rationaler Erwartungen brauchen auch die berühmten „Gang of Four Argumente“, wonach man einen Anreiz haben kann, so zu tun als sei man gebunden und sich entsprechend zu verhalten, um zur eigenen Reputationsbildung beizutragen, die Annahme einiger weniger echt gebundener Individuen; vgl. insbesondere Kreps, D., P. Milgrom, J. Roberts and R. Wilson (1982) und allgemeiner Klein, D. B. (1997) grundlegend zur Kritik Güth, W., W. Leininger and G. Stephan (1991)). Es gibt Typen, die offenkundig aufgrund innerer Bindungen handeln und solche, bei denen das nicht der Fall ist. Die gebundenen Akteure haben Eigenschaften, die sie entweder als Kooperationspartner oder aber auch als mögliche Objekte von Ausbeutungsstrategien attraktiv werden lassen. Alle nehmen deshalb ein Interesse an Informationen über das Vorliegen der relevanten Typ-Eigenschaften. Deshalb haben alle einen guten Grund, sich für Klatsch und Tratsch zu interessieren. Denn Klatsch und Tratsch informieren nicht nur über Verhaltensweisen, sondern indirekt auch darüber, auf welchen Typus innerer Bindungen und Präferenzen das betreffende Verhalten vermutlich zurückgeht. Sie sind daher große Stützen der Tugend. Im übrigen sollte man sich klarmachen, dass es für Menschen aufgrund ihrer emotionalen Natur recht schwierig ist, rational und kühl in jedem Einzelfalle zu kalkulieren. Das Vorspiegeln von Tugend ist ein so schwieriger Prozess, dass es häufig eine kostengünstigere Strategie sein wird, tugendhaft zu sein, als nur tugendhaft zu scheinen. Man muss andauernd auf seiner Hut sein, wenn man nur tugendhaft scheinen will, ohne es zu sein. Man verrät sich nur zu leicht etc. Die Tatsache, dass wir häufig zu Selbsttäuschungen neigen, ist ihrerseits auf eine etwas komplizierte Weise ein Indiz dafür, dass es schwierig ist, bestimmte Eigenschaften vorzuspiegeln, wenn man nicht wirklich glaubt, diese zu besitzen. Da der Besitz von Eigenschaften in bestimmten Situationen zu nachteilig sein kann, um deren echten Erwerb noch lohnend werden zu lassen, hat sich vermutlich die Fähigkeit entwickelt, sich selbst solange vorzutäuschen, dass man bestimmten Normen bedingungslos folgt, bis eine allzu kostenträchtige Situation auftritt. Dann wird man abweichen. Damit erhält man unter Umständen einen tragfähigen Kompromiss aus Bindung und potentieller Ausnahme-Ungebundenheit. 81 Eigentlich wissen es alle, dass bestimmte Regeln nicht um jeden Preis eingehalten werden. Wenn man beispielsweise an die Unverletzlichkeit der menschlichen Person und den überragenden Status des Individuums in einer westlichen Rechtsordnung denkt, dann wird zwar die absolute Unverletzlichkeit des Individuums proklamiert. Aber das ist letztlich nur bedingt glaubwürdig. Man darf den einzelnen nicht zum Opfer des Nutzens der Gesamtheit machen. Wenn beispielsweise zwei Leben gerettet werden können, indem man einen Einzelnen opfert, dann wird man die Verletzung der Rechte des einzelnen nicht für akzeptabel halten. Es geht nicht um die Zahlen, sondern darum, Rechte einzelner nicht zu verletzen. Wir dürfen nicht einen opfern, um die zwei zu retten. Wenn es allerdings um den Vergleich zwischen einem und 200 Individuen geht, dann fangen viele an zu zweifeln. Gehen wir von den 200 Individuen zu 2000 über, wird das Problem noch dramatischer und es wird noch unglaubwürdiger, dass wir tatsächlich die Normen der Gerechtigkeit bedingungslos einhalten werden. Dennoch bestehen wir in der Öffentlichkeit darauf, die bedingungslose Einhaltung von Normen zu fordern. Im öffentlichen Diskurs ist es selber eine Norm, diese Norm zu unterstützen. Wir haben es mit einer so genannten MetaNorm zu tun. Deren Beachtung ist wichtig. Dennoch wäre es eine gesellschaftliche Selbsttäuschung, wenn wir einen die bedingungslose Beachtung bestimmter Normen auch in allen Extremfällen tatsächlich glauben würden. Wir täuschen uns allerdings auch in einem solchen Falle nicht darüber, dass wir bestimmte tugendhafte Dispositionen besitzen, sondern nur darüber, dass wir diese bedingungslos anwenden werden. Wir glauben uns womöglich in letzter Konsequenz selbst nicht, dass wir bestimmte Dinge koste es, was es wolle, vollziehen werden. Wir glauben aber daran, dass wir auch ziemlich hohe Kosten hinnehmen werden. Die Bereitschaft dazu unterstützen wir, indem wir wenigstens öffentlich eine Moral für Heilige und Heroen proklamieren. Sieht man von den wenigen echten Heiligen und Heroen ab, so ist das Ausmaß unserer Opferbereitschaft am Ende tatsächlich nur begrenzt (zu den letzteren Urmson, J. O. (1958), Heyd, D. (1982)). In der Begrenzung zeigt sich, dass es Grenzen der Regelbindung gibt. Bis zu den Grenzen liegen aber durchaus echte Regelbindungen vor. Und selbst dann, wenn moralische Orientierungen zuverlässig nur unter relativ kleinen Kosten funktionieren würden, hätte das nicht zur Folge, dass sie deshalb von geringer Bedeutung wären. Kostenasymmetrien erlauben es nämlich, dass häufig große Kosten für 82 bestimmte Individuen nur mit kleinen Kosten für andere Individuen erzeugt werden können (vgl. dazu ausführlicher Kliemt, H. (1986)). Hierarchien in menschlichen Populationen beruhen auf ähnlichen Orientierungen und Sachverhalten. Denn jede Form der Organisation nutzt Kostenasymmetrieen aus. Lob und Tadel etwa können gewöhnlich von Handlungsbeobachtern zu niedrigen Kosten für sich selbst verteilt werden, zugleich aber für deren Empfänger von großem Gewicht sein (vgl. grundlegend dazu Coleman, J. S. (1988), ergänzend Kliemt, H. (1993)). Ein klassisches Beispiel dafür bietet die Rolle eines Richters, für den von seinem Urteilsspruch typischerweise nichts, für die Betroffenen jedoch typischerweise viel abhängt. Wir gehen davon aus, dass Richter bereit sind, kleine Kosten auf sich zu nehmen. Die meisten von uns denken aber, dass auch ansonsten unparteiische Richter unter massiven äußeren Anreizen positiver oder negativer Art (Bestechungen oder Drohungen) beeinflussbar sein könnten. Das tut aber der Tatsache, dass die Richter im Normalfall unparteiisch agieren, keinen Abbruch. Es macht einen großen Unterschied, ob man in einem Rechtssystem lebt, in dem sich die Richter – außer in Extremfällen – an den Regeln orientieren und eine innere feste Bindung an diese Regeln besitzen oder ob man unterstellt, auch Richter würden in jedem Einzelfall opportunistisch-rational nach ihrer je eigenen Interessenlage entscheiden. Das gleiche gilt für die Angestellten eines Unternehmens. Wenn diese stets jeden Einzelfall nach opportunistischen Kriterien entschieden und niemals nach Regeln vorgingen, dann wäre die Stabilität der Organisation bzw. des Unternehmens kaum erklärlich. Ohne die Existenz echter Bindungen auf individueller Ebene kann man die Existenz geordneter Regelsysteme auf kollektiver Ebene einfach nicht angemessen erklären (politisch hat das bereits Hume verstanden und später Hart ausgearbeitet vgl. Hume, D. (1985), insbes. iv, Hart, H. L. A. (1961), vgl. auch Barry, N. (1981), Kliemt, H. (1985)). Die Existenz und Wirkungsweise von Organisationen und Institutionen kann man verstehen, wenn man im echten Sinne regelbefolgendes Verhalten auf Seiten der Individuen zulässt. Lässt man es aber zu, dann hat man sowohl das klassische Modell des Homo oeconomicus hinter sich gelassen, als auch die Möglichkeit im weiteren Sinne moralischer Bindungen anerkannt. Die Konsequenzen von alledem scheinen recht klar zu sein: Wenn wir von der Existenz von Regelbindungen in unseren proximaten Verhaltenserklärungen ausgehen, haben wir zwar das Standardmodell der ökonomischen Theorie aufgegeben. Echte Tugenden und moralische Orientierungen spielen eine 83 systematische Rolle in unserem Weltbild. Interessenorientiertes Verhalten, dass in jedem Einzelfall eine opportunistisch rationale, die eigene Interessenbefriedigung maximierende Alternative wählt, ist nicht alles, wenn wir uns die Welt und ihre Abläufe erklären wollen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht eine interessenorientierte Perspektive einnehmen könnten. Die Frage, ob nicht die Regelbindungen auf einer ultimaten Ebene damit erklärt werden können, dass deren Vorhandensein dem Träger der Bindungen nützt, ist eine höchst sinnvolle, wenn nicht sogar die wichtigste Frage einer moralpsychologisch informierten Moraltheorie (sie beantwortet zugleich die Platonische Herausforderung, eines Rings des Gyges, der uns unter Wahrung des äußeren Scheines der Tugendhaftigkeit erlauben würde, beliebige Schandtaten im verborgenen zu begehen). In den vorangehenden Erwägungen ging auch darum, den Nachweis zu führen, dass die Bindung an bestimmte Regeln und das Entwickeln der entsprechenden Tugenden im Interesse des Trägers dieser Bindungen und Tugenden sein kann. Wir haben eine ultimate Erklärung dafür gegeben, dass das echte Vorliegen von Bindungen und Tugenden selbst dann für den Träger nützlich sein kann, wenn er nicht unter Rationalitätsmängeln und emotionalen Versuchungen leidet. Die echte Bindung kann sich dann bewähren, wenn sie erkennbar ist. Ob eine solche Erkennbarkeit tatsächlich vorliegt, kann man angesichts der vielfachen Fähigkeiten zur Verstellung bezweifeln. Demgegenüber wurden jedoch einige Plausibilitätsgründe dafür angeführt, dass das Vorliegen echter Tugend in persönlichen inter-individuellen Beziehungen vermutlich mit so großer Verlässlichkeit festgestellt werden kann, dass von deren Vorhandensein ausgegangen werden darf. Insbesondere die vielen Bemühungen darum, das Vorliegen echter Bindungen festzustellen, deuten daraufhin, dass sich der Aufwand für jene, die diese Anstrengungen unternehmen, lohnen muss. Umgekehrt bietet dies aber auch ein Indiz dafür, dass es sich lohnen wird, die betreffenden echten Bindungen zu entwickeln. Wie bei allen Gleichgewichten stützen sich die beiden Strategien wechselseitig aufgrund der Interaktionsbedingungen. Soweit Bindungen zum Profit beitragen, was sie nach den vorauf gehenden Überlegungen vermutlich in hohem Maße tun, gibt es gute ökonomische Gründe dafür, sie einzugehen. Es frag sich allerdings, in welchem Umfang auf Konkurrenzmärkten diese Logik wirkt. Die Frage stellt sich, ob nicht der Markt, indem er das Streben nach Profit im Konkurrenzkampf verlangt, die Tugend zum Verschwinden bringen kann. Lohnt sie sich am Ende vielleicht doch nicht? 84 2. Profiterzielung als moralische Aufgabe? Die meisten heutigen Vertreter der Wirtschaftsethik setzen sich mit einer Position auseinander, die gern mit Milton Friedmans Namen verknüpft wird. Typischerweise konzentrieren sie sich darauf herauszustellen, dass Friedman gefordert hat, dass sich Unternehmen am so genannten „shareholder value“ zu orientieren haben, um dann diese Auffassung umgehend als „zu eng“ zurückzuweisen. Die übliche Sicht auf seinen Beitrag und die dahinter stehenden moralischen und empirischen Überzeugungen wird jedoch Friedman nicht gerecht. Zwar ist es zutreffend, dass Friedman die Unternehmensleitung als einen (korporativen) Agenten 8 der Eigentümer ansieht. Die Besitzer des Unternehmens haben das legitime Recht, die Unternehmensleitung dafür verantwortlich zu machen, dass die Ziele der Eigentümer des Unternehmens verfolgt werden. Aber es wäre verfehlt, Friedman deshalb zu unterstellen, er würde den Wert moralischer Bindungen für die Interessenwahrung abstreiten. Wenn seine Kritiker Friedman derartiges unterstellen, dann deshalb, weil sie im Gegensatz zu Milton Friedman die zuvor geschilderten Funktionen und Möglichkeiten moralischer Bindungen im Rahmen der langfristigen Interessenwahrung nicht richtig einschätzen. Moral kann profit-wahrend sein und soweit sie es ist, wird sie im Rahmen einer Friedmanschen Sicht gefordert. Es trifft zu, dass Friedman sich am klassischen Eigentumskonzept orientiert. Solange die Eigentümer im wesentlichen an Profiten interessiert sind, haben sie das Recht, die jeweilige Unternehmensleitung auf die Verfolgung des Profitzieles zu verpflichten. Falls jedoch die Besitzer des Unternehmens mehrheitlich beziehungsweise nach der jeweils satzungsgemäßen Superioritätsmehrheit der Auffassung sein sollten, dass beispielsweise Marktanteile oder aber irgendwelche anderen aus Sicht der Eigentümer dem Profit übergeordneten Ziele verfolgt werden sollten, so wären diese Zielsetzungen für die Unternehmensleitung verbindliche externe Vorgaben, denen sie ihre eigenen Zielsetzungen zu unterstellen hätte. Da die Eigentümer die Unternehmensleitung prinzipiell auf nahezu beliebige rechtskonforme Zielfunktionen als Teil eines Zielvektors festlegen könnten, stellt sich unmittelbar die Frage, ob man gegenüber den Eignern als moralischen Subjekten Argumente dafür vorbringen könnte, eine andere Zielfunktion als die 8 Hier steuert ein korporativer Akteur als Gremium einen größeren korporativen Akteur. 85 der Profitmaximierung zu wählen. Die meisten, die sich mit Wirtschafts- und Unternehmensethik befassen, scheinen das für eine Frage zu halten, die man (z.B. als ethischer im Gegensatz zu einem ökonomischen Berater der Unternehmensleitung) positiv zu beantworten hat. Aus Sicht fast aller Unternehmensethiker gibt es gute Gründe dafür, andere Ziele als die Mehrung des Profits zu verfolgen. Die umsichtigeren unter ihnen werden tendenziell anerkennen, dass die Erzielung von Profiten eine notwendige Bedingung für die Verfolgung anderer Ziele ist. Sie wissen, dass das Unternehmen zunächst einmal dauerhaft überleben muss, damit es die anderen ihm eventuell zu stellenden Aufgaben erfüllen kann. Doch werden sie zugleich betonen, dass es dem Profitstreben übergeordnete höhere Ziele auch des Wirtschaftens gibt. Es lassen sich ungeachtet der Überzeugungen der meisten Unternehmensethiker allerdings einige Argumente dafür vorbringen, dass es aus moralischen Gründen wünschenswert und nicht nur entschuldbar ist, sich an der Zielsetzung des Profits zu orientieren. Das ist nicht nur deshalb so, weil die Unternehmensleitung gegenüber den Eigentümern (meist Aktionären) die eine Orientierung am Shareholder value wünschen, eine Verantwortung hat. Auch die Aktionäre sollten möglicherweise nicht aus Eigeninteresse allein, sondern aus übergeordneten moralischen Gründen ein solches Verhalten von ihrer Unternehmensleitung verlangen. Denn das zuvor angeführte Argument, dass in komplexen Marktwirtschaften niemand wissen kann, welche Aktionen das Gemeinwohl am meisten fördern, gilt auch hier. Ohne die Marktsignale wüssten die Akteure in einer dezentral gelenkten Wirtschaft nicht, wie sie ihre Ressourcen einsetzen sollen. Die Profitsignale sagen ihnen, was sie tun sollen. Wer Profite maximiert, orientiert sich dadurch an der Bewertung der je eigenen Leistung durch andere. Es wird über der egoistischen Anreizseite des Marktes immer vergessen, dass der Markt und die Bereitschaft, den Marktsignalen zu folgen, auch diese andere Seite hat. Es sind nicht die eigenen Werte und Ziele, sondern die Werte und Ziele anderer vermittelt durch die Regeln des Marktes, die das am Profit orientierte Verhalten steuern. Unter freivertraglichen Marktbedingungen hat man kein Anrecht darauf, dass die je eigenen Bedürfnisse von anderen Marktteilnehmern gestillt werden. Man muss dazu erst einmal die Bedürfnisse der anderen befriedigen. Nur in dem Maße, in dem man sich deren Wertungen unterordnet, erwirbt man ein Anrecht darauf, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Nut soweit, wie man zur 86 Bedürfnisbefriedigung anderer beiträgt, Bedürfnisbefriedigung zu unterstützen. sind diese bereit, die eigene Die Unterwerfung unter die Bewertung durch andere empfinden die meisten Menschen als unangenehm. Marktgegner erklären zwar, dass sie gegen den Markt sind, weil er den Egoismus prämiiert. Subjektiv ist das in den meisten Fällen auch ehrlich. Dass man sich den Bewertungen durch andere zu unterwerfen hat, ist aber gewiss ein ebenso starkes, wenn auch häufig nur unbewusst wirkendes Motiv der Marktfeindschaft. Wer unterwirft sich schon gern der Bewertung durch andere? Denkt man an die heutige Wertschätzung von Evaluationen und ähnlichem, dann sollte man die Evaluation durch Märkte noch höher schätzen. Die Marktregeln und Märkte im allgemeinen haben augenscheinlich wesentliche moralische Qualitäten. Kein einzelner Marktteilnehmer kann den anderen das Geschehen diktieren (jedenfalls solange es keine monopolistischen Strukturen gibt). Selbst Märkte mit Unvollkommenheiten führen, (wie z. B. die Experimente von Vernon Smith zeigen; vgl. Smith, V. L. (1962), Smith, V. L. (2000), Smith, V. L. (2003)) zu einer Maximierung der Summe aus Konsumenten- und Produzentenrenten (Wohlfahrt). Das Gemeinwohl wird insoweit durch Marktkonkurrenz und die Unterwerfung unter die anonyme, nicht-persönliche Bewertung des Marktes gefördert. Damit, dass man die Effizienz der Marktallokation und die gesamtwohlfahrtssteigernde Wirkung von Märkten auch in Gegenwart von MarktUnvollkommenheiten betont, hat man den Markt keineswegs endgültig moralisch gerechtfertigt. Man hat aber ein starkes Argument für den Markt vorgebracht. Denn dann, wenn man davon ausgeht, dass ein höheres Maß an Bedürfnisbefriedigung generell einem niedrigeren Maß vorzuziehen ist, dann gibt es einen guten Grund dafür, den zu verteilenden Güterkorb durch effiziente Allokation der Ressourcen möglichst groß werden zu lassen. Die moralische Grundnorm der Wohltätigkeit verlangt -- ceteris paribus --, dass man ein Mehr an Gütern einem Weniger an Gütern vorzieht. Das Argument, dass die Wahl von Profiten als Signalen zu einer den alternativen Allokationsmechanismen überlegenen Steuerung der RessourcenAllokation führen, ist im übrigen weitgehend unabhängig vom Egoismus oder Altruismus der jeweiligen Verhaltensmotivation. Zwar wird im allgemeinen das Profitmotiv nahezu analytisch mit einem Egoismus in der Verfolgung des Profizieles identifiziert. Doch man kann Profite als Steuerungsinstrumente benutzen, ohne auf die eigeninteressierte Aneignung der Profite abzustellen. 87 Wie stark das Argument für die Profitorientierung in Allokationsentscheidungen ist, sieht man gerade dann, wenn man sie von einer Orientierung am eigenen Interesse trennt (vgl. zu diesem Vorschlag Carens, J. (1981)). Wenn Menschen sich beispielsweise an der zentralen sozialistischen Maxime des „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ richten wollen, dann sollten sie auf jeden Fall auch ein Interesse daran haben, dass die Bedürfnisse möglichst umfassend befriedigt werden können.9 Damit haben sie ein Interesse daran, den Wert des Warenkorbes möglichst zu steigern. Der Nutzwert des Warenkorbes wird aber nur dann maximal werden, wenn sich alle in jedem Augenblick an den Effizienzsignalen zur Koordination des Wirtschaftens orientieren. Der Markt liefert diese Signale. Nehmen wir für den Augenblick einmal zur Vereinfachung des weiteren Argumentes an, dass alle Menschen gleiche grundlegende Bedürfnisse haben. Nehmen wir auch an, dass bei gegebenem Stand der technischen Entwicklung nicht alle Bedürfnisse bis zur Sättigung befriedigt werden können. Wenn man davon ausgeht, dass alle ein gleiches Anrecht auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse haben sollen, dass ihnen also nach ihren Bedürfnissen gegeben werden soll, während sie alle nach ihren Fähigkeiten und damit so viel und so gut sie können zur Bedürfnisbefriedigung aller beitragen wollen, kann man ein einfaches Marktmodell zur optimalen Umsetzung der sozialistischen Maxime vorschlagen: Jedes Wirtschaftssubjekt müsste sich im Rahmen seiner Fähigkeiten anstrengen, ein möglichst hohes Einkommen beziehungsweise möglichst hohe Profite zu erzielen. Dadurch wäre gewährleistet, dass alle zu allen Zeiten die Ressourcen ihren produktivsten Verwendungen zur Erstellung des festen Warenkorbes, der jedem nach seinen Bedürfnissen zugeteilt werden soll, zuführen. Alle würden ein Zuteilungseinkommen unabhängig von ihrem Leistungsbeitrag beziehen. Das nur nach Bedürfnissen bestimmte Einkommen, könnte ihnen keine Informationen mehr darüber bieten, wie hoch die anderen ihre Leistungen bewerten. Damit die Marktsignale zur effizienten Koordination des Wirtschaftens weiter funktionieren, müssen weiterhin normale Profite und Löhne etc. gezahlt werden. Es kann jedoch dafür gesorgt werden, dass das gesamte Einkommen jeweils an die Allgemeinheit abgeführt wird. Diese konfiskatorische Maßnahme wird keine negativen Wirkungen auf die Effizienz des Wirtschaftens haben, wenn alle Beteiligten aus moralischen Gründen wie Profitmaximierer agieren. Die Steuerungswirkung über Anreize entfällt. Sie 9 John Stuart Mills recht umfassende Diskussion der Maxime in seiner „Political Economy“, die auch die Quellen nennt, aus denen sich Marx und Engels nach ihren Bedürfnissen bedient haben, ist zu wenig bekannt. 88 wird durch die moralische Verpflichtung, sich wie ein Profitmaximierer zu verhalten, ersetzt. An die Stelle sogenannter extrinsischer Motivation durch äußere Anreize tritt die intrinsische Motivation durch eigene innere Antriebe. Die Informationswirkung der Marktsignale bleibt über Preise und Profite erhalten, doch am Ende erhält jeder das gleiche. Das vorangehende Argument verliert seine Gültigkeit nicht, wenn die Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Diese müssten festgestellt und es müsste dann festgelegt werden, in welchem Ausmaß sie jeweils zur Befriedigung anstehen. Die sozialistische Maxime des „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ würde dann nicht nur auf der Beitragsseite, auf der unterschiedliche Fähigkeiten zum Zuge kämen, sondern auch auf der Befriedigungsseite zu unterschiedlichen – äußerlich ungleichen – Behandlungsweisen führen. Diejenigen, die beispielsweise aufgrund von chronischen Krankheiten dauerhaft gesteigerte Bedürfnisse aufweisen würden, könnten in diesem Rahmen ohne weiteres zusätzlich versorgt werden. Eine schematische Gleichheit der Bedürfnisbefriedigung ist keineswegs Voraussetzung dafür, dass das Schema funktioniert. Man muss nur den Vektor der zu befriedigenden Bedürfnisse kennen, um die Mechanismen des Marktes wirksam werden zu lassen. Nach dem vorangehenden Argument müsste sich eine Gesellschaft aufrechter Sozialisten des Marktes bedienen. Fraglich ist allerdings, inwieweit das vorangehende Argument Geltung besitzen kann, wenn Menschen nicht ausschließlich moralisch motiviert sind. Diejenigen, die nur die Förderung des Gemeinwohls in Sinn haben und deshalb ausschließlich Profite maximieren, benötigen keine differentiellen Anreize, um sich für die richtigen Dinge im richtigen Ausmaß anzustrengen. Sie handeln in der betreffenden Weise ohnehin aus intrinsischer Motivation. Gibt man jedoch diese Prämisse auf und unterstellt, dass Individuen auch wesentlich davon motiviert werden, dass sie sich über eine Aneignung der Profite ein höheres Ausmaß an Bedürfnisbefriedigung ermöglichen können, dann könnte sich die Situation verändern. Wenn die Menschen ausschließlich aus dem moralischen Motiv heraus handeln, das Gemeinwohl so stark wie möglich zu fördern, dann ist es moralisch legitim, sie ausschließlich auf „uneigennützige Profitmaximierung“ festzulegen. Wenn sie jedoch nicht völlig uneigennützig handeln, sondern sich die Profite privat aneignen wollen, dann könnte dies dazu führen, dass man auch die Verfolgung des Profitmotives anders bewertet. 89 Obwohl zweifelsohne einiges für eine solche Umbewertung sprechen könnte, so sollte man nicht übersehen, dass ein zentrales moralisches Argument für den Markt bestehen bleibt. Er fordert eine Bewertung durch Dritte beziehungsweise durch deren Bedürfnis-Befriedigungswünsche und verlangt uns damit ab, die Werte anderer zu berücksichtigen und zu respektieren. Die Maximierung des Profils erfordert auch dann, wenn man sich den Profit aneignen und ihn nicht mehr an die Allgemeinheit abführen will, dass man sich nach den anderen, den Nachfragern der eigenen Leistungen richtet. Deren Wünsche sind ausschlaggebend für die von ihnen gezeigte Zahlungsbereitschaft. Nicht die Wünsche des Anbieters, sondern die des Nachfragers von Leistungen diktieren das Geschehen. Das Diktat der Nachfrager von Leistungen wird von denjenigen, die Unternehmensleitungen die Verfolgung von moralischen Zielen nahe legen, nicht – jedenfalls nicht ohne Einschränkungen – akzeptiert. Sie verlangen, dass die Firma nicht nur aufgrund dieser Signale agiert, sondern als Anbieter und auch als Nachfrager von Leistungen bestimmte moralische Orientierungen zugrunde legt. Dadurch werden womöglich wichtige moralische Anliegen gefördert. Allerdings darf man darüber nicht übersehen, dass man sich gegenüber den einzigen verlässlichen Signalen dafür, was die Individuen wirklich wollen, den Marktsignalen taub stellen muss. Auch das kann man vertreten, aber muss sich bewusst sein, dass man zur ethischen Begründung dieses Vorgehens, Argumente etwa von der Form der marxistischen Entfremdungslehre benötigt. Mit solchen Argumenten ist es nämlich ethisch plausibel möglich, die von den Individuen auf den Märkten selbst offenbarten Wünsche und Neigungen nicht zu respektieren, sondern beispielsweise als „falsche Bedürfnisse“ ethisch zu diskreditieren. Die moralischen Schwierigkeiten, die sich aufgrund der Verfolgung ethischer Orientierungen ergeben können, reichen jedoch noch weiter. Denkt man etwa an Firmen, deren Wirtschaften unter das Ziel der Nachhaltigkeit gestellt wird, weil die Nachfrager von Produkten der Firma dies wünschen, dann ist das zunächst völlig marktkonform. Es wird aber Auswirkungen nicht nur auf das Verhalten der Firmen als Anbieter, sondern auch auf das Verhalten der Firmen als Nachfrager von Gütern haben. In der Regel wird unterstellt, dass diese Auswirkungen ebenfalls „moralisch“ positiv sein werden, wenn die Konsumenten aus moralisch positiv zu wertenden Motiven heraus zwischen Anbietern diskriminierten. Dass die weiteren Folgen der moralisch motivierten Diskriminierung selbst moralisch wünschenswert sein werden, ist allerdings 90 keineswegs selbstverständlich, mögen die Motive der Konsumenten auch noch so hochherzig sein. Die Nachfrage etwa nach „politisch korrektem“ Kaffee hat gewiss dazu geführt, dass bestimmte Kaffeefirmen ihren Lieferanten Mindestabnahmepreise garantieren, was zunächst einmal für die Lieferanten der betreffenden Kaffeemengen einschränkungslos vorteilhaft zu sein scheint. Bei den Anbietern, denen entsprechende Abnahmequoten, Abnahmepreise bzw. eine Kombination aus beidem garantiert werden, kommt es zu einer Wohlfahrtsteigerung. Da diese Anbieter jedoch mit anderen Anbietern von Kaffee in Konkurrenz stehen, werden diese Konkurrenten letztlich geschädigt. Diese können nicht mehr um die betreffende garantierte Nachfrage konkurrieren. Nur eine vollkommene Monopolisierung des Kaffeemarktes insgesamt könnte hier ausgleichend wirken und allen einen „gerechten Anteil“ garantieren. Eine solche Monopolisierung würde zu höheren Kaffeepreisen beim Endverbraucher führen. Ob sie allerdings nachhaltig zu einer Erhöhung der Erzeugerpreise führen könnte, scheint überaus zweifelhaft zu sein. Entweder würde das Monopol als Nachfragemonopol die Preise sogar drücken oder aber es müsste bestimmter Abnahmequoten für bestimmte Anbieter definieren, ohne diesen zu erlauben, die Ausbringungsmengen über die Garantienmengen hinaus zu erhöhen und zu verkaufen. Wohin solche Strategien führen, kann man ausgiebig am Beispiel des europäischen Agrarmarktes mit allen seinen fragwürdigen Wirkungen studieren. Auch hier waren die Motive häufig hochherzig, auch hier sind die Wirkungen allerdings alles andere als dazu angetan, ein ähnliches System auf breiter Front zu empfehlen. Insbesondere die Schädigung der Interessen von Agraranbietern aus der Dritten-Welt erscheint als eine von der europäischen Agrarpolitik verursachte moralische Scheußlichkeit. In der vorangehenden Argumentationsskizze fehlt eine genaue Ausarbeitung solcher Aspekte wie der Frage nach einer angemessenen Berücksichtigung moralischer Vorstellungen von Aktionären und manches andere von wirtschaftsethischer Relevanz. Man darf die Skizze schon deshalb nicht überbewerten. Sie dient allein dazu, bestimmte komplexe Zusammenhänge exemplarisch zu verdeutlichten. Es geht um begriffliche beziehungsweise konzeptuelle Probleme und nicht um Fragen direkter praktischer Umsetzung. Dennoch dürften die vorangehenden Überlegungen ausreichen, um aufzuzeigen, dass die Orientierung an Profiten und effizienter Allokation gerade auch aus moralischen Gründen nicht ohne weiteres aufgegeben werden kann. Man bezahlt einen moralischen Preis für eine zu naive Verfolgung moralischer Motive. Der 91 gute Wille und die Auffassung, auf der moralisch sicheren Seite zu sein, entschuldigt nicht alles und insbesondere nicht die Vernachlässigung nüchterner ökonomisch informierter Analyse. Die Motive mögen zwar im Sinne einer alltäglichen Vorstellung vom moralisch Rechten einleuchtend sein, doch es ist überhaupt nicht klar, ob sie auch bei einer genaueren wirtschaftsethischen Betrachtung als moralisch gerechtfertigt erscheinen würden. Ein Überlegungsgleichgewicht in solchen Fragen hätte allen diesen Einsichten Rechnung zu tragen. Nachdem wir zunächst einige Fälle betrachtet haben, um unsere Intuitionen herauszukitzeln und im nächsten Schritt untersucht haben, in welchem Ausmaß moralische Steuerung in der Realität möglich und präsent ist, wenden wir uns nun Theorien zu, die eine solche moralische Steuerung menschlichen Verhaltens gestalten wollen. Die nächsten Kapitel werden sich mit ethischen Theorien als zusätzlichen Aspekten unserer Suche nach einem Überlegungsgleichgewicht befassen. Sie gehen über die vorangehenden pragmatischen Argumente der praktischen (oder angewandten) Ethik hinaus. Die allgemeinen ethischen Theorien betreffen weit stärker die Festlegung des Ordnungsrahmens als die Bestimmung einzelner Handlungen, die in diesem Rahmen vollzogen werden sollen. Dennoch können sie vermutlich indirekt auch Auswirkungen darauf entfalten, was wir im unmittelbaren Vollzug unserer wirtschaftlichen und unternehmensbezogenen Praxis für richtig halten. Ethische Theorien können keineswegs den Anspruch auf so genanntes Orientierungswissen einlösen, doch wenn wir um sie wissen, können wir uns in der Praxis manchmal leichter zurechtfinden. Wir können unser eigenes moralisches Urteil nicht zu Gunsten der ethischen Theorie suspendieren. Bedürfen keineswegs einfach nachbeten, was irgendwelche ethischen Theoretiker uns vorschlagen. Eine direkte grade zu Ingenieur wissenschaftliche Anwendungen der Ethik scheidet zumal im wirtschaftlichen Bereich aus. Dennoch kann es uns unter Umständen bei der eigenen Orientierung in normativen Fragen helfen, grundsätzliche ethische Theorien zu kennen. Einem solchen ersten kennen lernen dienen die nachfolgenden Skizzen, wobei schon um der besseren Lesbarkeit und Kürze willen, recht kräftig Akzente gesetzt und Vereinfachungen vorgenommen wurden. Wie der Student vor dem Examen Mut zur Lücke zeigen muss, so wurde auch hier viel Mut bewiesen. Trotzdem hat sich hoffentlich ein einigermaßen ausgewogenes kritisches Bild ergeben. Der Leser wird ausdrücklich aufgefordert, gegebenenfalls die Originalliteratur zu konsultieren, um auch die vielfach ethik-kritische Sicht der nachfolgenden Zeilen kritisch zu beleuchten. 92 IV. Allgemeine ethische Hintergründe und Methoden der Wirtschaftsethik Die nachfolgenden Überlegungen zur ethischen Theorie, sind für diejenigen, die sich bereits mit Ethik befasst haben, teilweise wiederholenden Charakters. Die Versatzstücke der aktuellen Ethik-Diskussion, die im weiteren präsentiert werden, sind jedoch spezifisch darauf zugeschnitten, in eine eigenständige Suche nach wirtschaftsethischen weiten Überlegungsgleichgewichten (WÜG) einfließen zu können. Dabei wird auf eine enge Verbindung zur Theorie rationaler Entscheidungen und zur Sozialphilosophie Wert gelegt. 1. Ethik und Entscheidung Der Mensch nimmt seine Umwelt nicht nur als Beobachter wahr. Er handelt auch, um sie zu verändern. Wie er sich zur Umwelt in seinem Handeln stellt, ergibt sich daraus, was er über sie weiß, und daraus, was er zu erreichen wünscht. Überzeugungen und Wünschen, Kenntnis darüber, wie die Weltabläufe sein werden und Wünsche, wie sie sein sollen, dies sind die beiden Grundfaktoren, die die Wahl von Handlungen bestimmen. Kurz: Nach dem Grundmodell rationalen Handelns entscheiden wir uns für eine Handlungsalternative im Lichte unserer Überzeugungen darüber, wie die Welt beschaffen ist und unserer Wünsche darüber, wie sie beschaffen sein sollte. Mit Aristoteles zu sprechen, können wir feststellen: Es gibt „zwei Teile der Seele, den vernunftbegabten und den vernunftlosen. Nun soll der vernunftbegabte auf dieselbe Weise eingeteilt werden. Und zwar setzen wir voraus, dass es zwei vernunftbegabte Teile gebe, einen, mit dem wir jene Wesen betrachten, deren Ursprünge nicht so oder anders sein können, und einen anderen, mit dem wir jene betrachten, die sich so oder anders verhalten können. … Der eine Teil heiße nun der forschende, der andere der berechnende. Überlegen und Berechnen ist nämlich dasselbe, und keiner überlegt sich Dinge, die sich nicht anders verhalten können, als sie tun.“ (Nikomachische Ethik, Sechstes Buch, 1139 a 3- a13, Artemis-Ausgabe, O.Gigon) Das „Berechnende ist“ für Aristoteles „Teil des Vernunftbegabten“ (Nikomachische Ethik, Sechstes Buch, 1139 a14, Artemis-Ausgabe, O. 93 Gigon). Das Vermögen zur „Berechnung“ setzen wir ein, um strategisch unsere Ziele zu verfolgen. Diese Vernunftbegabung versetzt uns dazu in die Lage, Kenntnisse und Wünsche mit Bezug auf das, was anders sein könnte, wenn wir uns anders verhielten, miteinander zu verknüpfen. Wir „berechnen“ die voraussichtlichen Folgen unseres Handelns und bewerten sie im Lichte unserer Wünsche. So können wir als Menschen unser praktisches Verhalten „vernünftig“ steuern. Steht am Beginn der theoretischen Philosophie die Frage nach der Natur des Erkenntnisapparates, so steht am Beginn der praktischen Philosophie die Frage nach der Natur des Menschen als wollendes, fühlendes und wünschendes Wesen. Aufbauend auf einer Konzeption von der menschlichen Natur oder doch zumindest unter Berücksichtigung einer solchen Konzeption hat es die praktische Philosophie mit „normativen“ Fragen des richtigen oder rechten Handelns zu tun. Die Ethik ist ein Teil der praktischen Philosophie. 1.1. Entscheidungsverantwortung Die Helden Homers haben für ihr Tun einzustehen, selbst wenn ihnen die Götter in die Quere kommen und ihre Handlungsintentionen wirkungslos werden lassen. "Die homerischen moralischen Prädikate werden nicht wie moralische Prädikate in unserer Gesellschaft nur dann angewandt, wenn der Handelnde auch anders hätte handeln können" (MacIntyre, A. C. (1984), 15). Für sie scheint eine Art reiner „Erfolgshaftung“ charakteristisch zu sein. Wer einen anderen schädigt, wird dafür verantwortlich gemacht, ob er nun anders handeln konnte oder nicht. Er haftet, wie die Juristen sagen, für den Erfolg. Wenn etwa Person A die Person B tötet, dann ist es bei reiner Erfolgshaftung unerheblich, ob dies vorsätzlich oder etwa durch einen unabwendbaren Irrtum ohne alle Absicht geschah. Verantwortet werden muss die Tötung als solche. A kann sich nicht entschuldigen mit dem Verweis, den Handlungserfolg (die Handlungsfolgen) nicht gewollt zu haben. Als Bürger der vor-klassischen Welt Homers ist man tugendhaft, wenn man de facto die Eigenschaften besitzt, die gesellschaftlich erwartet werden, gleichgültig, ob man diese Eigenschaften aufgrund eigener freier Handlungen und voraufgehender Entscheidungen erwarb oder nicht. Erst die klassische Philosophie der Griechen (etwa um die Zeit Platons) gewinnt einen unabhängigen, kritischen Standpunkt zu gesellschaftlichen Normen und gesellschaftlich anerkannten Tugenden. Man setzt überdies Tugend nicht mehr 94 mit der de facto Funktionstüchtigkeit des Individuums gleich. Es geht nicht mehr nur darum, die Eigenschaften aufzuweisen, die gesellschaftlich in der Ausfüllung gesellschaftlicher Rollen erwartet werden. Dem modernen Menschen des westlichen Kulturkreises erscheint es in Fortsetzung der antiken Entwicklung nahezu als ein Gemeinplatz, dass man nur dann von ethisch relevantem Handeln sprechen darf, wenn der Handelnde Handlungsalternativen besitzt. Handlungsalternativen zu besitzen, setzt voraus, dass der Handelnde mit einer mindestens zwei-elementigen Alternativenmenge konfrontiert ist. Denn wo es keine Alternativen gibt, erscheinen ethische oder moralische Überlegungen von vornherein als gegenstandslos. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so werden wir kaum solche ethisch zentralen Konzepte wie etwa das der "Verantwortung" in Anwendung bringen wollen. Wenn man keine Wahl hat, dann kann man auch nichts herbeiführen und damit auch nicht verantwortlich sein. Für die Zuschreibung einer moralischen Verantwortung für x scheint es erforderlich, dass man auch hätte anders handeln können, so dass nicht-x eingetreten wäre. Es ist aber nicht gesagt, dass unter den Handlungsoptionen auch solche waren, die eine Zuschreibung von Verantwortung im relevanten Sinne erlauben. Man muss sich beispielsweise fragen, ob ein einzelner Wähler mit seiner Stimme mit dafür verantwortlich sein kann, dass eine bestimmte Partei B gewählt wird. Man kann jedenfalls nicht sagen, der Wähler hätte dafür sorgen sollen, dass anstatt Partei B lieber Partei A ans Ruder gekommen wäre. Er kann allenfalls dafür verantwortlich zeichnen, seine Stimme für B abgegeben zu haben, nicht dafür, dass B regiert. Es scheint allgemein so zu sein, dass wir nur das sinnvoll als gesolltes Handeln verlangen können, was auch gekonnt ist und dass wir nur dann jemanden für Handlungsfolgen verantwortlich machen dürfen, wenn er in seinem Tun zumindest entweder notwendig oder hinreichend für das Eintreten der Folgen war. Potentiell hinreichend für das Eintreten des Wahlsieges von Partei A ist, der Wähler j dann, wenn z.B. von den beiden einzigen Parteien A, B unter der einfachen Mehrheitsregel sowohl A als auch B genau N Stimmen haben. Der einzelne Wähler kann dann die Wahl entscheiden. Indem er seine Stimme B gibt, kommt es zum Sieg von B. Wenn noch andere Wähler bislang nicht abgestimmt haben, ist seine Stimmabgabe allerdings nicht notwendig für den Sieg einer der Parteien. Ein anderer könnten das ebenso bewirken. Wieviel Teilverantwortung jemandem zukommt, wenn nur eine bestimmte geringe Wahrscheinlichkeit 95 dafür vorliegt, entweder eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung zu setzen, ist eine überaus interessante, aber auch schwierige Frage. Für einfachere Fälle scheint ein sogenanntes Brückenprinzip zu gelten (vgl. dazu auch Albert, H. (1968)): Sollen setzt Können voraus (oder kurz, „Sollen impliziert Können“). Das vorangehende sagt uns zwar etwas darüber, wann wir für unser Tun sinnvollerweise verantwortlich gemacht werden können. Es hilft uns aber relativ wenig hinsichtlich der Beantwortung der Frage, was wir tun sollen, wenn wir eine aus mehreren Alternativen zu wählen vermögen. Bereits die philosophische Klassik stellt die ethische Theoriebildung in solchen Fällen in den Dienst kluger Entscheidungsvorbereitung. Die moderne philosophische Diskussion hat sich dazu zunehmend der Methoden der „Entscheidungslogik“ bedient. Bevor wir uns einer entsprechenden Präzisierung des Modells rationalen (moralischen) Entscheidens zuwenden, ist es nützlich, sich nochmals der Kerncharakteristika des Entscheidungskonzeptes zu vergewissern. 1.2. Kerncharakteristika des Begriffes zu verantwortender Entscheidungen Verantwortung setzt Freiheit voraus. Allerdings ist nicht klar, welche Art der Freiheit. Ob wir Menschen in dem fundamentalen Sinne frei sind, dass wir auch anders entscheiden könnten, als wir entscheiden, darf hier dahingestellt bleiben (nach wie vor besonders hilfreich hierzu Dennett, D. C. (1986)). Es könnte ja durchaus sein, dass wir am Nachmittag für die CDU stimmen werden, wenn wir am Morgen Bohnen gegessen haben und für die SPD, wenn es Erbsen waren. Wer das wüsste, könnte uns am Morgen das eine oder das andere geben, um uns zu einem entsprechenden Abstimmungsverhalten am Nachmittag zu bestimmen. In einem gewissen Sinne wäre unsere Wahl damit „entschieden“. Dennoch könnten wir immer noch glauben, wir müssten uns an der Urne entscheiden. Dafür, dass wir uns sinnvoll selbst einer Entscheidung gegenüber sehen, reicht es aus, dass wir äußerlich anders handeln könnten, den Zettel nämlich statt mit dem Kreuz bei der CDU mit dem Kreuz bei der SPD zu verzieren, wenn wir uns anders entscheiden würden. Wenn immer das der Fall ist und wir bewusst wahrnehmen, dass wir auch anders handeln könnten, wenn wir uns anders entschieden, stehen wir subjektiv vor einer zu verantwortenden Entscheidung. Das vorausgesetzte Können ist hier ein Handeln-Können und nicht ein Entscheiden-Können (wie wir handeln, mag durch die morgendlichen Bohnen ungeachtet unseres subjektiven Gefühls, anders zu können, „entschieden“ sein). 96 Ein „verantwortliches Individuum“ handelt in einer solchen Situation nach Vorstellungen davon, was es tun soll und was es durch sein Tun voraussichtlich bewirken wird. Es handelt damit nach einem „mentalen Modell“ der Entscheidungssituation, das den Akteur über die Alternativen und deren voraussichtliche Folgen informiert. Damit eine Entscheidung im eigentlichen Sinne vorliegt, ist es notwendig, dass dieses Modell der Entscheidungssituation (und auch die Situation, auf die das Modell sich bezieht) zumindest einige Bedingungen erfüllt. Drei seien hier hervorgehoben: a. Die Alternativenmenge A des Handelnden muss mindestens zwei sich wechselseitig ausschließende Elemente ai und aj enthalten. Diese Bedingung kann auf zwei Weisen verletzt werden: a-1. Zum einen kann A aus nur einem Element bestehen. Dann hat man keine Wahl. Die Durchführung der einzigen möglichen Alternative ist zwangsläufig. Das Modell der Situation lässt keinen Raum für Entscheidungen. a-2. Zum anderen kann es sein, dass man das Problem so formuliert hat, dass Alternativen aus A gemeinsam realisierbar sind, sich also nicht wechselseitig ausschließen. In diesem Falle kann man das Modell der Situation umformulieren, so dass sich wechselseitig ausschließende Alternativen entstehen. Angenommen die gemeinsam zu realisierenden, aber unterscheidbaren Alternativen seien a und b. Diese beiden Alternativen müssen sich je für sich durchführen lassen. (Andernfalls sollte man sie zu einer einzigen Alternative v verbinden. Denn, da man beide nur gemeinsam realisieren könnte, würde die Entscheidung über die eine stets die Entscheidung über die andere bestimmen. Letztlich liegt in diesem Falle nur eine Entscheidung vor.) Sind die beiden Alternativen a und b also sowohl getrennt als auch gemeinsam durchführbar, dann kann man das Problem so formulieren, dass die Entscheidung zwischen a1 := a&-b ("a und nicht b" bzw. nur a"), a2 := b&-a ("b und nicht a" bzw. "nur b") und 97 a3 := a&b ("a und b zugleich") zu treffen ist. Das bedeutet, dass "eigentlich" eine zumindest dreielementige Alternativenmenge vorliegt, in die zumeist sogar noch die Alternative a4 := a&-b ("weder a noch b") aufzunehmen ist, so dass eine vierelementige Menge von sich wechselseitig ausschließenden Alternativen entsteht. In der Konstruktion einer Entscheidung unterstellen wir alle regelmäßig, dass der Entscheider, sich aller Alternativen bewusst ist und deren wechselseitig einander ausschließenden Charakter versteht. b. Wir sprechen nur dann von einer "Entscheidung", wenn der Entscheider selbst vor dem konkreten Entscheidungsakt nicht weiß, welche Alternative er in der Entscheidung wählen wird und wenn er den Unterschied zwischen dem Herbeiführen und dem Voraussehen von Folgen für sich macht. Ein Außenstehender kann ohne Verletzung dieser Anforderung durchaus im vorhinein wissen, welche Entscheidung fallen wird. Es ist insoweit zulässig, dass der Entscheidende in seiner Entscheidung grundsätzlich von Naturgesetzen bestimmt wird, die ihrerseits seine Gehirnvorgänge lenken. Ein Allwissender Dritter könnte alles dies wissen, voraussehen, was der Entscheider tun wird und der Entscheider stünde (wie im Falle der von Erbsen bzw. Bohnen vorbestimmten Wahlhandlung) dennoch subjektiv vor einem Entscheidungsproblem der hier beschriebenen Art. Der Entscheider selbst wird in seiner Entscheidung über sich etwas "lernen", was er zuvor nicht wusste (nämlich dass er die Entscheidung tatsächlich getroffen hat, obwohl er subjektiv überzeugt war, auch anders entscheiden zu können). Andernfalls liegt keine Entscheidung im eigentlichen Sinne vor. Denn dann könnte der Entscheider etwa im vorhinein sagen, dass er x tun wird, aber nicht, dass er darüber entscheiden wird, ob er x tun wird. Nicht er würde subjektiv die Entscheidung herbeiführen, sondern „es“ würde mit ihm geschehen, dass er entscheidet und handelt. Selbst wenn der Entscheider selbst darüber gewisse Vermutungen hegt, wie er entscheiden wird, zur subjektiven Seite der Entscheidungen gehört die Vorstellung des "Auch-anders-Könnens" hinzu und sei sie auch nur ein bloßes Produkt unserer Vorstellungs- und Einbildungskraft (also letztlich eine Illusion). Andernfalls würde die für unsere Sprache und Weltorientierung unerlässliche Unterscheidung von Entscheidung und Voraussage nicht mehr zu treffen sein. Es ist sehr treffend, dass man in der englischen Sprache von decision making redet. Denn Entscheidungen sind nicht „da“, bevor sie getroffen 98 werden. Sie werden erst gemacht, wenn der Entscheidungszeitpunkt da ist. Deshalb können sie gerade nicht im wörtlichen Sinne „gefunden“ werden. c. Eine Entscheidung im eigentlichen Sinne liegt nur dann vor, wenn die Alternativenwahl aufgrund von Überlegungen oder Urteilen getroffen wird. Dies schließt keineswegs aus, dass man nicht durch vorgelagerte Entscheidungen sich dazu entschließen könnte, die Alternativenwahl durch einen Münzwurf zu bestimmen (oder sie vielleicht durch den morgendlichen Bohnenverzehr vorzuentscheiden, wenn man denn durch Bohnen zum zwanghaften Wähler der CDU würde). Genau und auch alltagstheoretisch einsichtig wäre es, in diesem Falle von der "Delegation einer Entscheidung" an einen "Mechanismus" zu sprechen. Dieser Delegation geht eine Delegationsentscheidung voraus. Auf diese kommt es vom Entscheidungsstandpunkt aus an. Denn nur sie kann als Entscheidung im eigentlichen Sinne gelten. Ähnliches ist über die Befolgung von Routinen und auch dann zu sagen, wenn man eine Entscheidung durch Delegation von einem anderen Individuum treffen lässt. Eine Entscheidung setzt also voraus, dass der Entscheider aufgrund bewusster Überlegungen, ohne im engeren Sinne die eigene Entscheidungen voraussagen zu können, unter mindestens zwei Alternativen wählen kann. Mit diesen drei Kerncharakteristika des Entscheidungskonzeptes wird umschrieben, welchen Bedingungen eine Entscheidung im engeren Sinne zumindest genügen sollte. Wie bei den meisten praktisch relevanten Begriffen, gibt es neben diesem Begriffskern einen sogenannten Begriffshof, in dem sich nähere und fernere Verwandte des Kernbegriffs finden. In der angewandten Ethik, zu der auch die Wirtschaftsethik zu rechnen ist, gilt das Augenmerk traditionell Entscheidungen im engeren Sinne, die bewusst gefällt werden und dabei die genannten drei Charakteristika aufweisen. Die moderne Ethik ruht insoweit, als sie sich mit einer Untersuchung rationaler Praxis befasst, auf dem gleichen Fundament rationaler Entscheidungstheorie wie die moderne Wirtschaftswissenschaft. Werden in Deutschland BWL und VWL als besonders ethikfern angesehen, dann ist das allein schon aufgrund der gemeinsamen entscheidungstheoretischen Hintergründe irreführend. Bevor wir uns mit der Ethik befassen, ist es allerdings nützlich sich an einige Banalitäten aus dem Bereich formaler Entscheidungstheorie zu erinnern. 99 1.3. Elementare Präzisierungen Stellen Sie sich vor, Sie wollen von Frankfurt nach München. Sie können mit dem Auto, dem Zug oder dem Flugzeug München erreichen. (Alternative Transportmittel wie Fahrrad, Pferdekutsche, Motorrad, Dauerlauf seien auszuscheiden.) In München kann entweder Nebel herrschen, Glatteis, beides oder keines von beiden. Wie sollten sie sich entscheiden? Wie Sie sich schließlich entscheiden sollten, hängt von vielem ab. In jedem Falle aber sollten Sie, falls die Entscheidung wichtig ist, sich die Entscheidungssituation genau klarmachen. Dazu müssen Sie ein Modell der Situation entwerfen. In einem ersten Schritt kann man eine Liste relevanter Variabler erstellen: 1. N: Es herrscht Nebel; -N: Es herrscht kein Nebel. 2. G: Es herrscht Glatteis; -G: Es herrscht kein Glatteis. Die möglichen Weltzustände sind dann: N&G, N&-G, -N&G, -N&-G. Diese Zustände entziehen sich, das sei angenommen, jeder möglichen Beeinflussung oder Intervention durch den Entscheider. Der Entscheider glaubt, das sei ebenfalls unterstellt, subjektiv, dass die Umweltzustände eintreten, gleichgültig, was er unternimmt. Wenn jemand daran glaubt, dass man den Wettergott durch Opfer gnädig stimmen kann, so muss er ein anderes Modell der Situation wählen. Denn dann gehören die Wetterbedingungen nicht in die Klasse jener Ereignisse, die er als Randbedingungen seines Handelns hinzunehmen hat, sondern zu jenen, die er durch eigenes Tun zu beeinflussen vermag und für die er dann auch potentiell verantwortlich ist. Im vorliegenden Falle sei angenommen, dass der Handelnde davon ausgeht, das Wetter nicht beeinflussen zu können. Die Möglichkeiten, durch eigenes Handeln zukünftige Ergebnisse kausal zu beeinflussen, mögen sich auf die Wahl einer Transportalternative beschränken. Der Entscheider kann dann wählen zwischen Au Fahrt mit dem Auto 100 Zu Fahrt mit der Bahn Flu Fahrt mit dem Flugzeug. Wählt er die erste Alternative und trifft er auf Nebel und kein Glatteis am Zielort, dann schreibt man für diese Kombination von eigenem Kausaleinfluss und dem durch eigenes Handeln nicht kontrollierten Einfluss: Au (N&-G). Dieser Ausdruck ist nichts anderes als der Name für das Ergebnis, das eintritt, wenn man mit dem Auto fährt und auf eisfreies doch nebliges Wetter trifft. Wie man handeln soll, hängt allerdings nicht nur von den erwarteten Konsequenzen ab, die eintreten, wenn ein bestimmtes Handeln und bestimmte davon unabhängige Umweltzustände auftreten. Die Wahrscheinlichkeit, mit der Zustände eintreten, spielt ebenfalls eine Rolle. Die Wahrscheinlichkeiten für die Umweltalternativen lassen sich durch die folgenden vier „Abkürzungen“ angeben: P(N&G), P(N&-G), P(-N&G), P(-N&-G); dabei unterstellen wir, dass das Eintreten der Umweltzustände unabhängig ist vom eigenen Handeln. Wer ein Modell einer Entscheidungssituation bildet, der wird also folgendes leisten müssen: 1. Umweltzustände bestimmen. Im Beispiel W= {N&G, N&-G, -N&G, -N&-G} 2. Wahrscheinlichkeit P für jedes w ∈ W "schätzen". Im Beispiel P(N&G), P(N&-G), P(-N&G), P(-N&-G). 3. Die Menge A der Aktionen bestimmen. Im Beispiel A = {Au, Zu, Flu}. Allgemein ("physisch") beschreibbare Handlungen. 4. Eine Funktion F, die allen Paaren (a, w) mit a∈A & w∈W deren Ergebnisbeschreibungen zuordnet. (Bsp. F(zündeln, voller Tank)=Explosion). 5. Eine "möglichst" vollständige Liste von Kriterien Ki oder Gesichtspunkten zur Bewertung der Ergebnisse mit K=(K1, K2,... , KN). 6. Eine durch Beiziehung von K erzeugte Ordnung R ("alles in K zusammengenommen", „nach Abwägung aller Wertaspekte“ ist eine Alternative y mindestens so gut wie x) auf der Menge aller Ergebnisse. Nochmals zu Deutlichkeit: Handlungen sind nichts als Funktionen, die die Umweltzustände in die Ergebnisse abbilden. Die Menge der Alternativen A, 101 unter denen man wählen kann, wird von Handlungen, nicht von Ergebnissen gebildet. Das ist wichtig, da man zwar davon spricht, Ergebnisse zu wählen, letztlich aber nur Handlungen wählen kann, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu Ergebnissen führen. Im Beispiel sind die Handlungen als Funktionen gegeben durch Au, Zu, Flu. Die Ergebnisse entstehen aus dem Zusammentreffen von Handlungen und handlungsunabhängigen Umweltzuständen. Zum Beispiel in F(Au, N&G) zeigt an, wie die Handlung Au auf N&G treffend zu einem Ergebnis führt. Wenn man als einzelnes Individuum hingegen CDU statt SPD wählt, dann hat man gewählt, für die CDU und nicht für die SPD zu stimmen. Man hat aber keineswegs, durch die Stimmabgabe, das Ergebnis verändert. Diese Konsequenz hat man nicht gewählt. Die Ergebnisse werden dann nach den Kriterien Ki bewertet. Dadurch wird ggf. eine Rangordnung erstellt. (So wie bei der Stiftung Warentest unter alternativen Gütern eine Rangordnung etwa über ein Punkteverfahren ermittelt wird.) Eine vollständige vereinfachte Entscheidungsmatrix, in der tabellenartig erfasst ist, welche Resultate sich aus dem "Zusammentreffen" von Handlungen aus A und Umweltzuständen aus W ergeben, ist im Falle der Flug-, Zug- und Bahnreise die folgende: Au Zu Flu N&G Au(N&G) Zu(N&G) Flu(N&G) N&-G Au(N&-G) Zu(N&-G) Flu(N&-G) Tabelle 1 -N&G Au(-N&G) Zu(-N&G) Flu(-N&G) -N&-G Au(-N&-G) Au(-N&-G) Flu(-N&-G) Unter Einbeziehung von Funktionen p(.), die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten von Umweltzuständen messen, und u(.), die den Nutzen der Alternativen messen (entsprechend einer Rangordnung nach Stiftung Warentest), erhält man sogleich eine Tabelle der folgenden Form: Weltzustände / Handlungen Au Zu Flu N&G p(N&G) u(Au(N&G)) u(Zu (N&G)) u(Flu(N&G)) N&-G p(N&-G) u(Au(N&-G)) u(Zu (N&-G)) u(Flu(N&-G)) Tabelle 2 -N&G p(-N&G) u(Au(-N&G)) u(Zu (-N&G)) u(Flu(-N&G)) -N&-G p(-N&-G) u(Au(-N&-G)) u(Zu (-N&-G)) u(Flu(-N&-G)) Der Term u(Au(N&G)) zeigt dabei an, wie der Entscheider nach seinen Kriterien die Ergebnisse des Handelns bewertet. Man kann sich vorstellen, dass zur Bestimmung eines einzelnen skalaren Wertes u Punkte für jedes der Bewertungskriterien K1... KN vergeben werden. Im einfachsten Falle wird dann 102 aufaddiert und die jeweilige Gesamtpunktzahl festgestellt. Das ist etwa so wie bei der Stiftung Warentest, die für jedes ihrer für einen Test relevanten Kriterien Punkte feststellt und diese dann aufaddiert, um Punktsieger festzustellen. Bei einer Zehnkampftabelle, die Punkte für die Einzelwettbewerbe enthält, werden diese ebenfalls benutzt, um eine Punktzahl für eine Wettkampfleistung festzustellen. Auch das wäre analog für das Vorgehen, das wir an den Tag legen, wenn wir die viel-dimensionale Bewertung der Welt in einer Ordnung entlang einer einzigen Dimension „u“ zusammenfassen. Wir nehmen weiterhin an, dass die Punkte sinnvoll mit den Wahrscheinlichkeiten gewichtet und dann erneut aufaddiert werden können. So, wie man bei einer Lotterie jeden Geldpreis mit seiner Eintrittswahrscheinlichkeit gewichtet und dann aufaddiert. Wenn man beispielsweise ein Los besitzt, das 10 Euro mit p(10)=0.1 und 100 Euro mit der Wahrscheinlichkeit p(100)=0.9 ergibt, dann wird man einen Erwartungswert mit 10*0,1 + 100*0,9= 91 errechnen können. Eine Lotterie, die mit p(0)=0.1 nichts bringt, mit p(100)=0.8 den Wert 100 und mit p(1000)=0.1 den Wert 1000, führt zu einem Erwartungswert von p(0)*0 + p(100)*100 + p(1000)*1000= 0+100*0.8 + 1000*0.1 =180. Ein Rationalentscheider, der sich am Erwartungswert des Nutzens orientiert, kann in der Tabelle sogleich die Alternative mit dem höchsten Erwartungsnutzen bestimmen. Er muss dazu nur die entsprechenden Erwartungswerte ausrechnen und miteinander vergleichen. Die Wahl einer optimalen Handlung entspricht dann der Wahl einer optimalen Lotterie. Bei Existenz erwartungswerttreuer Nutzen- und Wahrscheinlichkeitsmaße erhält man für die „Nutzen-Lotterien“: EU(Ba)= EU(Au)= EU(Flu)= u(Zu(N&G))*p(N&G) + u(Zu(N&-G))*p(N&-G) + u(Zu(-N&G))*p(-N&G) + u(Zu(-N&-G))*p(-N&-G) u(Au(N&G))*p(N&G) + u(Au(N&-G))*p(N&-G) + u(Au(-N&G))*p(-N&G) + u(Au(-N&-G))*p(-N&-G) u(Flu(N&G))*p(N&G) + u(Flu(N&-G))*p(N&-G) + u(Flu(-N&G))*p(-N&G) + u(Flu(-N&-G))*p(-N&-G) Durch die Wahl einer Alternative mit maximalem Erwartungswert ist unser Beispiel-Entscheidungsproblem im Grundsatz lösbar. Das scheint simpel genug, es ist jedoch durchaus voraussetzungsreich, da beispielsweise die Existenz von Nutzenfunktionen, mit denen man sinnvoll Erwartungswerte bilden kann, nicht selbstverständlich ist. Wann darf man etwa nach Kriterien gewonnene Punkte einfach aufaddieren und wann mit ihren Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichten, ohne die eigenen Sichtweisen zu verfälschen. 103 Ziel einer entscheidungstheoretischen Analyse wie der vorangehenden ist es, jene Informationen bereitzustellen, die es erlauben, eine optimale Aktion a aus der Menge der Alternativen A wohlinformiert zu wählen. Letztlich geht es damit um die Konstruktion einer Ordnung unter den Aktionen a aus A und eine nachfolgende Empfehlung (Gebot, Erlaubnis) ein optimales a auch "zu tun. Die Frage "Was sollen wir tun?" stellt sich somit als Frage danach, wie wir die uns rein physisch mögliche Kontrolle nach Maßgabe "unserer" Werte ausüben sollen in einer Welt, die von Unsicherheiten und komplexen Zusammenhängen von Handlungen und deren Folgen gekennzeichnet ist. Wenn wir in einer solchen Welt die ethisch richtige Aktion ausschließlich nach Bewertung der Folgen festlegen, so spricht man von einer „konsequentialistischen“ Ethik. Wenn wir auch Eigenschaften der Handlungen selbst mit einbeziehen, die sich nicht aus einer Bewertung der Handlungsfolgen allein ergeben, dann spricht man von einer nicht-(nur)konsequentialistischen Ethik. Im weiteren wird zunächst nach einem im weiteren Sinne konsequentialistischen Ansatz verfahren. 1.4. Entscheidungen und ethische Methodologie Durch die entscheidungstheoretische Aufbereitung wird unser Augenmerk auf die Liste folgender Faktoren gelenkt: Faktenurteile: 1, 2, 3, 4. Werturteile und -kriterien: 5, 6. Eine Tabelle hilft uns, im einzelnen darzustellen, was ein rationaler Entscheider tun muss, damit wir ihn als rational anerkennen können. Er muss nämlich insbesondere in der Lage sein, zwischen dem, was er durch Handeln beeinflussen kann und dem, was er dadurch nicht beeinflussen kann, zu unterscheiden. An jeder Stelle der Konstruktion einer Entscheidungstabelle wie der vorangehenden, wird dabei ein wesentlicher Schritt zu mehr ethischer Klarheit gemacht. Man kann aus der Tabelle genau entnehmen, was Gegenstand der Bewertungen ist, wo der Ort der Verantwortung liegt usw. Alles, was in die Aufstellung der Tabelle selbst eingeht, scheint dem Einfluss des Akteurs, der die Alternativenwahl vorzunehmen hat, entzogen. Eine Ausnahme könnten insoweit nur die Bewertungskriterien K1...KN zu bilden. Mit Bezug auf diese Kriterien sind nun zwei Fragen zu unterscheiden 104 1. Lässt sich erkennen, welche Kriterien K1...KN ein Entscheider anwenden sollte? 2. Welche Kriterien K1...KN wendet der betreffende Entscheider de facto an? Aus Binnenperspektive des ethisch verantwortlichen Entscheiders, der eine solche Tabelle bilden will, um ein Modell seiner ethischen Entscheidungssituation zu haben, formuliert 1’. Ist es eine Frage der Erkenntnis, welche Kriterien K1...KN ich als Entscheider anwenden sollte? 2’. Welche Kriterien K1...KN akzeptiere ich als Entscheider de facto oder was sind eigentlich meine gegebenen Wünsche, Werte oder Ziele? Die besondere direkte Werterkenntnis, die viele Philosophen in Anspruch nahmen, erscheint ungeachtet ihrer langen abendländischen Tradition merkwürdig. Sollte es so etwas wie „ethische Gesetze“ geben, dann finden wir diese nicht vor wie die empirischen Naturgesetze. Sie müssen gleichsam von uns oder aus uns selbst kommen. Nach einer Sicht der Dinge erfinden wir die ethischen Maßstäbe in der menschlichen Praxis. Sie sind Erfindungen zu kluger menschlicher Interessenverfolgung und nicht Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Welt, die herausgefunden werden. Nach einer anderen (vor allem Kantischen) Sicht der Dinge, gibt es Maßstäbe der Vernunft, die vor aller Erfahrung (a priori) sowohl in die Erkenntnis der Natur eingehen als auch in die ethische Erkenntnis des moralisch richtigen. Eine solche Erkenntnis ist für die praktische Vernunft in analoger Weise wie für die theoretische Erkenntnis der Welt möglich insoweit wie es sich um eine Erkenntnis a priori handelt. So wie laut Kant der menschliche Verstand die Welt nach den „aus ihm selbst kommenden“ Kategorien von Raum und Zeit ordnet, so ordnet der menschliche Verstand die Welt menschlicher Praxis nach apriori Prinzipien wie dem kategorischen Imperativ. So wie Raum und Zeit für Kant der Erfahrung eine Form aufprägen, so prägt die Forderung nach der Verallgemeinerbarkeit der Maximen unseres Handelns (man soll nur wollen, was man für jeden ohne Ansehung der Person wollen kann), der Welt ethischen Handelns ihre Form auf. Die Moralphilosophie Kants ist, will man ihr wirklich gerecht werden, anstatt ihr nicht nur eine oberflächliche Plausibilität zu verleihen, ziemlich voraussetzungsreich. Ohne ein tieferes Verständnis des Gesamtansatzes Kants und vor allem seiner Auffassungen von erfahrungsunabhängigen Vernunftmaßstäben bleibt nur eine quasi-regel-utilitaristische Position (dazu 105 unten), wonach man die Verallgemeinerungsfähigkeit aller moralischen Urteile sicherzustellen hat und jene Maßstäbe des Handelns verbindlich sind, deren allgemeine Befolgung gute Folgen hätte. Darauf wird zurückzukommen sein. Nach der anderen Auffassung geht es darum, diejenigen Kriterien K1...KN anzuwenden, die der Entscheider de facto teilt. Was will er? Welche ethischen Maßstäbe will er de facto anwenden? Ist es ihm wichtig, die Interessen anderer zu berücksichtigen oder nicht? etc. Nachdem die Ziele Werte und Wünsche des Entscheiders erkannt sind, werden sie dann in die Entscheidungsvorbereitung einbezogen, um die Bewertung der Alternativen durchzuführen. Es ist allerdings fraglich, ob wir unsere Ziele, Werte und Wünsche selbst ebenso einfach als gegeben hinnehmen wie ein Dritter, der einfach nur empirisch feststellen kann, dass wir bestimmte Werte haben. Wir müssen uns fragen, ob wir nicht bei der Konstruktion unserer (mentalen) Entscheidungsmodelle bestimmte Wallakte hinsichtlich dessen, was wir berücksichtigen wollen, durchführen. Was unsere ethischen Maßstäbe anbelangt, haben wir womöglich eine Wahl. Wir stehen insoweit wir die Maßstäbe unserer Bewertungen wählen können, vor einem neuen Entscheidungs-Problem. Um die Wahl der Maßstäbe, die unsere weiteren Entscheidungen bestimmen, zu analysieren, müssen wir in unseren entscheidungstheoretischen Analysen eine Ebene höher steigen. Auf dieser Ebene geht es nicht darum, dass die Ethik uns bei unseren Entscheidungen hilft, sondern darum, über die Kriterien der Bewertung und Auswahl selbst zu „entscheiden“. Wir müssen, jedenfalls in gewisser Weise, über die Ethik selbst entscheiden. Dazu sind wiederum Maßstäbe nötig. Offenkundig droht ein „Aufstieg ins Unendliche“ oder ein infiniter Regress, wenn man mit entscheidungstheoretischen Modellen darüber zu befinden hat, welcher Art die entscheidungstheoretischen Modelle ethischer Entscheidungen sein sollen. Man müsste anscheinend eine Entscheidung über ein Entscheidungsmodell in einem Entscheidungsmodell höherer Stufe treffen, zu dem es eines noch höherer Stufe geben würde, zu dem es eines noch höherer Stufe gäbe usw. Ein Regressproblem wie das vorangehende wird man vermeiden wollen. Ein Verfahren zur Lösung dieses aber auch anderer Probleme von praktischethischer Bedeutung bildet das von John Rawls im Jahre 1951 in die moderne ethische Debatte eingeführte „Entscheidungsverfahren für die normative Ethik“. Es ist als allgemeines Argumentationsverfahren, das auf eine Kohärenz unseres Urteilens abzielt, breit anwendbar. Das gilt insbesondere auch im wirtschaftsethischen Bereich. 106 2. Rawls’ Entscheidungsverfahren für die normative Ethik Es wird selten bestritten, dass man die „moralische Steuerung“ von Verhalten wissenschaftlich untersuchen kann. Denn die Verhaltenssteuerung durch moralische Vorstellungen ist selbst eine Tatsache, die wie andere empirische Tatsachen mit den Mitteln der Wissenschaft beschrieben, erklärt und in ihren Konsequenzen aufgeklärt werden kann. Problematischer ist die These, dass man die Richtigkeit inhaltlicher moralischer Vorstellungen und nicht nur deren Vorhandensein und Wirksamkeit wissenschaftlich beurteilen kann. Dass etwa Herr Meier überzeugt ist, menschliches Leben müsse bereits im embryonalen Stadium so geschützt werden wie im späteren personalen Stadium, ist eine Tatsache, deren Vorliegen oder Nicht-Vorliegen mit den üblichen empirischen Methoden geprüft werden kann. Wie Herr Meier gegebenenfalls durch Sozialisationsprozesse und sein persönliches Umfeld zu der betreffenden Überzeugung kam, lässt sich in gleicher Weise wissenschaftlich – etwa entwicklungs- und sozialpsychologisch – untersuchen. Ob Herr Meier mit dem, was er de facto vertritt, aber tatsächlich Recht hat, das ist eine „normative“ Frage, die im Gegensatz zu deskriptiven Fragen möglicherweise nicht wissenschaftlich – jedenfalls nicht im gleichen Sinne wissenschaftlich – behandelt werden kann. Eine „Moralwissenschaft“, die der wissenschaftlichen Begründung von Normen bzw. Werten dient, kann es nach Meinung der sogenannten ethischen Non-Kognitivisten nicht geben. Denn mögen das Akzeptieren von Werten und das Befolgen von Normen auch Tatsachen sein, der Inhalt der Werte und Normen selbst kann nach non-kognitivistischer Auffassung keinesfalls durch Tatsachen allein gerechtfertigt werden. Normen und Werte stehen nach Auffassung der non-kognitivistischen ethischen Skeptiker jenseits des Zugriffs einer Wissenschaft, die sich der wertfreien Analyse von Tatsachen verpflichtet sieht. Er kann beispielsweise erkennen, dass es tatsächlich so ist, dass eine hohe Dosis von Barbituraten den Tod dessen bewirken wird, der diese Dosis zu sich nimmt. Der Wissenschaftler kann wissenschaftlich voraussagen, dass der Tod bei Barbiturateinnahme unter geeigneten Bedingungen eintreten wird. Er kann sogar wissenschaftlich die „Zweck-Mittel“-Beziehung, „wenn man wünscht zu sterben, dann nehme man Barbiturate der Dosis x zu sich“ ableiten. Ob sich jemand umbringen will, dass kann er ebenfalls feststellen. Dass sich jemand umbringen sollte oder dass er den Wunsch entwickeln sollte, zu sterben, kann man, wenn überhaupt, nur mit Bezug auf höherwertige Normen begründen. Man kann die tauglichen Mittel nennen, begründen, warum sie tauglich sind, aber nicht in letzter Konsequenz begründen, warum sie verfolgen sollte. Die 107 Begründung von Normen und Werten stützt sich in diesem Sinne nicht auf Tatsachen. Die Einsicht, dass letzte Werte und oberste normative Ziele womöglich nicht durch Tatsachenerkenntnisse gerechtfertigt werden können, schließt allerdings nicht aus, dass wir handeln. Auch derjenige, der davon überzeugt ist, dass wir nicht wissen können, was letztlich moralisch rechtens ist, kann ohne weiteres auf der Basis, dessen was er de facto erreichen will, handeln. Was die Wahl der Mittel anbelangt muss auch er mit der Frage umgehen, wie er handeln soll. Aber er kann sich auch allgemeiner fragen, was er eigentlich tun sollte. Er kann das tun, ohne unterstellen zu müssen, dass man auf wahrheitsfähige Weise herausfinden kann, was man tun soll. In Beantwortung dieser Frage kann ihm die normative Ethik auch ohne Wahrheitsanspruch als ein System von Empfehlungen darüber, was moralisch rechtens ist und was man aus moralischen Gründen tun sollte, dienen. Hierin unterscheidet der NonKognitivist sich nicht von demjenigen, der als Kognitivist davon überzeugt ist, die normative Ethik zum Gegenstand der Tatsachenerkenntnis machen zu können. Aber der Non-Kognitivist muss zu seiner normativen Ethik auf andere Weise als durch eine Tatsachenerkenntnis gelangen. Wenn, was moralisch rechtens ist, nicht Gegenstand der Erkenntnis im üblichen Sinne sein kann, dann verschiebt sich das Problem. Man kann nicht im Sinne einer Tatsachenkenntnis wissen, was zu tun ist, und muss deshalb über die Maßstäbe des Handelns entscheiden. Indem man über die Maßstäbe der Entscheidung selbst noch entscheiden muss, scheint man sich in einem Zirkel oder in einem infiniten Regress zu bewegen. Der Auflösung dieses Problems dient das von John Rawls vorgeschlagene Entscheidungsverfahren für die normative Ethik, das auf eine Parallelisierung von wissenschaftlichem und ethischem Vorgehen abzielt (die wesentliche Literatur zum Thema findet sich in Hahn, S. (1996, (2000)). Rawls lässt sich weitgehend vom Modell eines einzelwissenschaftlichen Vorgehens leiten, das seine Aufgabe in der Aufstellung allgemeiner Hypothesen, sowie ihrer Überprüfung am konkreten Einzelfall durch kompetente Experimentatoren und Wissenschaftler sieht. So wurde etwa die Einsteinsche Relativitätstheorie bei einer nach der Veröffentlichung der Theorie eintretenden Sonnenfinsternis getestet, indem die von der Theorie vorausgesagte Ablenkung des Lichtes durch Massen bestätigt wurde. Die allgemeine Konzeption wurde so anhand von Einzelbeobachtungen einem Test unterzogen. Der Physiker Pauly traf auf eine hartnäckige Anomalie in der physikalischen Grundlagentheorie und postulierte einfach die Existenz 108 von Neutrinos, um die Theorie zu retten. Er hatte dabei ein sehr „schlechtes Methoden-Gewissen“, da ihm die Annahme als reine ad hoc Strategie erschien. Jahrzehnte später erhielten jene Experimentatoren, die Neutrinos nachwiesen, dafür den Physik-Nobelpreis. Hätte man nachweisen können, dass Teilchen dieser Art mit anderen allgemeinen Annahmen der Physik fundamental unvereinbar sind oder hätte es einen Nachweis der Teilchen trotz vieler Versuche nicht gegeben, dann wäre man letztlich dazu gezwungen gewesen, die Neutrino-Hypothese aufzugeben. Der Wechsel zwischen den Ebenen der allgemeinen Hypothesen und der speziellen Prüfungen mit dem Bestreben, allgemeine Kohärenz zu erzielen, scheint charakteristisch für die Naturwissenschaft zu sein. Da diese erfolgreich ist, warum sie nicht als Vorbild für die philosophische Ethik benutzen? Den allgemeinen Hypothesen der Einzelwissenschaften stellt Rawls allgemeine normative Prinzipien gegenüber. Diese Prinzipien enthalten keine Kennzeichnungen von konkreten Individuen oder konkreten Entscheidungssituationen. Sie beanspruchen vielmehr in Analogie zu allgemeinen Gesetzeshypothesen allgemeine Geltung für beliebige Individuen. In gleich gelagerten Entscheidungssituationen unabhängig von Ort und Zeit der Entscheidung, sollten die gleichen Maßstäbe Anwendung finden. Das Prinzip etwa, alle Individuen gleichberechtigt in die Bestimmung eines Maßes für die allgemeine Wohlfahrt eingehen zu lassen, gehört in diesen Kontext. Die Maßgabe, dass alle gerechtfertigten gesellschaftlichen Institutionen den Gesamtnutzen der Gesellschaft wahren sollen, ist eine andere orientierende Feststellung allgemeiner Art. Sie sagt etwa über die Frage, ob die Steuern in einer Gesellschaft progressiv oder linear anwachsen sollen, konkret noch nichts aus. Dennoch bietet sie eine Orientierung dafür an, nach welchen Kriterien wir in der Gestaltung des Steuerrechtes vorgehen sollen. Den konkreten EinzelfallBeobachtungen der empirischen Einzelwissenschaft werden konkrete Einzelentscheidungen gegenübergestellt. Wenn man aus einer allgemeinen Theorie ein intuitiv völlig uneinleuchtendes Verhaltensrezept für einen konkreten Fall ableiten kann, dann spricht das gegen die allgemeine Theorie. Wenn etwa die Verhängung staatlicher Kriminalstrafen mit dem Argument vertreten wird, diese würden von weiteren Straftaten abschrecken und wenn behauptet wird, dass nur die Abschreckungswirkung zähle, dann könnte man daraus ableiten, dass man ggf. auch unschuldige Individuen bestrafen sollte, um besonders große Abschreckungswirkungen zu erreichen. Das scheint stark gegen die allgemeine Abschreckungstheorie in unmodifizierter Form zu sprechen, weil es elementaren Gerechtigkeitsurteilen im Einzelfall widerspricht. 109 In den Einzelwissenschaften geht es um ein Gleichgewicht der Überlegungen allgemeiner wie spezieller Art. Die allgemeinen Prinzipien müssen mit den Einzelbeobachtungen vereinbar sein und umgekehrt. Die einen sollen die anderen stützen und nicht widerlegen. Das ist auch in der Ethik das Ziel: Allgemeine und spezielle Überlegungen sollen vereinbar miteinander sein und sich wechselseitig bestärken. Solange man jedoch nicht genauer charakterisiert, welche Überlegungen überhaupt einbezogen werden müssen, ist mit der Methode des Überlegungsgleichgewichtes wenig gewonnen. Die Methode entbehrt ohne Urteilseingrenzung jeder Möglichkeit, die Ergebnisse intersubjektiv zu verankern. Rawls ist sich dieses Problems bewusst. Genau deshalb führt er das Konzept eines "wohldurchdachten Urteils eines kompetenten Moralbeurteilers" als Abgrenzungskriterium ein. 2.1. Kennzeichen eines kompetenten Moralbeurteilers a) (Von Rawls nicht ausdrücklich genannt) Es handelt sich um ein Individuum, kein Gremium o.ä., keine Maschine etc. Das Individuum verfügt über: b) durchschnittliche Intelligenz, c) durchschnittliche Kenntnis zu beurteilender Entscheidungssituationen und ist dabei d) 1. induktiv rational vorgehend, 2. Für und Wider wägend, 3. argumentationsoffen und revisionsbereit, 4. selbstkritisch gegenüber eigenen Vorurteilen; wobei es e) Einfühlungsvermögen in die Interessen und Lage anderer zeigt. Unparteilich und vernünftig soll ein kompetenter Moralbeurteiler sein. Ihm werden insgesamt Eigenschaften abverlangt, die man völlig analog auch in anderen Bereichen der Erkenntnisgewinnung voraussetzen würde. Ob ein Moralbeurteiler als kompetent gilt, hängt nicht davon ab, welche Urteile er in den ihm vorgelegten Situationen fällt. Deshalb sind grundsätzlich Urteile beliebiger Art zugelassen. Es ist von der Kennzeichnung des kompetenten Moralbeurteilers her insoweit nicht präjudiziert, was sich als Ergebnis des 110 Beurteilungsprozesses inhaltlich als Urteilsergebnis einstellen wird. Verlangt ist allerdings, dass die Urteile wohlerwogen sein sollen. 2.2. Kennzeichen eines wohlerwogenen Moralurteils a) Vom Ausfall des Urteiles hängen keine positiven wie negativen Konsequenzen für den Beurteiler ab. b) Der zu beurteilende Fall enthält einen realen Interessenkonflikt und ist nicht allzu kompliziert gelagert. c) Dem Urteil geht eine sorgfältige Situationsanalyse voraus; alle Standpunkte werden berücksichtigt. d) Das Urteil muss von einem Gefühl innerer Gewissheit begleitet sein. e) Das Urteil muss intra- und intersubjektiv Bestand haben. f) Das Urteil darf nicht aufgrund bewusster Anwendung allgemeiner Prinzipien abgegeben, sondern muss intuitiv gefällt werden. Die Kennzeichen des kompetenten Moralbeurteilers und der von ihm abgegebenen wohldurchdachten Moralurteile führt Rawls zu seinem Konzept der "Explikation" einer Klasse von Moralurteilen zusammen. An der Bildung einer derartigen Explikation wirkt die Moraltheorie mit. 2.3. Begriff der Explikation bei Rawls "Betrachte eine Gruppe kompetenter Beurteiler, die wohl- durchdachte Urteile abgeben im Hinblick auf eine Gruppe von Fällen, die im täglichen Leben vorkommen können. Dann ist eine Explikation dieser Urteile als eine Reihe von Prinzipien definiert, deren verständige und konsistente Anwendung im Hinblick auf die jeweils selben Fälle durch irgendeine kompetente Person Urteile ergibt, die - zwar dem Vorgehen gemäß nicht intuitiv, sondern aufgrund einer expliziten und bewußten Heranziehung der Prinzipien abgegeben nichtsdestoweniger Fall für Fall identisch mit wohldurchdachten Urteilen der Gruppe kompetenter Beurteiler sind" (Rawls, J. (1951/1976), 132). Die Explikation einer Klasse wohldurchdachter Moralurteile kompetenter Moralbeurteiler ist somit nichts anderes als eine allgemeine Theorie, die alle 111 Urteile der Klasse aus allgemeinen Prinzipien erzeugt und dabei zu keinem Schluss gelangt, der einem dieser Urteile widerspricht. Insoweit gleicht eine Explikation der Axiomatisierung einer Theorie, in der ebenfalls alle wahren Sätze der Theorie aus den Axiomen herleitbar sein müssen. Allerdings ist diese Parallele nicht vollkommen. Für Rawls kann es durchaus eine Korrektur von Einzelurteilen nach Maßgabe der in der Explikation enthaltenen allgemeinen Prinzipien geben. Angestrebt wird ein Überlegungsgleichgewicht aller speziellen und allgemeinen Überlegungen kompetenter Moralbeurteiler. Dieses Gleichgewicht ist solange nicht erreicht, wie es Widersprüche zwischen der Menge M der aus den allgemeinen Prinzipien S=(S1, S2, ... , SN) mittels gewisser Schlussregeln und Randbedingungen ableitbaren Einzelurteile und der Menge B wohldurchdachter Einzelurteile gibt. Widersprüche lassen sich beheben, durch a) Revision der allgemeinen Prinzipien b) Modifikation oder Aufgabe bestimmter Einzelurteile. Wenn diese Modifikation glückt, stellt sich ein vorläufiges Gleichgewicht ein. Die gewonnene Explikation hat bis auf weiteres Bestand. In Zukunft kann sich jedoch im Lichte neuer wohlerwogener Urteile in neuen Entscheidungssituationen wiederum eine Revision zur Herbeiführung des Gleichgewichtes als notwendig erweisen. "Die Ethik muß sich wie jede andere Disziplin Schritt für Schritt voranarbeiten" (Rawls, J. (1951/1976), 138). Die angestrebte Parallele zum Vorgehen der empirischen Einzelwissenschaften ist offenkundig. Wenn die Ethik in Rawls' Entscheidungsverfahren einen mit den empirischen Wissenschaften vergleichbaren Methodenkanon gefunden hätte, dann wäre an einer rationalen Ethikbegründung nicht zu zweifeln. Die Intersubjektivität der ethischen Urteile wäre zumindest annähernd so gut abgesichert wie die der Einzelwissenschaften. Es wäre dann möglich, Ethik in diesem Sinne wissenschaftlich fortzuentwickeln und normative Vorschläge mit einem vergleichbaren Rationalitätsanspruch und damit ebenso wie deskriptiv empirische zu diskutieren. Das hätte sehr grundlegende und einschneidende Konsequenzen. Deshalb ist es bedeutsam, die Parallele zu den Einzelwissenschaften zu prüfen. 2.4. Prüfung der Parallele (kann übersprungen werden bei erster Lektüre) I. Zur Parallele "kompetenter Moralbeurteiler" und "kompetenter Einzelwissenschaftler". 112 a) Dass es letztlich auf Individuen, nicht Gremien ankommt, gehört zum Fundus der Einzelwissenschaften. Hier hat man es letztlich mit der neuzeitlichen Vorstellung des autonomen, Individuums als letztem Entscheidungssubjekt, sei es nun in theoretischen, sei es in praktischen Fragen, zu tun. b) Durchschnittliche Intelligenz und bspw. nicht angetrunken zu sein, wird vom Einzelwissenschaftler ebenfalls verlangt. c) Eine gewisse Erfahrung im Umgang mit der anstehenden Entscheidungssituation scheint ebenfalls vom empirischen Wissenschaftler verlangt zu werden. Insbesondere wird man von den Experimentatoren eine gewisse Erfahrung verlangen. Experimentieren zu lernen, ist ein Sozialisationsprozess, in dem primär eine Kunstfertigkeit und nur sekundär Wissen vermittelt wird. d) Die Einzelwissenschaften gehen nicht eigentlich induktiv vor, sondern deduktiv prüfend und bestätigend bzw. verwerfend. Auch in der Ethik muss man nicht nur induktive Verfahren im Auge haben, sondern kann auch deduktiv konfirmierend vorgehen, indem man allgemeine ethische Prinzipien ebenso wie Hypothesen der Wissenschaft "frei" erfindet und dann auf ihre Tragfähigkeit in Einzelsituationen hin prüft. Diesem letzteren Aspekt trägt Rawls womöglich nicht hinreichend Rechnung. Andererseits lässt sich das von ihm vorgeschlagene Verfahren offenkundig mit dieser Erweiterung vereinbaren. e) Das Einfühlungsvermögen in die Interessen und Lage anderer wird dem Einzelwissenschaftler im allgemeinen nicht abverlangt, obschon selbst in diesem Zusammenhang noch gewisse sozialwissenschaftliche Methodenvorstellungen Anlass zu Zweifeln geben können. Da in manchen Ansätzen etwa der sogenannten „verstehenden Soziologie“ oder auch der rationalen Entscheidungstheorie ähnliches vorausgesetzt wird. II. Zur Parallele von "wohldurchdachten Urteilen" und wissenschaftlichen "Basisurteilen" a) Dass vom Ausfall eines Urteiles in den Einzelwissenschaften keine positiven bzw. negativen Resultate für den Beobachter abhängen, ist einerseits trivial richtig andererseits trivial falsch. Es ist trivial richtig insoweit, als der Einzelwissenschaftler nicht unter der Drohung einer wissenschaftsexternen Sanktionsinstitution steht. Das gilt jedenfalls unter Absehung von früheren kirchlichen und heutigen totalitären Bestrebungen für alle Bereiche, in denen 113 man es mit Wissenschaft im eigentlichen Sinne zu tun hat. Es ist trivial falsch, insoweit als jeder Wissenschaftler durchaus gewisse Wünsche und Interessen mit Beobachtungs- und Prüfergebnissen verbindet. Er erhofft sich sicherlich zeitweise geradezu fanatisch bestimmte Ergebnisse, um bestimmte Hypothesen entweder zu bestätigen oder zu erschüttern. Die Konkurrenz anderer Wissenschaftler hindert ihn jedoch daran, eigenen Wünschen nach Ruhm, Anerkennung oder Karriere durch Manipulationen nachzuhelfen. Für und Wider wägend, argumentationsoffen, revisionsbereit und selbstkritisch sollte zwar jeder Wissenschaftler nach den offiziellen Normen der Wissenschaft sein. Und viele Wissenschaftler sind dies alles vermutlich tatsächlich. Entscheidend am Sozialsystem der Wissenschaft ist jedoch, dass es Mechanismen enthält, die auch jene, die derartige Verhaltensnormen nicht internalisiert haben und damit nicht aus eigenem Antrieb befolgen, dazu zwingt, sich weitgehend konform mit diesen Normen zu verhalten. Diese Feststellung gilt jedoch je mehr man sich dem sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich nähert, mit immer stärkeren Abstrichen. Bei Normentscheidungen wirkt der intersubjektive Zwang dazu, sich der wissenschaftlichen Grundtugenden zu befleißigen, möglicherweise nicht mehr. Es ist sogar plausibel, dass der soziale Druck der im erfahrungswissenschaftlichen Bereich gerade dazu führt, dass auch nonkonformistische Ansichten eine Chance erhalten, indem unabhängige Prüfinstanzen installiert sind, im Bereich der Normurteile umgekehrt wirkt. Die Kernfrage, ob ein Einzelurteil deskriptiven Inhaltes nicht doch in einem grundsätzlichen Sinne verlässlicher und dem Druck intersubjektiv verankerter Meinungen stärker entzogen ist als ein Norm- oder Werturteil stellt sich hier erneut. In den empirischen Einzelwissenschaften scheint es tatsächlich so zu sein, dass ein Individuum, das zu einem von den übrigen Urteilen abweichenden Beobachtungsurteil kommt, eine gute Chance hat, das Urteil der anderen Individuen zu revidieren, ohne auf allgemeine Prinzipien zu verweisen. Es reicht aus, andere in vergleichbare Beobachtungssituationen zu versetzen, sie etwa die gleichen Experimente durchführen zu lassen, während innerhalb des Bereiches normativer Urteile die Revision typischerweise durch den Verweis auf die Verletzung allgemeiner Prinzipien erfolgt. Aber auch hier würde Rawls noch einwenden können, dass der Verweis auf neue praktische Problemerfahrungen im normativen Bereich ebenfalls möglich ist. Ein neuer normativ relevanter Fall taucht auf und fordert eine bestimmte intuitiv angemessene Lösung, die mit den bisherigen allgemeinen Prinzipien nicht vereinbar ist. Dann wird auch hier der Zwang entstehen, ein neues intersubjektiv akzeptiertes Überlegungsgleichgewicht herbeizuführen. 114 b) Auch die Wissenschaften interessieren sich nicht für bloß hypothetische Fälle als Bestätigungs- oder Erschütterungsinstanzen und zeichnen einfache Beobachtungssituationen als letzte Instanzen bevorzugt aus, sofern sie sich darauf zu beschränken vermögen. Regelmäßig ist ihnen dies möglich, wobei allerdings zu beachten ist, dass sie die mit theoretischen Termen formulierten Hypothesen nur sehr indirekt durch Beobachtung prüfen und ihre Beobachtungsergebnisse natürlich von vornherein im Lichte bestimmter Theorien sehen. Auch der Einwand, dass die ethischen Beobachtungssituationen ungleich komplexer gelagert seien als etwa naturwissenschaftliche, ist angesichts der Komplexität etwa heutiger physikalischer Experimente als eher fragwürdig zu betrachten. Weit schwerer wiegt hier der Einwand, dass die Wissenschaft gerade nach Hypothesen sucht, die ungeachtet der Komplexität der Anwendungssituation nur auf ein Minimum von Anwendungsvoraussetzungen Bezug nehmen. Hier scheint die Ethik in der Tat in einer ähnlich schlechten Situation zu sein, wie die heutigen empirischen Sozialwissenschaften. Durchschlagende Prinzipien, die unter geringen Voraussetzungen ausnahmslos zum Zuge kommen, ohne je gegen unsere konkreten Einzelfallurteile zu verstoßen, scheint sie nicht zu besitzen. Es gibt viele Ausnahmen und Sonderbedingungen. c) Auch der Wissenschaftler versucht genau zu analysieren, ob nicht bestimmte Beobachtungen durch spezielle äußere Umstände verursacht wurden, und wägt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten ab etc. d) Das Vorliegen innerer Gewissheit wird im allgemeinen ebenfalls für direkte Beobachtungen der Einzelwissenschaften unterstellt. Man überzeugt sich. e) Dass ein Urteil intrasubjektiv und intersubjektiv Bestand haben sollte, gehört selbstverständlich zum Glaubenselixier jeder Wissenschaft. Die Wiederholbarkeit von Beobachtungen ist zentral in allen wirklich erfolgreichen Wissenschaften, weil sie die kompetitive Selbstüberprüfung der Wissenschaft erlaubt. Die Wiederholbarkeit hat damit durchschlagende sozialorganisatorische Konsequenzen auf den Wissenschaftsbe- trieb, die ihrerseits, die "Objektivität" der Wissenschaft erzeugen. f) Diese Bedingung könnte man sicherlich nicht für die Wissenschaften aufrechterhalten, wenn man auch die Prüfung von Theorien durch Theorien zulassen wollte etc. Andererseits sind ähnliche Prüfungsüberlegungen sicherlich sinnvoll innerhalb des Rawlsschen Verfahrens zu integrieren. Mit seiner Forderung nach umfassender Kohärenz zielt dieses Verfahren geradezu darauf ab, derartige Überlegungen ebenfalls einzubeziehen. 115 Die Parallele zwischen der Anwendung des Rawlsschen Entscheidungsverfahrens und dem Vorgehen der Einzelwissenschaften scheint somit vor allem hinsichtlich der Anforderungen b und e an wohlüberlegte Urteile zweifelhaft zu sein. Den durch diese Zweifel umrissenen Problemkomplex kann man als das spezifische Intersubjektivitätsproblem der ethischen Theoriebildung bezeichnen. Mit dieser Bezeichnung soll keineswegs von vornherein zum Ausdruck gebracht werden, dass die Wissenschaften in dieser Hinsicht problemfrei wären, sondern zunächst nur, dass die Ethik vom Problem womöglich mangelnder Intersubjektivität relativ stärker betroffen ist. Ob hier ein prinzipieller Unterschied besteht, ist eine weitergehende Frage, die einer gesonderten Untersuchung bedarf. Und selbst, wenn dies der Fall wäre, müsste noch geklärt werden, ob eine Methode wie das Rawlssche Entscheidungsverfahren für die normative Ethik nicht dennoch eine gerechtfertigte Methode einer Ethik mit reduziertem Intersubjektivitätsanspruch bilden könnte. Hinzu tritt als bislang missachtetes Problem die Frage, wie sich Normen allgemeiner und spezieller Art überhaupt widersprechen und damit aneinander korrigiert werden können. Denn es ist zwar logisch ausgeschlossen, dass die deskriptiven Sätze A und –A („nicht A“) zugleich wahr werden, dass jedoch Sätze wie "Tue A!" und "Tue -A!" sich in ähnlicher Weise gegenseitig ausschließen, erscheint keineswegs als evident. Die Befehle können ja durchaus zugleich bestehen. Wir wissen zwar, dass wir nicht beide zugleich erfüllen können, doch die Befehle selbst können nebeneinander existieren, während es unmöglich ist, dass es zugleich wahr ist, dass es zur Zeit t am Ort o regnet und nicht regnet. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Parallele zwischen rationalem einzelwissenschaftlichem und ethischem Vorgehen unvollkommen ist. Zugleich ist es ein Ideal gerade des praktischen Ethikers vorzugehen, wie Rawls vorschlägt. 116 3. Utilitarismus, Rawls und Vertragstheorie Die vorangehenden Überlegungen betrafen die Voraussetzungen dafür, Ethik überhaupt zu betreiben und Forderungen moralischer Art zu erheben. Hinzu kam die Frage nach den grundlegenden ethischen Rechtfertigungsmethoden oder danach wie man rational mit normativen Fragen umgehen kann. Was inhaltlich als richtig, gesollt etc. anzusehen ist, war bislang nicht Gegenstand der Überlegungen. Solchen inhaltlichen Fragen wenden wir uns nun zu. Grundsätzlich kann man eine normative Ethik auf drei Weisen begründen. Man kann von Zielen oder dem, was (außermoralisch) wertvoll ist, ausgehen. Man kann mit ursprünglichen Handlungs-Pflichten zu beginnen suchen. Man kann schließlich von ursprünglichen moralischen Rechten seinen Ausgang zu nehmen suchen. Dementsprechend ergeben sich: 1. Ziel-basierte 2. Pflicht-basierte 3. Rechte-basierte normativ ethische Theorien. Die erste Klasse enthält die teleologischen Theorien, die das ethisch Rechte ausschließlich auf der Grundlage einer Konzeption vom außermoralisch Guten oder Wertvollen zu bestimmen suchen. Die zweite Klasse umfasst alle im weiteren Sinne deontologischen Theorien, die davon ausgehen, dass man das ethisch Rechte teilweise unabhängig vom Guten oder Wertvollen erkennen bzw. rational bestimmen kann. Zur ersten Klasse gehören partikularistische interessenbasierte Theorien, die von herrschenden Konventionen und Traditionen ausgehen und vor allem auch der klassische und nicht-klassische Utilitarismus. Zu den deontologischen Theorien gehören in jedem Falle die Kantische und jedenfalls nach der eigenen Selbsteinschätzung die ApelHabermassche Diskursethik. Die Theorie von Rawls nimmt in gewisser Weise eine Mittler-Stellung ein. Was systematisch gilt, gilt für sie auch in der vorliegenden Darstellung, die mit dem Utilitarismus beginnt, dann einige Elemente der Rawlsschen Theorie behandelt und schließlich einige wenige Bemerkungen zur Diskursethik und ihren quasi-kantischen Grundlagen macht. 117 3.1. Klassischer Utilitarismus 3.1.1. Hedonistische und andere Wertlehren Wollen Sie lieber ein glückliches Schwein oder ein unglücklicher Sokrates sein? Insbesondere die Gegner des Utilitarismus bedienen sich gern solcher Suggestiv-Fragen. Im Gegensatz zu dem, was in der deutschen Folklore über den Utilitarismus im allgemeinen verbreitet wird, handelt es sich dabei allerdings keineswegs um eine „Ethik für Schweine“. Es ist nicht zutreffend, dass mit dem Utilitarismus notwendig eine „hedonistische“, d. h. an der unmittelbaren körperlichen Lust orientierte Sichtweise von dem, was in sich wertvoll ist, verbunden werden muss. Es gibt diese Variante des Utilitarismus, aber es ist dies nur eine unter verschiedenen Formen einer utilitaristischen Lehre von dem, was im außermoralischen Sinne – also unabhängig oder vor einer moralischen Bewertung – wertvoll ist. Dass „Kegel zu schieben“ so gut sei, wie der Genuss dichterischer Werke, sofern beide nur das gleiche Maß an Lust erbringen, ist zwar eine denkwürdig „demokratische“ – jedenfalls anti-elitäre – Äußerung Jeremy Benthams, doch nicht die Meinung aller Utilitaristen. Ein sogenannter „idealer Utilitarismus“, wie ihn John Stuart Mill vertrat, würde für die Überlegenheit bzw. Höherwertigkeit kultivierter Freuden wie des Genusses dichterischer Werke gegenüber der Freude am Kegeln plädieren. Andere Utilitaristen sahen in der Befriedigung menschlicher Präferenzen – was auch immer diese beinhalten mochten – den ausschlaggebenden Wert. Nach dieser Sicht sollen die Menschen bekommen, was sie wollen und die Welt ist umso besser, desto stärker die Menschen ihre Präferenzen in ihr verwirklichen können (Präferenzutilitarismus). Die ausschlaggebende und für den Utilitarismus ganz allgemein kennzeichnende Bedingung ist nicht die Wahl einer spezifischen Wertlehre, sondern eine bestimmte Auffassung davon, was es heißt, verallgemeinerungsfähig zu urteilen, und davon, worauf sich die verallgemeinerungsfähigen Urteile stützen sollen. 3.1.2. Prinzipien utilitaristischer Verallgemeinerung Es geht den Utilitaristen darum, das Übergewicht außermoralisch oder „natürlich“ „guter“ gegenüber natürlich „schlechten“ Folgen des menschlichen Handelns zu maximieren. Die Utilitaristen akzeptieren, wenn es um die Beurteilung des Handelns geht, strikt das Prinzip der Neutralität oder 118 Unparteilichkeit. Niemand soll mehr als ein anderer zählen und jeder so viel wie jeder andere. Die Interessen von jedermann sind gleichermaßen zu berücksichtigen. Diese Auffassung teilen Utilitaristen nicht nur untereinander, sondern im wesentlichen mit allen neuzeitlichen Moraltheorien, die größeren Einfluss gewinnen konnten. Der Utilitarismus trennt sich von anderen Formen verallgemeinerungsorientierter Ethik dadurch, dass er der Unparteilichkeitsbedingung eine spezifische Deutung zukommen lässt. Der Utilitarismus meint erstens, dass es bei der Bewertung des Handelns letztlich nur auf die dadurch herbeigeführten Zustände und damit jeweils nur auf die Konsequenzen des Handelns ankommt (Konsequentialismus). Und zweitens geht es für den Utilitaristen bei der Bewertung von Konsequenzen immer nur um die Auswirkungen auf Individuen. Nur das, was sich „bei“ Individuen niederschlägt, ist bewertungsrelevant. Der Utilitarist unterwirft sein eigenes Werturteil den „aggregierten“ Wertungen aller (was damit gemeint ist, wird sich genauer in der konkreten Ausformung einer utilitaristischen Position zeigen vgl. u.). Will man die erwähnten Grundüberzeugungen der Utilitaristen als gesonderte „Prinzipien“ erfassen, so kann man zum ersten auf das „Substitutionsprinzip“, zum zweiten auf das „Äquivalenzprinzip“ und zum dritten auf das „Individualprinzip“ zu sprechen kommen. Das Substitutionsprinzip besagt, dass man in der Gesamtbewertung einer Alternative die durch die Realisierung der Alternative erlangte Interessenbefriedigung (Präferenzerfüllung) eines Individuums A durch die Interessenbefriedigung (Präferenzerfüllung) eines Individuums B ersetzen (substituieren) kann. Diese Substituierbarkeit ist für den Utilitaristen Ausdruck der Unparteilichkeit. Denn der Utilitarist meint, dass der Grad der Interessenbefriedigung von Herrn A nicht deshalb mehr zählen kann als der Grad der Interessenbefriedigung von Frau B, weil Herr A Herr A und Frau B Frau B ist. Deshalb darf und muss man nach utilitaristischer Auffassung eine Verringerung der Interessenbefriedigung von Herrn A hinnehmen, wenn dadurch eine größere Steigerung der Interessenbefriedigung von Frau B erreicht wird. Das Äquivalenzprinzip besagt, dass es letztlich nicht darauf ankommt, ob bestimmte Auswirkungen auf die Interessenbefriedigung von Individuen dadurch eintreten, dass man handelt und so in den Weltverlauf kausal eingreift oder dass man nicht handelt und etwas durch Unterlassen geschehen lässt. Wenn Herr Meyer Herrn Schulze auf einer Klippe stehen sieht und Herr Schulze ist der ärgste Feind von Herrn Meyer, Herr Meyer nun erkennt, dass Schulze im Begriff 119 steht, einen Schritt zurück zu tun, der ihn unweigerlich von der Klippe stürzen wird, dann tötet Herr Meyer Herrn Schulze durch Unterlassung eines Warnrufes. Nehmen wir an, dass Meyer bewusst den Ruf unterlässt, um Schulze die Klippe hinunter segeln zu lassen. Dann ist die Tötung sogar intendiert. Für den Utilitaristen ist dies letztlich gleichwertig mit einer Situation, in der Meyer vor Schulze steht und ihm einen leichten „Stupps“ versetzt, um ihn die Klippe hinunter zu stürzen bzw. wenn er Schulze anbrüllt „tritt zurück!“ und ihn dadurch die Klippe hinunter befördert.10 Der Utilitarist akzeptiert neben dem Substitutionsprinzip und dem Äquivalenzprinzip zum dritten das „Individualprinzip“. Für ihn geht es bei der Bewertung von Weltzuständen letztlich darum, diese nach dem Maßstab der Interessenbefriedigung der Individuen einzuschätzen. Er bildet seine Präferenzordnung über alle Weltzustände auf der Grundlage der individuellen Bewertungen oder Interessen, wie sie durch die Herbeiführung der Weltzustände entstehen. Streng genommen besagt das Individualprinzip, dass für den Utilitaristen jede Bewertung ethischer Art eine Funktion der individuellen Betroffenheiten bzw. Bewertungen ist. Er unterwirft seine eigene ethische Präferenz den Präferenzen aller; wobei ganz im Sinne der utilitaristischen Neutralitätsforderung die eigene Präferenz nur eine von vielen ist.11 Das Individualprinzip des Utilitarismus betrachtet im Prinzip jedes Individuum als eine „Messstation“ für die Interessenbefriedigung dieses Individuums. Nach dem Individualprinzip wird die insgesamt erreichte Interessenbefriedigung (Präferenzerfüllung) aller Individuen als eine Funktion der individuellen Interessenbefriedigungen (Präferenzerfüllungen) betrachtet. Individualistisch ist ein solcher Ansatz insoweit, als er die Bemessungsgrundlage für das Gemeinwohl bzw. das Wohl aller in der Wohlfahrt der Individuen sieht. Kollektivistisch ist dieser Ansatz insoweit, als er als letzten ethischen Maßstab 10 Kurz, die Differenz von Handeln und Unterlassen bricht aus Sicht des Utilitaristen als wertungsrelevante Distinktion zusammen. Allerdings kann man als Utilitarist auch einen weiteren Konsequenzenbegriff verwenden. Danach ist die Tatsache, Konsequenzen einmal durch Wahl einer Option, die landläufig als Unterlassung gilt und einmal durch Wahl einer Option, die wir als Handeln klassifizieren, herbeigeführt zu haben, Teil der Konsequenzen dieser Wahl; zu diesen eher subtilen Punkten BROOME, J. (1991): Weighing Goods. Equality, Uncertainty and Time. Oxford: Basil Blackwell. 11 Das hier anscheinend gegebene Problem eines infiniten Regresses oder der Zirkularität ist insbesondere dann lösbar, wenn man genau zwischen den „ethischen“ Präferenzen, die sich erst aufgrund der utilitaristischen Bewertung ergeben und den „natürlichen“ oder direkten Präferenzen unterscheidet. Der moralische Beurteiler muss nach utilitaristischer Sicht das moralische Urteil ja aus den außermoralischen Bewertungen bilden. Seine eigenen außermoralischen Bewertungen sind dann für die moralische Urteilsbildung ebenso unabhängig von den Moralurteilen anderer gegeben wie die außermoralischen Bewertungen anderer vgl. HARSANYI, J. C. (1977): Rational Behavior and Bargaining Equilibrium in Games and Social Situations. Cambridge: Cambridge University Press, SEN, A., and B. WILLIAMS (1982): "Utilitarianism and Beyond," London: Cambridge University Press. 120 das Wohl aller betrachtet (womit natürlich, das Problem des Bereiches von „alle“ bzw. „jeder“ angesprochen wird). Substitutions-, Äquivalenz- und Individualprinzip zusammen implizieren eine spezifische Auffassung von der Bestimmung des Gemeinwohls und letztlich der Ethik insgesamt. Die Maximierung des gesamten Nutzens aller ist ausschlaggebendes Kriterium des ethischen richtigen. Die Annahme der Substituierbarkeit der Interessenbefriedigung des einen durch die Interessenbefriedigung des anderen, die Norm der Unparteilichkeit, nach der jeder so viel zählen soll wie der andere und keiner mehr als irgendein anderer, diese beiden legen es nahe, sich ganz im Sinne des traditionellen Utilitarismus am Modell einer „Summenbildung“ als Gemeinwohlkriterium zu orientieren.12 3.1.3. Kommensurabilität und interindividuelle Substituierbarkeit Eine einfache Summenbildung geht allerdings von der „Kommensurabilität“ der Nutzenmaße der Individuen aus und damit von einer sehr weitreichenden Annahme. Um zu sehen, wie weitreichend diese Annahme ist, betrachte man das Beispiel des Zehnkampfes. Im Zehnkampf werden die Ergebnisse der Athleten nach einer Punktetabelle bewertet. Das Ergebnis des einzelnen Wettkampfes lässt sich in objektiver Weise messen. Man kann beispielsweise im Hochsprung feststellen, dass ein bestimmter Athlet 1,95 m hochgesprungen ist. In gleicher Weise kann man mit einer Stoppuhr festhalten, dass dieser Athlet im 100 mSprint eine Zeit von 10,9 Sekunden erreicht hat. Will man diese beiden Ergebnisse mit den Ergebnissen eines anderen Zehnkämpfers vergleichen, der beispielsweise im Hochsprung 2,00 m hochgesprungen ist – also 5 cm höher als der erste Athlet – und im 100 m-Lauf 11 Sekunden schnell war – also eine Zehntelsekunde langsamer als sein Konkurrent –, dann kann man nur feststellen, dass der eine in der einen Disziplin besser, in der anderen schlechter war als der andere und der andere ebenfalls in einer Disziplin besser und in einer schlechter. Wäre der zweite Athlet auch schneller gelaufen, also beispielsweise 10,8 Sekunden auf 100 Metern, dann wäre der Vergleich zwischen den beiden hinsichtlich der beiden betrachteten Disziplinen einfach gewesen. Der eine wäre 12 Man kann hier Bezüge zu axiomatischen Charakterisierungen von „linearen Aggregationsfunktionen“ im allgemeinen ebenso herstellen wie zu spezifischen axiomatischen Charakterisierungen sogenannter Sozialwahlfunktionen mit utilitaristischen Eigenschaften; vgl. z.B. YOUNG, H. P. (1994): Equity. In Theory and Practice. Princeton: Princeton University Press. oder SEN, A. K. (1982): Choice, Welfare, and Measurement. Oxford: Oxford University Press, SEN, A. K., and B. WILLIAMS (1982): Utilitarianism and Beyond. Cambridge: Cambridge University Press.). 121 in beiden Disziplinen besser als der andere und damit sicherlich vorzugswürdig gewesen. Im vorliegenden Fall ist es jedoch so, dass der eine den anderen einmal dominiert, während er einmal dominiert wird vom anderen. Erst die Existenz der Zehnkampftabelle führt dazu, dass man dennoch einen eindeutigen Vergleich zwischen den beiden Athleten herstellen kann. Entweder ist der erste Athlet besser als der zweite oder der zweite Athlet ist besser als der erste oder beide sind gleich gut nach Maßgabe einer solchen Punktetabelle. Das gilt auch, ohne Dominanz in allen Hinsichten annehmen zu müssen. Die Punktetabelle sagt uns, wie viel 5 cm im Hochsprung wert sind in Zehntelsekunden im 100m-Lauf. Wie in der Umrechnung von internationalen Währungen legt die Punktetabelle einen Umrechnungs- oder Verrechnungskurs zwischen den verschiedenen Maßeinheiten fest. Sie sagt uns, wie viel in den einheitlichen Punktmaßen die verschiedenen Disziplinmaße „wert“ sind. Mit seinem Substitutionsprinzip geht der Utilitarismus letztlich davon aus, dass eine Kommensurabilität zwischen den Werten von einzelnen Menschen in eben solcher Weise besteht, wie es eine Kommensurabilität zwischen den Werten in den Disziplinen des Zehnkampfes gibt. Diese Auffassung erscheint vielen Philosophen als offenkundig absurd. Fraglich ist allerdings, ob nicht jede ethische Position, die überhaupt zu einem übergreifenden Gemeinwohlurteil kommen will, eine Verrechenbarkeit von Werten implizit voraussetzt und damit ähnlichen Absurditätsrisiken ausgesetzt ist. Wenn etwa im Fall von zwei Weltzuständen X und Y die Person A in X besser gestellt wird als in Y und die Person B in Y besser gestellt wird als in X, dann muss derjenige, der von einem übergeordneten Standpunkt aus sagen will, X sei besser als Y in einer Ethik, die die individuellen Interessen berücksichtigt, anscheinend die Interessenbefriedigung der beiden Betroffenen miteinander vergleichbar machen. De facto tut er dies jedenfalls dann, wenn er je einen der Zustände für alle verbindlich wählen sollte. Mag der Wählende über Interessenbefriedigungen auch überhaupt nicht sprechen, sondern möglicherweise nur über eine intrinsische Vorzugswürdigkeit des einen gegenüber dem anderen Zustand, entweder kommt es zu X oder zu Y und einer, entweder A oder B, hat de facto das bessere Ende für sich. Die traditionelle Ethik mag mit ihrer Verallgemeinerungsforderung insgesamt im Glashaus sitzen. Doch lässt es sich nicht bestreiten, dass sich bestimmte Konflikte im Utilitarismus mit besonderer Dramatik zeigen. Betrachten wir, um dies genauer zu sehen, einige traditionelle solcher Probleme etwas näher. 122 3.1.4. Utilitaristische Politiken Wenn die ethische Theorie niemals befolgt würde, dann bräuchte man sich auch keine Gedanken darüber zu machen, was der Fall sein würde, wenn sie denn befolgt würde. Man müsste sich insbesondere in einer folgenorientierten Ethik keine Gedanken über die Folgen der Propagierung der Ethik selbst machen. In einer folgenorientierten Ethik wie dem Utilitarismus ist diese Vernachlässigung der Frage nach der faktischen Wirkung einer Theorie als Leitideologie einer Gesellschaft allerdings noch fragwürdiger als in einer Ethik, die die Richtigkeit des Handelns zumindest partiell unabhängig von den Handlungsfolgen beurteilen will. Wesentliche Teile der Diskussion um den Utilitarismus gehen von der Annahme aus, dass der Utilitarismus als Leitideologie in der Gesellschaft wirksam sei und untersuchen eine Welt, in der die Menschen und insbesondere die Politiker nach utilitaristischen Prinzipien vorgehen. Man fragt sich typischerweise, was der Utilitarismus in einer bestimmten normativen Frage von uns verlangen würde, nimmt an, dass die utilitaristischen normativen Vorgaben perfekt befolgt würden und untersucht dann die Konsequenzen bzw. Ergebnisse darauf hin, ob sie akzeptabel scheinen oder nicht.13 Diese Fragestellung scheint insofern unangemessen, als sie die Unterscheidung einer Rechtfertigung von Institutionen und Regeln auf der einen und Handlungen unter Regeln nicht angemessen berücksichtigt. Die Regeln des Versprechens etwa können utilitaristisch durch ihre Konsequenzen gerechtfertigt sein, während ein einzelner Versprechensakt nur nach der Regel, dass man Versprechen halten soll, beurteilt wird, ohne die Konsequenzen des einzelnen Versprechensbruches bzw. der einzelnen Erfüllung des Versprechens einzubeziehen (vgl. dazu im einzelnen Lahno, B. (1995)). Doch ungeachtet dieser wichtigen Unterscheidung würde man im Normalfall annehmen wollen, dass in einer Gesellschaft, in der man sich etwa auf eine utilitaristische Rechtfertigung der grundlegenden Regeln und Institutionen beruft, der Utilitarismus nicht nur als Theorie auf Institutionen Anwendung findet, sondern selbst als Teil Leitideologe der Gesellschaft in die moralischen Praktiken des Alltags Eingang findet und allgemeine Anwendung findet. 13 Die formale Entscheidungstheorie hat sich aus diesem Grunde mit der sogenannten Theorie-Absorption befasst; d.h. wenn die Theorie selbst die Realität beeinflusst, wie kann die Theorie dem Rechnung tragen; vgl. DACEY, R. (1976): "Theory Absorption and the Testability of Economic Theory," Zeitschrift für Nationalökonomie, 36, 247-267, — (1981): "Some Implications of 'Theory Absorption' for Economic Theory and the Economics of Information," in Philosophy in Economics, ed. by J. C. Pitt. Dordrecht: D. Reidel, 111-136. 123 Man kann mit einer gewissen Plausibilität sagen, dass eine ethische Theorie bereits dann ethisch unangemessen sei, wenn ihre allgemeine Befolgung schlechte Folgen hätte. Ebenso darf man womöglich eine Theorie nur dann für potentiell annehmbar halten, wenn ihre allgemeine Befolgung zu annehmbaren Ergebnissen führen würde. Es ist gewiss nicht verfehlt, die Methodologie des kontrafaktischen Tests zunächst zu akzeptieren, um erst zu einem späteren Stand der Überlegungen auf die an sich ziemlich bedeutende Frage faktischer Wirksamkeit ethischer Theorie und die Unterscheidung zwischen der Rechtfertigung von Institutionen und der Rechtfertigung einzelner Handlungen erneut einzugehen (vgl. auch unten 4.1). Stellen wir uns also für das Folgende einen Funktionsträger, einen „wohlwollenden Diktator“ vor, der die ethische Theorie, die wir ihm vorschlagen, detailgetreu anwendet und betrachten wir einige exemplarische utilitaristische Politiken unter dieser Voraussetzung. 14 Beginnen wir mit der utilitaristischen Verteilungspolitik. 3.1.4.1. Austeilende utilitaristische „Gerechtigkeit“ In das Konzept des „Gemeinwohls“ kann jedermann im wesentlichen das hineinlesen, was er gerne realisiert sehen möchte. Diese willkürliche Deutbarkeit des Gemeinwohlbegriffes, mag diesen für politische Zwecke besonders brauchbar werden lassen. Für theoretische Zwecke ist es jedoch durchaus fragwürdig, einen derart beliebig deutbaren Begriff verwenden zu müssen. Eine Stärke des Utilitarismus besteht zweifelsohne darin, dass er dem Begriff des Gemeinwohls eine festere Deutung gibt: Das Gemeinwohl besteht darin, den Nutzen aller zu wahren – und zwar konkret die Summe des Nutzens über alle Individuen. Man weiß beim Utilitarismus im Gegensatz zu anderen ethischen (Verteilungs-)Theorien zumindest einigermaßen genau, worüber man redet. Für eine utilitaristische Theorie ist es unerheblich, wer der Empfänger von Nutzen ist. Aufgrund des Substitutionsprinzips ist die Nutzenerfahrung eines Individuums durch die Nutzenerfahrung eines anderen ersetzbar. Genau dieser Sachverhalt wird ja durch die Summierung der Nutzenwerte einzelner Individuen in einer Gesamtnutzensumme erfasst. Nimmt man nun hinzu, dass wir im allgemeinen davon ausgehen, dass Bedingungen „abnehmenden Grenznutzens“ vorliegen, dann ergeben sich sogleich gewisse Folgerungen für eine utilitaristische Verteilungstheorie: Man stelle sich etwa vor, man habe sehr 14 Zur Kritik an der Annahme des wohlwollenden Diktators vgl. klassisch BUCHANAN, J. M. (1999): The Logical Foundations of Constitutional Liberty. Indianapolis: Liberty Fund. 124 großen Hunger. Die erste Brotscheibe, die man erhält, wird im allgemeinen sehr viel Nutzen stiften. Die Befriedigung, die man aus ihr ziehen kann, ebenso wie der Beitrag zur Ernährung und Gesundheit, die sie zu leisten vermag, werden besonders groß sein. Wenn jemand seinen Heißhunger gestillt hat, wird er vermutlich spätestens ab der zehnten Brotscheibe das empfinden, was man als abnehmenden Grenznutzen bezeichnen kann. Jede zusätzliche Scheibe Brot wird ihm weniger Nutzen bringen und ihn schließlich sogar eher quälen als ihm zusätzliches Vergnügen zu bereiten. Es ist keineswegs unplausibel anzunehmen, dass über den gesamten Bereich zusätzlicher Broteinheiten mit jeder Brotscheibe der zusätzliche Nutzen abnimmt. Als ganz einfaches illustratives Zahlenbeispiel könnte man sich vorstellen, dass die erste Scheibe Brot 10 Nutzeneinheiten stiftet, die zweite 9, die dritte 8, usw. die zehnte hingegen überhaupt keinen Nutzen mehr für den Konsumenten erbringt. Schließlich wird der Grenznutzen sogar negativ werden, weil dem Konsumenten schlecht wird. Wenn man sich vorstellt, dass man sich in der Rolle eines wohlwollenden Diktators befindet, der für die Gesellschaft insgesamt eine „Allokation“ der Güter finden soll, die den größten Nutzen stiftet, so wird man das sogenannte „Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen“ zu beachten haben. Wenn jedes Individuum dieser nicht gerade unplausiblen Annahme unterworfen ist, dann hat das Folgen für die Art der Planung. Unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass interpersonelle Nutzenvergleiche möglich sind – eine Voraussetzung, die ein für das gesamte Kollektiv entscheidender Planer unausweichlich machen muss –, wird der Planer die gesellschaftlichen Ressourcen so verteilen, dass der Grenznutzen bei jedem Individuum genau der gleiche ist. Offenkundig kann unter Bedingungen der beliebigen Nutzensubstitution die Nutzensumme nur dann maximiert werden, wenn jeder Empfänger von Nutzen genau den gleichen zusätzlichen Nutzen aus einer weiteren Ressourceneinheit ableitet. Denn zöge A aus einer zusätzlichen Einheit e einen höheren Nutzen als B, der sie gerade erhält, dann sollte die Einheit e von B auf A umverteilt werden, um eine Gesamtnutzensteigerung zu erzielen (es muss bei B weniger aufgegeben werden, als man dafür bei A an zusätzlichem Gesamtnutzen erzielen könnte). Umgekehrt, solange nicht jeder genau die gleiche Nutzenerfahrung aus einer zusätzlichen Nutzeneinheit gewinnt, sollte man Ressourcen genau bei jenen konzentrieren, die dadurch einen größeren Nutzen erfahren. Denn dadurch steigt die Nutzensumme insgesamt am stärksten an. Nimmt man nun hinzu, dass nach aller Plausibilität reiche Individuen aus einer zusätzlichen Gütereinheit, da sie 125 schon sehr viele Gütereinheiten besitzen, weniger Nutzen ziehen als arme Individuen, so bringt das in etwa die Auswirkungen eines abnehmenden Grenznutzens unter Bedingungen interpersonaler Vergleichbarkeit auf die Nutzensummenmaximierung zum Ausdruck. Unter solchen Bedingungen wird das Individuum mit geringem Wohlstand im allgemeinen der Empfänger besonderer Förderung sein, weil bei diesem Individuum der anfallende Grenznutzen voraussichtlich am größten sein wird. Zwar ist es nicht logisch zwingend so, doch empirisch höchst plausibel, dass die ärmeren Individuen im allgemeinen aus einer zusätzlichen Gütereinheit einen höheren Nutzen ziehen werden. Ebenso wie im Falle des Beispiels des Brotkonsums haben sie von den jeweiligen Gütern im allgemeinen weniger konsumiert bzw. eine geringere Grundausstattung dieser Güter. Im Ergebnis führt diese Überlegung dazu, dass die gesellschaftlichen Ressourcen bevorzugt den ärmeren Individuen zugeteilt werden müssen, wenn ein wohlwollender Planer im utilitaristischen Sinne das Gemeinwohl zu maximieren sucht. Denkt man etwa an eine Welt, in der es neben öffentlichen Güterverteilungen auch private Güterausstattungen gibt, dann wird die öffentliche Güterzuteilung bevorzugt an jene gehen, die einen hohen Grenznutzen aus ihr ziehen. Soweit bislang beschrieben, scheint der Utilitarismus aus Sicht des ohnehin latent sozialistischen Alltagverstandes eine plausible Konzeption der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bzw. einer Austeilung jenes Anteiles des Reichtums, über den die öffentliche Hand verfügt. Jedenfalls dann, wenn ein wohlwollender Diktator Güter auszuteilen hat, scheint er einen guten Grund zu einer Verteilung zu haben, die zum Ausgleich der Grenznutzen führt. Mögliche Gegeneinwände liegen allerdings auch nicht fern. Wenn beispielsweise ein Individuum A über einen weiten Bereich höhere Nutzen aus jeder zusätzlichen Gütereinheit zieht als ein Individuum B, dann sollte das Individuum A die zusätzlichen Einheiten erhalten. Vorausgesetzt, dass es eine hinreichende Quantität des zu verteilenden Gutes gibt, garantiert die Annahme vom schließlich abnehmenden Grenznutzen, dass tatsächlich an irgendeinem Punkt das Individuum A einen geringeren Grenznutzen haben wird, als das Individuum B, wenn es eine zusätzliche Gütereinheit erhält. Damit ist auch garantiert, dass das Individuum B nicht gänzlich leer ausgeht. Nicht garantiert ist jedoch, dass beide die gleichen Quantitäten erhalten. Im Falle bestimmter schwerer Handikaps würden wir gerade annehmen, dass diese Ungleichheit hochgradig plausibel und erwünscht ist. Der Benachteiligte erhält besonders viel Aufmerksamkeit und Ressourcen, um seine Benach- 126 teiligung zu kompensieren. Wenn allerdings ein ohnehin schon wohlhabendes Individuum besonders empfänglich für zusätzliche Gütereinheiten sein sollte, dann müsste es diese zusätzlichen Einheiten erhalten, bis sein abnehmender Grenznutzen schließlich soweit gefallen ist, dass andere mehr Nutzen aus einer zusätzlichen Einheit ziehen können. Konkret gesprochen würde das heißen können, dass der ohnehin schon Reiche noch mehr an Reichtum erhält, indem der wirtschaftliche Planer ihm zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellt, um den gesellschaftlichen Gesamtnutzen durch Förderung des Reichen zu maximieren. Für „hedonistisch“ begründete Varianten des Utilitarismus ergibt sich ein weiteres Problem daraus, dass die Glücksforschung zu zeigen scheint, dass Menschen sich an ihre Situation anpassen. Wenn also jemand eine sehr ernste Behinderung erleidet, so ist er in der Regel binnen kurzem soweit, dass er seine Ansprüche an die neue Situation anpasst und dann relativ zu dieser subjektiv ebenso glücklich ist wie zuvor, obschon seine Gesamtsituation objektiv betrachtet viel schlechter ist. Vor diesem Hintergrund hätte der hedonistische Utilitarist guten Grund, erst abzuwarten, wieweit sich Menschen an Missgeschicke anpassen und erst dann Hilfe zu leisten, um das angemessene Glücksniveau auch ohne nachhaltige Verbesserung der Lage „preiswerter“ erreichen zu können. Man muss hier genau unterscheiden zwischen der Frage, ob eine solche Situation empirisch plausibel scheint und der Frage, ob man dann, wenn sie tatsächlich vorliegt, in der entsprechenden Weise verfahren sollte. Die Unplausibilität einer Verteilung durch öffentliche Hände zugunsten der ohnehin Bessergestellten beruht möglicherweise zum großen Teil darauf, dass wir einfach nicht glauben, dass die entsprechenden Bedingungen jemals vorliegen. Wenn sie denn jemals vorlägen, dann wären möglicherweise einige von uns auch bereit, eine entsprechende Umverteilung von „unten“ nach „oben“ zu akzeptieren. Andere würden allerdings meinen, dass die Orientierung an der Summe des Nutzens ethisch unannehmbar würde. Das würde vermutlich ebenso im Falle der Anpassung der Ansprüche an Glücksniveaus gelten. Die vorangehenden eher harmlosen Einwände erschöpfen keineswegs das Feld möglicher Probleme einer austeilenden Gerechtigkeit utilitaristischer Art. Es gibt eine Vielzahl weiterer Einwände, von denen einige nun zu besprechen sind. 127 3.1.4.2. Grundlegende Argumente gegen utilitaristische Umverteilung Gegen den Utilitarismus ist auf vielfältige Weise argumentiert worden. Am Ende laufen die meisten Argumente auf das Gleiche hinaus. Es wird aufgezeigt, dass von der utilitaristischen Logik der Gemeinwohlorientierung her das Opfer des Individuums für die Gesamtheit droht. Denkt man an das Substitutionsprinzip, dann ist offenkundig, wie es zu dieser Gefahr kommen kann. Klassische Einwände sind etwa der von der sozialen Interdependenz, der von der so genannten Überlebenslotterie und der von der Bestrafung Unschuldiger. In beiden letzteren Fällen wird aufgezeigt, dass die Maximierung des Gesamtnutzens, der das Gemeinwohl repräsentiert, tendenziell darauf hinaus läuft, keinerlei individuelle Rechte zu respektieren. Im ersten Fall geht es um eine eher technische Schwierigkeit. Beginnen wir mit dem ersten Fall. Individuen, die von vielen geliebt werden, sollten anscheinend nach utilitaristischer Logik zusätzlich zu der Liebe, die sie ohnehin empfangen, auch noch vom gesellschaftlichen Planer mit Ressourcen bedacht werden. Denn ein von vielen geliebtes Individuum erfreut durch die Freude, die es selbst erfährt, diejenigen, die dieses Individuum lieben, ebenfalls. Dieser Nutzen muss berücksichtigt werden. Umgekehrt sollte ein Individuum, das von vielen verachtet wird und dem viele möglicherweise schlechtes wünschen, tatsächlich vom gesellschaftlichen Planer auch schlecht gestellt werden, da es anderen Individuen eine Freude bereitet bzw. bei diesen Nutzen stiftet, wenn das Individuum schlechter gestellt wird. Solche Folgerungen dürften vielen unserer Intuitionen zuwider laufen. Wir glauben, dass ein ethischer Planer die Dinge anders regeln sollte, um gerecht zu sein. Das Problem der Interdependenz der Nutzen sollte daher so gelöst werden, dass man die indirekte Nutzenstiftung nicht berücksichtigt. Das scheint grundsätzlich machbar. Der Eindruck, dass der Utilitarismus gewissen ethischen Grundintuitionen nicht gerecht wird, verstärkt sich allerdings sehr, wenn man dramatischere Fälle betrachtet. Beginnen wir mit dem einer Bestrafung Unschuldiger. Man versetze sich 100 Jahre zurück und stelle sich vor, dass in irgendeiner Kleinstadt im amerikanischen Süden eine weiße Frau vergewaltigt und ermordet worden ist. Es gibt Indizien dafür, dass die Tat von einem Schwarzen begangen wurde, doch man hat keinerlei Wissen darüber, welche Person der Täter sein könnte. Der Mob rast. Schwarze werden durch die Strassen getrieben und es ist für den ortsansässigen Sheriff vollkommen klar, dass bei den Ausschreitungen am Ende mehrere Schwarze zum Opfer der Lynchjustiz werden müssen. Der 128 Sheriff entschließt sich daher, einen schwarzen Mitbürger willkürlich herauszugreifen und ihn als den Mörder zu präsentieren. Der Sheriff weiß, dass das die Menge beruhigen wird und so, durch das Opfer eines voraussichtlich unschuldigen Einzelnen, mehrere ebenso unschuldige Menschen gerettet werden können. Viele Leben sind wichtiger als eines für ihn und als guter Utilitarist beschließt er, lieber den einen zu opfern, als die Ermordung mehrerer hinnehmen zu müssen. Wenn die Fakten tatsächlich so sind wie geschildert, dann scheint der Utilitarismus tatsächlich die beschriebenen Konsequenzen zu haben. Aus Sicht vieler ethischer Theoretiker macht das den Utilitarismus unannehmbar. Sie beharren darauf, dass es in einer annehmbaren ethischen Theorie nicht möglich sein darf, die Rechte eines Einzelnen beliebig denen der Allgemeinheit aufzuopfern. Das scheint zunächst ein ziemlich plausibler Gegeneinwand zu sein. Denn Rechte haben die zentrale Funktion, uns davor zu schützen, beliebig für das Gemeinwohl aufgeopfert zu werden. Andererseits muss man festhalten, dass es hier nicht um positiv-rechtliche Anrechte geht, sondern darum, was ein Einzelner in einer Notsituation tun sollte. Der Sheriff ist als Person gefragt, nicht als Funktionsträger, der auf die Rechtsordnung zurückgreifen könnte. Die Rechtsordnung sagt klar, dass Lynchjustiz nicht erlaubt ist. Aber der Sheriff sieht sich mit dem Problem konfrontiert, den Rechtsbruch rechtskonform nicht, doch womöglich durch eigenen Rechtsbruch sehr wohl verhindern zu können. Wenn man sich vorstellt, dass man als Einzelner an einer Weiche steht, die man jederzeit umstellen kann, so dass Züge von Gleis A auf Gleis B umgelenkt werden, so könnte man mit dem folgenden bekannten philosophischen Problem konfrontiert sein: Auf dem Gleis A arbeitet ein einzelner Arbeiter. Auf dem Gleis B arbeiten fünf Arbeiter. Ein außer Kontrolle geratener Schienenbus kommt auf die Weiche zugerast. Die Weiche steht so, dass er unweigerlich auf das Gleis B fahren und dort ebenso unausweichlich fünf Gleisarbeiter töten wird. Derjenige, der an der Weiche steht und diese umlegen kann, hat die Möglichkeit, fünf zu retten, indem er einen opfert. Viele von uns würden annehmen, dass lieber der eine geopfert werden sollte als die fünf. Dann stellt sich jedoch die Frage, warum der Sheriff in dem amerikanischen Südstaat nicht auch den einen opfern sollte, um mehrere zu retten. 129 Es stellt sich uns die Frage, ob wir die ethische Maxime, in derartigen Situationen, immer so zu handeln, für richtig oder falsch halten würden. Wenn wir beispielsweise im vorhinein nicht wissen, ob wir in der Lage des Opfers oder der Geretteten sein werden, dann scheint es für uns besser zu sein, in einer Welt zu leben, in der lieber mehr als weniger Menschen gerettet werden. Wenn wir der keineswegs unvernünftigen Auffassung sind, dass die Sozialmoral der Interessenwahrung der Betroffenen dient, dann scheint ein Moralsystem, welches insgesamt die Interessen von mehr Menschen zu wahren vermag, besser zu sein, als ein Moralsystem, welches zu einem geringeren Ausmaß der Interessenwahrung führt. Mit dieser Betrachtung haben wir allerdings das Feld der Kausalwirkungen einer Institutionalisierung einer bestimmten Ethik betreten. Was das anbelangt, hat der Utilitarist einige gute Gegenargumente gegen den auf seine Theorie des ethisch rechten geführten Angriff. Bevor wir diese betrachten, ist es jedoch nützlich den dritten klassischen Gegeneinwand anzuschauen. Ein ganz ähnliches Argument wie das vorangehende kann nämlich auch im Falle der sogenannten Überlebenslotterie für die zunächst wenig annehmbar scheinende utilitaristische Lösung angeführt werden. Die Überlebenslotterie tritt wie die meisten einschlägigen Beispiele in verschiedenen Varianten auf. Eine der Varianten lässt sich wie folgt nacherzählen: Ein Patient C ist zu einem Routine-Check up im Krankenhaus. Es stellt sich heraus, dass er organisch völlig gesund ist und noch eine Lebenserwartung von ca. 40 Jahren hat. Zur gleichen Zeit befinden sich die sterbenskranken Patienten A und B im Krankenhaus. A kann nur überleben, wenn er ein Lebertransplantat erhält und B, wenn er ein Herztransplantat bekommt. Es gibt keine andere Möglichkeit, die beiden zu retten als dadurch, den Patienten C zu opfern. Opfert man ihn, so werden die Patienten A und B, das sei angenommen, eine Lebenserwartung von ca. 40 Jahren haben. Wiederum scheint es klar zu sein, dass ein behandelnder Arzt einen guten utilitaristischen Grund haben würde, den gesunden Herrn C zugunsten der beiden Kranken zu opfern. Wie zuvor gilt im übrigen auch das Argument, dass A, B und C in einer Situation, in der sie nicht wüssten, ob sie krank oder gesund sein werden bzw. welche Rolle sie im späteren Leben einnehmen würden, einer Regel, die zum Opfer der Interessen eines Einzelnen führt, zustimmen sollten. Denn in einer Welt, in der in betreffenden Fällen Einzelne geopfert würden, um Mehrere zu retten, wären die Überlebensaussichten jedes Einzelnen besser als in einer Welt, in der entsprechende Opferregeln nicht existierten. 130 Man muss sich nach alledem davor hüten, bei den vorangehenden Beispielen zu schnell auf die Unannehmbarkeit des Utilitarismus zu schließen. Denn die Beispiele stehen für moralische Entscheidungen Einzelner in bestimmten Situationen. Es geht darum, die jeweilige moralische Entscheidung im Einzelfall zu betrachten. Der Utilitarist würde wie jeder andere vernünftige Mensch zugeben, dass rechtliche Institutionen, die das Opfer Einzelner in derartigen Fällen vorsehen, kaum rechtfertigungsfähig sein können. Der vernünftige Utilitarist wäre wie jeder vernünftige andere Bürger insbesondere der Auffassung, dass man sich davor hüten muss, Einzelnen so viel Macht zu geben, dass sie über Leben und Tod beliebig entscheiden können. Die Voraussetzung der Beispiele ist stets, dass der betreffende moralisch Entscheidende in der Entscheidungssituation keine anderen Optionen besitzt, dass er sich subjektiv vollkommen sicher ist und auch objektiv sein darf, dass der Weltverlauf der unterstellte ist, dass er von dem Motiv beseelt ist, das moralisch Rechte zu tun und nicht durch Missbrauch der eigenen Entscheidungsgewalt Vorteile für sich oder die ihm nahe stehenden Individuen herauszuholen usw. Der vernünftige Utilitarist wird durchaus anerkennen, dass alle diese Bedingungen typischerweise in der realen Welt praktisch niemals oder doch zumindest niemals in eindeutiger Weise vorliegen. In der Regel sind die moralischen Entscheidungsträger nicht nur von moralischen Ansprüchen beseelt und versuchen nicht nur, nach der Logik einer idealen moralischen Theorie vorzugehen, sondern haben alle möglichen Motive, unter denen das Motiv moralischen Verhaltens nur eines bildet. Neben anderen Funktionen haben rechtliche und moralische Institutionen gerade auch die, uns durch allgemeine Regeln vor zu viel Vertrauen in unsere eigene moralische Urteilskompetenz im Einzelfall zu schützen. Es geht nicht nur darum, dass wir lieber mit ruhigen Nerven zum Routine-Check up gehen möchten, als stets befürchten zu müssen, dass wir die Klinik nicht lebend verlassen. Es geht auch darum, dass wir als Entscheidungsträger nicht jeweils von vielen Einzelentscheidungen überfordert werden wollen. Die Bindung an allgemeine institutionelle Regelungen ist auch utilitaristisch sinnvoll. Der Utilitarist kann die Notwendigkeit der Bindung zugestehen wie jeder andere ethische Theoretiker und daher Institutionen fordern, die strikte Regeln gegen das Opfer einzelner enthalten. Im außer-institutionellen Bereich wird es hingegen bei eher utilitaristischen Notfallprinzipien bleiben, wie wir sie ja auch tatsächlich in den Notsandsparagraphen der entwickelten Rechtsordnungen finden. Der gute 131 Utilitarist wird sagen, dass institutionellen Verbote, Einzelne zu opfern, nicht deshalb bestehen, weil es in sich falsch wäre, die Einzelnen zu opfern. Die Moral oder auch die Rechtsordnung sollten institutionelle Regelungen enthalten, die das Opfer Einzelner strikt verbieten, weil wir von uns selbst wissen, dass unsere Einzelentscheidungen mit Erwartungs- und Motivationsunsicherheit verbunden sind. Wir kennen nicht die Zukunft bzw. wir kennen sie nicht so genau, wie es nötig wäre, um weitreichende Opferentscheidungen zu treffen (Erwartungsunsicherheit) und wir können in der Regel nicht darauf vertrauen, dass wir wirklich nur von „reinen“ moralischen Motiven in unserer Entscheidung beseelt sein werden (Motivationsunsicherheit). Aus diesen, doch auch nur aus diesen Gründen, sollten aus utilitaristischer Sicht unsere moralischen und rechtlichen Institutionen strikte Regeln enthalten, die das Opfer der Interessen Einzelner zugunsten der Interessen Mehrerer verbieten. Der „clevere“ Utilitarist wird argumentieren, dass die Regeln aus den vorangehenden Gründen und nicht deshalb installiert werden sollten, weil es in sich richtig wäre, lieber viele als wenige zu opfern. Auf einer obersten Moralebene werden die moralischen Institutionen ebenso wie die rechtlichen Institutionen mit grundlegenderen Argumenten der Interessenwahrung gerechtfertigt. Diese Argumente der Interessenwahrung rechtfertigen den Vorrang für viele gegenüber wenigen. Der absolute Schutz des Einzelnen ist demgegenüber immer nur eine abgeleitete institutionelle Regel. Während wir für die fundamentale moralische Begründungsebene nur die Gemeinwohlwahrung kennen, gibt es auf der nach gelagerten Ebene der Institutionalisierung eine weiterreichende Bindung an institutionell-absolute normative Vorgaben. Deshalb ist die Überlebenslotterie im Prinzip ein zwingendes Argument, ohne auf der Ebene der konkreten institutionellen Regeln zu einer Aufweichung der absoluten Verbote führen zu müssen. Der Utilitarist wir in diesem Dingen nicht dem Wohlwollen eines noch so wohlwollenden Diktators vertrauen wollen. Die institutionelle Einschränkung auf institutionell absolute Verbote ist aber etwas ganz anderes als eine den institutionellen Fragen vorausgehende fundamentale ethische Theorie. Als reine ethische Theorie ist der Utilitarismus nicht offenkundig verfehlt. Die vermutlich am besten entwickelten Varianten des Utilitarismus als oberster, allen institutionellen Fragen vorausgehender Begründungstheorie, die auf John Harsanyi zurückgehen, können von Anhängern des ethischen Universalismus keineswegs ignoriert werden. Betrachten wir eine Skizze des Grundansatzes von Harsanyi. 132 3.2. Entscheidungstheoretische Präzisierungen des Utilitarismus 3.2.1. Die Lotterie des Lebens Folgt man Harsanyi, so muss man das Leben als eine Lotterie modellieren, welche dem einen ein gutes, dem anderen ein schlechtes Los bescheren kann. Die Qualität der Lose und die Verteilung der Lebenschancen wird wesentlich von der Grundstruktur der Gesellschaft mitbestimmt. Diese Grundstruktur ist in einer konstitutionellen Entscheidung wählbar. Die Sozialwissenschaft sagt uns, wie wir die Grundstruktur beeinflussen können. Die Ethik sagt uns, welche soziale Grundstruktur wir bevorzugen sollten – und Harsanyis Ethik vollzieht dies auf utilitaristische Weise im Rahmen des folgenden Denkmodells. Man stelle sich vor, dass von und für n Individuen i=1, 2, ..., n die Grundordnung einer Gesellschaft zu wählen sei. Es gibt eine wohldefinierte Menge verschiedener Grundordnungen G. Jedes gj ∈ G, j=1, 2, ..., r, hat jeweils n gesellschaftlichen Positionen gj = {gj1, gj2, ..., gjn}. Der Ausdruck "gjk" steht für die Position k in Gesellschaft j. Die Gesellschaften umfassen Lebensperspektiven von der Putzfrau bis zum Generaldirektor, vom Gefängnisinsassen bis zum Präsidenten usw. – natürlich nur jene Positionen, die in der betreffenden Gesellschaft existieren und für die Situation der Individuen in der jeweiligen Gesellschaft ausschlaggebend sind. Die Individuen sind über die Gesellschaften und die gesellschaftlichen Positionen informiert. Doch kein Individuum weiß bei Abgabe seines Moralurteiles über die Gesellschaften, welche Position es einmal einnehmen wird, nachdem die Verfassung eingerichtet und damit die Gesellschaft gewählt wurde. Der Akt der Wahl von Regeln vollzieht sich also „hinter dem Schleier der Unkenntnis“ über die spätere Position. Er entspricht insoweit der Wahl einer Lotterie mit unbestimmtem Ausgang. Damit setzt Harsanyi eine Idee von William Vickrey – wie Harsanyi Nobelpreisträger in Wirtschaftswissenschaften – um. Vickrey hatte bereits im Jahre 1948 ein Argument vorgeschlagen, das später nicht nur von Harsanyi, sondern von vielen Sozialtheoretikern – insbesondere von James M. Buchanan und John Rawls – benutzt werden sollte. Harsanyi strebt an, ein intersubjektiv akzeptierbares, verallgemeinerbares Werturteil über die Alternativen abzuleiten. Da er sich auf die Wertfragen als solche beschränken möchte, schlägt er vor, zwei Annahmen zu machen. Zum einen wird von ihm vorausgesetzt, dass die Individuen in ihren Urteilen sämtlich 133 von den gleichen empirischen Annahmen über zukünftige Weltverläufe unter jedem gewählten Satz von Verfassungsregeln ausgehen. Was geschehen wird, wenn man eher die eine als die andere Verfassung wählt, wird als einmütig akzeptiert unterstellt. Zum anderen wird angenommen, dass alle Individuen sämtlich zu einem unparteiischen Moralurteil kommen wollen, das die Interessen jedes einzelnen gleich gewichtet. Das führt zu einer Gleichwahrscheinlichkeitsannahme, die für alle gleichermaßen expliziert, was Unparteilichkeit in dem betrachteten Entscheidungskontext für sie überhaupt heißt. Bei Vickrey hieß es: "If utility is defined as that quantity the mathematical expectation of which is maximized by an individual making choices involving risk, then to maximize the aggregate of such utility over the population is equivalent to choosing that distribution of income which such an individual would select were he asked which of various variants of the economy he would like to become a member of, assuming that once he selects a given economy with a given distribution of income he has an equal chance of landing in the shoes of each member of it. Unreal as this hypothetical choice may be, it at least shows that there exists a reasonable conceptual relation between the methods used to determine utility and the uses proposed to be made of it." (Vickrey, W. (1948), 329) 3.2.2. Grobe Formalisierung der Lebenslotterie Jede Gesellschaft gj ∈ G, j=1, 2, ..., r, kann unter den zuvor gemachten Annahmen als eine Lotterie der Form gj = {1/n, gj1; 1/n, gj2; ...; 1/n, gjn} aufgefasst werden. Da r Gesellschaften zu betrachten sind, erhält man die vollständige Liste aller Lotterien zu g1 = {1/n, g11; 1/n, g12; ...; 1/n, g1n} g2 = {1/n, g21; 1/n, g22; ...; 1/n, g2n} . … . … gr = {1/n, gr1; 1/n, gr2; ...; 1/n, grn} . 134 Falls man unterstellt, dass der nicht-kontrollierbare Umwelteinfluss darin besteht, eine bestimmte gesellschaftliche Position zugewiesen zu bekommen, ergibt sich sogleich die folgende Darstellung des Entscheidungsproblems in Tabellenform: g1 g11 g12 ... ... g1n g2 g21 g22 ... ... g2n ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... gr gr1 gr2 ... ... grn Tabelle 3 Die Gleichwahrscheinlichkeit jeder Position in jeder Gesellschaft für jedes Individuum ist durch eine externe normative Bedingung für alle zu berücksichtigenden Positionen vorgegeben. Hat man es mit Entscheidern zu tun, die Präferenzordnungen über den "Lotterie-Preisen" gji haben, die sich jeweils (erwartungswerttreu) durch Nutzenfunktionen repräsentieren lassen, dann kann man für jedes der Individuen i=1, 2, ..., n sofort eine entsprechenden Tabelle mit Nutzenwerten 135 g1 ui(g11) ui(g12) ... ... ui(g1n) g2 ui(g21) ui(g22) ... ... ui(g2r) ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... gr ui(gr1) ui(gr2) ... ... ui(grn ) Tabelle 4 und den Erwartungsnutzen ui(gj) jeder Gesellschaft gj bilden. Diese Erwartungsnutzenbildung entspricht etwa dem, was jemand tut, der den Gelderwartungswert einer Lotterie ausrechnet, indem er die Preise mit den Wahrscheinlichkeiten gewichtet. Also falls i unterstellt, mit seinen je eigenen Präferenzen in jede der gesellschaftlichen Positionen jeder Gesellschaft mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu geraten, bildet et ui(gj) = (1/n)* ui(gj1)) + (1/n)* ui(gj2)) + ... + (1/n)* ui(gjn)). Nach dem bisherigen Argument wird der rationale Entscheider i jene Gesellschaft gj individuell bevorzugen, die den höchsten Nutzenerwartungswert bei Bewertung nach seinen eigenen Wertvorstellungen bietet. Falls mehrere maximale Gesellschaften existieren, die alle den gleichen Nutzenerwartungswert aufweisen, zeigt das eine Indifferenz des Entscheiders i an. Es ist gleichgültig, welche von diesen Gesellschaften, die alle in seiner Präferenzordnung maximal sind, gewählt wird. Es geht somit für den rationalen Entscheider bei der Wahl von Regeln darum, eine Gesellschaftsform gj zu finden, die in seiner Präferenzordnung ein maximales Element bildet und damit den maximalen Nutzen bietet. Er verhält sich dann so, als ob er bei der Wahl von gesellschaftlichen Grundregeln seinen Erwartungsnutzen in jeweiliger Unkenntnis seiner späteren gesellschaftlichen Situation maximierte. Harsanyi lässt es bei dieser Überlegung nicht bewenden. Es können ja immer noch unterschiedliche i, j, i≠j, zu unterschiedlichen Maximierungsurteilen 136 kommen. Zwar ist jeder gleichermaßen um Unparteilichkeit bemüht, doch gelangt nicht jeder zwangsläufig zum gleichen unparteiischen Urteil. Wirkliche Unparteilichkeit verlangt nun nach Harsanyi, dass jeder für die Beurteilung der jeweiligen gesellschaftlichen Position, in die er geraten könnte, genau die Präferenzen zugrunde legt, die derjenige hätte, der in der Situation landen würde. Nimmt man das an, so gelangt man nach gewissen formale Zusatzüberlegungen zu dem für alle identischen vollständig unparteiischen Urteil darüber, welches die beste Gesellschaft gj ist. 3.2.3. Unparteilichkeit und ihre Grenzen 3.2.3.1. Unparteiische Gemeinwohlförderung Wir wollen, wie hier angenommen wurde, verallgemeinerungsfähige Urteile abgeben und in unserem moralischen Diskurs geht es uns typischerweise um solche Arten von Urteilen. Unparteilichkeit wird im übrigen nicht nur mit Verallgemeinerung und dem Verallgemeinerungsanspruch der Urteile in Verbindung gebracht, sondern auch mit einer distanzierten Haltung zum Gegenstand der Beurteilung. Man ist unparteiisch, wenn man kein wirklich eigenes Interesse in einer Sache hat. Ein Richter wird beispielsweise vor Gericht als befangen abgelehnt, wenn er ein spezifisches Interesse an der zur Entscheidung anstehenden Sache hat. Wir erwarten, dass gute Richter distanziert sind. Sie wägen neutral die Pro- und Contraargumente der Parteien gegeneinander ab. Die Parteien sind parteiisch, die Richter nicht. Will man eine Entscheidung nun nach ethischen Maßstäben beurteilen, so könnte man ein unparteiisches Urteil – entsprechend dem eines Mediators – zu fällen versuchen. In diesem Urteil würde man gegeneinander abwägen, ob die Gewinne der Gewinner die Verluste der Verlierer so stark und auf eine Weise überwiegen, dass die "Politik" gerechtfertigt erscheint. Die utilitaristische Vorgehensweise ist dann eine durchaus plausible Explikation dessen, was man unter dem Gemeinwohl verstehen kann. Die Wahrung des allgemeinen Wohles setzt danach voraus, dass man möglichst unparteiisch die Interessen von jedermann gegeneinander abwägt und möglichst gut zu wahren sucht. Nach dem vorgeschlagenen Modell versetzt man sich dazu fiktiv in Unkenntnis und wählt hinter dem Schleier der Unkenntnis eine Alternative oder ein optimales Los. 137 3.2.3.2. Unparteilichkeit und Verhältnismäßigkeit Es ist nach einer weit geteilten Intuition ethisch gefordert, immer dann einzugreifen, wenn man durch ein kleines Opfer für einige einen sehr großen Vorteil für andere realisieren kann. Umgekehrt wird argumentiert, dass selbst beachtliche Vorteile einer Vielzahl von Individuen nicht rechtfertigen können, einigen wenigen große Opfer zuzumuten. Verhältnismäßigkeitsprinzipien setzen nicht notwendig darauf, dass man im Schnitt genauso viel gewinnt wie verliert. Sie können allerdings im Sinne eines generalisierten Versicherungsprinzips unter bestimmten Risikoannahmen stark mit einem Prinzip durchschnittlich gleicher Gewinne und Verluste parallelisiert werden. Das ist dann möglich, wenn man annimmt, dass jeder mit einer geringen Wahrscheinlichkeit in die Gefahr geraten kann, einen großen Verlust zu erleiden, der durch ein kleines Opfer eines anderen oder vieler anderer kompensiert bzw. verhindert werden kann. Kleine Opfer und die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit dieser kleinen Opfer werden eingetauscht für die Vermeidung massiver großer Verluste bzw. einer Reduktion der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten solcher Verluste. Denkt man etwa an das deutsche Recht der unterlassenen Hilfeleistung, so sieht man sogleich, dass derartige Intuitionen weit verbreitet und in unserer Rechtsordnung mittlerweile fest verankert sind. Es wird dem Bürger auferlegt, einem anderen Bürger, der ihm gänzlich fremd sein mag, zu helfen, wenn er mit einem kleinen Opfer für sich selbst einen großen Verlust des anderen vermeiden kann. Wir müssen nicht unser eigenes Leben riskieren, um einen anderen aus Lebensgefahr zu retten, doch müssen wir unter Umständen in Kauf nehmen, dass unser Eigentum verletzt wird oder dass wir ein paar unangenehme, relativ harmlose Handgriffe auszuführen haben. Wir sagen, dass diese Handgriffe und die Unannehmlichkeit zumutbar sind, weil sie zu einer starken Verbesserung grundlegender Chancen anderer führen. Wer ein Kind retten kann, ohne sein Leben zu riskieren, indem er in einen schmutzigen Teich steigt, dem ist das zuzumuten. Es scheint im ganzen so zu sein, dass an der Verallgemeinerungsfähigkeit orientierte ethische Theorien letztlich darauf hinaus wollen, Parteilichkeit für bestimmte Interessen als Ausdruck tiefer liegender verallgemeinerbarer Interessen zu rechtfertigen. Die umgekehrte Strategie einer nicht weiter begründeten Parteilichkeit für Unparteilichkeit wird weit weniger häufig ins Auge gefasst. Sie ist jedoch keineswegs völlig von der Hand zu weisen. So kann trivialer Weise jemand ohne weitere Begründung gleichsam „naiv“ parteilich 138 sein für Institutionen, die nach bestimmten Unparteilichkeitsnormen vorgehen. Wer beispielsweise in einem westlichen Rechtsstaat aufgewachsen ist, der kann durchaus aufgrund der Erfahrungen, die er in diesem Rechtsstaat gemacht hat, parteiisch sein für diese Lebensform. Er hat möglicherweise eine starke Präferenz für unabhängige Gerichte. Er hat möglicherweise auch eine starke Präferenz für starke Bürgerrechte. Er kann darüber hinaus die in den politischen Institutionen verankerten Normen interindividuellen Respektes internalisiert haben. Diese Erfahrung und möglicherweise der Vergleich mit anderen Lebensformen lässt ihn parteiisch sein für seine eigene Lebensform und die in ihr verwirklichten Normen der Unparteilichkeit, ohne dass er diese Präferenz selbst noch mit unparteiischen Urteilen begründet. Man kann durchaus parteiisch für Unparteilichkeit etwa von Gerichten sein. Man kann auch als Anhänger von Normen der Toleranz intolerant gegenüber den Intoleranten sein. Man kann der Auffassung sein, dass die eigentliche Toleranznorm die der Intoleranz gegenüber Intoleranten ist und nicht, das, was man als „positive“ Toleranz bezeichnen könnte. Eine gewisse Parteilichkeit für Werte, die in Politik umgesetzt werden wollen und dort letztlich politische und rechtliche Unparteilichkeit beinhalten, ist moralisch möglicherweise nicht nur erwünscht, sondern ein politisch höchst notwendiger Akt zur Unterstützung bestimmter freiheitlicher Institutionen. Denn eine Ethik, die für Normen interindividuellen Respekts Partei ergreift, ist möglicherweise darauf angewiesen, dass man Parteilichkeit für diese Art von Werten zulässt und gerade nicht auf verallgemeinerter Argumentation beharrt. Wenn man diesen Schritt unternimmt, dann hat man das Feld einer Ethikrechtfertigung, die fundamental von Allgemeinheitsansprüchen bestimmt wird, verlassen. Denn man startet dann von einer ursprünglichen Parteilichkeit für Unparteilichkeit und nicht von Verallgemeinerungsnormen. Konkret bedeutet das, dass Anhänger westlicher sozialer und politischer Normen von einer ursprünglichen Präferenz für diese Lebensweisen ausgehen, ohne beanspruchen zu können, diese selbst noch sozialphilosophisch untermauern zu können. Es ist nicht klar, bis zu welchem Grade Ethiker bereit sein können, den Verallgemeinerungsanspruch zugunsten einer solchen – kommunitaristischen – Parteilichkeit für politische Unparteilichkeit oder grundsätzliche Rechte aufzugeben, ohne das Feld der traditionellen Ethik zu verlassen. Die sogenannten Gesellschaftsvertragstheoretiker versuchen typischerweise, nicht einfach auf eine Parteilichkeit für die je eigenen Normen unparteiischer 139 Behandlung zurückzugreifen, sondern universelle Normrechtfertigungsansprüche für ihre Theorien aufrechtzuerhalten. Diese Bemühungen haben die jüngere Sozialphilosophie geprägt. Das gilt vor allem auch für die Theorien von Rawls und Habermas. Diese bilden Konkurrenten zum Verallgemeinerungsdenken Harsanyis. 3.3. Rawlsscher Antiutilitarismus 3.3.1. Vor dem Wiederaufstieg der praktischen Philosophie Die zuvor skizzierte im weiteren Sinne utilitaristische Konzeption von John Harsanyi wird von John Rawls als vertragstheoretischer Utilitarismus klassifiziert. Daran ist richtig, dass Harsanyi wie alle anderen sogenannten Vertragstheoretiker das Konzept des Schleiers der Unwissenheit über die je eigene Betroffenheit akzeptiert. Die moderne Sozialphilosophie wird in großen Teilen von den Theorien des Gesellschaftsvertrages als direkten Gegenspielern utilitaristischer Theorien bestimmt. Hier unterscheidet man zwischen den sogenannten alten und den neuen Vertragstheoretikern. Die modernen oder neuen Vertragstheoretiker sind zunächst einmal James M. Buchanan, Robert Nozick, John Rawls. Für die Vielzahl anderer Theoretiker, die auch als Anhänger der Gesellschaftsvertragslehre im weiteren Sinne anzusehen sind, sei stellvertretend auf David Gauthier verwiesen. Mit einigem Recht könnte man Jürgen Habermas ebenfalls zu den Vertragstheoretikern rechnen. Obschon er dem Gedanken des Gesellschaftsvertrages grundsätzlich skeptisch gegenüber steht, enthält seine Konzeption des idealen Konsenses wesentliche Elemente einer "Zustimmungstheorie der Rechtfertigung" und damit ausschlaggebende Aspekte der Gesellschaftsvertragstheorie. Zu den älteren neuzeitlichen Vertragstheoretikern sind vor allem Thomas Hobbes, Immanuel Kant und John Locke zu rechnen. Wiederum kann man mit Jean Jacques Rousseau für viele andere stellvertretend einen weiteren Theoretiker des Gesellschaftsvertrages hervorheben. Der Wiederaufstieg der Gesellschaftsvertragslehre ist eigentlich rundherum überraschend. Der Grund hierfür lag zunächst in der vernichtenden Kritik, der man die Lehre vom Gesellschaftsvertrag unterzogen hatte. Ein anderer Grund bestand darin, dass man gegenüber Ansprüchen auf rationale Begründbarkeit moralischer Urteile extrem skeptisch geworden war. Das normativ ethische Denken insgesamt schien aus Sicht der Philosophen in den fünfzig Jahren vom 1. 140 Weltkrieg bis etwa 1970 höchst problematisch zu sein und mehr mit Ideologie als mit rationaler Begründung zu tun zu haben. Für diese Sicht war zum einen die Auseinandersetzung um die rationale Begründbarkeit moralischer Urteile in der Meta-Ethik (einer Theorie über die Ethik), zum zweiten die Auseinandersetzungen um den Marxismus (sowie verwandte Ideologien) und zum dritten die Beobachtung verantwortlich, dass die unterschiedlichsten politischen Systeme Anspruch auf rationale philosophische Begründung erhoben. Die verbrecherischsten Systeme taten dies ebenso wie gemäßigte und akzeptable. Und alle fanden clevere Philosophen, die ihnen die ideologische Begleitmusik auf häufig durchaus scharfsinnige Weise lieferten – (auch Hitler und Stalin fanden ihre "philosophische" Entourage). Es schien, dass letztlich wenig dafür sprach, dass sich in politischen Fragen ein Ausmaß intersubjektiver Übereinstimmung erreichen ließ, das auch nur halbwegs mit dem Ausmaß vereinbar war, in dem man über Sachthemen Einigkeit erzielen konnte. Für praktische Ziele zu kämpfen, das mochte sich aufgrund irgendwelcher Ideale sehr wohl noch lohnen, die rationale Begründbarkeit dieser Ideale und dieser Kämpfe schien jedoch ausgeschlossen. Ganz allgemein konnte man das gleiche in der Ethik beobachten. Denn auch in der Ethik war der zuvor selbstverständlich erhobene Anspruch auf umfassende rationale Begründbarkeit in Zweifel geraten. Man traute sich nicht mehr, normative ethische Fragen, wie die nach dem guten Leben mit rationalem Rechtfertigungsanspruch zu behandeln. Man ging von der inhaltlichen normativ ethischen Fragestellung ab, um sich Problemen der ethischen Sprache, der Moralpsychologie etc. zuzuwenden. Wo in der Ethik der Übergang von der normativen und inhaltlichen Ethik zur sogenannten Meta-Ethik erfolgte, da erfolgte analog der Übergang von der politischen Theorie und Sozialphilosophie zur Analyse der politischen Theorien. Konkret, man fragte nicht mehr, „wie sollen wir staatlich oder nicht-staatlich miteinander leben?“, sondern, „wie reden wir darüber, wie wir miteinander leben sollen und wie lassen sich, wenn überhaupt entsprechende normative Urteile begründen?“ Das alles änderte sich mit dem Erscheinen von John Rawls’ Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“. 3.3.2. Die Situation bei Veröffentlichung der Rawlsschen Theorie Die wesentlichen Elemente von Rawls Theorie waren in der Philosophie an sich ohnehin bekannt. Durch Rawls selbst waren sie in einschlägigen Aufsätze schon 141 ca. 2 Jahrzehnte vor Erscheinen seines Hauptwerkes publiziert worden. Diese Aufsätze hatten jedoch keineswegs die Aufmerksamkeit, die dem Buch gewidmet wurde, gefunden. Da die Aufsätze überdies teilweise eher klarer und überzeugender scheinen als das Buch, kann der Grund nicht darin gelegen haben, dass die Aufsätze zu theoretisch und schwer verständlich waren, während erst das Buch die Konzeption von Rawls in ihrer ganzen Breite und verständlicher darlegte. Was also kann den Erfolg der Theorie erklären? Die plausible Erklärung dafür, dass Rawls’ Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ ein so überwältigender Erfolg beschieden war, liegt darin, dass die Zeit für die Rawlssche Theorie erst „reif“ sein musste. Anders als etwa im Falle von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die weit eher aus sich heraus aufgrund einer innerwissenschaftlichen Dynamik beachtlich sein können, bedarf es für den Erfolg einer sozialphilosophischen Theorie externer Faktoren, zu denen auch insbesondere ein geneigtes Publikum gehört. Die Aufbruchstimmung der 60-er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts half hier so wie hundert Jahre früher die Zeichen eines industriellen Aufbruchs für den Utilitarismus und fünfzig Jahre zuvor für den Sozialismus günstig standen. Zwar wäre es verfehlt, Rawls einfach als den politischen Theoretiker der nichtmarxistischen (Alt-)68-er zu bezeichnen, doch wäre sein Erfolg ohne das entsprechende politische Klima, welches ja nicht nur in der jüngeren Generation zu einer Neubestimmung von Weltanschauungen führte, kaum denkbar gewesen. In gewisser Weise ist Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ Bestandteil und Ausdruck des kulturellen und ideologischen Aufbruchs. Der 2. Weltkrieg lag in den 60-er Jahren so lange zurück, dass es nicht mehr allein um dessen politische Ver- und Bearbeitung gehen musste, sondern an eine zukunftsgewandte Neuorientierung gedacht werden konnte. Es gab Wirtschaftswachstum, es gab eine Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums, es gab "etwas zu verteilen". Die Frage, wie dies denn "gerecht" zu geschehen habe, stellte sich jedenfalls für alle, die Verteilungsgerechtigkeit überhaupt als eine Staatsaufgabe ansahen. Verteilungsgerechtigkeit wurde zudem auch deshalb zu einem bedeutenden Thema, weil die Staatsquote in allen westlichen entwickelten Industrienationen massiv gestiegen war. Dieses Anwachsen der Staatsquote bedeutete auch, dass immer mehr Anteile des gesellschaftlichen Wohlstandes de facto durch öffentliche Instanzen verteilt wurden. Indem man immer größere Bereiche der Gesellschaft politisiert hatte, wurde auch die Verteilungspolitik zunehmend bedeutsam. Verteilungsgerechtigkeit wurde zwangsläufig zur Staatsaufgabe, weil man die Aufgaben des Staates so ausgeweitet hatte, dass niemand ihm noch nachhaltig ausweichen konnte. 142 Die großen kollektiven Anstrengungen, die insbesondere der 2. Weltkrieg auch für die liberalen Rechtsordnungen mit sich gebracht hatte, hatten gewiss dem Gemeinschaftsdenken gegenüber dem bürgerlich-individualistischen Denken Vorschub geleistet. Alle freien westlichen Staaten waren zu Wohlfahrtsstaaten ausgeprägter Art geworden. Das galt sogar für die Vereinigten Staaten von Amerika. Mögen diese auch aus europäischer Sicht immer noch gern als "kapitalistischer wilder Westen" betrachtet werden, das Bestreben, Unterschiede zwischen den Menschen durch Politik auszugleichen, war in den USA ebenso wie in anderen Nationen spürbar. Man behandelte die Menschen nach staatlichen Regeln zunehmend ungleich, um sie gleicher zu machen. Daraus entstand ein zunehmendes Bedürfnis, das Konzept einer freiheitlichen und zugleich sozial gerechten Ordnung und das für diese relevante Gleichheitskonzept neu zu bestimmen. 3.3.3. Der Grundansatz von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie Rawls Theorie der Gerechtigkeit beansprucht eine Rechtfertigung für beides zugleich zu sein: den liberalen Vorrang der individuellen Grundfreiheiten und wohlfahrtsstaatliche fundamentale Umverteilung. Rawls tritt für den Primat bürgerlicher Grundfreiheiten ein. Diese Grundfreiheiten sind für ihn anders als für den klassischen Liberalismus nicht in natürlichen Rechten verankert, sondern letztlich von der Gemeinschaft gewährte oder eingeräumte Privilegien. Jeder soll die umfassendsten Freiheitsrechte, die – ganz kantisch – mit der gleichen Freiheit aller anderen vereinbar sind, durch den Staat zuerkannt erhalten. Letztlich ist es aber der Staat, der diese Rechte kreiert und durchsetzt. Individuen haben diese Rechte nicht "vor" dem Staat. Sie bringen sie nicht mit in den kollektiven Verbund des Staates ein. Das private Recht des einzelnen ist letztlich ein öffentliches Recht, denn es sind der Staat bzw. die Allgemeinheit, die das Recht durchsetzen. Auch die fundamentalen Bürgerrechte sind vom Staat in Form der Rechtsordnung „produziert“. Was für die negativen Abwehrrechte des klassischen Liberalismus gilt, gilt erst recht für die sogenannten positiven Teilhaberechte, des modernen Sozialstaates. Diese Rechte werden ebenfalls nicht aus einem vorgesellschaftlichen oder vorstaatlichen Zustand in den vergesellschafteten staatlichen Zustand gleichsam mitgebracht. Wenn der Staat verteilt, um Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen, dann geht es in der Regel nicht um Ansprüche, die den Menschen von Natur aus zukämen, sondern es geht um Ansprüche, die erst durch die künstlichen Mechanismen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit entstehen. 143 3.3.3.1. Separatheit der Person als Kern der Vertragstheorie Wer der Charakterisierung des Rawlsschen Ansatzes bis zu diesem Punkte gefolgt ist und über keine vorherige Kenntnis des Rawlsschen Denkens verfügt, der wird sich womöglich fragen, was denn das ganze mit der Gesellschaftsvertragslehre und überhaupt dem Vertragsgedanken zu tun haben kann. Diese Frage ist durchaus berechtigt. Denn die Bildung der Gesellschaft durch freie vertragliche Zustimmung – etwa vergleichbar mit der Bildung eines Vereins oder Klubs – spielt in Rawls Theorie keine Rolle. Insbesondere die Idee einer aus Naturrechten abgeleiteten staatlichen Rechtsordnung, die gegenüber vorherigen individualrechtlichen Positionen bloß derivativ ist, gehört zwar zur klassischen Gesellschaftsvertragslehre, doch gewiss nicht in das Rawlssche System. Es ist nicht überspitzt, im Falle von Rawls von einer "Gesellschaftsvertragslehre ohne Vertrag" zu sprechen. Eine Berührung mit klassischen vertragstheoretischen Überlegungen gibt es dennoch. Denn auch im Rawlsschen Ansatz nimmt die theoretische Rechtfertigung von individueller Autonomie und Zustimmung ihren Ausgang. Rawls Theorie ist eine "Zustimmungstheorie der Rechtfertigung". Die Bildung der Gesellschaft und des Staates werden zwar selbst nicht als Vertragsschluss modelliert. Es wird aber die Rechtfertigungstheorie für die Gesellschaftsordnung in einer Weise gebildet, für die das Element individuell-autonomer Zustimmung konstitutiv ist. Auf der Stufe der Rechtfertigung normativer theoretischer Urteile soll dem Ideal des Respektes für Personen, das Rawls zu Recht für vertragstheoretisch hält, Rechnung getragen werden. Auf dieser Stufe soll auch der entscheidende Unterschied zum Utilitarismus angesiedelt sein. Wo der Utilitarist letztlich in Verfolgung seiner eigenen Ideale neutraler unparteiischer Urteilsbildung das Urteil des ethisch und moralisch Urteilenden gänzlich den individuellen Einzelurteilen der je Betroffenen unterstellt, da besteht das repräsentative Individuum von Rawls darauf, die "Separatheit der Person" auch gegen und unabhängig von den Urteilen der vielen separaten Personen durchzuhalten und zu respektieren. Das Ideal der Separatheit der Person drückt sich für Rawls institutionell darin aus, dass allen Individuen unverletzliche Grundfreiheiten oder Abwehrrechte zuerkannt werden müssen. Mit Blick auf die Verteilung der Grundgüter der Gesellschaft durch Teilhaberechte geht es um jedes Individuum gleichermaßen. 144 Dort, wo für den Utilitaristen die Annahme, dass man in jeder gesellschaftlich möglichen Position mit der gleichen Wahrscheinlichkeit sein könne, den natürlichen Ausdruck des Bemühens um Neutralität und Verallgemeinerbarkeit bildet, da lehnt Rawls eine solche Quantifizierung des „Risikos“ ab. Er verlangt, dass im Vergleich unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen jeweils ausschließlich auf die Interessen der am schlechtesten gestellten Individuen geachtet wird. Dies allein ist für ihn ein angemessener Ausdruck des Respektes vor jedem der Individuen. Jede Person muss als Person geachtet werden. Auch der schwächste und ärmste unserer Mitbürger (womöglich arm, unbegabt und hässlich zugleich) verdient Anerkennung und Respekt seiner personalen Interessen und das drückt sich darin aus, die Gesellschaft nach seinem Wohlergehen zu beurteilen.15 Entscheidend für die Rawlssche Theorie ist es, dass der Moralbeurteiler eine Person mit eigenen moralischen Vorstellungen ist, die ein Urteil vom moralischen Standpunkt aus zu fällen wünscht. Die Rawlsschen Vorschläge, wie man eine Theorie der Gerechtigkeit formulieren sollte, richten sich an einen derartigen kompetenten Moralbeurteiler. Der Moralbeurteiler exerziert in der Theorie durch, was – jedenfalls nach den Vorstellungen von Rawls – ein rationaler kompetenter Moralbeurteiler tun sollte, wenn er die grundsätzlichsten gesellschaftlichen Institutionen und den fundamentalen Staatsaufbau als ganzen einer Beurteilung zu unterziehen wünscht. Die mögliche Willkür dieses Verfahrens sucht Rawls durch ein sogenanntes "Entscheidungsverfahren für die normative Ethik" einzuschränken. 3.3.3.2. Moralischer Standpunkt und moralisches Urteil kompetenter Moralbeurteiler bei Rawls So wie der Utilitarist seine Theorie nicht auf den einen Aspekt der Verallgemeinerungsfähigkeit reduziert, so hat auch der moralische Standpunkt des Rawlsschen Moralbeurteilers zusätzliche Eigenschaften. Der Rawlssche Moralbeurteiler wünscht erstens Urteile zu fällen, die der Norm interpersonellen Respektes Ausdruck verleihen. Denn sein moralischer Standpunkt ist davon gekennzeichnet, dass er andere Individuen als separate Personen respektiert. Zweitens bringt der Moralbeurteiler gewisse „inhaltliche“ Moralvorstellungen 15 Jedenfalls ist dies ein direkte normative Rechtfertigung der Rawlsschen Bevorzugung des sogenannten Maximinprinzips, nach dem man das maximale Minimum mit der Wahl der Gesellschaftsform zu realisieren sucht. Diese Art der Rechtfertigung ist im übrigen in jedem Falle einer Rechtfertigung vorzuziehen, die das Maximinprinzip als Ausfluss der Rationalität in hoch riskanten Hoch-Kostensituationen sieht. 145 mit. Er ist mit gewissen Werten aufgewachsen und keineswegs vollkommen geschichtslos. Als moralische Person ist der Rawlssche Moralbeurteiler drittens – anders als der unparteiische Beobachter der utilitaristischen Theorie – von seiner Theorie her nicht gezwungen, beliebige Präferenzen anderer Individuen zu respektieren. Respekt meint Rawls, heiße nicht, dass man neutral akzeptieren müsse, was die anderen wollen, gleichviel, was es denn sei. Und viertens gehen in die Bildung des Urteiles auch externe Theorien ein, die die Urteilsbildung systematisieren und gewisse zusätzliche Adäquatheitskriterien liefern. Insbesondere die letzten beiden Aspekte nähren den Verdacht, dass das von Rawls vorgeschlagene Verfahren entweder nur zu einer Zementierung je eigener Vorurteile oder zur Zirkularität führen könne. Wenn man nämlich die Präferenzen anderer Moralbeurteiler nach den eigenen bewerten darf, dann scheint man die Voreingenommenheit für die je eigenen moralischen Sichtweisen und Vorurteile methodologisch abzusegnen. Wenn man Theorien in die Bildung der eigenen moralischen Sicht eingehen lässt, dann wird das Ergebnis im Sinne der eingehenden Theorien vorgeprägt. Beide Einwände sind zumindest prima facie nicht unberechtigt. Rawls glaubt jedoch gleichwohl, den Einwänden begegnen zu können. Andere zu respektieren, bedeutet für Rawls nicht, sich auf die Registrierung der Wünsche der anderen ohne eigene Bewertung dieser Wünsche selbst zu beschränken. Der Respekt vor der Separatheit von Personen schließt insbesondere ein, dass Werte anderer, die dem inter-personellen Respekt direkt zuwider laufen, vernachlässigt werden dürfen. Die Unparteilichkeit des moralischen Standpunktes geht nicht soweit, dass sie ein Werturteil über die Präferenzen anderer ausschlösse. Zugleich meint Rawls unter anderem, dass man eine angemessene Moralkonzeption nur bilden könne, wenn man bereits bestimmte Theorien darüber, was es überhaupt heißt, eine Person zu sein, in die Theoriebildung eingehen lässt. So wie das Konzept der Person selbst wesentlich von unserer Fähigkeit abhängt, unsere eigenen Wünsche zu bewerten und beispielsweise auch den Wunsch hegen zu können, andere Wünsche zu entwickeln, so kann der Rawlssche Beurteiler auch Wünsche anderer einer Bewertung unterziehen. Die Gefahr, dass bei einer solchen Vorgehensweise am Ende blanke Willkür herrscht, dass dem vorgeblich neutralen kompetenten Moralbeurteiler einfach parteiisch die jeweils subjektiven Präferenzen des Theoretikers untergeschoben werden, scheint allerdings offenkundig. Rawls sucht dieser Gefahr dadurch zu begegnen, dass er von einem lebenserfahrenen kompetenten Moralbeurteiler ausgeht, dem es um 146 eine unparteiische Urteilsbildung geht. Ein solcher Moralbeurteiler, meint Rawls, kommt zwangsläufig zu einem Urteil über die Grundstruktur der Gesellschaft, das einen Vorrang der Grundfreiheiten und eine Verteilung enthält, die den schlechtest gestellten Bürger relativ am besten stellt (das ist letztlich der Zusammenhang zu Rawls’ Entscheidungsverfahren für die normative Ethik, vgl. oben 2.) 3.4. Entscheidungstheoretische Präzisierung der Rawlsschen Verfassungswahl Von Rawls wird angenommen, dass die Moralbeurteiler ihre Urteile über die Verfassungsalternativen in Unkenntnis der eigenen Position in der Gesellschaft und insoweit hinter dem von ihm so genannten Schleier des Nichtwissens bilden. Jede Gesellschaft entspricht einem Los in der Lotterie des Lebens. Die moralische Wahl entspricht einer Wahl zwischen Losen, bei der keiner weiß, wie ihn das Los treffen wird oder welche Position er nachher einnehmen wird. Die Annahme, dass Entscheidungen unter Unsicherheit über die eigene Betroffenheit getroffen werden, bildet das Gegenstück zu der allgemeinen moraltheoretischen Auffassung, dass moralische Urteile verallgemeinerungsfähig zu sein haben. Sie ist jedenfalls für denjenigen wohlbegründet, der an einem auf Verallgemeinerungsfähigkeit abstellenden moralischen Diskurs teilnehmen will. Für ihn ist diese Modellierung selbst ein Instrument kluger Urteilsbildung, welches ihm das Auffinden entsprechender Urteile erleichtert. Wenn rationale Individuen nicht sicher wüssten, ob sie in einer Gesellschaft einmal Straßenkehrer oder Bankdirektor sein werden und wenn Straßenkehrer die schlechteste gesellschaftliche Position ist, so würden sie nach Rawls allein auf die Position des Straßenkehrers blicken. Allgemein konzentrieren sie sich auf die schlechteste der gesellschaftlichen Positionen jeder der möglichen Gesellschaften, die sie wählen könnten. Folgt man der ursprünglichen Sichtweise von Rawls würden sie ihre Präferenzordnung unter verschiedenen Gesellschaften gk,gj ∈G unter Vernachlässigung aller anderen Möglichkeiten allein danach bilden, wie gut sie die schlechteste Position in der jeweils zur Wahl stehenden Gesellschaft einschätzen: Sie würden die Gesellschaften nach dem Kriterium beurteilen, welche das maximale Minimum bietet. Nimmt man an, dass es insgesamt r verschiedene Gesellschaften gj ∈ G mit jeweils n gesellschaftlichen Positionen gibt, die jeweils nach der absteigenden 147 Positionsnummer besser werden (niedriger nummerierte Positionen der gleichen Gesellschaft sind besser als höher nummerierte), dann erhält man bei bewusster Ausklammerung von Wahrscheinlichkeitsinformationen die "Lotterien" g1 = { g11, g12, ..., g1n}, g2 = {g21, g22, ..., g2n}, ..., gr = {gr1, gr2, ..., grn}. Hierbei ist etwa gr1 die beste Position der r-ten Gesellschaft und g22 die zweitbeste Position der zweiten Gesellschaft etc. Unter den GesellschaftsLotterien wird eine Wertordnung einfach dadurch gebildet, dass die jeweiligen n-ten Positionen (die "Minima" der jeweiligen gesellschaftlichen Grundstrukturen) geordnet werden. Die Frage, ob gk besser als gj oder gj besser als gk oder gk genauso gut wie gj gilt, reduziert sich auf die Frage, was für die schlechteste Position gilt. Es fragt sich, ob aus Sicht des Beurteilers i gkn Pi gjn oder gjn Pi gkn oder gjn Ii gkn gilt. Dabei steht P für „wird strikt vorgezogen (präferiert)“ oder ist „besser als“ und I für ist „ebenso gut wie“ oder wird „indifferent“ eingeschätzt. In der Tabelle sieht das so aus, dass man nur auf die letzte Spalte zu blicken hat und sich unter den Minima der Gesellschaften das maximale heraussucht. g1 g11 g12 ... ... g1n g2 g21 g22 ... ... g2n ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... gr gr1 gr2 ... ... grn Tabelle 5 Diese Problemreduktion erscheint – ungeachtet aller alltäglichen Risikoscheu, die wir in fundamentalen Belangen an den Tag legen – alles andere als plausibel. Warum sollte jemand nur auf die schlechteste Position einer Gesellschaft blicken und alle anderen Informationen vernachlässigen? Der rationale 148 Entscheider sollte im Umgang mit Lotterien alle Informationen verwerten, über die er verfügt. Es ist nicht einsichtig zu machen, warum auch kleinste Nachteile der schlechtesten Positionen einer Gesellschaft nicht durch Vorzüge besserer Positionen wettgemacht werden könnten. Bei Rawls wirkt sich eine Besserstellung der Bessergestellten in einer Alternative g gegenüber g´ jedoch nur dann auf die Präferenzordnung unter den Alternativen g, g´ aus, wenn alle schlechtergestellten Individuen in beiden Gesellschaften gleich gut gestellt sind. Wäre nämlich unter den schlechteren Positionen eine Ungleichheit der Positionen vorhanden, etwa gik besser als g´ik, so müsste wegen der vorrangigen Bewertung der Gesellschaften nach dem Wohlergehen der schlechter gestellten Individuen g besser als g´ bewertet werden. Die schlechteren Positionen machen ihren Einfluss auf die Einordnung vorrangig geltend. So, wie bei der alphabetischen Ordnung von Wörtern die vorderen Positionen der Buchstabenfolge zuerst Beachtung finden, gehen hier die hinteren oder schlechteren gesellschaftlichen Positionen voran. Rawls nimmt eine lexikographische Vorordnung der schlechteren gesellschaftlichen Positionen vor. Rawls hat sein Grundmodell in verschiedener Weise zu verteidigen versucht. Mit einer gewissen Plausibilität kann man tatsächlich darauf verweisen, dass sich der Respekt vor dem einzelnen Individuum im Vorrang der Grundfreiheiten und darin ausdrücken sollte, dass man gerade auf die am schlechtesten gestellten Individuen schaut. Es führt jedoch kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die von Rawls in seinem ursprünglichen Ansatz zugrunde gelegte Entscheidungstheorie eher simplistisch anmutet. Das kann man von der zuvor skizzierten Theorie John Harsanyis nicht behaupten, obwohl sie am Ende zu recht ähnlichen Konsequenzen führt. Rawls würde allerdings darauf bestanden, dass seine Theorie gerade einige der schwerwiegendsten Einwände gegen den Utilitarismus vermeidet. Das ist jedoch dann, wenn man sein eigenes Modell ernst nimmt keineswegs der Fall. Ein Beispiel mag ausreichen, um diesen Punkt zu illustrieren. 3.5. Grenzen der Vertragstheorie 3.5.1. Die Gefährdung des interpersonellen Respektes durch die Vertragstheorie Wenn man einem gesunden Individuum mit zwei vollständig gesunden Nieren eine der Nieren entfernt, dann beinhaltet das für dieses Individuum ein ziemlich 149 geringes zusätzliches Risiko. Die Gesundheitsgefährdung, die von dieser medizinischen Maßnahme ausgeht, entspricht nach seriösen Schätzungen in etwa der Gefährdung, die wir während unseres Arbeitslebens mit einer täglichen Berufsfahrt zur Überwindung einer Distanz von 50 Kilometern auf uns nehmen. Die zusätzliche Gefährdung ist gewiss nicht höher als die Gefährdung, die sich durch Ergreifung eines gefährlicheren Berufes ergibt. Da das Leben mit einer Niere im übrigen praktisch von gleicher Qualität für den Gesunden ist wie das Leben mit zwei Nieren, so scheint das geringe Zusatzrisiko durch die Ausstattung mit nur einer Niere nicht allzu bedeutsam. Das Leben ohne Nieren als Dialysepatient ist hingegen von bedeutsamen Einschränkungen der Lebensqualität und auch der potentiellen Lebensdauer geprägt. Dialysepatient zu sein, ist ein schweres Los. Hinter dem Schleier der Unwissenheit über das spätere Gesundheitsschicksal, sollte jedermann angesichts dieser Ausgangslage es bevorzugen, wenn nicht nur die Leichenspende von Nieren als obligatorisch angesehen, sondern sogar die Lebendspende von Nieren im Falle des Nichtvorhandenseins von Leichenorganen zur Pflicht gemacht würde. Jedes rationale Wesen sollte hinter dem Schleier der Ungewissheit über das eigene Gesundheitsschicksal eine entsprechende Regelung akzeptieren. Es scheint auch nicht völlig ausgeschlossen zu sein, dass entsprechende Regelungen in Gesellschaften durchgesetzt würden. Für die obligatorische Leichenspende dürfte insbesondere auch in einem Rechtsumfeld wie dem deutschen sehr viel sprechen (vgl. Hoerster, N. (1997)). Denn wir kennen ein relativ ausgebautes System von Hilfspflichten und Strafen für den Fall des Unterlassens der Hilfsleistungen. Damit erzwingen wir mit strafbewehrten Regeln positives Handeln. Hilfeleistungen werden als zumutbar und deren Unterlassung als strafbar – jedenfalls unter bestimmten Umständen – angesehen. Unsere Gesellschaft kann damit recht problemlos zurechtkommen, selbst wenn die betreffenden Regelungen, die im wesentlichen von den Nationalsozialisten eingeführt wurden, manchmal weit zugunsten anderer in das individuelle Leben eingreifen. Ein Argument für derartige Regelungen scheint zu sein, dass ihnen hinter dem Schleier der Unwissenheit über die eigene Betroffenheit, nahezu jedermann zustimmen würde und sie im späteren Leben keine unzumutbaren Belastungen für die Hilfeleistenden mit sich bringen. Die Spende einer Leichenniere erscheint abgesehen von einigen weltanschaulichen Verzerrungen, die sich aus bestimmten religiösen Auffassungen ergeben können, als relativ unbedeutend. 150 Man könnte daher recht gut argumentieren, dass jedermann einer solchen Regelung rationalerweise zustimmen würde oder doch sollte. Die Tatsache, dass einige Bürger aufgrund metaphysischer Überzeugungen meinen könnten, dass eine Spende von Leichenorganen ihnen nicht zugemutet werden dürfe, bildet für die libertären Versionen der Vertragstheorie allerdings ein Problem. Denn der Respekt vor den weltanschaulichen Überzeugungen anderer scheint es nahe zulegen, durchaus auch Auffassungen zu respektieren, die nicht auf rationale Überzeugungen zurückgehen. Genau hier wird der libertäre Vertragstheoretiker vielleicht im Gegensatz zum politischen Libertären, der einfach für freiheitliche Institutionen eintritt, argumentieren, dass die Fiktion eines vertraglichen Konsenses hilfreich ist. Er wird sagen, dass die Institution einer Zwangsspende von Leichennieren so sehr im Interesse aller liegt, dass ein Vertrag diesen Inhaltes unter rationalen Individuen einmütig geschlossen würde (vgl. Kliemt, H. (1994)). Und tatsächlich würden rationale Individuen einen solchen Vertrag schließen; wobei allerdings der Grund für diese Voraussage einfach in der Gleichartigkeit der Interessen liegt und man den Vertrag als solchen gar nicht zu bemühen braucht. Wie Hume bereits wusste (Hume, D. (1777/1985), "Of the original contract", deutsch Hume, D. (1976)), ist der Vertragsgedanke dann überflüssig bzw. leistet wenig, wenn der einzige Grund für die Annahme, eine Zustimmung liege vor, darauf zurückgeht, dass man ein gleich gelagertes Interesse aller diagnostiziert. Aber das gleich gelagerte Interesse liegt tatsächlich vor. Warum also nicht eine Spendenpflicht für Leichenspender annehmen? Über die Möglichkeit einer Zwangsverpflichtung zur Blutspende im deutschen Recht ist ebenfalls mit guten Gründen gestritten worden. Ein entsprechendes Ansinnen scheint im deutschen Rechtsrahmen keineswegs von vornherein absurd. Die Leichenspende einer Niere könnte man daher ebenfalls verpflichtend machen wollen (vgl. zur Zumutbarkeit der Hilfeleistung Frellesen, P. (1980)). Es scheint allerdings, dass man mit dem vorangehenden Argument auch die Spende einer Niere durch einen Lebendspender als Hilfspflicht begründen könnte. Die Lebendspende einer Niere ist zwar ungleich bedeutsamer als etwa die bloße zwangsweise Blutspende durch einen Lebenden, doch bewegt sie sich immer noch in einem Bereich, in dem keine dramatischen Einbussen an Lebensqualität zu erwarten wären. Würden wir nicht dennoch sagen, es sei absurd, eine solche Verpflichtung zu unterstellen? In jedem Falle ist klar, dass hinter dem Schleier der Unkenntnis über die eigene Betroffenheit der Erlass von Regeln, die eine Verpflichtung zur zwangsweisen 151 Hergabe einer Niere im Gegenzug für ein entsprechendes Hilfsversprechen durch andere vorsehen, interessegemäß für jeden wären. Damit entsteht das Problem, warum solche Regeln nicht in einer Zustimmungstheorie der Rechtfertigung als legitimiert angesehen werden sollten. Sie liegen im Interesse von praktisch jedermann und greifen – anders als das Opfer des eigenen Lebens – nicht in einer Weise in unser Leben ein, die emotional von den Betroffenen nicht bewältigt werden könnte. Es scheint daher so, dass ein Anhänger des Gedankens vom fiktiven Gesellschaftsvertrag entsprechende Vorgehensweisen für moralisch gerechtfertigt halten muss. Darüber hinaus sollte er es für legitim halten, die betreffenden Institutionen in der Gesellschaft einführen zu wollen. Wenn wir Anhänger der Gesellschaftsvertragslehre sind, wird uns ein moralisch überzeugender Grund geboten, uns die Einführung der Institutionen zwangsweiser Lebendspende zu wünschen. Viel mehr kann Moraltheorie nicht leisten. Sie kann unseren Legitimitätsglauben und unsere Neigung, Dinge moralisch zu befürworten bzw. zu kritisieren, anleiten. Wenn wir moralische Vertragstheoretiker sind, dann führt uns unsere Moraltheorie dementsprechend dazu, Institutionen, die Zwangsentnahme von Nieren bei Leichen- oder auch Lebendspendern, zu befürworten. Im Rawlsschen Modell, das die schlechtest gestellten Individuen vornehmlich betrachtet, sollte das erst Recht der Fall sein. 3.5.2. Systematisch irreführende vertragliche Gerechtigkeitstheorie 3.5.2.1. Scheinfreiwilligkeit Aus dem vorangehenden kann man entweder den Schluss ziehen, dass wir uns an eine entsprechende Reform gesellschaftlicher Institutionen oder dass wir uns an eine Reform der vorherrschenden moraltheoretischen Auffassungen heranwagen sollten. Im ersten Fall würden wir zu recht radikalen Umgestaltungen realer Institutionen schreiten müssen. Es müsste zugelassen werden, dass im Falle der Lebensgefährdung reale Verträge zur Lebensrettung durch Risikoteilung akzeptiert werden. Es müssten u.a. bestimmte Akte, die heute als "Tötung auf Verlangen" klassifiziert werden, aus diesem Straftatbestand herausgenommen werden. Überdies müsste in den Fällen, in denen die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in persönliche Rechte wegen der relativen Geringfügigkeit des Opfers im Vergleich zum Gewinn als gegeben erscheint, eine Institution der zwangsweisen Lebendspende von Nieren (und vor allem auch Knochenmark) eingerichtet werden. Zumindest würde sich aus der Vertragstheorie dafür ein Argument ergeben. 152 Wer meint, dass fiktive Zustimmung fiktiver Individuen reales Gewicht für die Rechtfertigung realer Institutionen und zur Rechtfertigung der Zwangsanwendung gegen reale Individuen haben kann, der muss die voran gehenden Konsequenzen ziehen. Er rechtfertigt realen Zwang mit fiktiver Zustimmung. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag legt bei Einbettung in eine universalistische Ethik diese intuitiv ziemlich inakzeptable gesellschaftliche Zwangsanwendung nachdrücklich nahe, da rationale Individuen hinter dem Schleier des Unwissens über die eigene Betroffenheit entsprechende Verträge schließen würden. Wenn jemand demgegenüber den Vertragsgedanken nur als Heuristik verstanden wissen will, die uns zeigt, dass bestimmte Institutionen bestimmte moralisch erwünschte Eigenschaften haben können, dann bleibt immer noch die aus Sicht jedes Anhängers realer Freiheit überaus unangenehme Tatsache, dass die vertragstheoretische Einbettung von Institutionen fundamentaler Zwangsanwendung in eine fiktive freiwillige Zustimmung eine gefährliche Irreführung beinhaltet. Denn das, was gerade nicht auf reale vorauf gehende Zustimmung der Betroffenen zurückgeht, wird verharmlost als etwas, das möglicher oder vorstellbarer Weise durch Vertrag und Zustimmung zustande gekommen sein könnte. Die Anwendung fundamentaler Zwangsgewalt in der Gesellschaft wird damit durch die vertragstheoretische Fehlbeschreibung zum Ausfluss fiktiver freiwilliger Zustimmungsakte geadelt und damit letztlich entproblematisiert. Was in der universalistischen Ethik vorgeblich dazu dient, die Notwendigkeit einer Zustimmung jedes einzelnen und den Respekt vor seiner individuellen Autonomie auszudrücken, wird latent subversiv für die praktische Sensibilität gegenüber den höchst realen Eingriffen in die individuelle Autonomie aufgrund hoher ethischer Ideale. Da das so ist, sollte man sich fragen, ob nicht der Universalismus der Ethik als solcher das eigentliche Problem der normativen Sozialphilosophie darstellt. Vielleicht muss man nicht nur den Utilitarismus und die Gesellschaftsvertragslehre, sondern am Ende den gesamten ethischen Universalismus los werden. In einem entsprechenden Reformprojekt der Ethik müsste der meta-ethische Partikularismus auf den Schild gehoben und für bescheidene Ansprüche hinsichtlich der Begründungsfähigkeit von Normen und Institutionen plädiert werden. Die meisten Ethiker werden sagen, dass ihnen das zuwenig ist. Sie wollen eine universalistische Gerechtigkeitslehre formulieren, um mit gutem Gewissen fundamentale Zwangsgewalt anwenden zu können. Damit versuchen sie als Gerechtigkeitsproblem zu verkaufen, was mit Gerechtigkeit wenig zu tun hat. 153 3.5.2.2. Wo "Gerechtigkeit drauf steht", ist nicht immer "Gerechtigkeit drin" Nehmen wir einmal an, ich hätte 100 Euro übrig. Ich könnte die Summe Geldes dazu verwenden, meine Tochter ins Kino und anschließend in ein Restaurant zu führen. Da ich meine Tochter noch nie ins Kino ausgeführt habe, wird sie einen derartigen Akt von meiner Seite nicht erwarten. Wenn ich sie nicht ausführe, dann kann ich also keine Erwartungen enttäuschen und sie insofern auch keineswegs ungerecht behandeln. Da ich auch niemanden sonst – nicht einmal mich selbst – in den letzten 20 Jahren ins Kino geführt habe, kann insoweit auch keine Frage angemessener Ungleichbehandlung entstehen. Mir scheint, im großen und ganzen wird niemand in einem Fall wie der Einladung zum Kinobesuch auf die Idee verfallen, Fragen der Gerechtigkeit berührt zu sehen. Nehmen wir nun an, ich würde überlegen, ob ich die 100 Euro vielleicht an eine mildtätige Organisation wie etwa die Welthungerhilfe spenden sollte. Setzen wir voraus, dass die Organisation, die ich ins Auge fasse, effizient wirtschaftet und die Hälfte der 100 Euro tatsächlich in Form angekaufter Nahrungsmittel in einem Drittweltland wirksam zur Bekämpfung der Not hungernder Kinder einsetzt. Es sei ebenfalls vorausgesetzt, dass die Hilfsorganisation Hilfe im wesentlichen für vorübergehende Notfälle leistet und in einer Form, die die Anreize zur Selbsthilfe und zur Ausweitung der Agrarproduktion in den betroffenen Ländern nicht reduziert. Denkt man an die wirklich empörenden Bilder hungernder Kinder in Drittweltländern, dann wird man den moralischen Wert einer derartigen Spende nicht von der Hand weisen können. Es wird im Gegenteil eine universelle Zustimmung finden, wenn man ein derartiges Hilfsverhalten für moralisch lobens- und wünschenswert hält. Insoweit müssen wir ohne Frage davon ausgehen, dass moralische Fragen mit dem Problem der Hungerhilfe angesprochen sind. Da wir jeden Euro nur einmal ausgeben können, wirft damit die Frage der Verwendung von 100 Euro, um den Kinobesuch mit anschließendem Essen für meine Tochter und mich zu finanzieren, indirekt moralische Fragen auf. Benutzt man den Begriff des Schattenpreises für die nächst beste Verwendung von Ressourcen, so kann man feststellen, dass der moralische Schattenpreis der Verwendung von 100 Euro zur Finanzierung eines Kinobesuches und anschließendem Essen mit meiner Tochter in dem nicht realisierten moralischen Gewinn der Hilfe für die hungernden Kinder besteht. Da das Konzept des 154 Schattenpreises voraussetzt, dass man jeweils die beste nicht realisierte Alternative betrachtet, sei hier vorausgesetzt, dass die Hilfe für die Hungernden in der Dritten Welt tatsächlich die moralisch höchststehende Alternative darstellt. Unter dieser Voraussetzung ist tatsächlich der moralische Schattenpreis der Verwendung der 100 Euro für den Kinobesuch mit anschließendem Essen in dem entgangenen moralischen Wert der Hilfe für die Dritte Welt zu sehen. Nehmen wir nun einmal an, dass wir tatsächlich die 100 Euro spenden und damit hungernden Kindern in der Dritten Welt helfen. In diesem Falle gibt es ebenfalls einen moralischen Schattenpreis.16 Der moralische Schattenpreis der Verwendung der Ressourcen für die Welthungerhilfe besteht darin, dass man den Geldbetrag nicht mehr für die nächst beste moralische Alternative ausgeben kann. Vor allem in einer Welt knapper Ressourcen, wo die Ressourcen zur Verfolgung moralischer Projekte knapp sind, ist es unausweichlich so, dass moralische Schattenpreise auftreten und moralisch wünschenswerte Projekte miteinander konkurrieren. Darüber hinaus konkurrieren die Projekte möglicherweise mit solchen, die als moralisch neutral anzusehen sind. Was nun die Verfolgung alternativer Projekt anbelangt, muss man in einer Welt knapper Ressourcen angesichts der bestehenden Budgetrestriktionen Entscheidungen treffen. Man muss sich dafür entscheiden, ob man ins Kino gehen soll, oder das Geld lieber für ein philanthropisches Projekt stiften möchte. Man muss überdies darüber entscheiden, welches philanthropisches Projekt man auswählen will. Es entstehen eine Vielzahl von durchaus schwierigen moralischen Fragen durch diesen Zwang zu Alternativentscheidungen. Zugleich wird man nicht voraussetzen dürfen, dass jedermann jederzeit umfängliche Überlegungen zu Alternativen mit moralischer Relevanz anstellen wird. Eine solche Annahme wäre sicherlich rundweg absurd. Dennoch werden alle Menschen manchmal derartige Überlegungen anstellen. In solchen Fällen werden sie nach Kriterien fragen, die ihnen bei einer moralisch verantwortlichen Entscheidungsfindung helfen können. Was das anbelangt, haben Philosophen wie insbesondere Rawls den Eindruck erweckt, als sei nahezu jede moralische Frage, die die Ressourcenverteilung in irgendeiner Weise beeinflusst, eine Frage der Gerechtigkeit bzw. der Verteilungsgerechtigkeit. Das ist aber verfehlt. Selbstverständlich ist es moralisch zwar wünschenswert, den Hungernden in der Dritten Welt zu helfen. Es ist jedoch nahezu ebenso selbstverständlich, dass es sich in dieser Frage kaum um eine Frage der Gerechtigkeit handeln kann. Wenn ich nicht die 16 Natürlich gibt es auch einen nicht-moralischen Schattenpreis, doch sei das hier dahin gestellt. 155 geringste soziale Beziehung mit den Kindern in der Dritten Welt besitze, wenn ich keinerlei direkte Einflussnahme auf sie ausgeübt habe, wenn ich sie nicht kenne, sondern nur von ihrem Leid als dem Leid anonymer Individuen weiß, wie kann ich dann ungerecht handeln, wenn ich ihnen nicht helfe? Wenn die Kinder über die Tatsache hinaus, dass ihnen meine Geldspende helfen würde, keinerlei Anspruch auf meine Hilfe erheben dürfen, dann scheint es doch sehr weit hergeholt, zu behaupten, die Gerechtigkeit verlange es, ihnen zu helfen. Natürlich ist es wünschenswert, dass hungernden Kindern geholfen wird. Das gilt jedenfalls nach praktisch jeder plausiblen Moraltheorie. Es ist moralisch lobenswert, hungernden Kindern zu helfen, wenn dadurch nicht irgendwelche Pflichten verletzt werden. Es ist möglicherweise sogar moralisch falsch, wenn man ihnen nicht hilft, da die Unterlassung der Hilfeleistung eine Verletzung von Forderungen der Moral bilden kann. Die Unterlassung der Hilfeleistung gegenüber völlig unbekannten anonymen Individuen in der Dritten Welt als einen Akt der Ungerechtigkeit zu bezeichnen, erscheint jedoch als absurd. Ungerechtigkeit ist etwas anderes als moralische Unrichtigkeit. Etwas kann unrichtig im Sinne einer moralischen Theorie sein, ohne deshalb ungerecht zu sein. Handlungen können moralisch lobens- oder tadelnswert sein, ohne gerecht oder ungerecht zu sein. Selbst dann, wenn man angesichts der zuvor angesprochenen Fragen moralischer Opportunitätskosten davon ausgeht, dass nahezu alle Ressourcenallokation in der Gesellschaft indirekt moralische Probleme aufwerfen wird, weil man die zur Verfügung stehenden Ressourcen eben jeweils nur einmal nutzen kann, wird man doch von der These Abstand nehmen müssen, dass es sich bei allen diesen Fragen um Fragen der Gerechtigkeit handelt. Weder behandle ich meine Tochter gerecht oder ungerecht, wenn ich sie in dem zuvor beschriebenen Fall nicht ins Kino führe, noch behandle ich die Hungernden in der Dritten Welt gerecht oder ungerecht, wenn ich für die Hungernden nicht spenden sollte. Das gleiche gilt für die umgekehrten Handlungen der Spende bzw. des Kinobesuchs. Alle diese Fragen sind einfach keine Fragen der Gerechtigkeit. Dafür, dass es sich nicht um Fragen der Gerechtigkeit handelt, scheint ausschlaggebend, dass eine spezifische Anspruchsgrundlage kontingenter Art fehlt. Wo immer diese kontingente Anspruchsgrundlage herrühren mag, aus einem Brauch, aus Verwandtschaftsbeziehungen etc., Theorien der Gerechtigkeit können diese Anspruchsgrundlage selber jedenfalls nicht liefern. Im engeren Sinne gerecht oder ungerecht wird etwas nicht allein dadurch, dass 156 irgendeine Theorie es als gerecht oder ungerecht bezeichnet. Dazu ist mehr erforderlich. Wenn zwei Leute ein gemeinsames Projekt verabreden, dann werden daraus typischerweise Erträge und Lasten resultieren. Soweit die beiden eine Aufteilung der Lasten und Erträge explizit vereinbart haben, verlangt jede plausible Moraltheorie ebenso wie jede brauchbare Alltagsmoral, dass die betreffenden Vereinbarungen grundsätzlich einzuhalten sind. Sofern es keine expliziten Verteilungsverabredungen gibt, können gleichwohl Gerechtigkeitsprobleme auftreten. Die beiden Individuen arbeiten eng zusammen und verfolgen ein gemeinsames Projekt. Sie tun dies unter bestimmten Erwartungen darüber, wie sich das Projekt entwickeln wird und welche Erträge und Lasten daraus hervorgehen werden. De facto wird es so sein, dass sie die in ihrer jeweiligen Bezugsgruppe bzw. Gesellschaft vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen bezüglich der Güter und Lasten aus der Zusammenarbeit als gegeben unterstellen. Ob diese unterstellten Gerechtigkeitsvorstellungen nach Maßgabe irgendeiner Theorie der Gerechtigkeit als „gerecht“ im theoretischen Sinne angesehen werden oder nicht, ist eine Sache, eine andere, bedeutendere, ist es, dass diese Vorstellungen de facto vorhanden sind. Wenn die beiden Akteure de facto bestimmte Vorstellungen mit in die Zusammenarbeit bringen und wenn sie beispielsweise zu der Zeit, als sie die Zusammenarbeit eingingen, voneinander wussten bzw. voneinander annehmen mussten, dass sie die betreffenden Vorstellungen haben würden, dann begründen diese Vorstellungen Erwartungen, die gerechtigkeitsrelevant sind. Das gilt ganz unabhängig von der Frage, ob die betreffenden Vorstellungen der Kritik Stand halten und einer bestimmten Theorie der Gerechtigkeit genügen können. Das Entscheidende ist, dass diese Vorstellungen de facto vorhanden sind, nicht, dass sie gerecht oder ungerecht genannt werden von irgendeiner Theorie der Gerechtigkeit. Die Besetzung solcher Begriffe wie des Begriffes der Gerechtigkeit ist keineswegs politisch unbedeutsam. Auf der anderen Seite geht es in der Diskussion von Theorien der Gerechtigkeit letztlich nicht darum, einen Monopolanspruch auf eine bestimmte Verwendung des Gerechtigkeitsbegriffes anzumelden. Weit bedeutender ist es, bestimmte Phänomene, die sich durchaus begrifflich trennen lassen, auch tatsächlich zu trennen. Es ist etwas anderes, ob etwas nur nach einer Theorie der Gerechtigkeit als ungerecht oder gerecht bezeichnet wird, oder ob etwas darüber hinaus etablierten Sichtweisen von dem, was gerecht sei, entspricht bzw. widerspricht. Etablierte Sichtweisen, deren 157 Etabliertheit allgemein bekannt ist, geben zu bestimmten Erwartungen Anlass. Diese Erwartungen bzw. das, was erwartet werden darf oder soll, sind letztlich ausschlaggebend und nicht irgendwelche philosophischen Theorien der Gerechtigkeit. 4. Habermas, Kant und der Diskurs Habermas setzt dem Konzept der strategischen Rationalität das eines verständigungsorientierten Rationalverhaltens entgegen. Zutreffend begreift er strategische Rationalität als "Zweck-Mittel-Rationalität". Diese Art der Rationalität ist für ihn aber nur eine „halbierte“ Vernunft, weil sie zwar gewisse, nicht jedoch „tiefere“ (etwa emanzipatorische) Interessen des Menschen fördert. Die Ausrichtung auf gegebene Zwecke, die durch optimale Wahl von Mitteln verfolgt werden, reicht Habermas nicht aus. Man kann und muss aus seiner Sicht über das Rationalverhalten eines Homo oeconomicus hinausgehen. Dem stehen die Auffassungen jener gegenüber, die glauben, man komme mit strategischer Rationalität in der Behandlung aller praktischen Fragen aus und solle auch so verfahren, weil alle darüber hinausgehenden Ansprüche auf rationale Rechtfertigung zumindest zweifelhafter als jene sind, die sich ausschließlich auf "strategische" Zweckrationalität berufen. Die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der so genannten Diskursethik und jenen, die eine interessenbasierte Rechtfertigung von Normen im Kontext strategischer Rationalität befürworten, hält zumal in Deutschland schon seit langem an. Es wäre vermessen, diesen Disput an dieser Stelle entscheiden zu wollen. Es scheint sinnvoller, eine eher vermittelnde Linie zu verfolgen, die nicht die Gegensätze, sondern eher die Gemeinsamkeiten der beiden Lager zumindest für praktisch-ethische Fragestellungen betont. Die angewandte Ethik (applied ethics) versucht ja gerade eine Basis normativer Argumente zu wählen, die von möglichst vielen akzeptiert werden kann. Es geht um gemeinsame Schnittmengen von Wertüberzeugungen. Diese werden wesentlich von bestehenden institutionellen Regelungen des Rechtes wie der als Sitte institutionalisierten Moral geprägt. Wenn wir eine moralische Entscheidung zu treffen haben, dann geht in unser Entscheidungsverfahren für die normative Ethik alles das ein, was in unserem Umfeld de facto als moralisch geboten gilt. Die Tatsache, dass eine Norm der Alltagsmoral oder des positiven Rechts Geltung beansprucht, ist von hohem Anfangsgewicht. Erst nach sorgfältiger Überlegung kann man womöglich einen Grund finden, sich auch 158 gegen diese positiven Geltungsansprüche zu wenden. Für die im „Alltag“ zu erreichenden weiteren, über die herrschenden Alltagsnormen und – überzeugungen hinausgehenden, Überlegungsgleichgewichte treten theoretische Ansätze wie der einer Diskursethik (des Utilitarismus, der Vertragstheorie) nur zu den vorherrschenden Normen als ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. – Der Diskursethik nähert man sich am besten, indem man zunächst erneut ihren Hauptgegner einer Ethik in Kategorien strategischer Rationalität betrachtet. 4.1. Verständigungsorientiertes als strategisches Handeln und umgekehrt Eine wesentliche, wenn nicht sogar die wesentlichste Unterscheidung jeder normativen Theorie aber auch jeder normgeleiteten menschlichen Praxis ist die zwischen der Rechtfertigung oder Auswahl von Regeln auf der einen und Rechtfertigungen bzw. Wahl von Handlungen unter Regeln auf der anderen Seite. Beispiel: Wenn man die Satzung eines Vereins festlegt, dann wird man sich fragen, welche Vor- oder Nachteile es hat, wenn die Entscheidungen des Vereins von einem ermächtigten Vorstand gefällt werden. Man muss sich fragen, ob man eine Regel erlassen will, wonach die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in dem Verein mit der Mitgliedschaft in bestimmten anderen Vereinen gefordert wird. Bevor man einem bereits bestehenden Verein beitritt, wird man sich fragen, ob man die Regeln des Vereins so akzeptabel findet, dass von der persönlichen Interessenlage her unter den gegebenen Regeln mehr für als gegen den Beitritt spricht. Sobald die Satzung des Vereins einmal erlassen ist, muss man sich unter den bestehenden Regeln fragen, was diese verlangen. Nach den bestehenden Regeln hat man nach dem Beitritt gewisse Pflichten. Die Tatsache, dass bestehende Regeln etwas fordern, hat eine gewisse Bindungskraft selbst dann, wenn die Regeln selbst uns wenig überzeugen. Wenn man einem Verein in eigener Person freiwillig beitrat, dann ist es sogar so, dass man in gewisser Weise der Satzung des Vereins und der Verbindlichkeit der satzungsgemäßen Anforderungen zugestimmt hat. Man kann sagen, dass man aufgrund eines „stillschweigenden Versprechens“ an die Vereinsregeln gebunden ist. Wenn ein Mitglied eines Vereins, etwa überlegt, ob es einem konkurrierenden Verein zugleich beitreten soll, dann zählt für das Mitglied des Vereins die Tatsache, dass sein Verein ihm abverlangt, keine 159 Zweitmitgliedschaft in dem konkurrierenden Verein zu haben. Abgesehen davon, dass das Mitglied dann, wenn die Sache herauskommt, womöglich aus dem ursprünglichen Verein ausgeschlossen wird und damit negative äußere Sanktionen hinzunehmen hat, wird es für das betreffende Mitglied häufig auch aus innerem Antrieb von Bedeutung sein, dass es eine Pflicht, die der Verein ihm aufgrund der Satzung auferlegt, verletzt. Es will seinen satzungsgemäßen Pflichten nachkommen. Die Pflichten einer Satzung, die besteht, haben ein gewisses Gewicht, allein weil sie die Pflichten der bestehenden Satzung sind. Die Begründung, warum man der Satzung gehorchen sollte, können dann entweder im Nutzen der Satzung als ganzer oder in der Tatsache bestehen, dass man der Satzung aus freien Stücken beigetreten ist. Wichtig ist, dass am Ende für die tägliche Praxis auf die Begründung für Verpflichtung, der Satzung zu gehorchen, gar nicht mehr bzw. nur in Ausnahmefällen zurückgegriffen wird. Die Pflichten einer Satzung gelten als institutionelle Pflichten „prima facie“ oder „erst einmal“. Wer abweichen will, ist begründungspflichtig. Die Beweislast liegt bei dem der abweichen, nicht dem der folgen will. Das heißt nicht, dass er der Beweislast für eine Abweichung nie nachkommen kann. Es bedeutet aber nur, dass er ethisch verpflichtet ist, es sei denn er kann aus einer übergeordneten ethischen Überlegung zwingende Gegenargumente finden. Beispiel: Der Mauerschütze an der DDR-Grenze war nach DDR-Recht gehalten, auf Republikflüchtige zu schießen. Dass er den „vaterländischen Schutzwall“ eher nach innen als nach außen durch Gebrauch der Schusswaffe zu verteidigen hatte, war gewiss geeignet, die moralische Rechtfertigung der Regel in Zweifel zu ziehen. Aber auch die Rechtsregeln von Absurdistan sind zunächst einmal institutionelle Regeln, die, insoweit als sie de facto existieren, zunächst rechtliche Geltung für sich beanspruchen können. Die institutionelle Pflicht zu schießen, bestand insofern für den Grenzer. Und die Tatsache, dass sie als Rechtsnorm auftrat hatte auch ein gewisses moralisches Gewicht, das er nicht einfach vernachlässigen konnte. Aber er konnte sich selbstverständlich fragen, ob er die Pflicht moralisch akzeptieren würde und sollte. Wenn er nicht dieser Auffassung war, dann konnte ihn das womöglich dazu führen, lieber etwas später oder etwas höher zu zielen als für das Erzielen eines Treffers bei einem Fluchtversuch zuträglich war etc. Wenn der Grenzer nicht bewusst daneben zielte, konnte man ihm das vermutlich moralisch vorwerfen. Ob er – wie die Siegermentalität deutscher Gerichte, die sich im Besitz höherer naturrechtlicher Einsicht sehen, es nahe legt – auch 160 rechtlich für sein Tun heute zur Verantwortung gezogen werden darf, ist selbst eine moralische (und rechtliche) Frage, über deren Beantwortung heftig gestritten wird. In diesem Streit wird man auf die Rechtfertigung der Institutionen des Rechts (insbesondere der vormaligen DDR aber auch der jetzigen BRD) eingehen müssen. Damit hebt man die Auseinandersetzung von der Ebene der Frage, was bestehende Regeln und Institutionen verlangen, auf die Ebene der Frage nach den Gründen für die Institutionen selber. Es geht um die moralische Rechtfertigung der Regeln und nicht um die Rechtfertigung von Handlungen unter bestehenden Regeln. Dabei spielt die Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativen eine weit kompliziertere Rolle als gemeinhin unterstellt wird. 4.1.1. Hypothetische Imperative und institutionelle Pflichten Die Auffassung, dass rationale Rechtfertigungen von Normen ausschließlich in Form hypothetischer Imperative erfolgen können, ist so etwas wie das Gegenstück (oder der normative Zwilling) zu der Auffassung, dass eine Erklärung menschlichen Verhaltens auf der Basis strategischer Rationalität (Zweckrationalität) allein möglich ist. Im Prinzip läuft im Rahmen „strategischer Rationalität“ jede rationale Rechtfertigung praktischer Handlungsanweisungen auf das gleiche Schema hinaus: Wenn ein Adressat normativer Rechtfertigungen bestimmte Ziele, Zwecke oder Werte de facto akzeptiert, dann ist es ein angemessenes Mittel zu Erreichung dieser gegebenen Ziele, Zwecke oder Werte, eine bestimmte Handlung durchzuführen bzw. eine bestimmte allgemeine Handlungsregel zu akzeptieren. Die Rechtfertigung ist hypothetisch in dem Sinne, dass sie nicht mehr gültig wäre, wenn die Ziele, Zwecke oder Werte des Rechtfertigungsadressaten fortfallen würden. Die spezielle Norm, die betreffende Handlung durchzuführen bzw. die entsprechende Regel zu akzeptieren, lässt sich zwar im Sinne der zugrunde liegenden Zweck-Mittel-Beziehung rechtfertigen. Aber sie ist auch vollkommen davon abhängig, dass die Ziele, Zwecke oder Werte, auf die sie Bezug nimmt, de facto vorliegen. Die Durchführung der Handlung ist „strategisch“ sinnvoll. Sie ist rational, aber nur relativ („wenn“) dazu geboten, dass bestimmte Ziele, Zwecke oder Werte des Rechtfertigungsadressaten vorliegen. 161 Für die Ökonomik ist – daran sei nochmals erinnert – die (im engeren Sinne meta-ethische) Prämisse von ausschlaggebender Bedeutung, dass sich ausschließlich hypothetische Imperative kluger Interessenwahrung rational rechtfertigen lassen (vgl. insbesondere natürlich Robbins, L. (1935), „alternative means to given ends“ ... „about ends it must remain silent“). Diese Imperative benennen die Mittel zur Erreichung von gegebenen, d.h. de facto akzeptierten, Zwecken an. Rational gerechtfertigt ist eine Norm immer nur mit Bezug auf das partikulare Interesse des Adressaten der Rechtfertigung der Norm: Wenn „Du“, der Adressat, X willst, dann solltest du Y tun! Die verfolgten Zwecke können beliebiger Art sein, egoistisch oder altruistisch, ideeller oder materieller Natur etc. Entscheidend ist, dass sie de facto angestrebt werden. Auch unter der Kategorie der Mittel kann man sich einen denkbar weiten Kreis von Instrumenten vorstellen. Insbesondere die Durchsetzung bzw. auch nur die Befürwortung der Durchsetzung bestimmter Normen als institutioneller Regeln gegenüber Dritten gehört dazu. Die Einrichtung einer Institution bzw. die Durchsetzung von deren Regeln kann auch ein Mittel zur Erreichung der Ziele, Zwecke oder Werte des Rechtfertigungsadressaten sein. Ein Beispiel hierfür ist etwa das folgende: Wenn Du überleben willst, dann hast Du guten Grund, Dir die Durchsetzung von Mordverboten durch einen staatlichen Rechtsstab zu wünschen. Aus dem gleichen Grund kann man einem Adressaten von Rechtfertigungen gegenüber dartun, warum er guten Grund hat, an der Weitergabe bestimmter moralischer Normen etwa in der Erziehung entweder selbst teilzunehmen bzw. die Teilnahme anderer an diesen Erziehungsprozessen zu loben und zu unterstützen. „Wenn Du das Ziel hast, in einer Rechtsordnung westlicher Prägung zu leben, dann solltest Du dafür eintreten, dass rechtsstaatlich orientierte demokratische Parteien unterstützt werden!“ usw. sind weitere Beispiele solcher hypothetischer Imperative, die uns strategisch anleiten, zu erhalten, was wir de facto anstreben. Die vorangehenden Argumente legen dar, wie weit die Vorstellung von „Mitteln“ zu gegebenen Zwecken gedeutet werden kann und muss. Damit die Konzeption instrumenteller Rechtfertigung unserer sozialen Wirklichkeit angemessen bleibt, müssen wir alles mögliche als Zwecke und Mittel zulassen. Nicht nur Institutionen und deren Durchsetzung, sondern auch Akte der Befürwortung und Unterstützung solcher Institutionen können als Mittel zur Verfolgung unserer Zwecke, Ziele oder Werte gedeutet werden. Wir reden nicht mehr über einfache Instrumente, wie den Schraubenzieher, den man als Mittel benutzt, um bestimmte Ziele zu erreichen, entweder die Schraube einzudrehen, 162 ein Leiste aufzuhebeln oder aber auch jemanden durch einen gezielten Stich zu verletzen. Es geht auch nicht um isolierte Handlungen, deren Durchführung unsere Interessen als isoliertes Mittel fördert. Wir reden über komplexe institutionelle Regelsysteme, an denen wir alle in verschiedenen Rollen teilnehmen. Diese Regelsysteme kann kein einzelner von uns als ganze zu Instrumenten seiner Interessenverfolgung machen. Wenn deshalb im Zusammenhang mit diesen Regelsystemen von Zweck-MittelRationalität die Rede ist, dann muss sich diese in erster Linie auf unsere Einstellungen und kann sich nicht direkt auf unsere Handlungen beziehen. Es wird uns durch grundlegende Argumente womöglich klargemacht, dass die Existenz bestimmte Institutionen und Regeln insgesamt unseren Interessen dient. Wir haben deshalb guten Grund, uns zu wünschen, dass die betreffenden Regeln und Institutionen existieren. Direkte Handlungsgründe werden uns auf diese Weise aber nicht geliefert. Denn kein einzelner kann durch eine einzelne Handlung dafür Sorge tragen, dass eine Norm wie beispielsweise ein allgemeines Tötungsverbot in einer Gesellschaft institutionalisiert wird. Dazu müssen viele Individuen zusammenwirken. Keiner von diesen vielen zusammenwirkenden Individuen benutzt allein auf sich gestellt ein „Instrument“... Der Beitrag, den einzelne in gemeinsamem Wirken zu leisten haben, wird mit dem übergeordneten Ziel gewöhnlich nur wenig zu tun haben. Der Informatiker, der in einer Strafverfolgungsbehörde an Programmen arbeitet, denkt trivialerweise in seinem Handeln keineswegs daran, dass er die Durchsetzung eines allgemeinen Tötungsverbotes durch sein Tun fördert und dass die institutionelle Verwirklichung des Tötungsverbots in seinem eigenen übergeordneten Interesse ist. Er denkt vielleicht kaum jemals über Verbrechensbekämpfung nach. Der Bankangestellte der Kredite vergibt, kann sich fragen, ob er die Richtlinien für die Vergabe von Krediten, die in seinem Institut gelten, für vernünftig hält. Er kann über den guten Sinn bestimmter Regelungen anderer Meinung sein als die Personen, die die Regeln erließen und nun in der Bank durchsetzen. Was immer er in diesen Hinsichten für Schlüsse zieht, sie werden ihn in seinem Handeln nur indirekt beeinflussen. Denn die Frage, ob die Richtlinien als ganzes vernünftig sind, ist eine andere als die Frage, was die bestehenden Richtlinien von dem Angestellten verlangen und ob es für ihn vernünftig ist, sich entsprechend zu verhalten. Nahezu beliebig viele andere Beispiele für diese Distanzierung unserer Rollenpflichten von übergeordneten rechtfertigenden Zielen, Zwecken oder Werten 163 ließen sich formulieren. In den meisten Kontexten, in denen viele Individuen zusammenwirken müssen, um ein kollektives Ergebnis zu verwirklichen, hat das individuelle Handeln nicht nur keinen Bezug auf das übergeordnete Ziel, die individuellen Beiträge sind für das kollektive Ergebnis auch je für sich unerheblich. Es kommt gerade nicht auf jeden einzelnen Beitrag an. Der Schleier der individuellen Insignifikanz (wer darüber mehr Informationen wünscht, sei verwiesen auf Brennan, G. and L. Lomasky (1983, Brennan, H. G. and L. E. Lomasky (1989), Kliemt, H. (1986)), hinter dem wir alle in großen Gesellschaften handeln, schwächt die instrumentellen Beziehungen unserer Handlungen zu den übergeordneten Zwecken. Der einzelne Beitrag zum Umweltschutz etwa, den wir leisten, wenn wir Strom sparen oder unnötige Autofahrten unterlassen, ist für das Ausmaß der allgemeinen Umweltverschmutzung so insignifikant wie das einzelne Sandkorn im Sandhaufen. Ob man ein Sandkorn mehr oder weniger auf den Haufen wirft, es bleibt ein Sandhaufen. Kein einzelnes Sandkorn macht die Ansammlung von Körnern zu einem Haufen, aber ohne die einzelnen Körner wäre der Haufen nicht vorhanden. Insoweit kann niemand durch Hinzufügen eines weiteren Sandkorns den Zweck verfolgen, durch dieses eine Korn einen Haufen zu erzeugen. Dafür ist das Korn und die Handlung, es auf den Haufen zu werfen, nicht instrumentell. Auf der anderen Seite sind viele derartige Handlungen kollektiv hinreichend, um insgesamt als Instrument zur Erzeugung eines Sandhaufens zu dienen. Ohne die vielen Körner wäre der Sandhaufen nicht da. Strategisch rational ist es in solchen Situationen gewöhnlich, nach der Maxime „wer Trittbrett fährt, kommt auch zum Ziel“ vorzugehen und von der eigenen Beteiligung abzusehen. 164 Regelbefolgung Fast alle anderen Etwa fünfzig Prozent Fast kein anderer 5 3 1 6 4 2 Ich folge Ich folge nicht Tabelle 6: N-Personen PD Ordnung der Ergebnisse aus Sicht des Zeilenspielers 6>...>1 und damit jedes beliebigen der N Individuen, die sich in die Lage versetzen können, als einzelner mit dem gegebenen Verhalten der anderen konfrontiert zu sein Die Dominanz der Strategie, sich selbst nicht zu beteiligen, wenn vom eigenen Verhalten kein Kausaleinfluss auf das Verhalten der anderen ausgeht, ist eindeutig. Gleichgültig, was die anderen tun, es ist immer besser, sich selbst nicht zu beteiligen. Selbst dann, wenn man ein solches Spiel mehrfach spielt, kann kein einzelner anderer beobachten, wie alle anderen handeln. Er kann keine bedingte Reaktion auf das Verhalten der anderen zeigen. Er kann z.B. sich nicht sinnvoll vornehmen, wenn Person x nicht kooperiert oder die Regel nicht befolgt, dann werde er in der nächsten Spielrunde auch nicht kooperieren, werde aber kooperieren wenn x zuvor kooperiert hat. In diesem Sinne sind reziproke Strategien die auf das Verhalten einzelner reagieren, nicht möglich (man denke etwa an „wie Du mir, so ich Dir“ oder TFT „tit for tat“, welches sehr eingängig ist, allerdings nicht alle schönen Eigenschaften hat, die Axelrod der Strategie in seinem höchst anregenden, doch formal sehr unzuverlässigen Buch beilegte, vgl. Axelrod, R. (1987)). Das Verhalten einzelner kann aus dem Gesamtergebnis und auch nicht aus anderen Quellen abgelesen werden. Deshalb kann man es nicht zur Bedingung von eigenen strategischen Aktionen machen. Der Sinn eines eigenen Abweichens kann ebenfalls nicht aus der Handlung abgelesen werden. 165 Wenn man abweicht, dann muss das ja gerade nicht notwendig bedeuten, dass man den anderen damit für eine vorherige Abweichung bestrafen will. In Großgruppen, in denen das Beteiligungsverhalten einzelner Individuen nicht beobachtbar ist, gibt es daher selbst bei wiederholter Interaktion wenig Hoffnung, dass die Dominanz nicht kooperativer Strategien behoben werden kann. Das Freifahrer-Problem ist damit durch strategisches Verhalten anscheinend nicht behebbar. Handlungen, wie die Beteiligung an einer Allgemeinen Wahl (zwar kein NPersonen Gefangenen-Dilemma, aber doch ein Beteiligungsproblem), der Mülltrennung etc. vollziehen wir häufig dennoch aus innerer Überzeugung und ohne strategische Erwägung der Folgen unserer je einzelnen Akte. Damit die kollektiven Ergebnisse zustande kommen, ist eine nicht-strategische Beteiligung aus innerem Antrieb erforderlich. Am Ende wird man den Phänomenen der Beteiligung gewiss besser gerecht, wenn man sie als Ausfluss von Überzeugungen beschreibt und nicht als Ergebnis strategischer Interessenkalkulationen im Einzelfall. Die Überzeugungen werden ihrerseits in Prozessen gesellschaftlicher Kommunikation grundlegend beeinflusst. In diesen geht es nicht nur um Instrumente zur Verfolgung gegebener Interessen, sondern in einem gewissen Sinne um die Formulierung der Interessen selber beziehungsweise um die Formung von Präferenzen. Es scheint klar, dass dem ethischen Diskurs im weiteren Sinne eine Rolle in der Präferenzbildung zukommt. Denn in ethischen Auseinandersetzungen werden Beiträge zur Formung unserer grundsätzlichen Überzeugungen geleistet. (Selbst wenn diese Überzeugungen am Ende nur ausdrücken, was wir für das halten, was unseren Interessen am besten dient, handelt es sich um Überzeugungen und nicht um direkt handlungsrelevante Anweisungen.) Darum, die Aufmerksamkeit auf die Formierung von Überzeugungen zu richten, kommt nach den vorangehenden Überlegungen auch eine Ethik-Rechtfertigung in hypothetischen Imperativen kluger Interessenwahrung nicht herum. Wenn sie ein realistisches Bild von der Umsetzung des normativ Erwünschten in gesellschaftliche Praxis entwerfen will, muss sie davon ausgehen, dass die Menschen häufig in einer Weise handeln, die weit vom Modell instrumenteller Rationalität entfernt ist. Es geht nicht um eine kausal wirksame unmittelbare Umsetzung der „obersten“ Zwecke des Handelns. Der Unterschied zwischen ethischen Positionen, in denen es darum geht, durch Kommunikation erst einmal Präferenzen und Überzeugungen zu bilden und ethischen Auffassungen, die von 166 gegebenen Zwecken, Zielen oder Werten ausgehen, verwischt sich, wenn man ein realistisches Bild menschlichen Handelns entwirft: Damit die soziale Ordnung funktioniert, so wie wir es de facto beobachten, muss es Individuen geben, die intrinsisch zu bestimmten Handlungen ohne Zweckrationalität im engeren Sinne motiviert sind. Überdies mögen die letzten Ziele, Zwecke oder Werte zwar als gegeben vorausgesetzt werden, doch heißt das mit Bezug auf die direkt handlungswirksamen Motive wenig. Diese Motive werden womöglich nur aus dem Verpflichtungsgefühl gegenüber Normen beruhen. Der Anhänger einer strategischen Rechtfertigung gesellschaftlicher Institutionen auf der Basis der durch diese Institutionen geförderten individuellen Interessen kann ohne weiteres unter bestehenden Institutionen aus Pflicht und nicht aus strategischen Motiven heraus handeln. Ein triviales Beispiel bildet die Akzeptanz des Gebotes, Versprechen zu halten. Man kann sich verpflichtet fühlen, Versprechen nicht zu brechen, ohne in jedem einzelnen Falle, die Handlungsfolgen abzuwägen. Das einzige Motiv, das man in einer Handlungssituation bewusst hat, ist die Vorstellung, es sei geboten, Versprechen nicht zu brechen. Man denkt über den Nutzen der Versprechensinstitution gar nicht mehr nach. Unter den direkten Handlungsmotiven taucht die Einsicht in die Nützlichkeit der Versprechensinstitution nicht auf. Insoweit gibt es keine Unterschiede zwischen der tatsächlichen Wirkungsweise einer Institution wie dem Versprechen, wenn man ihre Rechtfertigung das eine Mal konsequentialistisch und das andere Mal pflichten- oder rechtsbasiert (deontologisch) ableitet. Auf der höheren Stufe, auf der es um die Rechtfertigung der Institution geht, gibt es Unterschiede. Aber diese betreffen weniger die konkreten institutionellen Pflichten bzw. deren Inhalte als die Art der Ableitung und Rechtfertigung. Der Inhalt von Überzeugungen wird in einem interessenorientierten Diskurs, der sich allein auf die Bestimmung hypothetischer Imperative kluger Interessenwahrung richtet, nicht an einem unabhängigen Maßstab, sondern nur an den außermoralischen Konsequenzen geprüft. Aber die feste institutionelle Regel, dass Versprechen, gehalten werden müssen, ergibt sich typischerweise in beiden Fällen. Beim Konsequentialisten indirekt und beim NichtKonsequentialisten direkt aus der Einsicht in die „Vernunft der Regel“ (vgl. dazu und zum vorangehenden insbesondere Brennan, H. G. and J. M. Buchanan (1985)). 167 4.1.2. Nicht-konsequentialistische, insbesondere „transzendentale“ Rechtfertigungen von Pflichten Die Zweck-Mittel-Rationalität sagt nichts darüber aus, ob die verfolgten Ziele selber angemessen oder vernünftig sind. Wer nicht überleben will, der hat womöglich auch kein Interesse an der Durchsetzung von Mordverboten. Wer den Rechtsstaat ablehnt, für den ist es womöglich unvernünftig, demokratischrechtsstaatliche Parteien zu unterstützen. Relative zu solchen Einstellungen sind die Gebote der instrumentellen Vernunft ziemlich klar. Den Einstellungen selbst möchten viele Bürger und Philosophen gern mit Argumenten entgegentreten können. Das gilt insbesondere für Apel und Habermas, deren Ansatz uns an dieser Stelle stellvertretend für viele ähnliche ethische Intuitionen als Anschauungsmaterial dienen kann. Die beiden wollen den vorerwähnten Ansichten nicht nur politisch als Gegner entgegentreten können, sondern mit dem Argument, dass es in sich unvernünftig sei, solche Ziele zu verfolgen. Das bedeutet, dass man nach Auffassung von Habermas und Apel auch die letzten Ziele, Zwecke oder Werte eines Rechtfertigungsadressaten noch argumentativ und rational kritisieren können muss. Es gibt Gründe dafür, sie zurückzuweisen und man kann sie nicht nur deshalb ablehnen, weil man de facto anderes will. Am Ende zählt moralisch nicht nur die Fähigkeit oder Macht sich durchzusetzen, sondern es zählen Argumente, während für den Anhänger einer bloß instrumentellen Rechtfertigung von Institutionen am Ende auch moralisch der Rekurs auf etwas außermoralisches und nicht-argumentatives übrig bleibt. Wenn man in Anspruch nimmt, dass es Rechtfertigungen von Regeln und Normen gibt, die ohne einen Bezug darauf, dass der Rechtfertigungsadressat de facto Ziele, Zwecke oder Werte akzeptiert, rationale Gültigkeit beanspruchen können, dann unterstellt man die Existenz von nicht-hypothetischen oder nichtstrategisch begründeten Imperativen auf oberster Rechtfertigungsebene. Da sie nicht auf de facto gegebene Ziele, Zwecke oder Werte angewiesen, sondern von solchen empirischen Bedingungen in ihrem Geltungsanspruch unabhängig sind, teilen die dann noch möglichen Argumente ein, wenn nicht das zentrale Merkmal kategorischer Imperative im Sinne Kants. Aufgrund der Unabhängigkeit von Zielen, Zwecken oder Werten und der davon bestimmten Konzeption des Guten handelt es sich zugleich in diesem engeren Sinne um deontologische Ansätze. Da das Begründungsprogramm von Karl-Otto Apel sich selbst ausdrücklich an „transzendentales“ Denken anlehnt und Habermas in seiner Diskursethik auf 168 Apels Transzendental-Pragmatik zurückgreift, ist es nützlich, sich zunächst in einer stark vereinfachten und vergröbernden Weise wenigstens bestimmte Aspekte des transzendentalen Denkens Kants zu erschließen, um sich vor diesem Hintergrund der Habermasschen Diskurs-Ethik zu nähern (eine grundlegende und klar geschriebene Kritik des jüngeren transzendentalen Denkens findet man in Albert, H. (2003)). 4.1.2.1. Eine Prise Kant Nach Kant ist uns die Welt als Gegenstand unserer Erfahrung immer nur unter Kategorien von Raum und Zeit zugänglich. Die Welt an sich, ohne derartige „Beigaben“ liegt jenseits der Erfahrung (sie ist transzendent, nicht transzendental). Wir können womöglich der Welt auch auf andere Weise begegnen, nicht aber Erfahrungen in ihr bzw. von ihr machen. Das ist so, weil Erfahrungen zu machen, aus Sicht Kants bedeutet, dass man die Kategorien von Raum und Zeit zur Konstituierung des Erfahrenen heranzieht (etwa so wie man eine 3-D-Brille aufsetzt, um eine dreidimensionale Bilderfahrung zu machen, wenn man einen entsprechend präparierten Fernsehfilm betrachtet). So ähnlich wie aus „Junggeselle“ folgt, dass der Betreffende unverheiratet ist, so folgt nun aus dem Begriff „Erfahrung“, dass jede Erfahrung – alles, was unter den Begriff fällt – durch vorausgesetzte Formen oder Kategorien von Raum und Zeit zustande kommt. Diese Formen sind in dem Sinne transzendental, dass sie die „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung“ sind. Ganz analog versucht Kant, seine Moralphilosophie und seinen kategorischen Imperativ als rein formale oder vorausgesetzte Bedingungen allgemeinen moralischen Urteilens und Handelns zu begründen. Daran und an der unterschwellig benutzten Analogie zwischen a priorischen Erfahrungs- und a priorischen Moralgesetzen (Gesetzen, die aller Erfahrung vorausgehen und als Vernunftgesetze gänzlich unabhängig davon sind, was in der Welt vorgeht) ist von je her und gerade auch in jüngerer Zeit Kritik geübt worden. Auf diese Kritik ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Denn Apel und Habermas vermeiden die eher erkenntnistheoretisch motivierte Art der Kritik an diesen Aspekten des Kantianismus in der Moralphilosophie, indem sie den „a priori“ vorausgesetzten, der Erfahrung und der Moral vorausgehenden transzendentalen Faktoren eine „transzendental-pragmatische“ oder „kommunikative“ Deutung geben. 169 4.1.2.2. Von Kant über Apel zu Habermas Nach der transzendentalpragmatischen Sicht kann man dann, wenn man mit anderen kommuniziert, gar nicht anders als bestimmte Voraussetzungen „verständigungsorientierten“ Handelns zu machen. Man hat als Teilnehmer am Diskurs „immer schon“ bestimmte Normen der Teilnahme und des wechselseitigen Respektes akzeptiert. Da man das getan hat, kann man gar nicht anders als die aus diesen Normen erwachsenden Pflichten zu akzeptieren – gleichgültig, was man de facto sonst noch will. Wer kommuniziert, hat damit nach Auffassung von Habermas und Apel „immer schon“ bestimmte Regeln unterschrieben. Das scheint zunächst nicht unvernünftig. Wer Poker spielen will, der akzeptiert, indem er sich einer Poker-Runde anschließt, deren Regeln. Es hängt allerdings sehr viel an der Deutung des Wortes „akzeptieren“. Wenn man der Sicht von Apel, Habermas und ihren Anhängern folgt, dann ist es eine Voraussetzung der Teilnahme an einem Diskurs, dass man bestimmte Normen nicht nur äußerlich einhält, sondern „wirklich“ und damit aus innerer Überzeugung „akzeptiert“. Das Letztere muss man, wenn man sich einer Poker-Runde anschließt, aber gerade nicht vollziehen. Es reicht aus, dass der Pokerspieler die Regeln einhält. Es ist für die erfolgreiche Teilnahme am Spiel nicht erforderlich, dass er sie auf einer grundsätzlichen Ebene für richtig oder angemessen hält. Dass der Pokerspieler die Regeln aus innerer Überzeugung akzeptiert, ist nicht gefordert, um am Spiel im alltäglichen Sinne des Begriffs „teilnehmen“ zu können. Nun kann man natürlich festlegen, dass im Gegensatz zu unserer alltäglichen Verwendung von Termen „Teilnahme“ bedeutet, dass man bestimmte Regeln nicht nur „äußerlich“ einhält, sondern auch „innerlich“ akzeptiert, indem man sie sich zu eigen macht. In dieser Bedeutung von „Teilnahme“, kann man dann trivialerweise am Diskurs nur teilnehmen, wenn man sich seine Normen innerlich zu eigen macht. Sonst tut man nur so, als ob man teilnähme. Man würde aber nicht in dem festgelegten Sinne von „Teilnahme“ teilnehmen. Wenn man das starke Konzept von Teilnahme zugrunde legt, dann kann man diese Form der Teilnahme nur unter echter Akzeptanz der „Teilnahmebedingungen“ praktizieren, nichts zwingt jedoch dazu, diese und nur diese Form der Teilnahme zu praktizieren. So, wie der Poker-Spieler einfach am Spiel teilnehmen kann, ohne die Regeln für vernünftig zu halten oder sie in dem starken Sinne zu akzeptieren, dass er sie sich selber aussuchen würde, wenn er es könnte, so könnte man auch am gesellschaftlichen und ethischen Diskurs „strategisch“ teilnehmen, ohne seine Regeln aus innerer Überzeugung zu 170 akzeptieren. Obschon es empirisch schwierig sein mag, sich zu verstellen (vgl. dazu Frank, R. (1992), Baurmann, M. (1996)), scheint es möglich, dass man an einem Diskurs teilnehmen kann, ohne sich wahrhaft auf ihn einzulassen. Es reicht völlig aus, dass man „strategisch“ so handelt, als ob man grundlegende Normen akzeptierte, ohne sie wahrhaft zu akzeptieren. Man tut so als ob, um in dem Diskurs die eigenen Argumente zur Sicherung der eigenen Interessen besser einsetzen zu können. Man kann sich, so wie man sich aus Eigeninteresse wie ein selbstloser Helfer geben kann, durchaus aus strategischen Interessen so verhalten, als ob man ein verständigungsorientiert Handelnder wäre. Selbst wenn man sich „immer schon“ äußerlich in einer bestimmten Weise verhalten muss, um am Diskurs teilzunehmen, kann man „immer noch“ die äußeren Teilnahmebedingungen als bloße externe Restriktionen beachten, ohne sie von einem internen Standpunkt aus zu akzeptieren oder zu internalisieren. Fragen nach dem Status letzter Begründungen sind von hohem theoretischen Interesse. Deshalb muss die philosophische und meta-ethische Diskussion um die transzendental-pragmatische Letztbegründung geführt werden. Für praktische Zwecke sind derartige Diskussionen jedoch weit gehend irrelevant. Ungeachtet aller Vorbehalte gegen die Ansprüche einer transzendentalphilosophisch begründeten Unmöglichkeit nicht-strategischer, kategorisch gerechtfertigter Akzeptanz bestimmter Normen des Diskurses, gibt es einen plausiblen Kern der Diskurs-Theorie. Dieser Kern erschließt sich auch jenen, die den transzendentalphilosophischen Fundamentalismus im Begründungsdenken nicht akzeptieren wollen. 4.2. Diskurs-Ethik ohne transzendentale Begleitmusik Praktische Normen vor allem einer Institutionalisierung von Verfahren der Überlegung und Diskussion sind für praktisch-ethische Entscheidungen von hoher Bedeutung. Die Aufmerksamkeit muss sich auf die Implementierung „deliberativer Verfahren“ und die angemessenen Normen, die diesen zu Grunde liegen sollen, richten. Diskussionen, an denen nicht nur einzelne Personen „monologisch“ wie etwa am ursprünglichen Rawlsschen Entscheidungsverfahren für die normative Ethik, sondern im inter-personalen Dialog teilnehmen, können nicht nur große Anziehungskraft besitzen. Ihnen scheint auch für Fragen der praktischen Ethik, wenn man diese einmal als 171 ethische Auseinandersetzungen in der gesellschaftlichen Praxis deutet, eine besondere Bedeutung zuzukommen. Das Augenmerk gilt Diskursen als gesellschaftlichen Regelsystemen oder Institutionen. Welche Regeln benutzt werden, muss keineswegs allein diskursethisch begründet werden. Es geht jetzt um eine Alltagsmoral des praktischen Diskurses und Institutionen die den Disput um moralische Fragen in geordnete Bahnen lenken. Die Regeln für diese Alltagsinstitution können durchaus mit folgenorientierten Argumenten begründet werden. Sie können mit vertragstheoretischen beziehungsweise utilitaristischen Argumenten ebenso gerechtfertigt werden, wie man versuchen kann, sie direkt auf deontologische Prinzipien wie einen kantischen kategorischen Imperativ oder aber transzendental pragmatische Auffassungen zurückzuführen. Für die ethische Theorie machen alle diese Unterscheidungen einen Unterschied, für die tatsächliche Praxis moralischer Auseinandersetzung allerdings eher nicht. Die „Praxis“ praktischer Diskurse unterscheidet sich von einer philosophischen Theorie so genannter idealer Sprechergemeinschaften und deren fiktiven Praktiken so, wie sich das reale Pokerspiel sich von einem nur vorgestellten idealen Spiel unterscheidet. Reale praktischer Diskurse müssen sich nach realen Regeln vollziehen. Es muss institutionalisiert werden, welche Regeln gelten sollen und wer auf welche Weise an den Diskursen teilnehmen soll. Was das anbelangt, scheinen die folgenden fünf Prinzipien als grundlegende Orientierungen dienen zu können (vgl. Kettner, M. (1993); vgl. auch zu allgemeinen Hintergründen Koller, P. (1992)). 1. Allgemeinheit der Teilnahme: Zum praktischen Diskurs sollen alle kompetenten Moralbeurteiler zugelassen sein, sofern deren Interessen von der Entscheidung betroffen sind, beziehungsweise betroffen sein werden. Das kann natürlich nicht heißen, dass buchstäblich jedermann, der potentiell betroffen sein könnte, gehört wird. Diese Möglichkeit scheidet schon deshalb aus, weil bestimmte Personen erst in der Zukunft existieren werden und deren Interessen ebenfalls betroffen sein können. Es muss aber versucht werden, so gut wie möglich sämtliche Interessen und Auffassungen in der Diskurs-Situation vertreten zu sehen. 2. Offenheit: Es obliegt den Teilnehmern des Diskurses allein, welche Arten von Argumenten sie einbringen wollen. Sie sind insoweit autonom. Zugleich steht es jedem der Diskursteilnehmer frei, das, was andere vorbringen, beliebig infrage zu stellen. Interessen können allerdings als illegitim angesehen werden, wenn sie 172 als irrational erscheinen (wobei nicht recht klar ist, nach welchem Kriterium die Irrationalität festgestellt werden soll). 3. Einfühlungsfähigkeit und –bereitschaft: Es wird von den Teilnehmern erwartet, dass sie fähig und bereit sind, sich in andere Teilnehmer und deren Lage zu versetzen. Zugleich wird verlangt, dass jeder Diskurs-Teilnehmer sich von seiner eigenen partikularen Betroffenheiten soweit distanzieren kann, dass er auf sich als einen gleichberechtigten Teilnehmer unter vielen schauen kann. 4. Wechselseitige Gleichanerkennung: Im Diskurs müssen die Teilnehmer von Asymmetrien, die ihre Stellung außerhalb des Diskurses kennzeichnen mögen, absehen wollen. Das generelle Prinzip, dass jeder für einen und keiner für mehr als einen zählen möge, wird akzeptiert. 5. Wahrhaftigkeit: Im Diskurs legen die Teilnehmer ihre wahren Motive und Absichten offen und verschleiern diese nicht strategisch, um im Diskurs etwas zu erreichen. Von den fünf genannten Annahmen her ist klar, dass in die Konstruktion der Diskurssituation als solcher bereits starke substantielle normative Prämissen eingehen. Sofern man sich diese Situation nur in der Theorie vorstellt, um aus dieser Vorstellung oder diesem Denkmodell normative Folgerungen zu ziehen, hat man einen Teil dessen, was man hinterher aus dem Modell ableitet, zu Beginn in das Modell hineingesteckt. Auf der anderen Seite muss jede substantielle ethische Theorie derartiges vollziehen. Der Utilitarismus Harsanyi’s etwa nimmt an, dass jedes Individuum mit gleicher Wahrscheinlichkeit in jeder gesellschaftlichen Position sein kann. Die Theorie von Rawls unterstellt, dass die Individuen hinter einem Schleier der Unkenntnis über die eigene Betroffenheit über Gesellschaften entscheiden und bestimmte fundamentale Respektsnormen akzeptieren. Insoweit muss man auch der Diskurstheorie bestimmte Grundvoraussetzungen einer moralischen Motivation zugestehen. Damit gerät sie allerdings auch in die gleichen Probleme wie insbesondere die Gesellschaftsvertragstheorien. Denn die Diskurstheorie unterstellt einen fiktiven Diskurs fiktiver Individuen, die sich auf eine bestimmte idealisierte Weise im Denkmodell begegnen. Dann zieht sie aus dieser rein fiktiven Situation Konsequenzen für Normen, die in der realen Welt Geltung besitzen sollen. Damit entstehen aber alle Probleme mangelnder Verpflichtungskraft fiktiver oder fiktionsbasierter Argumentationen, wie wir sie aus der Diskussion um die Gesellschaftsvertragslehre kennen. 173 Eine Möglichkeit, diese Probleme zu mildern, besteht darin, die fünf genannten Bedingungen approximativ in der Realität zu realisieren. So kann man beispielsweise eine heterogene Gruppe von Individuen zusammenbringen, um diese exemplarisch einen Diskurs über ein relevantes moralisches Problem führen zu lassen. Diese Gruppe würde dann stellvertretend für andere agieren. Möglicherweise würde die Repräsentativität der Gruppe ausreichen, um die Ergebnisse auch für unbeteiligte Dritte überzeugend werden zu lassen. Die Nähe zur Gesellschaftsvertragslehre ist in jedem Falle offenkundig wenn Habermas sagt (vgl. Habermas, J. (1983), 75): Es muss „(j)ede gültige Norm der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.“ Diesen Satz würden Theoretiker wie Rawls und insbesondere Buchanan sofort unterschreiben. Wenn man die Bedingung, dass die Norm „akzeptiert werden kann“, daran anbindet, dass die Existenz und Durchsetzung der Norm im Interesse des betreffenden Individuums liegt, dann ist es schwer, einen grundlegenden Unterschied zu der zustimmungstheoretischen Grundnorm jeder Gesellschaftsvertragslehre auszumachen, dass am Ende nämlich die Zustimmung jedes einzelnen entscheidend sei. Dass Habermas hier im Gegensatz zu einer Konzeption der Vertragstheorie von einer Argumentationsregel spricht, scheint unerheblich. Denn in dieser Regel ist de facto nicht von Argumentation die Rede (vgl. dazu und zu vielen anderen Aspekten kritisch und aufschlussreich Lumer, C. (1997)). Es geht auch nicht um eine dialogische Regel, nicht einmal um Diskurs, sondern um ein Kriterium zur Beurteilung von Normen. Dieses Kriterium steht dem Pareto-Kriterium sehr nahe, wenn man voraussagt, dass die Bedingung, dass jedermann x gegenüber y akzeptieren kann, bestimmt dann erfüllt ist, wenn die Interessen von jedermann durch x besser erfüllt werden als in der Vergleichssituation y. Wenn man die Voraussage, dass die Bedingung des Kriteriums erfüllt ist, an andere Wertvorstellungen als individuelle Interessenerfüllung oder gar individuelle Präferenzen knüpft, dann muss man letztlich die Begründunglast für diese Wertvorstellungen auf sich nehmen. Ansonsten wäre es sinnvoll, die Zustimmung real einzuholen. In diesem Falle, bedeutet die Formulierung, dass jeder etwas akzeptieren kann, einfach, dass jedermann die betreffenden 174 Maßnahmen akzeptiert. Allerdings stellt sich hier wieder das pragmatische Problem, dass man eben gerade nicht alle an den „runden Tisch“ holen und grundlegende Fragen klären lassen kann. Die normative Reflexion und das normative Theoretisieren über praktische Fragen kann man nicht gänzlich durch Institutionalisierung von Diskursen in Diskussionszirkeln und dergleichen einfangen. Man kann allerdings mit ein wenig Mathematik in einem entscheidungstheoretischen Kontext etwas mehr über Konsensmodelle sagen, die der Tatsache, dass real am Ende eines realen Diskurses immer ein Dissens und praktisch niemals ein Konsens stehen wird, Rechnung zu tragen suchen. Solche Modelle gehen über die praktisch-ethische Kernfrage, wie man mit dem Rest-Dissens ethisch umgehen soll, nicht hinweg. Sie maskieren die Tatsache des Dissenses nicht, indem sie diesen mit Hilfe von Fiktionen zum Konsens „ehrenhalber“ umdeklarieren, sondern versuchen, Verfahren zu deren akzeptabler Findung vorzuschlagen. Diese Verfahren stehen zwar selber wieder unter dem Vorbehalt, dass sie weitreichende Voraussetzungen machen müssen. Doch bemühen sie sich wenigstens um Präzision und legen dabei die Voraussetzungen offen. 4.3. Lehrer-Wagner-Modelle intersubjektiven Konsenses In den Fällen, in denen, aus welchen Gründen auch immer, kollektiv gehandelt werden muss oder soll, denkt man herkömmlicher Weise daran, Entscheidungen durch Abstimmungsverfahren treffen zu lassen. Blindes Vertrauen in kollektive Abstimmungsverfahren wie etwa das einfache Mehrheitsverfahren zu setzen, erscheint jedoch nicht als allzu überzeugend. Dagegen, dieses Vertrauen zu zeigen, sprechen nicht nur die Möglichkeiten von Zyklen in der Entscheidungsfindung, sondern darüber hinaus auch die Tatsache, dass einfache Abstimmungsverfahren individuell vorhandene Informationen in hohem Maße vernachlässigen. In einer Mehrheitsabstimmung etwa können Individuen im Prinzip immer nur mit "nein", "ja", "Enthaltung" reagieren. Das ist alles, was die kollektive Abstimmungsmaschinerie verarbeiten kann. Da man von einem vollständigen Konsens nicht ausgehen kann, steht man anscheinend in nahezu allen kollektiv verbindlichen Entscheidungen vor dem klassischen Problem von "Individuum und Gesellschaft", dem Problem der unauflöslichen Spannung zwischen dem, was der Einzelne will, und den Zumutungen, die er als Erfordernis kollektiven Zusammenlebens in Kauf nehmen muss. Das nachfolgend skizzierte Modell weist einen Teilausweg aus diesem Konflikt. Im Vergleich zu dem zuvor diskutierten Modell Harsanyis, das 175 nur einen ganz abstrakten Rahmen moralischer Urteilsbildung entwirft, befindet es sich auf einer niedrigeren Abstraktionsebene, indem es aufzeigt, wie die benötigten Informationen für ein "konsensfähiges Gemeinwohlurteil" überhaupt gewonnen werden könnten. Zugleich behandelt es in aufschlussreicher Weise das bei Harsanyi letztlich durch eine axiomatische Setzung erledigte Problem der Konvergenz unterschiedlicher individueller Gemeinwohlurteile zu einem einheitlichen, inter-individuellen Gemeinwohlurteil auf eine Weise, die zentrale Grundanliegen der Diskursethik in die strategische Analyse individuellrationaler Urteilsbildung aufnimmt und sie konkretisiert. 4.3.1. Das Grundmodell von Lehrer und Wagner Stellen Sie sich eine Gruppe J von Individuen vor, die gemeinsam handeln müssen oder möchten und die dabei das in ihrer Gruppe vorhandene Wissen "optimal" ausnutzen wollen. Um Ihre Vorstellungskraft noch etwas konkreter anzuregen, können Sie sich einmal ausmalen, die Gruppe J betreibe eine landwirtschaftliche Kooperative. Die Mitglieder von J müssen unter dem Risiko unsicherer Marktchancen für die verschiedenen landwirtschaftlichen Produkte darüber entscheiden, was sie anbauen. Insbesondere wissen sie vor der Entscheidung nicht mit Sicherheit, ob die Produkte, die sie anbauen, auf dem Markt gefragt oder nicht gefragt sein werden bzw. welche Preise sie dafür erzielen können. Von entscheidender Bedeutung für die Anbieter ist, ob der Markt für sie "groß" sein wird, X, oder klein, XC. Die Größe des Marktes wiederum hängt von der Nachfrage der Verbraucher aber auch davon ab, ob viele oder nur wenige nicht zur Kooperative gehörige Entscheidungsträger – andere Individuen, andere Kooperativen etc. – das gleiche Produkt anbauen werden. Insgesamt werden sich alle diese verschiedenen Einflüsse in einer Wahrscheinlichkeitsschätzung p(X) dafür, dass der Markt groß ist, niederschlagen müssen; wobei p(XC)=1-p(X). Das wissen die Individuen aus J. Es gilt zugleich, dass für i, j ∈ J die persönlichen Einschätzungen ungleich sein können – und in der Regel zunächst auch sein werden. Was soll man aber machen, wenn für zwei verschiedene Individuen i und j aus J gilt pi(X)≠pj(X)? Soll man nach der Schätzung von i vorgehen, nach der von j, nach einem Mittelwert oder wonach sonst? Soll man bei der Mittelwertbildung vielleicht die Einschätzung durch j höher gewichten als die von i, weil etwa j der bessere Experte ist? Wer aber soll wie feststellen, wer die besten Experten in einem Kollektiv sind? 176 Eine einfache Mehrheitsentscheidung darüber, welcher von verschiedenen vorgeschlagenen Wahrscheinlichkeitswerten p(X) der plausibelste ist, erscheint als wenig sinnvoll. Man wird vielmehr wünschen, dass über einfache Stimmenzählung hinaus, Informationen berücksichtigt werden. Nach Überlegungen die von dem Philosophen Keith Lehrer vorgeschlagen und von ihm zusammen mit dem Mathematiker Carl Wagner ausgearbeitet wurden, kann man die Berücksichtigung weiterer Informationen in einem konsensorientierten Verfahren tatsächlich erreichen (vgl. ursprünglich Lehrer, K. and C. Wagner (1981)). Am Beispiel des Entscheidungsproblems der landwirtschaftlichen Kooperative J lässt sich das Vorgehen im Grundzug erläutern. Nehmen wir an, alle Argumente und mitteilbaren Informationen sind nach einem Meinungsbildungsprozeß in J ausgetauscht. Die Diskussionen der Mitglieder des Kollektivs J wurden beendet, weil sich durch weitere Diskussionen und weiteren Informationsaustausch zwischen den Beteiligten an deren individuellen Wahrscheinlichkeitseinschätzungen nichts mehr ändert. Es ist eine Art "diskursives Gleichgewicht" in dem Sinne erreicht, dass weitere Kommunikation an den bestehenden Einschätzungen nichts ändert. Man könnte auch sagen, der Grenzertrag weiterer diskursiver Aktivitäten der Teilnehmer sei "Null". Sofern sich nicht ohnehin Einmütigkeit eingestellt hat, bringt eine Fortsetzung des Diskurses einen Konsens nicht näher. In dem Kollektiv J hat jeder nach dem Ende des Argumentations- und Informationsaustauschprozesses eine "Anfangsschätzung" pj(X) darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit von X nach seiner persönlichen Meinung ist. Diese Schätzung steht am Ende des öffentlichen Diskurses. Jeder hat eine derartige subjektive Schätzung auf dem Weg zum Kommunikationsgleichgewicht, den er im Diskurs gemeinsam mit allen anderen beschritten hat, durch einen internen Abwägungs- und Urteilsprozeß gebildet. Die so gewonnenen Schätzungen der einzelnen Individuen fassen wir zusammen zu einem n–tupel oder Profil p von Schätzungen mit p = (p1(X), p2(X), ..., pn(X)). Da nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern regelmäßig anzunehmen ist, dass pi(X)≠pj(X) für i≠j gilt, weiß man mit Kenntnis von p noch nicht, welche Schätzung für das Kollektiv verbindlich sein soll. Lehrer und Wagner schlagen nun vor, das Endergebnis des Beratungsprozesses als Anfangsinformation für einen weitergehenden Schritt in Richtung auf ein 177 einheitliches Ergebnis zu nutzen. Sie argumentieren, dass jeder der Beteiligten nicht nur Informationen über die Sache selbst, sondern darüber hinaus auch über die Beurteilungskompetenz der anderen Individuen aus J hat. Jeder hat eine Schätzung darüber, wie zuverlässig die Einschätzungen der anderen sind. Jeder kann jedem Kollektivglied einschließlich seiner selbst einen Anteil an der Gesamtkompetenz des Kollektivs zuweisen. Setzt man die Gesamtkompetenz des Kollektivs mit 100% an, dann hat jeder aus seiner eigenen Sicht einen gewissen Anteil an dieser Urteilskompetenz. Das erste Individuum etwa könnte sich – nach seiner eigenen Selbsteinschätzung – selbst 90% der Urteilskompetenz zuerkennen, dem vierten und fünften jeweils 5% und die anderen für völlig inkompetent halten. Der zweite und der dritte halten vielleicht nur sich selbst für kompetent, weisen sich damit ein Gewicht von 100% zu und den übrigen einen Wert von 0%. Der Vierte wiederum mag von sich selbst in dieser Frage überhaupt nichts halten. Er meint, völlig inkompetent zu sein und weist sich selbst daher ein Gewicht von 0%, dem Urteil des zweiten jedoch – wie dieser selbst – ein Gewicht von 100% zu etc. Es liegt nahe, aus solchen Überlegungen heraus eine neue Wahrscheinlichkeitsschätzung gewinnen zu wollen, bei der jeder das Urteil jedes anderen mit den von ihm selbst vergebenen Kompetenz-Gewichten versieht und zu einer aus seiner eigenen Sicht besseren Schätzung aggregiert. Da klar ist, dass es immer um die Wahrscheinlichkeitsschätzung für die gleiche Alternative X geht, lassen wir den Hinweis auf X im folgenden fort und erhalten zunächst als vereinfachte Notation: p = (p1, p2, ..., pn) für das Profil von Anfangsschätzungen. Die Kompetenzschätzungen sind nun Werte zwischen 0 und 1 (0% bis 100%), die jedes Individuum jedem anderen zuweist. Solche Schätzungen werden von jedem i∈J für jedes j∈J vorgenommen. Man erhält dann qij: die Einschätzung der Kompetenz von j durch das Individuum i. Aus den von einem Individuum i abgegebenen Schätzungen kann man nun ein n-tupel bilden mit qi = (qi1, qi2, ..., qin). In diesem n-tupel oder in dieser Liste hält das Individuum i fest, wieviel der im Kollektiv J vorhandenen Gesamturteilskompetenz aus seiner persönlichen Sicht auf 178 jedes der Individuen j = 1, 2, 3, ..., n entfällt. Diese Gewichte müssen sich zu 100% addieren. Es muss also stets gelten: n ∑ qij = 1. j=1 Die qi = (qi1, qi2, ..., qin) lassen sich zu einer Tabelle oder Matrix Q zusammenfassen mit q11 q21 q31 q12 q22 q32 q13 q23 q33 ... ... q1n q2n qn-1 n-1 qn n-1 qn-1 n qn n ... qn1 qn2 ... qn3 Tabelle 7 Es scheint angemessen, Q als Matrix der wechselseitigen Achtung zu bezeichnen. Diese Bezeichnung erinnert an die Interpretation der Tabelle: Würde das Individuum i entlang der Zeile i blicken, so fände es dort genau jene Urteilskompetenzen, die es den Individuen in J als Maß der Achtung zuordnet. Entlang der Spalte j findet sich die Achtung, die das Individuum j von den anderen empfängt. Es sind natürlich ganz unterschiedliche Verteilungen der wechselseitigen Achtung im Kollektiv J denkbar. In einem Kollektiv J von sechs Individuen könnte etwa eine Matrix gegenseitiger Achtung Q1 auftreten, die die folgende Gestalt hat: Q1 = Jedes Individuum achtet nur sich selbst und genau ein anderes Individuum aus J "positiv". Das bedeutet, dass es neben positiver Selbstachtung der eigenen Urteilskompetenz eine positive Achtung der Kompetenz anderer Individuen gibt. Diese direkte positive Achtung anderer drückt sich darin aus, dass es i, j ∈ J gibt mit i≠j und qij > 0. 179 Gewichtet ein Individuum i nun die Wahrscheinlichkeitsurteile aller mit den von ihm selbst angenommenen Kompetenzgewichten und addiert die Ergebnisse dieses Prozesses, so erhält i p'i = qi1 * p1 + qi2 * p2 + , ..., + qin * pn oder unter Verwendung des Summenzeichens n p'i = ∑ qij * pj . j=1 Man überlegt sich leicht, dass p'i ein Wert zwischen 0 und 1 sein muss, da sich die q-Werte zu 1 summieren und zugleich 0≤pj≤1 für alle j∈J gilt. Es liegt nahe, p'i als eine "neue" Wahrscheinlichkeitsschätzung von i zu interpretieren. Jedenfalls hat i guten instrumentellen Grund, sich diese gewichtete Summe der alten Wahrscheinlichkeitsschätzungen als Wahrscheinlichkeitsschätzung zu eigen zu machen. Denn i lässt in p'i die Schätzung jedes Kollektivgliedes j genau mit dem Gewicht eingehen, das i selbst jedem Urteilenden aus dem Kollektiv (einschließlich seiner selbst) zubilligen möchte. Die neue Wahrscheinlichkeitsschätzung von i ergibt sich daraus, dass i die Anfangsschätzung des ersten entsprechend dessen Anteil an der Gesamturteilskompetenz des Kollektivs in seine eigene neue Schätzung einbezieht. Dem fügt er die Wahrscheinlichkeitsschätzung des zweiten Individuums genau mit dem Gewicht hinzu, mit dem er das zweite Individuum an der Gesamturteilskompetenz des Kollektivs beteiligt sieht. In gleicher Weise fährt er mit dem dritten, vierten usw. fort. Mit der Abkürzung qi * p := qi1 * p1 + qi2 * p2 + , ..., + qin * pn erhält man p'i = qi * p . Da das Argument, das hier für i benutzt wurde, für jedes j aus J in gleicher Weise gilt, erhält man sogleich die verbesserten Schätzungen p'j: p'1 = q1 * p = q11 * p1 + q12 * p2 + , ..., q1n * pn p'2 = q2 * p = q21 * p1 + q22 * p2 + , ..., q2n * pn 180 . . . p'n = qn * p = qn1 * p1 + qn2 * p2 + , ..., qnn * pn . Man bildet, um wiederum eine einfache Abkürzung der Schreibweise einzuführen, das "neue" Profil von Wahrscheinlichkeitsschätzungen somit nach: p' = Dafür kann man bekanntlich stenographisch kurz schreiben: p' = Q*p Es scheint nun ziemlich nahe liegend, im Ausgang von diesem neuen Profil p' die gleichen Überlegungen, die zum Übergang von p zu p' führten, erneut anzustellen. Jeder hat ja nun eine neue Schätzung der Wahrscheinlichkeit vorgenommen, die er durch erneute Anwendung des Argumentes von der Verbesserbarkeit seiner individuellen Schätzung verbessern kann. Dazu hat er erneut alle Werte p' mit der Kompetenz, die er jedem zubilligt, zu gewichten. Man erhält sofort: p''1 = q1 * p' = q11 * p'1 + q12 * p'2 + , ..., q1n * p'n p''2 = q2 * p' = q21 * p'1 + q22 * p'2 + , ..., q2n * p'n … p''n = qn * p' = qn1 * p'1 + qn2 * p'2 + , ..., qnn * p'n . Das heißt: p'' = =Q*p'. 181 Analog könnte man nun die Bildung von p''' nach Q*p'' verlangen usw. Es gilt für eine beliebige Anpassungsrunde t: pt+1 = Q*pt . Man mag sich nun fragen, ob Q stets so beschaffen sein muss, dass pt+1 ≠ pt gilt. Das ist offenkundig nicht der Fall. Beispielsweise könnte man es mit einem Kollektiv reiner "Urteils-Solipsisten" zu tun haben, von denen jeder nur sich selbst als Beurteiler ernst nimmt. Jeder "gibt" Achtung nur an sich selbst und erfährt Achtung nur durch sich selbst. Man erhielte dann für alle i,j∈J: qjj = 1 und qij = 0, falls i≠j. Man sieht sogleich, dass dann für alle i∈J gelten muss: p'i = 0 + 0 + ... + qii * pi + 0 + ... + 0 = pi . Solche Individuen haben keinen Grund, irgend etwas an ihren Urteilen angesichts der Urteile der anderen zu verändern. Der Anpassungsprozeß der Urteile ist von Beginn an in einem "Grenzzustand". Die Urteile bleiben gleichsam, wo sie sind. Von der Situationslogik der Überzeugungsbildung her ist das möglich. Niemand wird von dieser Logik gezwungen, die Urteile anderer in seine eigene Urteilsbildung einzubeziehen. Plausibel ist eine solipsistische Urteilsbildung vor allem dann, wenn die Individuen davon ausgehen, dass alle relevanten Informationen kommunizierbar sind und ihnen somit im Kommunikationsgleichgewicht bereits zugänglich gemacht wurden. Wenn sie jedoch davon ausgehen, dass nicht alle Informationen kommunizierbar sind, sondern wesentliche Teile des im Kollektiv J enthaltenen Wissens "impliziter" Natur sind, dann scheint es plausibel, diesem Faktum durch eine Nachkorrektur der Schätzungen Rechnung zu tragen, bei der es qij mit i≠j und qij > 0 gibt. Auch bei nicht-solipsistischer Urteilsbildung dieser Art ist es jedoch möglich, dass die Urteile nach einigen Anpassungsschritten oder nach Erreichen der Anpassungsrunde t "bleiben, wo sie sind", und damit insofern ein "neues" Gleichgewicht erreicht wird. Man erhält dann für alle Anpassungen, die sich in Runden r>t vollziehen: pt+1 =Q*pt=pt pt+2 =Q*pt+1=pt+1 pt+3 =Q*pt+2=pt+2 usw. 182 Umgekehrt gilt für die t vorangehenden Veränderungen offenkundig p1 =Q*p p2 =Q*p1=Q*(Q*p) p3 =Q*p2=Q*(Q*(Q*p)) usw.; wobei p1≠ p2 ≠ p3. Der Ausdruck Q*(Q*(Q*p)) legt die Frage nahe, ob man nicht zunächst Q*(Q*(Q)) bilden und dann das Ergebnis dieser Operation auf p anwenden kann. Wenn der Prozess zum Stillstand kommt, dann muss das nach dieser Betrachtung mit den Eigenschaften von Q zusammenhängen. Denn dann würde ja gelten (Q*)*p = p; mit Q*:= Q*(Q*(Q*(…))). Kommt der Anpassungsprozeß jemals zum Stillstand? (Stillstand bedeutet, dass sich für "hinreichend großes" t zwischen pt und pt+1 "nichts" mehr verändert; d.h. zu jeder beliebig kleinen Spürbarkeitsgrenze π für Veränderungen kann man ein t finden, so dass diese Änderungsgrenze unterschritten wird.) Unter welchen Bedingungen erreicht der Urteilsanpassungsprozeß ausgehend vom Kommunikationsgleichgewicht ein umfassenderes Urteilsgleichgewicht als Grenzzustand und kann man ggf. etwas über die Eigenschaften dieses Zustandes aussagen? 4.3.2. Die Frage nach dem Grenzverhalten Die Frage nach einem Grenzwert von pt lässt sich rein formal umfassend beantworten. Die Überlegungen sind jedoch nicht nur von rein formalem Interesse. Die dabei zu benutzenden formalen Bedingungen haben vielmehr eine aufschlussreiche inhaltliche Dimension. Es lohnt sich deshalb, diesen Bedingungen etwas genauer nachzugehen. Die Betrachtung der direkten positiven Achtung in Q erfasst bei nicht völlig solipsistischen Individuen offenkundig noch nicht alle möglichen interindividuellen Bezüge positiver Achtung. Wenn nämlich das Individuum i das Individuum j positiv achtet und j das Individuum k, so sollte man annehmen, dass sich die positive Achtung, die j für k empfindet, auch i vermittelt und zwar genau in dem Maße, wie i das Individuum j positiv achtet. Man hat qij > 0 ∧ qjk>0 und damit 183 qij * qjk>0. Die Implikationen diese Sachverhaltes macht man sich am besten am konkreten Beispiel deutlich. Dazu betrachte man nochmals Q1 = . Die Beispiel-Matrix Q1 hat, was die direkten Achtungsbeziehungen anbelangt, eine sehr interessante Eigenschaft. Es gibt nämlich eine geschlossene Kette positiver Achtung, die jedes Kollektivglied mit jedem anderen verbindet: (1, 2) → (2, 3) → (3, 4) → (4, 5) → (5, 6) → (6, 1) mit q12 > 0 q23 > 0 q34 > 0 q45 > 0 q56 > 0 q61 > 0; d. h. q12 * q23 * q34 * q45 * q56 * q61 > 0. Wir nennen eine solche Kette auch eine Kette ausnahmslos positiven Respektes. Wenn eine solche Kette ausnahmslos positiven Respektes alle Individuen eines Kollektives erfasst, dann hat diese Tatsache weit reichende Konsequenzen. Wenn nämlich eine derartige Kette in einem Kollektiv gebildet werden kann, dann lässt sich beweisen, dass alle Individuen implizit auf die gleichen Kompetenzurteile nach einem Prozess vollständiger Korrektur der eigenen Urteile festgelegt sind. Im Beispiel der Matrix Q1 sind diese Urteile gegeben durch die "Grenzmatrix" * Q1 = . 184 Diese Grenzmatrix erhält man durch eine fortgesetzte Multiplikation der Matrix Q1 mit sich selbst, also durch Bildung von Q1 * Q1 * ...* Q1. Q1 = → * Q1 = . * Die Grenzmatrix Q1 ist das Ergebnis eines fortgesetzten Urteilsanpassungsprozesses, bei dem alle indirekten Urteilsbezüge ausgeschöpft werden. Dabei werden allerdings zunächst nicht die Wahrscheinlichkeitsschätzungen der Individuen angepasst, sondern erst einmal die wechselseitigen Einschätzungen der Urteilskompetenz jedes einzelnen Beteiligten. Denn es werden durch fortwährende Multiplikation die Elemente Q "miteinander" gewichtet. Das läuft aufgrund der Eigenschaften der Matrizenmultiplikation formal auf das gleiche hinaus. Es lässt sich jedoch inhaltlich ebenfalls plausibel machen: Wir haben eine Einschätzung, wie gut jemand (einschließlich unserer selbst) darin ist, ein bestimmtes Problem zu beurteilen. Zugleich haben wir eine Schätzung dafür, wie gut er darin ist, die Kompetenz anderer in der Problembeurteilung einzuschätzen. Es ist möglich, zunächst die Qualität von Individuen als Problemlösern von deren Qualitäten als Auswählern von Problemlösern zu unterscheiden. Es kann ja etwa jemand kein guter Fachmann für die Lösung eines Problems sein und zugleich fähig dazu, fähige Problemlöser aufzufinden. (In allen Prozessen der Delegation von Entscheidungen ergeben sich solche Fragestellungen; aber auch dann etwa, wenn ein Richter einen Gutachter bestellt.) Man kann überdies die betreffenden Argumente Stufe um Stufe weiter treiben und die Kompetenz in der Beurteilung der Kompetenz zur Auswahl von Problemlösern betrachten usw. Man erhielte die Kompetenz erster, zweiter, dritter usw. Stufe. Es dürfte allerdings ziemlich klar sein, dass diese Kompetenzzuweisungen im allgemeinen schon auf sehr frühen Stufen von Stufe zu Stufe unverändert bleiben werden. Im allgemeinen werden wir davon ausgehen, dass die Fachleute selbst die besten Fachleute zur Beurteilung anderer sind und zwar umso mehr, je bessere Fachleute sie sind. Im folgenden wird aus Vereinfachungsgründen angenommen, dass diese Kopplung so stark ist, dass die Kompetenzurteile aller 185 Stufen identisch sind. Durch diese Annahme wird solange nichts wesentliches ausgeschlossen, wie wir davon ausgehen können, dass sich die Kompetenzschätzungen höherer Stufe jedenfalls von einem bestimmten Punkt an von Stufe zu Stufe nicht mehr voneinander unterscheiden. Denn dann sind alle nachfolgend vorgetragenen Argumente nach einem Vorlauf von endlich vielen Multiplikationen mit wechselnden Matrizen – die die unterschiedliche Kompetenz auf verschiedenen Stufen erfassen – für die schließlich nicht mehr veränderlichen Urteile und damit eine konstante Matrix Q anwendbar. Unter der vereinfachenden Voraussetzung von auf allen Stufen identischen qij kann man nun die Frage nach dem möglichen Grenzverhalten eines Beurteilungsprozesses vom Lehrer-Wagner-Typ, wenn er denn "im Geiste" über beliebig viele Stufen durchgeführt würde, wieder aufnehmen. Es ergab sich in unserem Beispiel schließlich eine Tabelle von Kompetenzurteilen, die lauter identische Zeilen enthält. Das bedeutet: Wenn jeder Beteiligte die Kompetenzurteile aller Individuen des Kollektivs J in seiner Beurteilung der Kompetenz anderer vollständig berücksichtigen möchte, dann ist er implizit mit allen anderen auf das gleiche Kompetenzurteil festgelegt, sofern es nur eine Kette ausnahmslos positiven Respektes gibt, die alle Individuen erfasst. Geht man, wie zuvor beschrieben, davon aus, dass sich die direkte positive Achtung als indirekte positive Achtung "transitiv" weiter vermittelt, dann sollte man vermuten, dass in einem Kollektiv wie dem durch Q1 charakterisierten Kollektiv J jeder jeden indirekt positiv achtet. Die Kompetenzurteile jedes anderen sollten in die eigenen Kompetenzurteile mit dem Maß eingehen, in dem man den anderen jeweils für kompetent hält. Dabei sei nochmals betont, dass niemand gezwungen ist, anderen einen positiven Anteil an der Gesamtkompetenz zuzuweisen. Wenn er es jedoch tut, dann ist es uneinsichtig, dies nicht in transitiver Weise zu vollziehen. Überdies sollte klar sein, dass es verschiedene Ketten indirekter positiver Achtung geben kann, die je zwei verschiedene Individuen miteinander verbinden und so zu einer sich wechselseitig überlagernden "transitiven Achtungsübertragung" führen können. Außer dem Individuum k kommen ja noch alle anderen n-1 Individuen aus J als Vermittler in Frage. Die nachfolgende Übersicht zeigt alle derartigen Brücken an: 186 i→ i→ i→ 1 →k 2 →k 3 →k ... i → n-1 →k i→ n →k Tabelle 8 Eine andere graphische Illustration ergibt sich als Graphik 1 Dabei sollte man beachten, dass auch die Kette i→i→k gebildet wird. Das Individuum i gewichtet auch sein eigenes Kompetenzurteil mit der Kompetenz, die es sich selbst zuerkennt. Das scheint durchaus folgerichtig, wenn auch etwas ungewohnt zu sein. Die Kompetenzeinschätzungen erster Stufe werden von i genau in dem Maße für die Bildung einer besseren Kompetenzeinschätzung zweiter Stufe berücksichtigt, wie es von den Schätzungen erster Stufe verlangt wird. Es ist notwendig, alle Ketten positiver indirekter Achtung zweiter Stufe, die zwischen i und k überhaupt existieren können, systematisch zu erfassen. Das ist in sehr einfacher Weise möglich, indem man alle Produkte der Art qij * qjk (i achtet j und j achtet k) bildet. Die gesamte positive indirekte Achtung zweiter Stufe ergibt sich dann durch Aufsummierung aller dieser Terme zu: qi1 * q1k + qi2 * q2k + qi3 * q3k + .... + qi n-1 * qn-1 k + qin * qnk Man definiert 187 (2) qik := qi1 * q1k + qi2 * q2k + qi3 * q3k + .... + qi n-1 * qn-1 k + qin * qnk Unter Verwendung des Summenzeichens kann man dafür auch schreiben: n (2) qik = ∑ qij * qjk j=1 und unter Beiziehung der vorangehenden stenographischen Abkürzungen erhält man (2) qik = qi* qk d. h., man nimmt die Werte aus der i-ten Zeile und der k-ten Spalte von Q – der Matrix direkter Achtung – und nimmt sie termweise miteinander mal, um die Ergebnisse dann aufzusummieren. Die Interpretation dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: In der i-ten Zeile von Q stehen jene Werte, mit denen i jedes der Individuen j direkt achtet. Entlang der k-ten Spalte steht die Achtung, die Individuum k von allen Individuen j empfängt. Das Individuum i bezieht die Achtung, die k von allen Individuen empfängt, genau in dem Maße ein, in dem diese von i Achtung empfangen. Die Summe vermittelter Achtungszuweisungen ergibt einen korrigierten Wert der Achtung von k durch i. Die Korrektur kommt dadurch zustande, dass i den Respekt, den k von anderen empfängt, genau in dem Maße in seinem eigenen Respekt für k berücksichtigt, in dem i selbst die vermittelnden Individuen (einschließlich seiner selbst) als Kompetenzbeurteiler respektiert. Man kann nun wiederum ein n-tupel von korrigierten Einschätzungen der Kompetenz anderer durch das Individuum i∈J bilden. Dieses n-tupel oder diese Liste ergibt sich zu: q i (2) (2) (2) (2) (2) (2) = (qi1 , qi2 , qi3 ,..., qi n-1 , qin ) = (qi * q1, qi * q2, qi * q3, ..., qi * qn-1, qi * qn) Fasst man alle diese Listen zusammen, so erhält man Q (2) = 188 (2) q11 (2) q12 (2) q13 (2) q21 (2) q22 (2) q23 (2) q31 (2) q32 (2) q33 ... ... (2) q1n (2) q2n ... (2) qn1 (2) qn2 (2) qn3 ... (2) qn-1 n-1 (2) qn-1 n (2) qn n-1 (2) qn n Tabelle 9 Diese Tabelle oder Matrix gibt die Achtungskoeffizienten zweiter Stufe an, die um alle indirekten Achtungsbeziehungen und die entsprechenden Korrekturen der Ausgangsurteile ergänzt wurde. Mit diesem Verfahren kann man nun fortfahren und in gleicher Weise Q bilden. (3) Wie man sogleich sieht, muss man jede Zeile der Matrix Q(2) mit jeder Spalte der Matrix Q multiplizieren. Man erhält die i-te Zeile der neuen Matrix Q(3) , indem man die i-te Zeile der Matrix Q (2) nacheinander mit q1, q2, ..., qn multipliziert. Wenn man das für alle Zeilen nacheinander durchgeführt hat, ergibt sich in abkürzender Matrizenschreibweise insgesamt die Matrix Q (3) , was man in stenographischer auch schreiben kann als Q(3) = Q(2) * Q. Allgemein erhält man als Bestimmungsformel für die indirekte Achtung t+1-ter Stufe Q(t+1) = Q(t) * Q. Wenn es einen Grenzwert dieses Matrizenanpassungsprozesses gibt, für den Q* = Q* Q gilt, dann kann man diesen verwenden, um aus einer Liste von Anfangsurteilen p sogleich p* zu berechnen. Man braucht dazu nur auszurechnen: p*=Q* p . 189 Merke Da man formal beweisen kann, dass eine solche Grenzmatrix existiert, wenn Bedingungen ausnahmslos positiven Respektes vorliegen, weiß man auch, dass die Elemente des Vektors p* untereinander alle gleich sein müssen. Das bedeutet, dass man unter Bedingungen ausnahmslos positiven Respektes auf einen impliziten Konsens schließen darf, der durch die Lehrer-Wagner-Analyse gleichsam an's Licht geholt werden kann. Das gewonnene generelle Ergebnis kann man nun auf unser Ausgangsproblem der landwirtschaftlichen Kooperative anwenden. Wenn die Matrix Q die Bedingung ausnahmslos positiven Respektes erfüllt, dann ist ein Konsens im Kollektiv angelegt. Die Anfangsschätzungen pi(X) der Individuen mögen zwar auseinander laufen. Wenn alle Beteiligten jedoch neben dem Wissen über die zu entscheidende Frage auch sämtliches Wissen über die Urteilsfähigkeit der Beteiligten einbeziehen wollen und wenn eine geschlossene Kette von Achtungsbezügen existiert, dann ist jeder implizit, mag er sich dessen auch nicht bewusst sein, mit jedem einig, mit welchem Gewicht die jeweilige Anfangsschätzung eines Individuums i in das kollektive Urteil eingehen soll. Das anfängliche Problem, dass man nicht weiß, welchem Urteil man in der kollektiven Urteilsbildung folgen sollte, ist gelöst. Eine Abstimmung ist nicht erforderlich. Es ist auch nicht so, das die Individuen einen Kompromiss eingingen. Sie verfolgen jeder das Ziel einer möglichst guten kollektiven Urteilsbildung, die von ihren eigenen Urteilen hinsichtlich der Kompetenz jedes einzelnen ausgeht. Man kann im Ergebnis dem Urteil jedes einzelnen folgen, da jeder in Ausnutzung aller Informationen zu der gleichen Gewichtung aller Urteile kommt. Dieser Konsens entsteht auf eine individualistische Weise, da er sich aus den separaten Anstrengungen jedes einzelnen, alle Informationen auszunutzen, ergibt. Der Konsens ist insoweit nicht-kollektiver Natur. Die inter-individuell einmütige korrigierte Wahrscheinlichkeitsschätzung ergibt sich einfach daraus, dass die Anfangsschätzungen jedes einzelnen Individuums mit den Gewichten aus Q* multipliziert werden. Für die Zeilen von Q* gilt q*j = q*i . Jeder gewichtet die Anfangsschätzungen jedes anderen mit den gleichen Gewichten und kommt damit zum gleichen Ergebnis q*i * * * p = pi (X) = pj (X) = q*j * p = p*(X). 190 Damit ist das ursprüngliche Problem auf eine konsensuelle Weise gelöst. Der von allen in dem Wunsche, alle Informationen auszunutzen, zu akzeptierende Wahrscheinlichkeitsschätzwert ist p*(X). Wie wichtig für diese Lösung die Bedingung ist, dass alle Beteiligten eine ununterbrochene Kette ausnahmslos positiven Respektes bilden, kann man der Betrachtung der nachfolgenden Beispielmatrix Q2 entnehmen: Q2 = Es gilt mit gewissen Rundungsfehlern * Q2 = . Hier zerfällt das Kollektiv offenkundig in zwei in den Urteilen gänzlich getrennte Unterkollektive, die intern jeweils übereinstimmende Auffassungen haben. Würde nun nur das fünfte Individuum beginnen, das erste positiv zu achten, und ergäbe sich daraus etwa Q´2 = ; dann würde das Endergebnis wiederum zu einem allgemeinen Konsens führen mit: * Q´2 = . 191 Man sieht, dass schon kleine Änderungen im wechselseitigen Respekt zu großen Veränderungen in den entstehenden Konsens-Gewichten führen können. Das ist sicher eine Schwäche einer derartigen Modellierung, sollte aber nicht daran hindern, der Modellentwicklung noch etwas genauer zu folgen, da die Figur eines sich auf individualistischer Grundlage einstellenden Konsenses in jedem Falle höchste Aufmerksamkeit verdient. In einem nächsten Schritt werden wir dazu neben der Beurteilungsdimension und wechselseitigen Schätzungen der Beurteilungskompetenz auch die Bewertungsdimension einzubeziehen haben. Bei der kollektiven Entscheidung über ein gemeinsames Projekt spielt neben der Urteilsbildung über den wahrscheinlichen Lauf der Welt bzw. über die Wahrscheinlichkeit alternativer Weltverläufe ebenso wie in der individuellen Entscheidungsfindung die Bewertung der Ergebnisse eine entscheidende Rolle. Wie sind die alternativen Weltzustände zu bewerten? Darüber scheint ein kollektiver Konsens noch schwerer zu erreichen als über die empirischen Schätzungen von Wahrscheinlichkeiten. Die von Lehrer vorgeschlagene Modellierung bietet hier einige zusätzliche interessante Einsichten. 4.3.3. Die Interessen- oder Nutzendimension Neben der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit muss sich die landwirtschaftliche Kooperative, deren kollektives Entscheidungsverhalten uns hier als Beispiel und Illustration dient, auch ein Bild über die Wertdimension machen. Ist es besser, bei einem "kleinen Markt" Frucht A anstelle von Frucht B angebaut zu haben? Wie schneiden A und eine weitere Alternative C bei jeweils kleinem und großem Markt im direkten Vergleich aus Sicht der Mitglieder ab usw.? Welche Entscheidung dient dem Wohl der Kooperative am besten? Mit der Bewertungsfrage stellt sich gegenüber dem Problem der Wahrscheinlichkeitsschätzung ein zusätzliches Problem ein. An zutreffenden Schätzungen über die voraussichtlichen Zustände der Umwelt müssen alle in gleicher Weise interessiert sein. Jeder hat ein Interesse daran, das Wissen jedes anderen soweit wie möglich zu nutzen. Hinsichtlich der wertmäßigen Einschätzung der Ergebnisse scheint jedoch die Harmonie der Interessen von vornherein geringer zu sein. Nicht unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliches Wissen, sondern Wertkonflikte liegen an der Wurzel etwaiger Uneinmütigkeit. Deshalb muss es zunächst als wenig aussichtsreich erscheinen, diese Konflikte durch zusätzliche Informationen auszuräumen. 192 Auf derartige Probleme reagieren philosophische Theorien gern, indem sie das Konzept überpersönlicher Gemeinwohlurteile bemühen. Diese Urteile kommen zustande, wenn sich der Urteilende auf den Standpunkt eines "unparteiischen Beobachters" stellt und von dort aus eine Alternativenbewertung versucht. Das Konzept des Gemeinwohls wirft jedoch ungeachtet seiner Beliebtheit in den Reden der Politiker und den Theorien der Philosophen bereits bei ganz oberflächlicher Betrachtung eine Unzahl von Fragen auf. Ist es überhaupt sinnvoll, von einem gemeinen Wohl zu sprechen, das eigenständig neben dem Wohl der Individuen existiert? Ist es nicht ebenso sinnlos, die Existenz eines Gemeinwohls zu unterstellen, wie es abwegig erscheint, einem Kollektiv eine Präferenzordnung zuzuschreiben, die das "Kollektiv hat"? Was sind relevante Bewertungsdimensionen? Wie soll das jeweilige Urteil über das kollektive Wohl gebildet werden? Welche Rolle soll für das Gemeinwohl das Wohl der Individuen spielen? Soll es allein vom individuellen Wohlergehen der Kollektivglieder abhängen oder können auch anderweitige Bewertungsdimensionen einbezogen werden? Gibt es Faktoren, die dazu geeignet sind, individuelle Gemeinwohlurteile zu vereinheitlichen? usw. Eine sorgfältige analytische Behandlung derartiger Fragen würde ein eigenes Buch erfordern – wenn dazu ein Buch ausreichte. Im folgenden ist es allein möglich, zu skizzieren und exemplarisch zu studieren, wie ein Modell wie das von Lehrer und Wagner mit derartigen Fragen umzugehen sucht. 4.3.3.1. Gemeinwohlbezogene Nutzenurteile In Lehrer-Wagner- ebenso wie in anderen noch zu skizzierenden Modellen, kann die Frage, ob es denn nun tatsächlich so etwas wie ein Gemeinwohl gibt, durchaus offen bleiben. Solange man annehmen darf, dass es jedenfalls "individuelle Gemeinwohlurteile" gibt, ist von diesen auszugehen. Mag ihnen auch eine fundamental irrtümliche Existenzannahme zugrunde liegen, diese Urteile existieren jedenfalls und sie sind motivational wirksam. De facto geben menschliche Individuen immer wieder Urteile über kollektives Handeln ab, für die sie eine überpersönliche Geltung beanspruchen. In der Abgabe dieser Urteile beanspruchen sie, über ihr persönliches Wohlergehen hinaus, das Wohl der Gesamtheit im Auge zu haben. Es ist durchaus möglich, dass die Individuen dabei mannigfachen Selbsttäuschungen unterliegen. Partikuläre Individualinteressen werden sich fortwährend in vorgeblich ausschließlich gemeinwohlorientierten Urteilen niederschlagen. Die Tatsache jedoch, dass sich die partikulären Interessen als 193 gemeine Interessen "maskieren", sollte uns nachdenklich stimmen. Sie deutet bereits darauf hin, dass die öffentliche Auseinandersetzung über kollektives Handeln bestimmte Normen enthält und unter Bedingungen stattfindet, die eine Berücksichtigung des Gemeinwohls verlangen. Es gibt erstens Anforderungen der Öffentlichkeit, die eine nicht nur auf persönliche Interessen zurückgreifende Begründung für die wertmäßige Einordnung der Ergebnisse kollektiven Handelns erzwingen. Hinzu tritt zweitens, dass Kollektive sich immer wieder externen Bewertungen der Ergebnisse ihres Handelns ausgesetzt sehen, die eine einheitliche interne Bewertung durch die Kollektivglieder nahe legen. Beides lässt sich wiederum am konkreten Beispiel der landwirtschaftlichen Kooperative in elementarer Weise illustrieren: Die Diskussion über die Anbauentscheidung in der Kooperative wird unter der Nebenbedingung gemeinsamer Zielverfolgung geführt. Es würde im allgemeinen als "Stilbruch" empfunden werden, wenn etwa ein Mitglied seine Vorschläge für kollektives Handeln einfach damit begründen würde, dass bestimmte Maßnahmen seinen persönlichen Interessen besser dienen als andere. Wer jemals an Sitzungen irgendeines Gremiums mit kollektiver Entscheidungskompetenz teilgenommen hat, wird die Erfahrung gemacht haben, dass der offen für die eigenen Interessen argumentierende Teilnehmer, dadurch sein Interesse schädigt. Das Vorbringen von erfolgreichen Argumenten mag zwar von persönlichen Interessen motiviert sein, doch ist der argumentationsstrategische Wert dieser Argumente wesentlich davon abhängig, dass sie in ihren Begründungen gerade nicht nur auf persönliche Interessen, auf das bloße Faktum, dass jemand etwas will, Bezug nehmen. Wenn in der landwirtschaftlichen Kooperative über den Anbau des nächsten Jahres entschieden wird, dann werden die Argumente dafür, bestimmte kollektive Bewertungen vorzunehmen, deshalb immer wieder auf das "Wohl des Ganzen" Bezug nehmen und damit als individuelle Gemeinwohlurteile auftreten müssen, mag die Bezugnahme selbst auch letztlich anderweitig motiviert sein. Diese Bezugnahme ist überdies wegen der externen Bewertungen, denen sich das betreffende Kollektiv durch die Abnehmer auf den Absatzmärkten konfrontiert sieht, weit weniger willkürlich, als man zunächst meinen mag. Dadurch nämlich, dass der Erlös der Ernte der Kooperative insgesamt zufließt, ergibt sich ein sehr starkes gemeinsames Interesse. Jedenfalls dann, wenn jeder lieber mehr Einkommen als weniger erhält und wenn das Einkommen jedes einzelnen wächst, wenn das kollektive Einkommen wächst, liegt insoweit eine Interessenharmonie vor. Die kollektive Einkommenserzielung wird zu einem kollektiven Gut der Kooperative, an dessen Bereitstellung alle weitgehend in gleicher Weise interessiert sind. Da "Wohl und Wehe" der Kooperative 194 insgesamt und jedes der Mitglieder davon abhängen, wie erfolgreich die Kooperative am Markt operiert, wünscht sich jeder ein möglichst erfolgreiches Abschneiden im Sinne der externen Marktbewertung durch die späteren Käufer der Güter der Kooperative. Insoweit haben alle Individuen einen Anreiz, in der Urteilsbildung auf die gleichen, allen gemeinsam von außen vorgegebenen Bewertungen abzustellen, die sich einfach aus den erwarteten Marktpreisen und Umsätzen ergeben. Trotzdem ergibt sich die kollektive Bewertung der Handlungsalternativen nicht durch eine einfache Bestimmung des "monetären Erwartungswertes", da insbesondere die Einstellung zum Risiko berücksichtigt werden muss. Hier können nach wie vor gravierende inter-individuelle Unterschiede unter den Kollektivgliedern bestehen. Selbst dann, wenn man eine zuverlässige Schätzung für den zu erzielenden Erlös bei einem großen bzw. bei einem kleinen Markt hat, muss der "Wert" des jeweiligen Erlöses in der kollektiven Werthierarchie bestimmt werden. Das erfordert eine Beurteilung. Und das Ergebnis dieser Beurteilung kann selbst dann inter-individuell verschieden sein, wenn alle Individuen je für sich mit Abgabe des Urteiles nicht ihre persönlichen Präferenzen, sondern ihre Einschätzung des Gemeinwohls zum Ausdruck bringen wollen. Selbst dann also, wenn jeder Beteiligte ausschließlich ein überpersönliches oder unparteiisches Urteil bilden möchte, bleibt es möglich, dass die überpersönlichen Urteile zwischen den Individuen variieren. Damit stellt sich erneut die Konsensfrage. 4.3.3.2. Die Aggregation von individuellen Gemeinwohlurteilen Wie zuvor ist es auch jetzt hilfreich, mit einer Kompetenzmatrix zu operieren. Sei diese Matrix von individuellen Einschätzungen der Beurteilungskompetenz in Wertbzw. Moralfragen mit M bezeichnet. (Zu unterscheiden von der Matrix Q der Urteilskompetenz in Wahrscheinlichkeitsfragen.) Diese Matrix enthält in der i-ten Zeile jene Werte, mit denen das i-te Individuum alle Individuen des Entscheidungskollektivs einschließlich seiner selbst an der kollektiven Gesamtkompetenz zur Fällung eines Gemeinwohlurteiles beteiligt sieht. Individuen, die beispielsweise selbst an die Wahrheitsfähigkeit oder doch zumindest die intersubjektive Prüfbarkeit von Gemeinwohlurteilen glauben und ein möglichst gutes Gemeinwohlurteil bilden wollen, haben zunächst einmal guten Grund, die das Gemeinwohl betreffenden Fragen in einem kollektiven 195 "Diskurs" auszudiskutieren. Sie werden das "Für und Wider" der Alternativen solange erwägen, bis auf argumentativem Wege nichts mehr zu erreichen ist. Im diskursiven Gleichgewicht des Gemeinwohldiskurses ist – wie zuvor im Falle der Wahrscheinlichkeitsbeurteilung – durch weiteren Austausch von Argumenten der Grenzertrag diskursiver Aktivitäten "gleich null". Der Zustand des diskursiven Gleichgewichtes muss keineswegs ein Zustand des Konsenses sein. Auch Individuen, die sämtlich darin übereinstimmen, ein möglichst gutes Gemeinwohlurteil abgeben zu wollen, können weiterhin sehr unterschiedliche Auffassungen darüber haben, worin das Gemeinwohl liegt. Sie verfügen über unterschiedliche Kenntnisse und Urteilsfähigkeiten. Insbesondere verfügen sie auch über "stille Kenntnisse", die nicht im Diskurs kommuniziert werden können. Denn sie haben je eigene Erfahrungen und Einschätzungen. Individuen, die alles dies wissen und zugleich wollen, dass ein möglichst gutes kollektives Gemeinwohlurteil auf der Basis aller verfügbaren Informationen gebildet wird, haben Grund, die Matrix M der inter-individuellen Bezüge in ihre Betrachtungen einzubeziehen und den Versuch zu unternehmen, unter Einsatz dieser Matrix jeweils zu einem verbesserten Urteil zu gelangen, das sie sich dann als ihr Gemeinwohlurteil zu eigen machen. Die Argumentation verläuft nun in genau analoger Weise wie zuvor. Ausgehend von der Matrix M der Beurteilungskompetenz erster Stufe oder der Matrix direkter Achtung für die Beurteilungskompetenz anderer wird eine Matrix M(2)= M*M der Achtung zweiter Stufe gebildet usw. Sofern eine Grenzmatrix mit M*=M* * M existiert, ändert sich durch weitere Anpassungsschritte nichts mehr. Diese Matrix gibt die "optimal" angepassten Werte der Individuen an. Wenn die Matrix lauter gleiche Zeilen enthält, was wiederum genau dann der Fall ist, wenn sich eine geschlossene Kette ausnahmslos positiver Achtung in einer der Matrizen der Achtung t-ter Stufe bilden lässt, sind die Individuen in ihren "Nutzenbewertungen" über den Alternativen auf eine gleiche Einschätzung festgelegt. Man erhält aus den ursprünglichen Nutzeneinschätzungen der Individuen ui(X) für die Alternative X die neuen konsensuellen Schätzungen * * * * * u*(X)= mi1 * u1(X) + mi2 * u2(X) + mi3 * u3(X) + ... + min-1 * un-1(X) + min * un(X) * * * * * = mj1 * u1(X) + mj2 * u2(X) + mj3 * u3(X) + ... + mjn-1 * un-1(X) + mjn * un(X), 196 die für alle i, j ∈ {1, 2, ..., n}=J identisch sind, da die Matrix M* lauter identische Zeilen enthält. Insgesamt kann man somit – bei Vorliegen ausnahmslos positiver Achtung entlang der Beurteilungs- wie der Bewertungsdimension – unter Einbeziehung der konsensuellen Wahrscheinlichkeitsurteile konsensuelle Werterwartungen bilden nach: p*(X) * u*(X). Führt man derartige Prozesse für verschiedene kollektive Ergebnisse X1, X2, ..., Xr durch, so kann man offenkundig für kollektive Lotterien L, welche als Ergebnisse kollektiven Handelns gewählt werden, die konsensuellen Erwartungswerte berechnen zu (auf die schwierigere Frage, wie hier zu sichern ist, dass die p*-Werte sich wiederum zu "1" summieren, kann hier nicht eingegangen werden): EU(L)=p*(X1) * u*(X1) + p*(X2) * u*(X2) + ... + p*(Xr-1) * u*(Xr-1) + p*(Xr) * u*(Xr) Für eine Lotterie L´ über den Preisen Y1, Y2, ..., Yk erhält man dementsprechend EU(L´)=p*(Y1) * u*(Y1) + p*(Y2) * u*(Y2) + ... + p*(Yk-1) * u*(Yk-1) + p*(Yk) * u*(Yk). Zu einem kollektiven Vergleich zwischen den Lotterien L und L´ gelangt man, indem man einfach die Erwartungswerte von L und L´ miteinander vergleicht. Dieser Vergleich zeigt an, wo in der "kollektiven Präferenzordnung" zwischen Lotterien die Alternativen L und L´ jeweils ihren Platz haben. Ein kollektives Handeln, das auf eine nach übereinstimmenden individuellen Gemeinwohlurteilen "beste" kollektive Handlung abzielt, besitzt damit ein klares Kriterium für Bevorzugung: Jene kollektive Handlung ist zu wählen, die zu einer Lotterie mit einem nach den "Konsenswerten" maximalen Erwartungswert führt. Damit scheint man letztlich eine vollständige Analogie zwischen kollektiven und individuell rationalen Entscheidungen hergestellt zu haben, ohne auf eine genuin kollektive Entscheidung zurückgreifen zu müssen. Denn die kollektive Entscheidung kommt einfach dadurch zustande, dass alle Individuen je für sich eine gleichgerichtete Entscheidung befürworten. Das gilt jedenfalls dann, wenn Bedingungen wie etwa die Existenz einer Kette ausnahmslos positiven Respektes, und Zielgleichheit in dem Wunsch, ein möglichst gutes kollektives Ergebnis zu erreichen, erfüllt sind. Diese Bedingungen müssen natürlich in der Realität keineswegs erfüllt sein. Wenn sie jedoch erfüllt sind, so ergeben sich 197 unter gewissen Zusatzannahmen über die Achtungskoeffizienten höherer Stufe die aufgezeigten Folgerungen über die Existenz eines impliziten Konsenses. 4.3.4. Einige abschließende Beobachtungen zu Lehrer-Wagner-Modellen Das von Lehrer und Wagner vorgeschlagene Verfahren ist voraussetzungsreich. Es setzt da an, wo uns die herkömmlichen Diskurs- und Konsenstheorien hinter einem Schleier schöner Worte letztlich allein lassen. Denn dadurch, dass sie sich darüber ausschweigen, wie es real zu einem Konsens kommen kann, wird das Verhalten von Anhängern der Theorien des idealen Konsenses nicht annehmbarer. Der fiktive Konsens, von dem sie reden, ist nur die Maskierung einer Theoriebildung, die am Ende mit Konsens nichts zu tun hat. Das Ideal des Konsenses werden die meisten unterschreiben. Natürlich ist es wünschenswert, im Konsens zu handeln, wenn man denn einen Konsens haben kann. Da man den Konsens aller, der in der Vertrags- ebenso wie in der Diskurstheorie unterstellt wird, aber de facto nicht erreichen kann, muss man etwas über die Frage sagen, was man denn tun will, wenn es am Ende eines Diskurses keinen Konsens gibt. Wie geht es dann konkret weiter? Die Anhänger von Habermas ebenso wie die meisten modernen Gesellschaftsvertragstheoretiker behelfen sich mit dem Instrument eines fiktiven Konsenses, wo von Konsens gerade keine Rede sein kann. Der fiktive Konsens ist nur einer von fiktiven Individuen. Da die realen Individuen sich gerade nicht im Konsens miteinander und auch nicht mit dem Inhalt des vorgestellten Konsenses der vorgestellten, fiktiven Individuen befinden, wird ihnen oder doch zumindest einigen von ihnen das, was man als Konsens bezeichnet, real aufgezwungen. Es ist keine Lösung des Problems des Zwangs, wenn man dessen Vorhandensein einfach leugnet. Es ist sogar ziemlich unannehmbar, auf der Verschleierung der Tatsache zu bestehen, dass notwendig gegen Willen oder Interessen einiger gehandelt wird. Viel ehrlicher wäre es, einzugestehen, dass de facto in praktisch allen Fragen von ethischem Belang, unterschiedliche Interessen ein Rolle spielen und ein Konsens de facto gerade nicht erreicht wird. Es wäre nicht nur ehrlicher, sondern würde zu einer besseren Theorie und vermutlich auch besserer Praktiken führen. Das Prinzip, es solle „(j)ede gültige Norm der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen (voraussichtlich) 198 ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können,“ drückt zwar ein Ideal aus. Doch ist dieses Ideal so unerreichbar, dass es einer Irreführung gleichkommt, wenn es als Norm zur Anleitung realer Praxis propagiert wird. Individuen, die dieses Ideal unterschreiben, werden typischerweise keinen realen Konsens darüber erreichen können, worüber sich alle einig werden könnten und welche Normen von allen akzeptiert werden könnten. De facto sind sie sich nicht einig und auch nicht darüber, was unter idealen Bedingungen der Inhalt der Einmütigkeit sein sollte. Wie Diskurs- und Konsenstheoretiker angesichts dieser desolaten Lage der Konsenstheorie zugute halten können, dass sie für den Konsens und die Freiwilligkeit eintreten, ist schwer nachzuvollziehen. Wenn sie den Zwang, den sie de facto legitimieren, zur Freiwilligkeit ehrenhalber umdeuten, gewinnen sie nichts. Indem man einfach einen fiktiven Konsens fiktiver Individuen erfindet, bringt man den real stets bestehenden Dissens nicht zum Verschwinden. Es ist gewiss ein ehrenhaftes ethisches Ideal, möglichst niemandem etwas aufzuzwingen. Am Ende ist dieses schöne Ideal aber völlig unrealisierbar und Handeln unter Bedingungen des Dissenses unvermeidbar. Ethik muss daher vor allem damit befasst sein, Normen zu entwickeln, wie man verantwortungsvoll mit dem Dissens umzugehen hat. Wer sich hier auf fiktive Einmütigkeit beruft, ist nicht bereit, das ethische Kernpoblem zu akzeptieren. Er weicht ihm aus, indem er die Notwendigkeit, im Dissens zu handeln, leugnet. Er verniedlicht das Problem des Dissenses durch Einführung eines fiktiven Konsenses auf eine Weise, die ein verantwortliches und bewusstes Umgehen mit dem ethischen Kernproblem erschwert. Man muss de facto immer auch ohne Zustimmung und unter Umständen gegen bestimmte Interessen anderer handeln. Es geht darum, dies auf ethisch verantwortbare Weise zu tun. Wer ethisches Handeln so darstellen will, als sei es ausschließlich konsensuell, der erkennt die eigentliche ethische Verantwortung nicht an. Das LehrerWagner-Verfahren versucht aus dieser Situation gleichsam das beste zu machen. Man sollte sich deshalb hüten, einem relativ konkreten Verfahren realer Konsensbildung das explizite Anerkenntnis fehlenden diskursiven Konsenses schlecht zu schreiben. Der große Vorzug von Lehrer-Wagner-Verfahren ist deren explizite Anerkennung argumentativen Dissenses. Ausgehend von diesem diskursiven Dissens suchen sie in einer Art formaler Mediation einen Ausgleich vorzuschlagen. Was soll man bzw. was kann man noch tun, wenn man alle 199 Argumente ausgetauscht hat und immer noch kein Konsens erreicht ist? Gibt es wirklich etwas, was gutwillige Teilnehmer an einem Diskurs „immer schon“ akzeptiert haben und das man nun ausnutzen kann, um ihnen mit einem Argument einen impliziten Konsens, der in den je eigenen Positionen angelegt ist, nahe zu bringen? Mit den Lehrer-Wagner-Modellen werden individuelle Wahrscheinlichkeitsund Gemeinwohlurteile abgeleitet, die die angenehme Eigenschaft haben, für alle Individuen überein zu stimmen und insofern einen kollektiven Ausgleich zwischen widerstreitenden individuellen Ansichten überflüssig zu machen scheinen. Diese angenehme Eigenschaft wird allerdings durch einige heroische Annahmen erkauft. So muss man etwa davon ausgehen, dass das Konzept von Beurteilungsfähigkeiten beliebig hoher Stufe sinnvoll ist. Man muss annehmen dürfen, dass man Individuen sinnvoll die Fähigkeit zuschreiben darf, den Prozess "rationaler Deliberation" über beliebig viele Stufen voranzutreiben, indem sie jeweils die Kompetenz zur Beurteilung der Kompetenz, zur Beurteilung der Kompetenz etc. "imaginieren". Da das Vorstellungsvermögen endlicher Wesen endlich ist, scheint diese Voraussetzung zunächst ziemlich zweifelhaft. Im Falle der Modelle von Lehrer und Wagner könnten Individuen, die von dem Grundgedanken des Modells überzeugt sind, argumentieren, dass sie zwar selbst nicht in der Lage sind, den betreffenden Prozess der Überzeugungsbildung über beliebig viele Stufen zu durchlaufen. Zugleich könnten die Individuen jedoch davon ausgehen, dass es sinnvoll ist, anzunehmen, dass die Kompetenzurteile höherer Stufe jenseits der höchsten Stufe t, die sie sich unter einer Grundanstrengung ihrer Einbildungskraft noch sinnvoll vorzustellen vermögen, in jedem Falle konstant werden. Sie wissen dann aus der Analyse des Lehrer-Wagner-Modells, was sie tun würden, wenn sie den Prozess unter Zugrundelegung der schließlich konstanten Koeffizienten wechselseitiger Achtung als vollständig rationale Wesen endlos durchlaufen könnten. Zugleich wissen sie jedoch auch, dass sie selbst die endlose Wiederholung gar nicht durchzuführen brauchen. Sie können diese dem Algorithmus, dem sie ihre Achtungskoeffizienten und ihre Anfangsschätzungen eingeben, überlassen. Auf diese "Eingebung" hin liefert der Algorithmus, der dazu nur eines einfachen Computerprogrammes zur Matrizenmultiplikation bedarf (man könnte das Problem auch auf eine andere Weise lösen; doch ist das hier nicht von Interesse), im günstigen Fall eine Matrix konsensueller Werte bzw. gleich die interindividuell gleich lautenden und insofern "kollektiven" Wahrscheinlichkeits- und Nutzenschätzungen. Diese 200 Werte machen sich die Individuen in ihrem Interesse an möglichst rationalem Entscheidungsverhalten zu eigen. Dort, wo es nicht nur um das, was in einer idealisierten Modellwelt rational wäre, geht, würden beispielsweise sogleich Anreize entstehen können, die eigenen Achtungskoeffizienten nicht "ehrlich" bekannt zu geben. Die Voraussetzung des Modells, dass alle Beteiligten ein gleichgerichtetes Interesse daran nehmen, "möglichst gute Urteile" über ein gemeinsames Ziel abzugeben, wird in der Praxis häufig nicht erfüllbar sein. Überdies trägt diese Annahme auch nicht der Möglichkeit Rechnung, dass Individuen davon ausgehen könnten, dass Gemeinwohlurteile, selbst dann nicht sinnvoll sind, wenn sie von Individuen abgegeben werden. Zwar wird durch die vorgeschlagene Konstruktion die Annahme eines Urteiles, das vom Kollektiv als ganzem gefällt wird, vermieden. Nicht vermieden wird jedoch die Voraussetzung eines unparteiischen individuellen Urteiles über "Richtig und Falsch" in kollektiven praktischen Angelegenheiten. Skeptiker könnten deshalb einwenden, dass es gar nicht sinnvoll sei, neben den persönlichen Bevorzugungsurteilen, die die Individuen ohnehin in Form ihrer persönlichen Präferenzen bilden, noch Urteile von einem überpersönlichen Standpunkt aus einzuführen. Letztlich gehe es immer nur um die strategische Verfolgung individueller Interessen. Das ist aber schon deshalb verfehlt, weil unserer Überzeugungen davon, worin unser Interesse liegt, ebenso wie unsere darauf aufbauenden Präferenzen nicht fest gegeben, sondern im gesellschaftlichen Prozess der Kommunikation und Interaktion geformt werden. Die Präferenzen sind nicht wirklich exogen, sondern zum großen Teil endogen gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen. 201 V. Kurze Schlüsse 1. Loyalität und Widerspruch Einerseits gibt es in unserer Kultur die christliche Tradition, wonach wir am Ende nur dem eigenen Gewissen verpflichtet sein sollten. Andererseits muss sich jeder von uns immer wieder mit seinen Urteilen dem Urteil anderer unterordnen. Dem Ideal der moralischen Urteilsautonomie des einzelnen auf der einen stehen die Notwendigkeiten der Bindung und Loyalität gegenüber übergreifenden Normen auf der anderen Seite entgegen. Loyalität gegenüber einem Wertsystem bedeutet wesentlich, dass man die eigene Urteilsautonomie jedenfalls teilweise suspendiert. Selbst dann, wenn man sich das letzte Urteil über die Legitimität von Anforderungen vorbehält oder wenn man der Auffassung ist, dass man sich der moralischen Verantwortung für sein eigenes Handeln auf letzter oder höchster moralischer Beurteilungsebene nicht entziehen kann, wird man vorherrschenden Wert- bzw. Normsystemen eine „prima facie“ Verbindlichkeit zuerkennen müssen. Die Menschen handeln nicht nur als isolierte Individuen, sondern als Mitglieder von Vereinigungen. Sie sind Mit-Täter im koordinierten Handeln korporativer Akteure. Für ihr gemeinsames Handeln ist es erforderlich, dass sie den Steuerungs-Signalen, die das Handeln koordinieren, folgen. Es scheint dazu erforderlich zu sein, dass sie die Regeln nicht nur äußerlich beachten, sondern sich die grundlegenden Werte der gemeinschaftlichen Institutionen als Grundlage des gemeinschaftlichen Handelns zu eigen machen. Große Parteien in politischen Demokratien benötigen beispielsweise ein gewisses Maß an Parteidisziplin und damit letztlich Loyalität und Legitimitätsüberzeugungen von Mitgliedern. Kein Rechtssystem kann vernünftig arbeiten, wenn nicht die Mitglieder des Rechtsstabes bereit sind, ihre eigenen Handlungspräferenzen zumindest teilweise den Vorgaben der Rechtsordnung zu unterstellen. Sie müssen sich dazu dem Recht in der Haltung nähern, erst einmal herauszufinden, was das System rechtlicher Normen verlangt und nicht was in erster Linie sie selbst oder die von ihnen akzeptierten ethischen Theorien für richtig halten. Der Pflicht zum Handeln nach bestem Wissen und Gewissen, von der sich ein moralisch autonomer Akteur nie freisprechen kann, geht die Pflicht voraus, erst einmal nach bestem Wissen und Gewissen zu bestimmen, was die jeweils relevanten Normordnungen und hier vor allem die Normordnung des Rechts verlangen. 202 Etablierte Normordnungen erlegen uns bestimmte prima facie Verpflichtungen auf. Loyalität gegenüber den etablierten Normen müssen nicht alle Beteiligten zu allen Zeiten in vollem Umfang zeigen, jedoch zu jedem Zeitpunkt müssen hinreichend viele hinreichend einflussreiche Individuen sich so verhalten, wenn eine funktionierende Normordnung insbesondere rechtlicher Natur existieren soll. Die Angehörigen einer Wohlfahrtsorganisation etwa werden häufig auch unterschiedliche persönliche Auffassungen darüber haben, welche Hilfsprojekte vor anderen Priorität haben sollten. Am Ende werden sie ihre eigene Urteilsautonomie in diesen Fragen Steuerungs-Signalen der Führung der Wohlfahrtorganisation unterordnen müssen, wenn gemeinsames Handeln der Wohlfahrtsorganisation möglich sein soll. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für solche korporativen Akteure wie Wirtschaftsunternehmen. Kein Unternehmen kann erfolgreich agieren, wenn sich seine Mitarbeiter nicht bis zu einem gewissen Grade den im Unternehmen gegebenen Steuerungs-Signalen unterstellen und diesen eher als ihren eigenen (moralischen) Maßstäben folgen. Es geht dabei gerade nicht nur um äußere Anreizes, sondern es bedarf einer gewissen Identifikation mit den Unternehmenszielen selber, wenn wirklich erfolgreich unternehmerisch gehandelt werden soll. „Corporate governance“, so könnte man in freier Abwandlung der vielleicht fundamentalsten Einsicht der politischen Philosophie sagen, „is based on opinion only“ (vgl. Hobbes, T. (1682/1990), 16, Hume, D. (1777/1985), essay iv). Nach dieser Einsicht, die die Grundlagen aller menschlicher Organisation betrifft, sind die Legitimitätsüberzeugungen und die Loyalität der Mitarbeiter ein zentraler Faktor der Unternehmensorganisation. Aufgrund solcher Überzeugungen müssen Mitarbeiter häufig ihre eigene Urteilsautonomie übergeordneten gemeinsamen Werten und Normen des Unternehmens loyal unterstellen. Jedes Unternehmen steht vor der Aufgabe, diese Art von Loyalität zu fördern und zu unterstützen. Der Zusammenhalt im Unternehmen gegenüber anderen, konkurrierenden Unternehmen wird auf diese Weise gesichert und die Abläufe im Unternehmen selbst werden durch Identifikation und Loyalität offenkundig reibungsloser. Eigenständige wirtschaftsethische Überlegungen einzelner Mitarbeiter müssen demgegenüber als störendes Element erscheinen. Zunächst sind nur Vorteile einer loyalen Identifikation mit einem Unternehmen ersichtlich. Kontraindikationen für die Pflege jener Mechanismen, die die Loyalität und Identifikation mit Unternehmenszielen fördern, scheinen nicht zu existieren. Auf den zweiten Blick, erkennt man jedoch unmittelbar, dass wie alles im menschlichen Leben, auch die Loyalität und Identifikation mit Gruppenzielen neben einer lichten eine Schattenseite aufweist. Gerade gut 203 funktionierende Unternehmen laufen die Gefahr, dass Mitarbeiter der jeweiligen Führung oder dem Unternehmen als ganzem gegenüber einer zu weit gehende, manchmal geradezu bedingungslose Loyalität zeigen. Das kann nicht nur moralisch bedenkliche Folgen haben, sondern letztlich dem langfristigen Interesse des Unternehmens widersprechen. Hätte beispielsweise bei der Firma Enron jemand der Führung früh und nachhaltig widersprochen wäre das Unternehmen vielleicht nicht in gleicher Weise gewachsen, aber auch einer der größten Betrugsskandale der Wirtschaftsgeschichte vermieden worden. Hätte in der prüfenden Firma Artur Andersen sich jemand eher aus ethischen Gründen gegen die Kollaboration mit Enron aufgelehnt, wäre es womöglich nicht zu den späteren Problemen gekommen. Dazu hätte es aber, da einzelne Akteure gewöhnlich marginalisiert werden, einer Kultur des legitimen Widerspruchs geben müssen. Auf der anderen Seite kann man Unternehmen weder mit rebellischen Mitarbeitern, die alle ihren je eigenen moralischen Sichtweisen und nur ihrem Gewissen folgen wollen, führen, noch mit einer Unternehmenskultur, die zu sehr zum Widerspruch ermutigt.. Man steht vor einem komplexen Gleichgewichtproblem, bei dem man Unterordnung unter die Erfordernisse gemeinsamen Handelns mit einem gewissen Maß an Widerspruchsbereitschaft kombinieren muss (vgl. klassisch hierzu Hirshman, A. O. (1990)). Gut geführte Unternehmen müssen ebenso wie gut organisierte Gesellschaften für Widerspruch bis hin zu „Illoyalitäten“ Raum schaffen. Soweit das möglich ist, ohne die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Organisation zu gefährden, liegt die Einräumung solcher Spielräume im Interesse des Unternehmens. Gleichwohl bleibt es eine delikate Aufgabe, hier die Balance zwischen verschiedensten Anforderungen zu halten. Wir brauchen als Unternehmen wie als Individuen immer beides, Loyalität und Widerspruch. Wir benötigen die Fähigkeit zur Bindung und die Fähigkeit zu ungebundenem Handeln. Das zeigt sich auch auf einer noch grundlegenderen Ebene, wenn wir allgemein nach den Funktionen der moralischen Bindung fragen. 2. Ethik ist keine Ingenieurwissenschaft Der vorangehende Bogen der Ethik ist weit gespannt. Man sollte ihn so wenig wie andere Bögen überspannen. Ebenso sollte man die Geduld des Lesers nicht überstrapazieren. Die entscheidenden Punkte lassen sich recht einfach rekapitulieren. Von einer eher dem common sense verpflichteten Darstellung 204 und Diskussion spezifischer wirtschaftsethischer Probleme sind wir zu einer Darstellung allgemeiner ethischer Theorien und Methoden übergegangen. Die Frage, wie genau die allgemeinen ethischen Theorien und die praktischen Probleme zusammenkommen, wurde nicht wirklich angegangen. Die Klammer bildet letztlich die Methode des und die Suche nach dem Überlegungsgleichgewicht. Diese Suche muss jeder von uns für sich selbst, aber auch im Dialog mit anderen unternehmen, um seinen eigenen argumentativen Bogen zu spannen. Bei alledem kann mehr als der Versuch, sich über ethische Argumente zu informieren und diese in die eigene Suche nach einer angemessenen Lösung anliegender Probleme „kritisch und rational“ einzubeziehen, nicht erwartet werden. Wir werden das Überlegungsgleichgewicht niemals erreichen, aber wir müssen uns immer wieder auf die Suche danach machen. Das Ziel, aus der Welt der Wirtschaft und der Welt insgesamt einen besseren Ort zu machen, wird jedenfalls durch eigene Urteilsbildung weit mehr gefördert werden als das wohlfeile Befolgen immer neuer Patentrezepte. Verantwortliches Handeln heißt eben nicht, vorgegebenen Lösungen nachzufolgen, sondern solche Lösungen selbst mit praktischer Klugheit unter Einbeziehung aller relevanten Gesichtspunkte zu entwickeln. So wenig wie man Politik als soziale IngenieursAufgabe ansehen darf, so wenig darf man die Wirtschaftsethik als Ingenieurwissenschaft zur Vorbereitung von Unternehmenspolitik betrachten. An ihr können wir unsere Urteilskraft schulen, aber sie kann uns nicht sagen, was wir tun sollen. 205 Literatur AINSLEE, G. (2002): Break Down of the Will. Princeton: Princeton University Press. ALBERT, H. (1968): Traktat Über Kritische Vernunft. Tübingen: Mohr. — (1978): Traktat Über Rationale Praxis. Tübingen: Mohr. — (2003): Kritik Des Transzendentalen Denkens. Tübingen: Mohr Siebeck. 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