Neuere und Neueste Geschichte „Tapfere Askers“ und „Feige Araber“ Der osmanische Verbündete aus der Sicht deutscher Soldaten im Orient 1914-1918 Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster (Westf.) vorgelegt von Jan Christoph Reichmann aus Duisburg 2009 Tag der mündlichen Prüfung: 16.07.2009 Dekan: Prof. Dr. Christian Pietsch Referent: Prof. Dr. Bernhard Sicken Korreferent: Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer Meinen Eltern Inhaltsverzeichnis I. Einleitung........................................................................................................................................1 I.1. Thematik und Fragestellung..........................................................................................................1 I.2. Forschungssituation.......................................................................................................................5 I.3. Quellen(kritik).............................................................................................................................10 I.4. Konzeptionelle Überlegungen.....................................................................................................15 I.5. Wortgebrauch und Abkürzungen................................................................................................18 II. Einführung: Außenpolitik an der Peripherie..........................................................................21 II.1. Die Beziehungen zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg (1871-1912)...................................................................................................21 a) Die politischen Beziehungen.........................................................................................................21 b) Die wirtschaftlichen Beziehungen.................................................................................................37 c) Die militärischen Beziehungen......................................................................................................47 II.2. Die Entwicklung zum deutsch-türkischen Bündnis (1912/13-1914).........................................65 a)Die Balkankriege 1912/13 als „Generalprobe“ für die deutschen Offiziere.................................65 b)Liman von Sanders und die Deutsche Militärmission vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges(19131914)......................................................................................................................78 c)Die deutsch-osmanische Zusammenarbeit bis zum Kriegseintritt der Türkei................................91 II.3. Strukturelle Probleme der deutsch-türkischen Zusammenarbeit vor dem Ersten Weltkrieg..............................................................................................................................105 III. Die deutschen Soldaten und ihre türkischen „Waffenbrüder“ im Ersten Weltkrieg......131 III.1. Die bewaffnete Macht des Osmanischen Reiches bei Kriegsausbruch 1914.........................131 III.2. Die deutsch-osmanische Kriegführung im Orient..................................................................142 a)Die Kämpfe an den Meerengen....................................................................................................143 b)Die Kämpfe im Kaukasus.............................................................................................................157 c)Der Krieg in Syrien, Palästina und Mesopotamien......................................................................173 d)Der Krieg zur See.........................................................................................................................200 e)Die Fliegertruppe.........................................................................................................................211 IV. Die Eindrücke vom „Verbündeten im Orient“....................................................................221 IV.1. „Wege zum Ruhm“? – Motivation und Orientbild deutscher Soldaten.................................221 IV.2. „Tapfere Askers“ und „Feige Araber“ – Die Mannschaften der osmanischen Streitkräfte.......................................................................................................................................238 IV.3. „Keine Kameraden“? – Die Offiziere des osmanischen Heeres............................................266 IV.4. Sonderfälle Marine und Fliegertruppe?..................................................................................280 a)Die Marine...................................................................................................................................281 b)Die Flieger...................................................................................................................................299 Exkurs: Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher Soldaten....................................324 V. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Fehlverhalten und Leistungen der Deutschen im Orient........................................................................................................................................333 V.1. „Abgesondert von aller Zivilisation“ – Deutsche Mannschaften und Unteroffiziere..............333 V.2. Vorbild und Vorherrschaft, Konkurrenz und Intrigen – Die deutschen Offiziere...................345 V.3. „Am deutschen Wesen.....“ – Erfolge deutscher Militärhilfe?................................................376 VI. Ergebnisse................................................................................................................................389 Anhang A........................................................................................................................................410 Anhang B........................................................................................................................................421 Quellen- und Literaturverzeichnis...............................................................................................426 Abkürzungsverzeichnis.................................................................................................................443 Kartenverzeichnis..........................................................................................................................444 I. Einleitung I.1. Thematik und Fragestellung „Der Erste Weltkrieg - Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ so lautet der Titel eines von Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe herausgegebenen Buches.1 Die verschiedenen Artikel des Sammelbandes behandeln politische, wirtschaftliche, soziale und nicht zuletzt militärische Zusammenhänge in großer Breite, allerdings in deutlicher Fokussierung auf die europäischen Fronten. Dem Kriegsschauplatz im Osmanischen Reich wird hingegen nur ein einziger Aufsatz gewidmet, der sich zudem ausschließlich mit dem brutalen Vorgehen der osmanischen Regierung gegen die christlich-armenische Minderheit im Kaukasus befaßt. Auf gerade einmal vier Seiten werden diese Ereignisse geschildert.2 In einigen neueren Monographien zum Ersten Weltkrieg ist die die Darstellung der politischen und militärischen Ereigisse im Orient bereits etwas umfangreicher.3 Dennoch wird der Kriegsschauplatz im Osmanischen Reich, das ein Vielfaches der Fläche des Deutschen Reiches besaß4, als Nebenkriegsschauplatz behandelt. Dabei 1 Burgdorff, Stephan u. Wiegrefe, Klaus (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg - Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, Hamburg/München 2004. (Im Folgenden: Burgdorff/Wiegrefe, Weltkrieg 2004.) Der Titel des Buches steht in Anlehnung an George F. Kennan, der den Begriff der „great seminal catastrophe of this century“ prägte. Kennan, George F.: The decline of Bismarck´s European order – Franco-Russian relations 1875 – 1890, Princeton 1979, S.3f. Später wurde die Begrifflichkeit von Ernst Schulin und Wolfgang Mommsen (leicht abgewandelt) übernommen, um den Ersten Weltkrieg zu charakterisieren. Schulin, Ernst: Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – Wirkung, Wahrnehmung, Analysen, München (u.a.) 1994, S. 3. Mommsen, Wolfgang J.: Die Urkatastrophe Deutschlands – Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 2002. 2 Andresen, Karen: Der Massenmord an den Armeniern, in: Burgdorff/Wiegrefe, Weltkrieg 2004, S. 211-214. 3 Vgl. Strachan, Hew: The First World War – Volume I: To Arms, Oxford 2001, S. 644-693. (Im Folgenden: Strachan, First World War 2001.) Ders: Der Erste Weltkrieg - Eine neue illustrierte Geschichte, München 22004, S. 121-161. (Im Folgenden: Strachan, Weltkrieg 2004.) Stevenson, David: 1914-1918 – Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 32006 (hier besonders S. 142-156). Praktisch keine Beachtung findet der Kriegsschauplatz hingegen in: Salewski, Michael: Der Erste Weltkrieg, Paderborn (u.a.) 22004. (Im Folgenden: Salewski, Der Erste Weltkrieg 2004.) 4 Nach den verlorenen Balkankriegen war das Osmanische Reich 1914 noch etwa 1.795.000 km2 groß. Genaue Angaben zur Größe liegen nicht vor. Zudem waren bestimmte Gebiete nominell Teil des Osmanischen Reiches, entzogen sich de facto aber weitgehend dem Zugriff der Regierung in Konstantinopel (Gebiete des Kaukasus, Mesopotamiens und der arabischen Halbinsel). Krause, Paul R.: Die Türkei, Berlin/Leipzig 1916, S. 5 u. S. 23. [Auf S. 5. ist offenbar ein Druckfehler in der Flächenangabe. Eine plausiblere Angabe daher auf S. 23.] Im Vergleich lag die Fläche des Deutschen 1 waren im Kriegsverlauf immerhin etwa 25.000 deutsche Soldaten innerhalb der Grenzen der heutigen Staaten Türkei, Syrien, Jordanien, Israel, Libanon, Ägypten und Irak eingesetzt.5 Dennoch beschäftigt sich ein sehr öffentlichkeitswirksamer Zweig der Forschung hauptsächlich mit den Verbrechen an der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich und der Rolle der deutschen Soldaten bei diesen Vorgängen.6 Doch ist dies bei weitem nicht der einzige Aspekt, den es bei der Behandlung der deutsch-türkischen Beziehungen im Zusammenhang mit dem Weltkrieg 1914-1918 zu beachten gilt. Nach einer Phase von kriegerischen Auseinandersetzungen der Hohen Pforte mit einigen Nachbarstaaten und revolutionären, politischen Veränderungen im Inneren wurden die Beziehungen zur aufstrebenden, Großmacht Deutschland in der Tat immer enger. Diese Annäherung fand ihren Ausdruck zunächst 1913 in der Entsendung einer ersten offiziellen Militärmission aus Offizieren deutscher Staaten, die als Instrument zur Modernisierung des militärisch rückständigen Heeres des Sultans vorgesehen war. Der „Höhepunkt“ wurde allerdings mit dem Kriegseintritt der Hohen Pforte auf seiten der Mittelmächte erreicht, denn der „Große Krieg“ – wie ihn Zeitgenossen nannten und wie er bis heute vorwiegend in der englisch- und französischsprachigen Literatur genannt wird – sollte entscheidenden Einfluß auf den weiteren Verlauf der Geschichte Deutschlands und der Türkei nehmen. Die Verliererstaaten zerbrachen und neue Gebilde entstanden. Für die moderne Türkei erlangte ein Offizier der osmanischen Armee namens Mustafa Kemal Pascha als späterer Staatsgründer und erster Präsident unter dem Namen „Atatürk“ maßgebliche Bedeutung. Er setzte die Trennung von Staat und Kirche durch und festigte damit in der Türkei ein Bild des Militärs, das bis ins 21. Jahrhundert Bestand hat. Die türkischstämmige Autorin Esra Sezer beschreibt dies in einem Artikel der vom Deutschen Bundestag herausgegebenen Wochenzeitung „Das Parlament“: Reiches bei 542.000 km2. Habenicht, Hermann/Wichmann, Hugo (Bearb.): Taschen-Atlas vom Deutschen Reiche, Gotha 21908, S. 5-7. Zu den Grenzen des Reiches siehe auch Karte 1. 5 Neulen, Hans Werner: Feldgrau in Jerusalem - Das Levantekorps des kaiserlichen Deutschland, München 22002, S. 11. (Im Folgenden: Neulen, Feldgrau 2002.) Zu den Grenzen des Osmanischen Reiches siehe auch Karte 1. 6 Siehe hierzu den Exkurs: Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher Soldaten. 2 „Der Einfluss des türkischen Militärs auf die Politik hat seine Wurzeln im Osmanischen Reich (1299 bis 1922). Während damals die Armee die Kraft war, welche die ersten Reformen durchsetzte, genoss sie nach dem Zerfall des Reiches und der Errichtung der Türkischen Republik unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk (1881 bis 1938 "Vater der Türken") das Ansehen als Republikgründerin. Die Überzeugung der Offiziere, sie seien die eigentlichen Hüter der Republik, die entscheidenden Verantwortungsträger und die Erbwächter des Kemalismus, wird bis heute in den Militärakademien gelehrt und durch ihre Mitglieder vertreten.“7 Die Autorin betont mit gutem Grund, daß schon in osmanischer Zeit die bewaffnete Macht eine der wichtigsten Institutionen und „Klammern“ des orientalischen Vielvölkerstaates war. Der Armee des Sultans wird sogar eine das Staatssystem (!) modernisierende Funktion beigemessen. Es ist hier nicht der Platz zu erörtern, inwiefern den Streitkräften der Republik Türkei ähnliche Funktion zukommt, doch es ist augenfällig, welche Eigenschaften dem Militär des oftmals als „Kranker Mann“ geschmähten Osmanischen Reiches zugeschrieben werden. Diese unterscheiden sich doch deutlich von dem Bild der Streitkräfte der deutschen Bundesstaaten – und insbesondere der preußischen Hegemonialmacht – im deutschen Kaiserreich, wo die Armee zwar ebenfalls eine herausgehobene, aber zugleich systemstabilisierende Stellung besaß.8 Trotzdem waren deutsche Offiziere und Soldaten in kleinerer Zahl schon seit dem frühen 19. Jahrhundert an der an der Modernisierung – und seit den Balkankriegen 1912/13 auch Führung – der osmanischen Streitkräfte beteiligt. Sollte demnach die obgige Einschätzung stimmen, arbeiteten zwei Parteien zusammen, die sich bereits im Verständnis ihrer Funktion in Staat und Gesellschaft voneinander unterschieden. Dennoch pflegten beide eine langjährige Zusammenarbeit, die schließlich zu einem Bündnis im als „Urkatastrophe“ bezeichneten Ersten Weltkrieg führte. 7 Sezer, Esra: Das türkische Militär und der EU-Beitritt der Türkei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Ausgabe Nr. 43/2007 (22.10.2007) der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Zitiert nach der Internetausgabe: http://www.das-parlament.de/2007/43/Beilage/005.html, Stand: 14.04.2008). 8 Siehe hierzu Kapitel II.3., S. 111f. 3 Das deutsch-türkische Bündnis bietet sich demnach als lohnendes Feld zur Erforschung deutscher Koalitionskriegführung an, denn bei genauerer Betrachtung zeigen sich mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten in den Interessen der Bündnispartner. Mögliche Reibungspunkte bilden dabei nicht allein unterschiedliche militär-strategische Schwerpunktsetzungen, sondern auch divergierende politische und wirtschaftliche Ziele. Die Problematik solch gegensätzlicher Absichten und ihrer Auswirkungen auf die Bündniskriegführung findet jedoch hauptsächlich in Studien Erwähnung, die das deutsche und österreichisch-ungarische Verhältnis untersuchen.9 Die Untersuchung des Waffenbündnisses mit dem Osmanischen Reich könnte allerdings zahlreiche neue Aspekte erbringen. So lassen sich nicht zuletzt Einblicke in die Zusammenarbeit mit einem grundlegend verschiedenen, weil überwiegend islamisch geprägten Reich gewinnen, die in dieser Art einmalig war. Gegenstand dieser Arbeit ist allerdings nicht eine umfassende Geschichte der deutsch-osmanischen Koalitionskriegführung im Ersten Weltkrieg. Vielmehr soll die Untersuchung den Fokus auf die deutschen Soldaten legen, die im Osmanischen Reich kämpften, und mit Mentalitätsaspekten einem gewichtigen Faktor des Bündnisses gelten, der bislang wenig Beachtung gefunden hat. Dabei stellen sich zunächst grundlegende Fragen nach dem Auftrag der Deutschen im Orient und den Mitteln, die ihnen zur Durchführung an die Hand gegeben wurden. Außerdem müssen die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen untersucht werden, unter denen sie ihren Dienst leisteten, um dann den Blick auf die Eindrücke der Kriegsteilnehmer selbst zu richten. Welche Erfahrungen und Einsichten gewannen die Deutschen 9 Bereits unter den Zeitgenossen fand die Diskussion um Konflikte zwischen diesen beiden Mächten recht breite Beachtung. Exemplarisch seien hier nur genannt: Cramon, August von: Unser Österreichisch-Ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege – Erinnerungen aus meiner vierjährigen Tätigkeit als bevöllmächtgter deutscher General beim k.u.k. Armeeoberkommando, Berlin 21922. Stürgkh, Josef Graf von: Im Deutschen Großen Hauptquartier, Leipzig 1921. (Im Folgenden: Stürgkh, Im Großen Hauptquartier 1921.) Werkmann, Karl Freiherr von: Deutschland als Verbündeter – Kaiser Karls Kampf um den Frieden, Berlin 1931. In der jüngeren Werken zur Geschichte der k.u.k Armee wird die Bündnisproblematik zumindest am Rande erwähnt: Kronenbitter, Günther: „Krieg im Frieden“ – Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906-1914, München 2003, S. 277-314. Rauchensteiner, Manfried: Der Tod des Doppeladlers – Österreich-Ungarns und der Erste Weltkrieg, Graz (u.a.) 1993, S. 379-384. Eine der wenigen neueren Monographien zum Thema ist: Müller, Martin: Vernichtungsgedanke und Koalitionskriegführung – Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn in der Offensive 1917/1918, Graz 2003. 4 während der Zusammenarbeit mit dem Osmanischen Reich? Welche Werte, Normen und Ansprüche fanden sie vor und welche brachten sie mit? In einer Frage formuliert: Wie nahmen die deutschen Militärangehörigen ihren türkischen Verbündeten wahr und welche Konsequenzen hatte dies für ihr Handeln? Dabei bedeutet „wahrnehmen“ nicht die bloße Perzeption – also die sinnliche unreflektierte Wahrnehmung – des Fremden. Vielmehr ist hier im Sinne des philosophischen Apperzeptionsbegriffs die bewußte Erfassung von Andersartigkeit und deren Einordnung in bereits Bekanntes gemeint.10 Bei diesem Prozeß spielt das Autostereotyp der Deutschen eine nicht unwesentliche Rolle, denn es steht zu vermuten, daß dieses als Maßstab für den Vergleich mit dem orientalischen Verbündeten herangezogen wurde und somit das Urteil über jenen mitbestimmte. Ziel dieser Untersuchung ist es herauszuarbeiten, welche Einflüsse – sowohl positiver als auch negativer Art – sich auf die Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Militärangehörigen auswirkten. Die Gebiete, auf denen diese Faktoren wahrgenommen werden konnten, reichen von religiösen, sozialen, sprachlichen bis zu fachlichen oder technischen Themenbereichen. Aufgrund dieses großen Spektrums an möglichen Wahrnehmungsfeldern wird die Untersuchung sich auf bestimmte Bereiche beschränken müssen.11 Doch zunächst muß erläutert werden, worauf diese Arbeit aufbauen soll. I.2. Forschungssituation Wie eingangs erwähnt, beschäftigte sich die Forschung der letzten Jahre vornehmlich mit der Situation der Armenier im Osmanischen Reich. Für die hier behandelte Fragestellung ist diese Diskussion jedoch nur wenig hilfreich. Den jüngsten Versuch einer Gesamtdarstellung des deutschen Engagements auf dem orientalischen Kriegsschauplatz bildet der Band von Hans Werner Neulen, der bereits 1991 erschien.12 Überblicksartig schneidet der Autor dabei sowohl die militärischen 10 Zu den Begriffdefinitionen von „Apperzeption“ und „Perzeption“ siehe: Halder, Alois/Müller, Max: Philosophisches Wörterbuch, [erw. Neuausg. der Aufl. 1988] Freiburg i. Br. 1993, S. 25f. u. 231. 11 Siehe Abschnitt I.4. 12 Neulen, Hans Werner: Feldgrau in Jerusalem - Das Levantekorps des kaiserlichen Deutschland, München 22002. (Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002.) Das Buch erschien in erster Auflage bereits 5 als auch politischen Entwicklungen des Weltkrieges im Orient an. Allerdings hat der Autor sein Werk unter das Motto der „Hervorhebung der deutsch-türkischen Freundschaft“ gestellt, so daß Einleitung und Fazit einen versöhnlichen Ton erhalten, der nicht unbedingt den Erkenntnissen im Hauptteil der Untersuchung entspricht. Dennoch hat Neulen dank seines umfangreichen Literaturverzeichnisses – aus dem sich jedoch nicht alle Titel in der eigentlichen Arbeit wiederfinden – und der Einbindung zahlreicher Quellen einen guten Überblick über das Thema geliefert, der sich als Einstiegslektüre eignet. Die „Standardwerke“ zum Themenkomplex des deutsch-türkischen Bündnisses stammen noch aus den späten 60er und den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ulrich Trumpener veröffentlichte 1968 „Germany and the Ottoman Empire 1914-1918“.13 Sein Hauptaugenmerk lag – neben der Auswertung englischsprachiger Quellen – auf der Analyse der vorhandenen Akten des Auswärtigen Amtes. Daher rücken neben militärischen Aspekten des Bündnisses besonders die diplomatischen und wirtschaftlichen Interessen ins Blickfeld des Autors. Ähnlich ging Frank G. Weber in seinem Buch „Eagles on the Crescent – Germany, Austria and the diplomacy of the Turkish Alliance 1914-1918” (1970) vor.14 Der Titel läßt bereits erahnen, daß der Autor den Blick auf die Beziehung der drei Großmächte richtete. Hierbei hob er besonders die Interessen der Orientpolitik Österreich-Ungarns hervor sowie deren Konsquenzen für den Vertrag der „Mittelmächte“ mit der Hohen Pforte. Diese beiden Untersuchungen verdeutlichen vor allem die politischen Hintergründe des Zustandekommens des deutsch-türkischen Bündnisses und diplomatische Reibungen während der „Bewährung“ im Krieg selbst. Für die vorliegende Arbeit sind sie damit wertvolle Nachschlagewerke, um die militärische Sichtweise in politische Leitlinien – aber auch Konfliktfelder – einzubetten. 1991 und drei Jahre später als „ungekürzte Ausgabe“ unter anderem Titel: Neulen, Hans Werner: Adler und Halbmond – Das deutsch-türkische Bündnis 1914-1918, Frankfurt am Main 1994. 13 Trumpener, Ulrich: Germany and the Ottoman Empire 1914-1918, Princeton 1968. (Im Folgenden: Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968.) 14 Weber, Frank G.: Eagles on the Crescent – Germany, Austria and the diplomacy of the Turkish Alliance 1914-1918, Ithaca/London 1970. (Im Folgenden: Weber, Eagles on the Crescent 1970.) 6 Die letzte Monographie, die als Standardwerk gelten kann, verfaßte Jehuda Wallach (1976).15 Er gibt einen Überblick über die militärische Zusammenarbeit der deutschen Staaten (und hier überwiegend Preußens) mit dem Osmanischen Reich, wobei er den Schwerpunkt auf die Tätigkeit der deutschen Militärmission legt. Wallach gründet seine Arbeit im Wesentlichen auf die Korrespondenzen und Unterlagen des Auswärtigen Amtes und legt verständlicherweise sein besonderes Augenmerk auf die Person des Marschalls Liman von Sanders als Chef der Militärmission. Damit behandelt er grundlegende Aspekte, die auch in dieser Untersuchung Beachtung finden. Allerdings beschränkt sich die vorliegende Arbeit nicht auf diesen Teil militärisch-politischer Beziehungen; mehr noch, sie bezieht auch Entsendung, Auftrag, Einsatz, Erfahrungen, Auftreten und Verhalten der Marineangehörige und Flieger deutscher Abteilungen ein, für die die Mission nicht viel mehr als eine „personalbearbeitende Stelle“ war. Zudem hat Wallach gezeigt, daß der Einfluß der Militärmission mit steigender Entfernung von der osmanischen Hauptstadt deutlich abnahm, und somit erweisen sich seine Einsichten als begrenzt. In jüngster Zeit erschienen drei deutsche monographische Detailstudien, die sich mit Aspekten der deutsch-türkischen Zusammenarbeit im Ersten Weltkrieg beschäftigen.16 Als erste wäre die veröffentlichte Magisterarbeit von Michael Unger (2003) zu nennen, der die Zusammenarbeit insbesondere der längere Zeit vernachlässigten bayerischen Militärangehörigen mit ihren osmanischen Bündnispartnern untersuchte.17 Der Autor behandelt Ziel und Entwicklung des bayerischen militärischen Engagements sowie die Auseinandersetzungen mit Preußen im Rahmen der gesamtdeutschen (aber preußisch dominierten) Militärhilfe für die Türkei. Für die Zeit des Ersten Weltkrieges schildert er zudem die bayerischen Erfahrungen und Schwierigkeiten im Umgang mit dem osmanischen Verbündeten anhand repräsentativer Beispiele. Unger kam dabei zugute, daß im Bayerischen 15 Wallach, Jehuda: Anatomie einer Militärhilfe - Die preußisch-deutsche Militärmission in der Türkei 1835-1919, Düsseldorf 1976. (Im Folgenden: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976.) 16 Hinzu kommen einige Aufsätze zum Thema, von denen hier derjenige von Eberhard Demm als der für diese Studie interessanteste erwähnt werden soll. Demm, Eberhard: Zwischen Kulturkonflikt und Akkulturation: Deutsche Offiziere im Osmanischen Reich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 691-715. (Im Folgenden: Demm, Kulturkonflikt 2005.) 17 Unger, Michael: Die bayerischen Militärbeziehungen zur Türkei vor und im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2003. (Im Folgenden: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003.) 7 Kriegsarchiv in München noch ein umfangreicher Aktenbestand zum Thema erhalten ist, so daß die Arbeit nicht nur auf den so häufig benutzten Archivalien des Auswärtigen Amtes aufbaut. Die Arbeit stellt daher einen der wichtigsten deutschsprachigen Beiträge zum Thema dar und erweist sich für diese Untersuchung als hilfreich. Zwei weitere Arbeiten wurden im Jahre 2007 veröffentlicht. Fahri Türk behandelte die deutsch-türkischen Rüstungsgeschäfte zwischen 1871 und 1914.18 Obwohl der Untersuchungszeitraum den Ersten Weltkrieg damit nicht mehr einschließt, lassen sich aus dieser Arbeit, die mit zahlreichen statistischen Erhebungen aufwarten kann, interessante Rückschlüsse auf den engen Zusammenhang von Wirtschaft und Militär in der Kooperation der beiden Staaten ziehen. Der Ausbau der Vormachtstellung deutscher Rüstungsgüter im Orient wird ebenso verdeutlicht wie der ständige Wettbewerb zwischen europäischen Lieferanten und deren Auswirkungen auf die Bewaffnung der osmanischen Streitkräfte. Die zweite Darstellung stammt von Matthias Römer.19 Er beschäftigt sich hauptsächlich mit der britischen Unterstützung für die osmanische Marine und der aufkommenden deutschen Konkurrenz, verkörpert durch die Besuche des Freiherrn Colmar von der Goltz und von deutschen Militärberatern in den Balkankriegen. Die Aufnahme der Tätigkeit der Militärmission unter Liman von Sanders wird nur am Rande behandelt, da sie erst außerhalb des Untersuchungszeitraumes einsetzte.20 Trotz dieser Arbeiten bleibt der Bestand an deutscher Forschungsliteratur zum Themenfeld dürftig, da die „Standardwerke“ von Trumpener, Weber und Wallach der englischsprachigen Forschung entstammen. Diese ist es auch, die eine ungleich größere Menge an Untersuchungen zum Ersten Weltkrieg im Orient aufweist. Eine 18 Türk, Fahri: Die deutsche Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften zwischen 1871 und 1914 – Die Firma Krupp, die Waffenfabrik Mauser und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, Frankfurt am Main (u.a.) 2007. (Im Folgenden: Türk, Türkeigeschäfte 2007.) 19 Römer, Matthias: Die deutsche und englische Militärhilfe für das Osmanische Reich 1908-1914, Frankfurt am Main (u.a.) 2007. (Im Folgenden: Römer, Militärhilfe 2007.) 20 Hier nur am Rande erwähnt werden soll die Dissertation von Salvador Oberhaus. Sie beleuchtet einen weiteren Aspekt deutschen Engagements im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich und hier besonders die Bestrebungen religiöser Propaganda. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist sie weniger von Belang, muß aber im Zusammenhang des Gesamtthemenkomplexes der deutschosmanischen Beziehungen genannt werden. Oberhaus, Salvador: „Zum wilden Aufstande entflammen“ – Die deutsche Ägyptenpolitik 1914 bis 1918. Ein Beitrag zur Propagandageschichte des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 2006 (Online-Veröffentlichung). 8 Fülle militärgeschichtlicher Arbeiten beschäftigt sich mit den Kämpfen auf der Gallipoli-Halbinsel und den Kämpfen in Palästina und Syrien 1917/18. Die Ereignisse in Mesopotamien sind hingegen wesentlich weniger erforscht, wenngleich die umfangreichen Bände des britischen Generalstabswerkes und des australischen Gegenstücks erwähnt werden müssen, die aus rein operationsgeschichtlicher Sicht und mit dem Fokus auf der britischen Seite die Geschehnisse vorbildlich beleuchten. Die anglophone Forschung bezieht sich – kaum verwunderlich – überwiegend auf britische Quellen und Unterlagen. Nur am Rande werden deutsche oder gar türkische Sichtweisen angerissen; so etwa der „halboffizielle“ Band des Militärhistorikers C.E.W. Bean über die „Gallipoli Mission 1948“, die mit der Untersuchung des Schlachtfeldes beauftragt war und dazu auch türkische Augenzeugen hörte.21 Im Jahre 2001 tat sich Edward J. Erickson dadurch hervor, daß er mit Hilfe türkischer Quellen und Literatur eine Geschichte des osmanischen Heeres verfaßte. Auch die Fliegertruppen werden von Erickson kurz angesprochen, die Seestreitkräfte bleiben jedoch weitgehend ausgeklammert. Dieses Werk ist eine lohnende Ressource für die Erforschung des Kriegsgeschehens, weil nur sehr wenig türkische Forschungsergebnisse überhaupt Eingang in europäische oder US-amerikanische Arbeiten fanden. Erickson beschränkt seine Arbeit allerdings größtenteils auf die Operationsgeschichte, so daß sie für die Fragestellung dieser Untersuchung nur begrenzten Wert besitzt. Zudem ist sein Buch offenbar mit wesentlicher Unterstützung des türkischen Generalstabes entstanden und gewisse „pro-türkische“ Tendenzen in seiner Interpretation müssen berücksichtigt werden.22 Somit wird zu prüfen sein, ob die Ergebnisse Erickson´s nicht einer Differenzierung bedürfen. Es bleibt festzuhalten, daß neuere Forschungsliteratur zur Geschichte der deutschtürkischen Truppen nur spärlich vorhanden ist. Auch ereignisgeschichtlich dominiert 21 Bean, C.E.W.: Gallipoli Mission, Sydney 1948, S. 351-374. Der Band wurde von der staatlichen Stelle des „Australian War Memorial” herausgegeben, erschien jedoch nicht in der Reihe der „Official History of Australia in the War 1914-1918“. 22 Ein Beispiel hierfür ist die Schlußfolgerung, daß das osmanische Heer auch 1918 noch ausreichenden Widerstand gegen die britischen Truppen hätte leisten können, wenn nicht der Waffenstillstand „dazwischen gekommen“ wäre. Das Bild entspricht in deutlichem Maße dem deutschen Schlagwort „Im Felde unbesiegt“ und sollte daher kritisch überprüft werden. Erickson, Edward J.: Ordered to Die - A History of the Ottoman Army in the First World War, Westport 2001, S. 204 u. 215f. (Im Folgenden: Erickson, Ordered to Die 2001.) 9 die englischsprachige Forschung, während die Verbreitung türkischer Arbeiten meist schon an der Sprachbarriere scheitert. I.3. Quellen(kritik) Die Quellenlage für das deutsche Engagement im Osmanischen Reich ist als ausreichend zu bezeichnen. Einen großen Teil der Archivalien bewahrt das Auswärtige Amt auf. Sie betreffen daher meist diplomatische, manchmal aber auch militärische Vorgänge. Besonders während der Zeit der offiziellen Militärmission fungierten deutsche Offiziere zugleich als Repräsentanten des Deutschen Reichs und waren daher zur Berichterstattung an das Amt in Berlin genötigt, wenngleich sie diesem offiziell nicht unterstanden. Diese Quellen sind aber in der Vergangenheit wiederholt untersucht und ausgewertet worden. Außerdem stehen sie für den dienstlichen Verkehr zwischen Soldaten und Diplomaten und sind somit nur von begrenztem Aussagewert, wenn man die Vorstellungen und Wahrnehmungen deutscher Soldaten untersuchen will. Daher werden die Schriftwechsel mit dem Auswärtigen Amt in dieser Arbeit nur am Rande genutzt. Wichtiger erscheinen der offizielle Schriftverkehr und die entsprechenden Berichte und Unterlagen, die während des Dienstes im Osmanischen Reich innerhalb der deutschen Truppen zustande kamen. Allerdings sind große Teile der Akten der Militärmission kurz nach Kriegsende in Konstantinopel verlorengegangen oder bereits auf dem Rückzug der deutschen Truppen von den türkischen Fronten verschollen.23 Nimmt man die Verluste der Aktenbestände des Heeresarchivs im Zweiten Weltkrieg hinzu, so erscheint die Quellenlage zunächst unzureichend. Glücklicherweise sind die umfangreichen Bestände des Bayerischen Kriegsarchivs (KA) in München jedoch erhalten. Hier lassen sich neben den von Unger bereits bearbeiteten noch weitere Erinnerungen und Aufzeichnungen sowie dienstlicher Schriftverkehr in befriedigendem Maße finden, der durch die (meist preußischen) Unterlagen in Freiburg ergänzt werden kann. Die Quellensituation am Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau (BAMA) ist jedoch – im Vergleich zur Menge des 23 Petter, Wolfgang: Zur deutsch-türkischen Zusammenarbeit im Ersten Weltkrieg, Manuskript o. Ort und o. Dat., S. 6. 10 allgemeinen Aktenbestandes – unbefriedigend. Über die deutsche Tätigkeit am Bosporus sind nur sehr wenige Akten, die zum Großteil der Marine entstammen, überliefert; immerhin sind auch hier einige ergiebige Nachlässe vorhanden. Diese schwierigen Voraussetzungen dürften einer der Gründe sein, weshalb in der Vergangenheit die Forschung vorwiegend die Unterlagen des Auswärtigen Amtes auswertete. Seit der deutschen „Wiedervereinigung“ sind jedoch Archivbestände der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in das Bundesarchiv übernommen worden. Sie enthalten zahlreiche Unterlagen – insbesondere Dokumente, die das Reichsarchiv für seine Schriften benutzte –, die lange als verschollen galten.24 Aus diesem größtenteils unbearbeiteten archivalischen Fundus schöpft die vorliegende Arbeit ebenso wie aus den Quellen des KA in München. Die Anzahl gedruckter Quellen und Memoiren ist wenig befriedigend. Der Vergleich mit der Literaturlage zur europäischen Westfront 1914-1918 verbietet sich jedoch, da nicht zuletzt das Kontingent der Deutschen im Orient wesentlich kleiner war. Trotzdem ist die Quantität der Bücher und Aufsätze im Vergleich zum geringeren Personaleinsatz recht beachtlich. Hier seien exemplarisch nur die Memoiren des Marschalls Liman von Sanders, des bayerischen Offiziers Freiherrn Kreß von Kressenstein oder des deutschen Stabschefs der 3. osmanischen Armee, Felix Guse, genannt. Daneben bleiben noch die Jahrbücher des Bundes deutscher Asienkämpfer, die in den 1920er Jahren erschienen. Insgesamt sind zwar nur 6 dieser Jahrbücher (1921-1929) veröffentlicht worden, doch enthalten sie einige aufschlußreiche Beiträge von Soldaten. Vereinzelt haben Kriegsteilnehmer Erfahrungsberichte auch in anderen Sammelbänden, „Fachzeitschriften“ oder „Kameradschaftsorganen“ veröffentlicht. Da manche dieser Periodika wissenschaftlich problematisch oder politisch tendenziös sind, ist der Inhalt solcher Berichte mit Einschränkungen 24 Die Bestände befinden sich im Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg im Breisgau) unter den Signaturen RH 61 beziehungsweise W 10. Nach Fertigstellung dieser Arbeit sind beider Bestände unter der Signatur RH 61 zusammengefasst worden. Die neue Verzeichnung konnte nicht mehr berücksichtigt werden, allerdings sind die hier verwendeten Signaturen über die archivübliche Konkordanz nachvollziehbar. 11 verwertbar. Allerdings ist deren Anzahl nicht so hoch, daß sich dieser Umstand gravierend auf die Quellensituation auswirken würde. Insgesamt läßt die Menge der Veröffentlichungen daher zumindest detailliertere Einblicke zu, wenngleich allgemeingültige Aussagen auf dieser Grundlage nur unter Vorbehalt getroffen werden können. Die „Erinnerungsliteratur“ oder besser die „zeitgenössische Bearbeitung“ ist auch nicht unproblematisch. Zunächst einmal konnten sich alle Autoren nur in geringem Maße auf dienstliche Unterlagen berufen, da diese meistenteils verloren waren, wenngleich nicht in dem Ausmaße wie nach 1945. Viele Autoren und ebenso Forscher des Reichsarchivs gründeten ihre Arbeiten daher auf eigene Aufzeichnungen und Tagebücher oder auf die Aussagen von „Orientkämpfern“. Für die Erforschung der subjektiven Wahrnehmung des Verbündeten ist dies somit eine zentrale Quellengruppe, bleiben die so bearbeiteten Schriften doch verhältnismäßig nah an den Eindrücken, Meinungen und Wahrnehmungen der Akteure. Zugleich gewähren diese Einblick in Einschätzungen der Ausgangslage an den osmanischen Fronten durch deutsche Kriegsteilnehmer, die sich ebenfalls auf die Einschätzung des türkischen Verbündeten ausgewirkt haben dürften. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Einzelne – ganz gleich welcher hierarchischen Ebene er angehörte – nur einen begrenzten Überblick über die Gesamtsituation hatte. Dies mußte besonders in Kriegszeiten und auf einem Schauplatz gelten, dessen Kommunikationsmöglichkeiten und Informationswege arg zu wünschen übrig ließen. Daher müssen die Schlußfolgerungen immer auch dahingehend untersucht werden, ob sie nicht die „Gesamtlage“ vernachlässigen und in ihrer – oft eindrücklichen Schärfe – zu relativieren sind. Außerdem vergingen häufig zehn und mehr Jahre, bis die ehemaligen „Asienkämpfer“ ihre Erinnerungen und Erfahrungen niederschrieben und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten. Diese Verzögerung gilt es zu berücksichtigen, da die Schilderungen durch eine Vielzahl von Faktoren, etwa die Lektüre anderer Literatur zum Thema, beeinflusst worden sein können. Ein weiteres Problem ist die mehr oder weniger offensichtliche Intention des Verfassers. Da der Kampf im Osmanischen Reich und letztlich der Erste Weltkrieg für das Deutsche Reich mit einer Niederlage endete, lag die Schuldzuweisung des 12 Versagens gegen die deutschen Offiziere in der Luft. Mancherlei Darstellung osmanischer Unzulänglichkeiten kann daher überzeichnet sein, um die eigenen Verdienste „unter solchen Umständen“ hervorzuheben und gleichzeitig deutlich zu machen, daß unter diesen Rahmenbedingungen die optimale Leistung erbracht wurde. Recht augenfällig sind solche Ausführungen bei dem bayerischen Offizier Ludwig Schraudenbach, der sein Buch offenbar nicht zuletzt deshalb verfaßte, um bestimmten Anschuldigungen – auch aus dem Kameradenkreise – entgegenzutreten, er habe seine Dienstpflichten im Orient vernachlässigt und seine Zeit mit „touristischen“ Reisen zu den Sehenswürdigkeiten des Landes verbracht.25 Solche „Rechtfertigungstendenzen“ können auch dazu führen, daß positive Erfahrungen mit dem osmanischen Verbündeten in den Hintergrund treten oder gar nicht erwähnt werden. Möglicherweise wurden auch bestimmte (Aus-)Bildungsstandards für mitteleuropäische Truppen als „selbstverständlich“ betrachtet und fanden daher keine Erwähnung, wenn sie im fremden Orient vorgefunden wurden. Somit wären nur Nichterfüllungen deutscher Standards als Abweichung von der Norm kritisch vermerkt worden.26 Weiterhin sind in einigen Werken indirekte oder gar direkte „Abrechnungswünsche“ der Autoren zu finden. Liman von Sanders etwa läßt in seinem Buch „Fünf Jahre Türkei“ keinen Zweifel an seinem schlechten Verhältnis zum osmanischen Kriegsminister Enver Pascha aufkommen. Auch betont er, daß die Spannungen stets durch Enver verursacht worden seien, der jung und unerfahren zu militärischen Fehlern geneigt habe und außerdem dem Rat des Marschalls Liman nur selten zugänglich gewesen sei. Zudem geht der Chef der deutschen Militärmission nicht nur mit seinem türkischen „Widersacher“ hart ins Gericht, sondern spart ebenfalls nicht mit Kritik an den deutschen Botschaftern in Konstantinopel, an verschiedenen Stellen im Deutschen Reich (z.B. am Auswärtigen Amt) oder an anderen deutschen Offizieren in Diensten des Sultans (z.B. Bronsart von Schellendorff). Aus verschiedenen Quellen und erhaltenen Archivunterlagen geht hervor, daß Liman 25 Siehe hierzu Kapitel IV.1., S. 227. Hierzu ist etwa eine weitere Untersuchung von Erickson erschienen, der deutlich auf die Mängel des osmanischen Heeres eingeht, jedoch auch mit der Intention, die erbrachten Abwehr- und Verzögerungserfolge gegen die britischen Truppen an den Dardanellen und in Palästina als besonders „effektiv“ herauszustellen. Erickson, Edward J.: Ottoman army effectiveness in World War I – A comparative study, London (u.a.) 2007. 26 13 offenbar selbst nicht wenig zu den regelmäßigen Reibungen beigetragen hat. Sein Buch, das er zeitnah in britischer Gefangenschaft auf der Insel Malta verfaßte und das bereits 1919 als erstes (Nachkriegs-)Werk zum Themenfeld erschien, birgt zwar viele wertvolle Informationen über Ereignisse, Planungen und Strategien, in die der Autor als ranghöchster Offizier der Militärmission Einblick hatte, es ist aber zugleich eine sehr offene, persönliche „Klageschrift“ eines Mannes, der unter dem Eindruck einer umfassenden militärischen Niederlage stand und einen britischen Militärgerichtsprozess erwartete, der allerdings nie stattfand. Limans Buch ist daher in seiner Deutlichkeit auffällig unter den Büchern deutscher „Orientkämpfer“, die im Allgemeinen ihre Kritik etwas zurückhaltender anbringen. Kreß von Kressenstein, dessen Verhältnis zu Liman oder dem später im Orient eingesetzten General Falkenhayn ebenfalls nicht spannungsfrei war, beschränkt sich auf einige wenige bittere Bemerkungen über „die Führung“. Das Gegenstück dazu ist eine Arbeit des Württembergers Gerold von Gleich, der ebenfalls sehr offen die deutschen Fehler und Versäumnisse aufzeigt, dabei aber anscheinend keine persönliche Anklagen im Sinn hatte, sondern eher eine „allgemeine Kritik“ beabsichtigte.27 Diese Überlegungen zeigen ein zusätzliches Manko der archivalischen und veröffentlichten Quellen auf. Der Autorenkreis setzt sich in der ganz überwiegenden Mehrheit aus Offizieren zusammen. Nur in äußerst seltenen Fällen finden sich Berichte von Unteroffizieren oder Mannschaften. Aussagen zu den Anschauungen dieser Dienstgradgruppen müssen daher mit Hilfe von Tagesbefehlen oder Schilderungen ihrer Vorgesetzten erschlossen und rekonstruiert werden. Verbindliche Aussagen sind für diese Soldatengruppen nur schwer zu treffen. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Überlieferung zwar für eine Untersuchung eine durchaus tragfähige Grundlage bietet, jedoch auch beträchtliche Lücken aufweist. Nicht alle Fragen werden daher befriediegend geklärt werden können. 27 Gleich, Gerold von: Vom Balkan nach Bagdad – Militärisch-politische Erinnerungen an den Orient, Berlin 1921. 14 I.4. Konzeptionelle Überlegungen Die Entwicklung der militärischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Hohen Pforte im Frieden bis zum Ausbruch der Balkankriege28 und das deutsche Engagement im Osmanischen Reich während dieser Kriege bis hin zur Entsendung einer offiziellen Militärmission sind für den Hauptkomplex dieser Untersuchung von grundlegender Bedeutung und werden daher als Einführung in die Thematik und Genese der späteren intensiven Zusammenarbeit behandelt.29 Dabei sind nicht allein die strategischen und politischen Erwägungen zu berücksichtigen, die zu einem deutsch-osmanischen Waffenbündnis führten, sondern auch der Umstand, daß bereits in diesen Phasen Verhaltensweisen und Probleme deutlich werden, die sich während des Ersten Weltkrieges maßgebend auf das Bündnis auswirken sollten. Gerade die Tätigkeiten militärischer Berater und der Beginn der deutschen Militärmission fallen noch in die Zeit vor dem Kriegsausbruch, wirkten sich jedoch in entscheidendem Maße auf die Politik der Großmächte aus. Gleichzeitig konnten deutsche Militärangehörige schon hier erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Türkei machen. In einem die Einleitung abschließenden Kapitel (II.3.) werden daher diese ersten praktischen Erfahrungswerte in der Kooperation aber auch Beobachtungen über das Verhalten und die Reaktionen der Deutschen und dessen mögliche Hintergründe zusammengefasst. Da bekanntlich die Quellen hauptsächlich von deutschen Offizieren stammen, repräsentieren sie überwiegend ein bestimmtes soziales Milieu. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, daß diese Sichtweisen einheitlich sind, sondern nur, daß sie vor dem Hintergrund einer ähnlichen (!) Sozialisation gefällt landsmannschaftliche wurden. Diese Unterschiede Hintergründe innerhalb der waren deutschen zudem durch Militärmission mitbestimmt, da etwa bayerische Offizieranwärter eine durchweg bessere Schulbildung sowie in Teilen anders akzentuierte Ausbildung als ihre preußischen Pendants erhielten. Inwieweit Ähnlichkeiten in der Vorbildung oder in „Vorurteilen“ angenommen werden können, muß bereits in den einleitenden Überlegungen 28 29 Siehe II.1 c. Siehe Kapitel II.2. 15 angesprochen werden. Auch bestimmte „Grundkonstanten“ im Bereich der Wahrnehmung interkultureller Unterschiede sollen in die Überlegungen einfließen.30 Beachtung verdienen auch mediale Darstellungen vom Einsatzgebiet und den Verbündeten der deutschen Soldaten, so zum Beispiel dem sogenannten „Orientalismus“, der die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit im kaiserzeitlichen Deutschland nicht unwesentlich beeinflußte. Ähnliche Phänomene lassen sich auch für andere Länder nachweisen.31 In einem späteren Kapitel (VI.1.) wird darauf einzugehen sein, inwieweit sich solche Beeinflussungen tatsächlich nachweisen lassen. Dagegen sind – trotz vereinzelter Bestrebungen deutscher Interessengruppen – Einflüsse kolonialistischer Tendenzen auf die deutsch-türkische Kooperation im Kriege nur schwer nachzuweisen.32 Das Osmanische Reich war ein souveräner Staat und wenngleich ihm die Akzeptanz als gleichrangige Großmacht fehlte, so sind die Urteile über die „schwarzafrikanischen“ Einwohner der deutschen Kolonien und 30 Die Forschung hat in den letzten 20 Jahren ein verstärktes Augenmerk auf interkulturelle Identitäten und Fremdwahrnehmung gelegt. Einführend können hier zwei Tagungsbände genannt werden: Breuer, Ingo/Sölter, Arpad A. (Hrsg.): Der Fremde Blick – Perspektiven interkultureller Kommunikation und Hermeneutik. Ergebnisse der DAAD-Tagung in London, 17.-19. Juni 1996, Bozen 1997. Lenz, Bernd (Hrsg.): Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Kulturen – Theorieansätze, Medien, Textsorten, Diskursformen; Passau 1999. Einen sehr guten Überblick über einige Forschungsprojekte zum Themenkomplex (die von der Volkswagenstiftung gefördert wurden) bietet der Band: Craanen, Michael/Gunsenheimer, Antje (Hrsg.): Das „Fremde“ und das „Eigene“ – Forschungsberichte (1992 – 2006), Bielefeld/Hannover 2006. Ebenfalls hilfreich zur Erklärung nationaler oder ethnischer Stereotypen ist die Forschung auf dem Gebiet der Reiseliteratur. Einige Studien aus der Sicht diverser europäischer Nationen finden sich in dem Sammelband: Bauerkämper, Arne/Bödeker, Hans Erich/Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Welt erfahren – Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt am Main 2004. Ergänzend hierzu sollte auch die österreichisch-ungarische Perspektive berücksichtigt werden: Bernard, Veronika: Österreicher im Orient – Eine Bestandsaufnahme österreichischer Reiseliteratur im 19. Jahrhundert, Wien 1996. Die Zahl deutschsprachiger Forschungen, die sich mit der außereuropäischen Sicht auf die Europäer beschäftigen, ist für den Themenbereich dieser Arbeit unzulänglich, doch soll an dieser Stelle die (bereits ältere) Arbeit des ägyptischen Professors Maher nicht unerwähnt bleiben. Obwohl dieses Bändchen gerade 32 Seite umfaßt, wird doch der interessante Versuch gemacht, die Stereotypen beider Seiten skizzenhaft zu vergleichen: Maher, Moustafa: Das Bild des Deutschen in der arabischen und das Bild des Arabers in der deutschen Literatur, Düsseldorf (u.a.) 1978. 31 Einen guten Überblick zum Einfluß „des Orientalischen“ zum Beispiel auf die englisch- und französischprachige Literatur jener Zeit bieten einführend: Barfoot, C.C./D´haen, Theo (Hrsg.): Oriental Prospects – Western Literature and the Lure of the East, Amsterdam/Atlanta 1998. 32 Zu den „Kolonialbestrebungen“ deutscher Siedler siehe einführend: Petry, Erik: Ländliche Kolonisation in Palästina – Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Köln (u.a.) 2004. Fuhrmann, Malte: Der Traum vom deutschen Orient – Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt am Main/New York 2006. 16 Schutzgebiete doch andere als über die Untertanen des Sultans, denn im Orient konnten die Deutschen nicht den „Kolonialherrenstatus“ für sich beanspruchen.33 Ebenso läßt sich die Forschungsdiskussion um „Christentum und Islam“, die offenbar nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 an Bedeutung gewonnen hat, schwerlich auf die damaligen Verhältnisse anwenden.34 Die religiösen Unterschiede, welche auch damals schon wahrgenommen wurden, werden zweifellos auch den deutschen Offizieren nicht entgangen sein. Jedoch spielten sie für die Deutschen nur dann eine Rolle, wenn sie die dienstliche Zusammenarbeit beeinträchtigten. Mit dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs 1914 beginnt der eigentliche Untersuchungszeitraum und er endet mit dem Waffenstillstand von Mudros 1918. Es gilt zunächst, die Rahmenbedingungen darzulegen, unter denen die deutschen Soldaten ihre Erfahrungen mit den Streitkräften des Sultans sammelten. Einleitend wird dabei auf die Struktur der bewaffneten Macht im Orient einzugehen sein, um anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Bereich der Formationen, der Ausrüstung und Bewaffnung, des operativen und faktischen Verständnisses, der Führungsgrundsätze und –mittel, Personalersatz und Logistik, kurzum, der militärisch relevanten Faktoren die Voraussetzungen der Kooperation darzulegen. Anschließend folgen nach einer Analyse des Auftrags der deutschen Militärs mit der erforderlichen Differenzierung aus der Sicht der Verbündeten knappe ereignisgeschichtliche Überblicke über die Kämpfe an verschiedenen Fronten. Dabei kann lediglich eine Auswahl von Schauplätzen behandelt werden. Diese richtet sich nach dem deutschen Engagement an der betreffenden Front und der Bedeutung – in politischer, propagandistischer und militärischer Hinsicht sowie den Auswirkungen auf das Selbst- und Fremdbild – für das deutsch-türkische Bündnis. Bestimmte Sonderfälle, wie etwa die Unternehmungen in Richtung des indischen Subkontinentes oder der 33 Zum Bild der Kolonien und ihrer Einwohner in Deutschland siehe einführend die Aufsatzsammlung: Bechhaus-Gerst, Marianne/Gieseke, Sunna (Hrsg.): Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur, Frankfurt am Main (u.a.) 2006. 34 Einführend zur Diskussion um die historisch-theologische Entwicklung des Verhältnisses zwischen Christentum und Islam sowie deren Auswirkung auf die jüngste Zeit siehe: Kuschel, Karl-Josef: Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007. Kandil, Fuad: Blockierte Kommunikation: Islam und Christentum – Zum Hintergrund aktueller Verständigungsprobleme, Berlin 2008. Schmid, Hansjörg (Hrsg.): Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg 2007. 17 kurzzeitige Einsatz osmanischer Verbände in Europa wurden aufgrund ihrer mangelnden Vergleichbarkeit ausgeklammert. Im Anschluß an die ereignisgeschichtlich-operative Darstellung gilt es die deutschen Eindrücke vom Verbündeten genauer zu betrachten. Dabei sind selbstverständlich auch die Beweggründe der Deutschen für eine Dienstnahme im Orient von Interesse. Danach werden die Erfahrungen der deutschen Heeresangehörigen mit den osmanischen Bundesgenossen im Alltagsdienst und im Einsatz, in der Ausbildung und im Gefecht, bei Rückschlägen und Erfolgen analysiert und zwar unterschieden nach dem Blick auf die Mannschaften und Unteroffiziere sowie auf die Offiziere. Dies ist um so notwendiger, als die Mehrzahl der Berichte und Quellen von deutschen Offizieren stammt, die – basierend auf ihrer militärischen Sozialisation – besondere Ansprüche an diese Personalkategorien stellten. Im Vordergrund stehen die Wahrnehmungen der Heeresangehörigen, denn diese bildeten eindeutig die größte Gruppe der Militärberater. Die Erfahrungen Angehöriger der Marine und der jungen Fliegertruppe werden gesondert in die Untersuchung einbezogen, um möglicherweise „teilstreitkraftsspezifische“ 35 Bewertungen nachvollziehen zu können. Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, daß unangemessenes oder ungeschicktes Verhalten die Zusammenarbeit erschwert haben können. In einem vierten Kapitel wird daher „deutsches Fehlverhalten“ in einem weiten Sinne, werden aber auch die „Erfolge“ oder „Leistungen“ des Engagements analysiert. Hierbei muß erörtert werden, welche Verhaltensweisen die Deutschen in Übereinstimmung und Unterschied zum Selbstverständnis an den Tag legten und inwiefern ihr Gebaren den eigenen Ansprüchen genügte oder sich auf die Durchführung ihres Auftrages auswirkte. In einer Umgebung, die sehr sensibel auf vermeintliche oder tatsächliche Einmischung in „innere Angelegenheiten“ reagierte, können die Folgen erheblich gewesen sein. 35 Die Militär-Fliegerei war im Ersten Weltkrieg noch keine autonome Teilstreitkraft, sondern unterstand dem Heer. 18 I.5. Wortgebrauch und Abkürzungen Zum besseren Verständnis sind einige sprachliche Vereinheitlichungen in dieser Arbeit vorgenommen worden. So wird weitgehend auf die türkischen Begrifflichkeiten verzichtet. Ortsnamen werden entweder nach dem zeitgenössischen deutschen Kartenwerk36 zitiert oder – sofern auf den Karten nicht verzeichnet – nach der jeweiligen Quelle, was nicht zwangsläufig der heutigen Schreibweise entpricht. Um Mißverständnisse und Verwechselungen zu vermeiden, wird an wenigen, kenntlich gemachten Stellen von dem Kartenwerk abgewichen. Dieses Verfahren ermöglicht eine größere Nähe zu den zeitgenössischen Unterlagen. In Fällen gravierender Namensänderungen wird der heutige Name der Ortschaft in Klammern angegeben, um eine Verortung zu erleichtern. Manchmal kann es aber auch vorkommen, daß die Quellenangaben sich auf nicht mehr existente Bahnhöfe, Dörfer oder Oasen beziehen, zu denen keine genaueren Angaben gemacht werden können. In solchen Fällen wird zumindest eine grobe Platzierung angegeben. Ähnlich wird bei den Personennamen verfahren. Die Schreibweise richtet sich nach der – von deutscher Seite – meist gebrauchten Art und Weise. In der Forschung wie auch in den Quellen ist sie häufig willkürlich, was zu Komplikationen führen kann. Die deutsche Namensgebung ist dabei oft lautsprachlich bedingt und verhältnismäßig nah am sprachlichen Original. So wird der türkische „Cemal Paşa“ im Deutschen lautsprachlich korrekt „Djemal Pascha“ geschrieben. Eine Besonderheit ist die Verwendung der Begriffe „türkisch/Türkei“ und „osmanisch/Osmanisches Reich“. Der Verfasser ist sich sehr wohl bewußt, daß beide Begriffe eine unterschiedliche Bedeutung haben, denn die offizielle Staatsbezeichnung während des Untersuchungszeitraumes ist letztere. Die „Türkei“ wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg gegründet.37 Im Sinne sprachlicher Abwechslung werden die Begriffe allerdings in dieser Arbeit häufig synonym gebraucht. Bezüge auf die ethnische Herkunft oder andernfalls die staatliche (und damit zugleich 36 Karten zum Weltkriege: Der Orient, Bielefeld/Leipzig 4[1915]. Vorweg kann bereits erwähnt werden, daß diese Karten – obwohl recht detailliert – für den militärischen Gebrauch nur wenig geeignet waren. Trotz des (vermutlichen) Erscheinens während des Krieges konnten sie kaum die miserable Versorgung mit Kartenmaterial ausgleichen. Siehe hierzu Kapitel VI.1., S. 231f. 37 Bihl, Wolfdieter: Die Kaukasus-Politik der Mittelmächte – Teil 1: Ihre Basis in der Orient-Politik und ihre Aktionen 1914-1917, Wien/Köln/Graz 1975, S. 139. 19 multiethnische) Ebene ergeben sich jeweils aus dem Zusammenhang. Dabei muß ebenfalls berücksichtigt werden, daß die deutschen Soldaten meist von „der Türkei“ und „den Türken“ sprachen, wenn sie eigentlich das „Osmanische Reich“ meinten. Hierbei handelte es sich wohl um ähnliche Vereinfachungen, wie etwa „Deutschland“ statt „Deutsches Reich“ zu sagen. Allerdings kann in einigen Fällen nicht ausgeschlossen werden, daß durch die Bezeichnung zugleich die Vorherrschaft der ethnischen Türken in allen Bereichen des Osmanischen Reichs anerkannt wurde. Maße und Gewichte werden nach den heutigen Standards abgekürzt. Für die Währungen (sofern sie nicht ausgeschrieben sind) werden die zeitgenössischen Abkürzungen verwendet, da sie zum Teil heute nicht mehr existieren und die Nachfolger der beteiligten Staaten neue Währungen mit anderen Namen und Kürzeln führen. Militärische Abkürzungen haben sich im Laufe der Jahre nur unwesentlich verändert. Zum besseren Verständnis werden diese – im Alltag weniger gebräuchlichen Abkürzungen – auch an der betreffenden Stelle im Text aufgeschlüsselt. Abkürzungen von Archiven bei Quellenangaben richten sich nach dem üblichen Gebrauch in der Forschungsliteratur. Alle weiteren Abkürzungen entsprechen ebenfalls den alltäglich gebräuchlichen Standards und bedürfen daher keiner gesonderten Erklärung. Schließlich sollen kurz die osmanischen Titel Effendi, Bey und Pascha erläutert werden. Im Osmanischen Reich war es üblich den gesellschaftlichen und dienstlichen Rang nicht allein durch Amtsbezeichnungen, sondern auch durch Namenszusätze anzuzeigen. Anders als in Westeuropa wurden diese Ergänzungen an den Namen angehängt, wie bei „Enver Pascha“. Der Begriff Effendi stellt dabei die geringste Stufe dar und findet sich im militärischen Kontext bei Leutnanten, Hauptleuten und zum Teil Majoren. Der Titel Bey wurde in der Regel höheren Staatsdienern oder Stabsoffizieren (oft ab Oberstleutnant) verliehen, während der Zusatz Pascha zumeist höchsten Beamten, Ministern oder der Generalität vorbehalten war. 20 II. Einführung: Außenpolitik an der Peripherie II.1. Die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und dem Osmanischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg (1871-1912) a) Die politischen Beziehungen Vor der Reichsgründung unterhielt von den nachmaligen Mitgliedsstaaten des Reichs hauptsächlich das Königreich Preußen Kontakte zum Osmanischen Reich.38 Der preußische Ministerpräsident und spätere Reichskanzler Otto von Bismarck sah die Türkei allerdings nicht etwa als Bündnispartner oder auch nur als originäre preußische (respektive deutsche) Interessensphäre an. Ihm blieb aber nicht verborgen, daß die anderen europäischen Großmächte rivalisierend um Einfluß in diesem Raum bemüht waren und dieses Ringen an der Peripherie Entlastung für Deutschland bieten konnte.39 Frankreich besaß bereits seit 1528 Verträge mit dem Sultan, durch die französische Staatsbürger, die innerhalb der Grenzen des orientalischen Großreiches lebten, arbeiteten und handelten, weitgehend dem türkischen Zugriff entzogen waren.40 Diese sogenannten „Kapitulationen“ gewährten zunächst französischen Staatsangehörigen und später auch anderen Europäern weitgehende rechtliche Exemtionen, die sich besonders auf die Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich auswirkten.41 Derartige Bestimmungen, in Verbindung mit absehbarer Parteinnahme der abendländischen Mächte zugunsten ihrer Staatsbürger, waren den türkischen Behörden wie auch den Geschäftsleuten ein Dorn im Auge, zumal eine 38 Unger, Michael: Die bayerischen Militärbeziehungen zur Türkei vor und im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2003, S. 11f. (Im Folgenden: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003.) 39 Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich – Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 18711945, Stuttgart 1995, S. 39f. (Im Folgenden: Hildebrand, Das vergangene Reich 1995) Scherer, Friedrich: Adler und Halbmond – Bismarck und der Orient 1878-1890, Paderborn (u.a.) 2001, S. 9f.. (Im Folgenden: Scherer, Adler und Halbmond 2001.) 40 Overbeck, Alfred Freiherr von: Die Kapitulationen des Osmanischen Reiches, München 1917, S. 7. (Im Folgenden: Overbeck, Kapitulationen 1917.) 41 Siehe dazu Kapitel II.1.b), S. 37f. 21 Benachteiligung der Osmanen gegenüber ihren westlichen „Handelspartnern“ immer deutlicher wurde.42 Neben wirtschaftlichen Interessen spielten für die Großmächte strategische Überlegungen eine Rolle. So war sowohl Großbritannien als auch dem Russischen Reich an der Kontrolle der Meerengen zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer gelegen. Russland könnte so den Handel über seine Schwarzmeerhäfen Odessa und Sewastopol sichern, während das Empire über ein nicht zu vernachlässigendes Drohmittel, nämlich eine Sperrung der Durchfahrt, gegenüber Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres verfügen würde.43 Schon im Krimkrieg (1853-1856) hatte sich gezeigt, daß England und Frankreich nicht bereit waren, eine weitgehende Kontrolle oder direktes militärisches Vorgehen des Zaren gegen den so mühsam erschlossenen osmanischen Handelsraum zu tolerieren.44 Diese Reiche hatten wegen der „osmanischen Frage“ einen der blutigsten Kriege des ausgehenden 19. Jahrhunderts geführt.45 Ganz anders sah dies hingegen Preußen und nach 1871 das Deutsche Reich. Zwar waren sich die maßgeblichen Kreise in Berlin durchaus des Konfliktpotentials im Orient bewußt, doch war besonders Fürst Bismarck nicht gewillt, das noch junge Gebilde des Deutschen Kaiserreiches durch ein größeres Engagement auf diesem Schauplatz aufs Spiel zu setzen. Im Gegenteil, seine Außenpolitik sah zunächst vor, „Frieden zu halten, mit allen, mit denen man Frieden halten konnte“.46 Legendär wurde sein Ausspruch, daß er nicht die Knochen „eines einzigen pommerschen 42 Overbeck, Kapitulationen 1917, S. 26. Bodger, Alan: Russia and the End of the Ottoman Empire, in: Kent, Marian (Hrsg.): The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984, S. 77f. und S. 82. (Im Folgenden: Bodger, Russia and the Ottoman Empire 1984.) Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 7. 44 Majoros, Ferenc u. Rill, Bernd: Das Osmanische Reich (1300-1922) - Die Geschichte einer Großmacht, Graz (u.a.) 1994, S. 335f. (Im Folgenden: Majoros/Rill: Osmanisches Reich 1994.) Matuz, Josef: Das Osmanische Reich - Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt 21990, S. 229f. (Im Folgenden: Matuz, Das Osmanische Reich 1990.), Auch Nicolae Jorga führt bereits 1913 eindeutig die wirtschaftlichen Hegemonialansprüche der westeuropäischen Großmächte als ursächlich für deren Eingreifen auf osmanischer Seite an. Jorga, Nicolae: Geschichte des Osmanischen Reiches - Nach den Quellen dargestellt von Nicolae Jorga, Band V, (unveränderter Nachdr. d. Ausg. Gotha 1913) Frankfurt am Main 1990, S. 437-440. (Im Folgenden: Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990.) 45 Einführend zum Krimkrieg siehe Werth, German: Der Krimkrieg - Geburtsstunde der Weltmacht Rußland, Frankfurt am Main (u.a.) 1992. Baumgart, Winfried: The Crimean War 1853-1856, London 1999. 46 Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band I) 1963, S. 162. 43 22 Grenadiers“ für den Orient opfern würde.47 Diese Haltung ist verständlich, wenn man die „schwierige Geburt“ des preußisch dominierten Deutschen Reiches48 und die filigrane Außenpolitik des Kanzlers Bismarck bedenkt.49 Das Ausscheiden der Hohen Pforte50 als Bündnispartner bedeutete jedoch nicht, daß Deutschland keine Interessen im kleinasiatischen Raum verfolgt hätte. Die junge europäische Großmacht hatte wirtschaftliche Interessen an Bosporus, Euphrat, Tigris und nicht zuletzt am Jordan.51 Politisch hielt sich Berlin zwar eher im Hintergrund, dennoch hoffte es, die Rivalität der Großmächte zu seinen Gunsten nutzen zu können. So gerierte sich das junge Kaiserreich nach der Orientkrise als Friedensvermittler und ließ diese günstige Gelegenheit, eigene Vorstellungen durchzusetzen, nicht verstreichen. Im Jahre 1875 hatte die Krise mit einem Aufstand der christlichen Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina, im Vorfeld habsburgischen Staatsgebiets, begonnen. Bis zum Juli 1876 folgten Aufstände in den bulgarischen Provinzen, in Serbien und Montenegro. Die osmanische Herrschaft auf dem Balkan stand vor dem völligen Zusammenbruch. Unter größten militärischen Anstrengungen gelang es den Truppen des Sultans jedoch, die Aufstände niederzuschlagen. Zu weiteren Erfolgen kam es allerdings nicht, denn die europäischen Großmächte griffen schon bald durch politischen Druck in die Konflikte ein.52 Die türkische Regierung machte zwar weitgehende Konzessionen, was eine autonomere Stellung der europäischen Besitzungen und Reformen der Reichsregierung sowie der Provinzregierungen anging, war aber nicht gewillt, die Überwachung der inneren Angelegenheiten durch 47 Schüßler, Wilhelm (Bearb.): Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 11, Reden 1869-1878, Berlin 1929, S. 476. Beachtenswert ist die Anmerkung des Bearbeiters zu Bismarcks Aussage: „Damit bezeichnet Bismarck die Grundüberzeugung seiner ganzen orientalischen Politik.“ 48 Zur Reichsgründung und der Forschungsdiskussion siehe einführend: Frie, Ewald: Das Deutsche Kaiserreich, Darmstadt 2004. 49 „Enzyklopädischer Überblick“ über die Außenpolitik Bismarcks bei: Hildebrand, Klaus: Deutsche Außenpolitik 1871-1918, München 1989, S. 3-26. Zur Haltung Bismarcks im Vorfeld des russischtürkischen Krieges 1877/78: Engelberg, Ernst: Bismarck – Das Reich in der Mitte Europas, Berlin 1990, S. 223-239 (Im Folgenden: Engelberg, Bismarck 1990.) und Pflanze, Otto: Bismarck and the Development of Germany – Volume II: The Period of Consolidation, 1871-1880, Princeton 1990, S. 415. (Im Folgenden: Pflanze, Bismarck Volume II 1990.) 50 Die Bezeichnung ist hergeleitet von der Eingangspforte des Sultanpalastes in Konstantinopel und steht sinnbildlich für die osmanische Regierung. 51 Siehe zu den wirtschaftlichen Beziehungen Kapitel II.1.b). 52 So zwang Russland den Sultan zu einem Waffenstillstand mit den serbischen Aufständischen, um einen erdrückenden Sieg der Türkei zu verhindern. Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 31. 23 eine Kommission aus Vertretern der Großmächte zu tolerieren.53 Diese Weigerung bot Russland einen willkommenen Anlaß, dem Sultan 1877 den Krieg zu erklären. Die russische Regierung war der Überzeugung, dadurch den „Zustand der Ungewißheit“ in Bezug auf die eigene Machtstellung in der Balkanregion endgültig klären zu können. Neben der Erweiterung des eigenen Machtbereiches spielten auch panslawistische Bestrebungen für St. Petersburg ein große Rolle, die nur vordergründig dadurch verdeckt werden sollten, daß der Zar als Beschützer des Christentums und des Selbstbestimmungsrechts der Balkanvölker auftrat.54 Um gravierende Machtverschiebungen mit weitreichenden Folgen für die Beziehungen der europäischen Großmächte zu verhüten und einen akzeptablen Ausgleich herbeizuführen, wurde 1878 der Berliner Kongreß einberufen. Bismarck zeigte sich hier als Mediator besonders zwischen Österreich-Ungarn und Russland, die konkurrierende Interessen an Gebieten auf dem Balkan hatten und die Expansionsbestrebungen der Gegenseite trotz des Dreikaiserabkommens von 1873 fürchteten.55 Reichskanzler Otto von Bismarck legte der deutschen Orientpolitik zwei wesentliche Annahmen zugrunde. Zum einen glaubte er, daß der russisch-österreichische Konflikt auf dem Balkan eine Annäherung beider Staaten verhindern, aber kaum zu solch gravierenden Verstimmungen führen würde, daß Deutschland nicht als Friedensstifter auftreten könnte. Zum anderen nahm er an, daß die Meinungsverschiedenheiten über die Zugangskontrolle zum Schwarzen Meer eine politische Annäherung zwischen London und St. Petersburg auf lange Zeit ausschließen würden. Wie sich herausstellen sollte, ging er in beiden Annahmen fehl. Im Gegenteil, seine Bemühungen, bei den Verhandlungen in Berlin möglichst keine der Großmächte zu übervorteilen, führten zu ernsten Verstimmungen mit dem Zaren und schließlich zum 53 Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990, S. 567-569. Aus Sorge, der Konflikt könne sich ausweiten, und um das Zarenreich nicht zu verärgern, beschloß die deutsche Reichsleitung „wohlwollend neutral“ gegenüber St. Petersburg zu bleiben. Engelberg, Bismarck 1990, S. 239f. Bismarck sah zudem die Möglichkeit, dem russischen Expansionsdrang ein „Ventil“ zu liefern, das deutsche Interessensphären nur mittelbar berührte. Pflanze, Bismarck Volume II 1990, S. 430f. 55 Zu den Hintergründen der habsburgischen Annexionspolitik in Bosnien siehe: Kos, Franz-Josef: Die Politik Östereich-Ungarns während der Orientkrise 1874/75-1879, Köln/Wien 1984. Hier insbesondere S. 36-65. (Im Folgenden: Kos, Orientkrise 1984.) 54 24 endgültigen Ende des Dreikaiserabkommens.56 Statt mit wenigen eigenen Kräften die politischen Gegenüber zu beschäftigen, mußte das Deutsche Reich in steigendem Maße seine Energie auf den Balkanraum und den Orient richten.57 Trotzdem blieb das Osmanische Reich für den „Eisernen Kanzler“ in erster Linie ein Schauplatz, auf dem sich „die Anderen“ verausgaben sollten. An engere Beziehungen zum Sultan oder gar an ein formelles Bündnis mit der Hohen Pforte dachte er nicht. Obwohl die Abneigung in Berlin gegenüber einer aktiven Einmischung am Bosporus und auf dem Balkan groß war, darf man nicht von einem völligen Desinteresse des Deutschen Reiches ausgehen.58 Ganz im Gegenteil, die Haltung Bismarcks zur Orientpolitik änderte sich seit etwa 1880. Zunehmende Investitionen der deutschen Wirtschaft und stärkere militärische Aufbauhilfe verlangten ein höheres Engagement in der Region, Allerdings versuchte er auch jetzt noch jedes direkte Eingreifen zu vermeiden, um seinem Hauptanliegen – der europäischen Absicherungspolitik – möglichst nicht zu schaden.59 Mit der Thronfolge Kaiser Wilhelms II. erfuhren die Aktivitäten der deutschen Außenpolitik im Nahen Osten nach 1888 eine noch deutlichere Änderung.60 Wilhelm 56 In der Tat verursachte der Ausgang des Berliner Kongresses in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit in Russland eine Unruhe, die eine schwere innenpolitische Krise im Lande auslöste. Panslawistische Parteien und Zeitungen befürchteten eine Benachteiligung und sogar eine Gefährdung der Großmachtstellung des Zarenreiches. Für St. Petersburg war das Dreikaiserabkommen damit praktisch hinfällig und die russische Außenpolitik orientierte sich nunmehr – trotz eines knapp fünfjährigen Wiederauflebens des Abkommens in Form des Dreikaiserbundes (1881-1886) – an anderen Bündnispartnern. Hildebrand, Das vergangene Reich 1995, S. 54ff. Engelberg, Bismarck 1990, S. 283-296. 57 Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 55f. und S. 544f. 58 Vgl. dazu: Kössler, Armin: Die deutsch-türkischen Beziehungen zur Kaiserzeit, in: Fragner, Christa/Schwarz,Klaus (Hrsg.): Festgabe an Josef Matuz - Osmanistik-Turkologie-Diplomatik, Berlin 1992, S. 164f. (Im Folgenden: Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992.) und Wallach, Jehuda: Bismarck and the „Eastern Question“ - A re-assessment, in: Wallach, Jehuda (Hrsg.): Germany and the Middle East 1835-1939 - International Symposium April 1975, Tel-Aviv 1975, S. 26. (Im Folgenden: Wallach, Bismarck and the „Eastern Question“ 1975.) 59 Wallach, Bismarck and the „Eastern Question“ 1975, S. 29. 60 Zur neuen Ausrichtung der Außenpolitik unter Wilhelm II. siehe: Pflanze, Otto: Bismarck and the development of Germany, Volume III: The Period of Fortification, 1880-1898, Princeton 1990, S. 307316. Diese neue Richtung stand wesentlich unter dem Eindruck einer wachsenden Wirtschaft und vermehrter imperialistischer Tendenzen im Deutschen Reich. Bezeichnend dafür ist ein Trinkspruch Kaiser Wilhelms II. anläßlich des 25. Jahrestages der Reichsgründung (18.Januar 1896): „Aus dem Deutschen Reich ist ein Weltreich geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See zu fahren hat. An Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, Mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu binden.“ Zit. nach: Schieder, Theodor: Nationalismus und 25 II. sah in der Türkei einen potentiellen Bündnispartner gegen den möglichen Gegner Russland.61 Der letzte Krieg jener Mächte 1877-78 hatte gezeigt, daß eine diplomatische Annäherung zwischen Zar und Sultan höchst unwahrscheinlich war. Der Kaiser sah deshalb die Möglichkeit, die Türkei gegen Russland auszuspielen. Um die Beziehungen zur Hohen Pforte auszubauen, unternahm er in den Jahren 1889 und 1898 Reisen nach Palästina.62 Während die erste Reise eher in familiärem Rahmen stattfand, war die Reise im Jahre 1898 für die spätere Nähe zur Pforte in Konstantinopel wegweisend. Hier besuchte der Deutsche Kaiser unter anderem das Grab des berühmten Sultans Saladin, der 1187 bei Hattin das christliche Kreuzfahrerheer vernichtend geschlagen hatte. Eine Geste, die in einem Land, das einen großen Teil seiner Politik über symbolische Handlungen kommunizierte, sehr aufmerksam verfolgt wurde. Nach der Rede des Kaisers in Damaskus am 8. November 1898, in der er sich zum Freund der „300 Millionen Mohammedaner, die auf der Erde zerstreut leben“ erklärte,63 war deutlich geworden, daß diese Reise nicht nur eine Pilgerreise sein sollte.64 Die deutsch-osmanischen Beziehungen erfuhren dadurch eine Aufwertung, die mittelfristig konkrete Gestalt annahm. Das Osmanische Reich wurde jetzt als potentieller Bündnispartner angesehen und damit in das Geflecht der „Großmachtpolitik“ eingebunden. Allerdings bedeutete dies nicht automatisch die Anerkennung als „gleichberechtigter Partner“. Die Türkei war zwar nicht mehr nur Handlungsraum, sondern auch Ansprechpartner im diplomatischen Gefüge, doch schon länger galt sie nicht mehr als militärische Großmacht. Zu offensichtlich waren die Schwächen des Großreiches gegenüber den Unabhängigkeitsbestrebungen der kleineren Balkanstaaten und des ägyptischen Nationalstaat – Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, herausgegeben von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1991, S. 223. (Im Folgenden: Schieder, Nationalismus 1991.) 61 Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 543. 62 Zur ersten Reise nach Konstantinopel siehe: Balfour, Michael: Der Kaiser – Wilhelm II. und seine Zeit, (Neuaufl. d. dt. Ausg. 1967) Berlin 1996, S. 147f. 63 Jaschinski, Klaus: Des Kaisers Reise in den Vorderen Orient 1898, ihr historischer Platz und ihre Dimensionen, in: Jaschinski, Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des Kaisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002, S. 30f. (Im Folgenden: Jaschinski, Des Kaisers Reise 2002.) 64 Wilhelm II. hatte in einem Brief vom 18. August an den Zaren Nikolaus II. noch von einer Reise ohne politische Motive gesprochen. Er stellte sich als gläubigen Monarchen dar, der zur Einweihung der Grabeskirche in Jerusalem pilgern wolle. Polkehn, Klaus: Wilhelm II. in Konstantinopel. Der politische Startschuß zum Bau der Bagdadbahn, in: Jaschinski, Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des Kaisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002, S. 61. (Im Folgenden: Polkehn: Wilhelm II. in Konstantinopel 2002.) 26 Vizekönigs.65 Zudem erzeugten die Avancen des Kaisers bald ernsthafte Verstimmungen bei den übrigen europäischen Mächten.66 Er schenkte diesen Schwierigkeiten jedoch ebensowenig Aufmerksamkeit wie der Tatsache, daß seine Zusagen gegenüber dem Sultan auch bei einigen Kreisen im Deutschen Reich auf Kritik stießen.67 Unbeirrt ging Wilhelm dazu über, deutsche Unterstützung für das krisengeschüttelte Reich anzubieten. Dazu gehörten sowohl wirtschaftlicher Aufbau als auch die Entsendung von Militärs als Instrukteure für die osmanische Armee, auf deren Auswirkungen noch zurückzukommen sein wird.68 Ein richtiggehendes Bündnis zwischen beiden Staaten wurde aber weiterhin nicht angestrebt, was neben politischer Vorsicht auch an einer persönlichen Antipathie gegenüber dem Sultan gelegen haben mag.69 Der regierende Herrscher der Osmanen, Sultan Abdul Hamid II., war einer allgemeinen Annäherung an das Deutsche Reich nicht abgeneigt, da ein solches 65 1881 entbrannte in Ägypten ein Aufstand gegen den Sultan, den Großbritannien nutzte, um 1882 das Vizekönigreich am Nil quasi zu annektieren und zum britischen Protektorat zu erklären. Siehe Majoros/Rill, Osmanisches Reich, S. 348; Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990, S. 593; Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S 242. 66 Besonders Frankreich und Russland reagierten empfindlich auf die Kaiserreise, während Großbritannien keine wirtschaftliche Bedrohung durch Deutschland in Palästina sah. Gründer, Horst: Die Kaiserfahrt Wilhelms II. ins Heilige Land 1898 – Aspekte deutscher Palästinapolitik im Zeitalter des Imperialismus, in: Ders. u.a. (Hrsg.): Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus – Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag am 30. Januar 1982, Münster 1982, S. 372-374. (Im Folgenden: Gründer, Die Kaiserfahrt 1982.) 67 Der Kaiser war besonders zu Theodor Herzl und zur zionistischen Bewegung, die Kolonisierungsund Protektoratspläne für Palästina hatte, auf Distanz gegangen. Auch die Idee, Territorien ohne zionistischen Hintergrund aus dem Osmanischen Reich herauszulösen und als deutsche Kolonien einzurichten, waren nach der Reise des Kaisers praktisch endgültig in das Reich der Phantasie verbannt. Vgl. dazu Jaschinski: Des Kaisers Reise 2002, S. 31f. und Schoeps, Julius H.: Theodor Herzls Palästina-Reise und die Vision des Judenstaates in seinem Roman „Altneuland“, in: Jaschinski, Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des Kaisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002, S. 79f. Genauere Ausführungen zu Theodor Herzls Bemühungen und deren Scheitern bei: Meier, Axel: Die kaiserliche Palästinareise 1898 – Theodor Herzl, Großherzog Friedrich I. von Baden und ein deutsches Protektorat in Palästina, Konstanz 1998. Die alldeutsche und christlich-nationale Siedlungspolitik im Nahen Osten erfuhr ebenfalls keine große Unterstützung. Die Kaiserreise machte vielmehr deutlich, daß „Deutschland sich keine Interessen im Orient schaffen werde“. Fuhrmann, Malte: Der Traum vom deutschen Orient – Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 156f. Gründer, Kaiserfahrt 1982, S. 380f. 68 Siehe unten, Kapitel II.1.b) und c). 69 Nach den Armeniergreueln das Jahres 1894 hatte Wilhelm den Sultan Abdul Hamid II. als „ekelhaften Menschen“ bezeichnet und sogar seine Absetzung befürwortet. Jaschinski: Des Kaisers Reise 2002, S. 30. 27 Engagement in der Türkei mit großer Wahrscheinlichkeit den Einfluß der anderen europäischen Mächte zurückdrängen würde. Durch den entstehenden Konkurrenzkampf hoffte er den politischen und wirtschaftlichen Druck von der Hohen Pforte ablenken zu können.70 Allerdings legte er keinen Wert auf einen weiteren Vertrag, der sein Reich an eine westeuropäische, christliche Großmacht binden würde. Die Geschichtsschreibung sieht in diesem Sultan einen paranoiden Tyrannen, der überall Verrat und Intrige witterte und versuchte, diese Befürchtungen durch eine dichtes Netz eigener Spione zu neutralisieren,71 ein Umstand, der sich besonders auf militärischem Gebiet verheerend auswirken sollte, aber sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch seine Wirkung nicht verfehlte. Die diplomatischen Kontakte blieben daher trotz der veränderten Akzentuierung der deutschen Außenpolitik auf bestimmte Gebiete begrenzt und wurden von türkischer Seite zum Teil sehr mißtrauisch beobachtet.72 Die nicht zuletzt durch das Verhalten des Sultans angespannte innenpolitische Situation in den osmanischen Gebieten73 entlud sich schließlich in der sogenannten „Jungtürkischen Revolution“ (1908).74 Schon 1889 hatten türkische Offiziere, die überwiegend im europäischen Teil des Reiches stationiert waren, eine Gesellschaft gegründet, die wenig später unter der programmatischen Benennung „Komitee für Einheit und Fortschritt“ bekannt werden 70 sollte.75 Unzufrieden mit der Zudem hatte Kasier Wilhelm II. bereits deutlich gemacht, daß ihm an einer Kolonialisierung von türkischem Gebiet nichts gelegen sei und war damit in den Augen des Sultans ein „ungefährlicherer“ Partner. Ahmad, Feroz: The Late Ottoman Empire, in: Kent, Marian (Hrsg.): The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984, S. 11. (Im Folgenden: Ahmad, Late Ottoman Empire 1984.) 71 Emin, Ahmed: Turkey in the World War, New Haven 1930, S. 32f. (Im Folgenden: Emin, Turkey 1930.); Majoros/Rill, Osmanisches Reich, S. 340 und S. 351. Diese Einschätzung wird von Matuz relativiert. Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 235. 72 Zu den starken Auswirkungen des hamidischen Systems auf militärischem Gebiet siehe unten, S. 52f. 73 Seit dem Berliner Kongress von 1878 und der Unabhängigkeit der Balkanstaaten war es nicht friedlich im Osmanischen Reich geblieben. Ständig kam es zu Unruhen, Aufständen oder bewaffneten Konflikten, die den Einsatz von Truppen erforderten. Zum Beispiel: 1888 Aufstand auf Kreta, 1895/96 blutige Ausschreitungen von und gegen Armenier in Istanbul, 1897 griechisch-osmanischer Krieg. Eine übersichtliche Chronologie bietet: Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 306f. 74 Der Begriff „Jungtürken“ wurde von westeuropäischen Zeitungen und Journalisten geprägt und wurde zum Inbegriff für die regierenden Politiker im Osmanischen Reich bis zum Waffenstillstand 1918. Hale, William: Turkish Politics and the Military, London/New York 1994, S. 36. (Im Folgenden: Hale, Turkish Politics 1994). Zu den Anfängen der „jungtürkischen Bewegung“ siehe Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 249-251. 75 Hale, Turkish Politics 1994, S. 30. Diese Gruppe ist aber nur ein Teil der als „jungtürkische Bewegung“ bekannten politischen Gruppierungen und Gesellschaften, welche an der Revolution 28 Alleinherrschaft des Sultans und der sozialen und wirtschaftlichen Lage76 arrangierte diese Gruppe schließlich mit Waffengewalt die Wiederinkraftsetzung der liberaleren Verfassung von 1876 und die Schaffung eines Parlamentes in Konstantinopel.77 Dadurch sollte das marode Staatswesen modernisiert und vor dem drohenden Zerfall bewahrt werden. Der Sultan blieb vorläufig im Amt, konnte sich aber mit der Beschneidung seiner Machtbefugnisse nicht abfinden, und so versuchten schon im April 1909 konservative Kreise eine Gegenrevolution, um Parlament und Verfassung auszuhebeln. Da die Armee aber mehrheitlich hinter den jungtürkischen Offizieren stand, wurde dieser Versuch niedergeschlagen. In der Folge wird Sultan Abdul Hamid II. endgültig abgesetzt und durch seinen Bruder Mehmed V. Reshad ersetzt.78 Österreich-Ungarn nutzte die innenpolitischen Wirren, um Bosnien und die Herzegowina79 offiziell zu annektieren, Griechenland nahm Kreta in Besitz und in Bulgarien erklärte König Ferdinand von Coburg-Koháry die volle Souveränität des Königreichs.80 Die reale Macht in Konstantinopel lag nun bei der neuen „jungtürkischen Partei“, die das Parlament und den Sultan weitgehend entmachteten und auf repräsentative beteiligt waren, wenn auch diejenige mit den radikalsten und bekanntesten Zielen. Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S.7. 76 Einer der Mißstände, die auch noch im Ersten Weltkrieg wiederholt moniert werden, ist die unregelmäßige oder gänzlich ausbleibende Bezahlung der Soldaten und Offiziere. Siehe unten, S. 54f. u. 306f. 77 Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches 1990, Anhang „Chronik der Ereignisse bis zum Untergang des Osmanischen Reiches“, S. II. Im Jahre 1876 hatte sich Abdul Hamid II. bereit erklärt, anlässlich seines Regierungsantritts eine Verfassung anzunehmen. Der Sultan reagierte damit auf innenpolitischen Druck von hochrangigen Reformern, die vor allem gegen die „Willkürherrschaft“ von Bürokraten, Richtern und Adeligen unter schwachen Sultanen vorgehen wollten. Daher enthielt das Verfassungswerk zwar parlamentarische Elemente (ein vom Volk gewähltes Abgeordnetenhaus und einen vom Sultan bestimmten Senat) sowie eine rechtliche Festsetzung von Grundrechten osmanischer Bürger (z.B. Petitionsrecht, Handelsfreiheit, Steuergerechtigkeit, etc.). De facto war die Position des Sultans durch die Verfassung gleichzeitig so gestärkt worden, daß er viele der Rechte und Freiheiten einschränken oder zumindest in seinem Sinne beeinflußen konnte. Kaum zwei Jahre (Februar 1878) später löste Abdul Hamid II. das Parlament wieder auf und setzte damit die Verfassung außer Kraft. Kraelitz-Greifenhorst, Friedrich von : Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, Leipzig 1909. S. 6f. Der Gesetzestext in neurer Edition ist abgedruckt in: Hirsch, Ernst: Die Verfassung der Türkischen Republik, Frankfurt am Main/Berlin 1966, S. 195-206. 78 Neulen, Hans Werner: Feldgrau in Jerusalem - Das Levantekorps des kaiserlichen Deutschland, München 22002, S. 23f. (Im Folgenden: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002.) 79 Seit dem Berliner Kongreß 1878 standen diese Gebiete bekanntlich unter habsburgischem Mandat, gehörten aber formell noch zum osmanischen Staatsgebiet. 80 Hale, Turkish Politics 1994, S. 38f. Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches, Anhang „Chronik der Ereignisse bis zum Untergang des Osmanischen Reiches“, S. II. 29 Aufgaben beschränkten.81 Für die Beziehung zum Deutschen Reich war die Revolution bedeutsam, da sich jetzt erstmals die politische Gruppe durchsetzen konnte, die im Ersten Weltkrieg hauptverantwortlich für das Bündnis zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich zeichnete. Die neuen politischen Entscheidungsträger strebten aber keineswegs von vorneherein eine enge Anlehnung an das Deutsche Reich an. Zunächst einmal geriet die deutsche Regierung eher in Mißkredit, da sie mit Abdul Hamid II. eng zusammengearbeitet hatte und zudem mit der Habsburgermonarchie, einem alten Gegenspieler der Türkei, verbündet war.82 Sicherlich stellten die durch deutsche Militärs ausgebildeten Offiziere unter den „Jungtürken“ eine große Gruppe, aber zahlreiche Mitglieder des Parlamentes und der Regierung waren zivile Würdenträger, die sich eine fortwährende Einmischung des Militärs in die Politik verbaten. Außerdem gab es auch unter den Offizieren Vertreter eines „unionistischen Ansatzes“ und andere, die dem liberal-bürgerlichen Lager näher standen. Die „Unionisten“ strebten eine stärkere Einflußnahme des Militärs auf die zivilen Staatsorgane an und verfolgten zugleich türkisch-nationalistische Ziele wie die „Turkisierung der Fremdvölker“ im Osmanischen Reich und im Kaukasus.83 Von einer einheitlichen politischen Bewegung, wie sie gerne von den neuen Machthabern propagiert wurde, kann also keine Rede sein, ebensowenig von der Schaffung einer stabilen Regierung. Denn die „Revolutionäre“ übernahmen mit den beiden Großwesiren84 Said und Kamil Pascha sowie dem Außenminister Tefvik Pascha zunächst einige der wichtigen Stützen des alten osmanischen Regimes.85 Die bisherige Idee des „Osmanismus“, die interessanterweise auch in der wieder in Kraft getretenen Verfassung von 1876 festgeschrieben war86, lebte im neugeschaffenen Parlament weiter. Diese Ideologie hatte die Erhaltung des Vielvölkerstaates und 81 Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 352f. Hale, Turkish Politics 1994, S. 41. Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 177. Hallgarten, George F.: Imperialismus vor 1914 – Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg, Band II, München 21963, S. 102. (Im Folgenden: Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band II) 1963.) 83 Diese expansionistischen Bestrebungen sind wesentlicher Teil der „panturanistischen“ Ideologie, siehe Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 8. 84 Hierbei handelt es sich um eine Art türkischen „Ministerpräsidenten“, den höchsten staatlichen Beamten im Osmanischen Reich. Zur Begriffsklärung siehe Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 88f. 85 Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 7. 86 Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 342. 82 30 zugleich eine Form der Identitätsstiftung mit Hilfe von politischen Zugeständnissen und Mitbestimmungsrechten der ethnischen Gruppen zum Ziele.87 Hingegen verfolgten die „Jungtürken“ stark türkisch-nationalistische Absichten. Erstmals in der Geschichte der Türkei wurde durch politische Kräfte die Vorherrschaft eines Volkes, nämlich der Türken, über die arabischen, armenischen, griechischen und vielen anderen Völkerschaften des Reiches gefordert. Diese Ideologie des „Turanismus“ oder auch „Panturanimsus“ schloß die Turkvölker ein, die im Kaukasus und damit im Russischen Reich lebten. Diese ideologisch-ethnische Verklammerung sollte im multiethnischen Osmanischen Reich identitätsstiftend wirken, trug zugleich aber expansionistische Züge88, eine Politik, die sich 1918 noch gravierend auf die deutschtürkischen Beziehungen auswirken sollte. Der neue Nationalismus der „jungtürkischen Bewegung“ besaß gegenüber dem „Osmanismus“ allerdings eine größere Anziehungskraft und schon bald wandten sich mehr und mehr türkische Politiker von „osmanistischen Ideen“ ab.89 Während auf innenpolitischer Ebene in Konstantinopel sehr viel Bewegung herrschte, blieben in den diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei entscheidende Veränderungen aus. Zwar waren auf wirtschaftlichem und militärischem Sektor weitere Kooperationen angelaufen, aber zu einem formellen Bündnis konnte sich weder Berlin noch die Hohe Pforte entschließen. Stattdessen sollten sich die politischen Kontakte in den kommenden Jahren merklich abkühlen. Ende September 1911 erklärte Italien dem Osmanischen Reich den Krieg und besetzte dessen nordafrikanische Besitzungen in Tripolitanien und auf der Cyrenaika. Durch diese unprovozierte Aggression verlor Konstantinopel, nachdem Ägypten unter britisches Mandat gekommen war, auch seine letzten afrikanischen Besitzungen.90 Das Deutsche Reich verhielt sich bei dieser Aktion Italiens neutral, 87 Expansionistische Tendenzen treten weitgehend in den Hintergrund, während Besitzstandwahrung und Stärkung durch innere Einheit die Primärziele bilden. Matuz, Das Osmanische Reich S. 250. 88 In gewisser Weise enthält diese Ideologie ähnliche Merkmale wie das nationalistische Gedankengut in Europa. Siehe hierzu: Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000. Schieder, Nationalismus 1991, S. 113-127. 89 Hale, Turkish Politics 1994, S. 37. 90 Hale, Turkish Politics 1994, S. 42. Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 353. Immanuel, Friedrich: Der Balkankrieg 1912 - Erstes Heft. Vorgeschichte-Streitkräfte-Kriegschauplatz, Berlin 1913, S. 25f. (Im Folgenden: Immanuel, Balkankrieg I 1913.) 31 denn offiziell war Italien Mitglied des Dreibundes mit Österreich-Ungarn und Deutschland. Trotz der bisherigen militärischen Zusammenarbeit mit der Armee des Sultans erschien es der Wilhelmstrasse eher geboten, den italienischen Bündnispartner nicht zu verärgern, zumal Russland, Großbritannien und Frankreich nicht in den Krieg eingriffen, aber indirekt in ihrer Kolonialpolitik betroffen waren. Für die deutsche Außenpolitik schien dies wichtiger als eine Parteinahme zugunsten eines Landes, dessen wirtschaftlicher Nutzen und militärischer Wert ziemlich gering eingeschätzt wurde. Das geflügelte Wort vom „kranken Mann am Bosporus“ machte schon länger die Runde durch Europa und die bisherigen Erfahrungen mit dem osmanischen Staatsapparat hatten eher dazu beigetragen, dieses Bild noch zu untermauern. Die Regierung in Konstantinopel nahm dem Land des „Freundes von 300 Millionen Mohammedanern“ diese Zurückhaltung dagegen recht übel. Im Juli 1912 zwang die von liberalen Offizieren gegründete „Freiheits- und Einigkeitspartei“ den Großwesir Said Pascha und damit schließlich die jungtürkische Regierung zum Rücktritt. Nach dem anschließenden Sieg der Liberalen bei den Parlamentswahlen wurde der „Turkifizierungsprozeß“ im Osmanischen Reich angehalten.91 Die Position derjenigen, die eine engere Anbindung an das Deutsche Reich forderten, war dadurch stark geschwächt worden. Schon Anfang Oktober 1912 und noch vor Abschluß eines Friedensvertrages mit Italien erklärten die Balkanstaaten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro der Hohen Pforte den Krieg.92 Die verheerende Niederlage der osmanischen Truppen kostete das Reich beinahe alle seine verbliebenen Besitzungen auf dem Balkan und damit auf dem europäischen Festland93 und zudem immense Verluste an Menschen und Material.94 91 Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches, Anhang „Chronik der Ereignisse bis zum Untergang des Osmanischen Reiches“, S. III. 92 Zur Ereignisgeschichte des Ersten und Zweiten Balkankrieges siehe Immanuel, Friedrich: Der Balkankrieg 1912/13, 5 Bde., Berlin 1913-1914. Unter Kapitel II.2.a wird noch genauer auf die Auswirkungen auf die militärische Zusammenarbeit einzugehen sein. 93 Die im Mai 1913 in London per Friedensvertrag festgelegten europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches umfaßten nur etwa die Hälfte der westlichen Territorien der heutigen Türkei. Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 256. 94 Genaue Zahlen für die türkischen Verluste liegen nicht vor. Jedoch gibt Immanuel allein 90.000 Gefangene an. Für die Seite der Kriegsgegner werden an Toten und Verwundeten etwa 117.000 Mann angegeben. Immanuel, Friedrich: Der Balkankrieg 1912/13 - Viertes Heft. Der Krieg vom 32 Damit war die Hohe Pforte nicht nur militärisch, sondern auch politisch erheblich geschwächt. Selbst dem letzten deutschen Befürworter einer Allianz mit dem Osmanischen Reich lag dessen Schwäche deutlich vor Augen. Dieses Desaster nutzten einige führende Köpfe des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, um per Handstreich die Regierung an sich zu reißen. Friedensverhandlungen der liberalen Regierung unter Großwesir Kamil Pascha hatten zu Gerüchten geführt, daß Konstantinopel bereit sei, Adrianopel95 an Bulgarien abzutreten, was neben dem strategischen Verlust einen weiteren erheblichen Gesichtsverlust bedeutet hätte.96 Am 23. Januar 1913 ergriff eine Gruppe von Politikern und jungen Offizieren, angeführt von Enver Bey und Talaat Bey, die Initiative, stürmte die Büroräume des Großwesirs und zwang ihn unter Gewaltandrohung zum Rücktritt.97 Bei diesem Staatstreich wurde der osmanische Kriegsminister Nazim Pascha erschossen.98 Die genauen Umstände der Ermordung des Kriegsministers liegen im Dunkeln, aber unter den deutschen Soldaten kursierte während des Weltkrieges das Gerücht, daß der spätere Kriegsminister Enver Pascha selbst der Täter gewesen sei.99 Die Auswirkungen auf das deutsch-türkische Verhältnis waren trotz der gewaltsamen Umstände, die den Deutschen Kaiser sehr verärgerten und die persönlichen Beziehungen zu Enver eine Zeit lang belasteten100, positiver Natur. Die liberale und eher entente-freundliche Regierung wurde durch eine germanophilere Regierung unter General Mahmut Schevket Pascha als Großwesir und Kriegsminister ersetzt.101 Wiederbeginn der Feindseligkeiten im Februar 1913 bis zum vorläufigen Friedensschluß im Mai 1913., Berlin 1913, S. 73f. (Im Folgenden: Immanuel, Balkankrieg IV 1913.) Unter Berücksichtigung der desaströsen Niederlagen in Kombination mit Epidemien, hervorgerufen durch die unzureichenden hygienischen und logistischen Verhältnisse im osmanischen Heer, wird die Zahl jedoch mindestens genauso hoch zu veranschlagen sein. 95 Der heutige Name lautet Edirne. 96 Hale, Turkish Politics 1994, S. 43. 97 Erickson, Edward J.: Ordered to Die - A History of the Ottoman Army in the First World War, Westport 2001, S. 3. (Im Folgenden: Erickson, Ordered to Die 2001.) 98 Hale, Turkish Politics 1994, S. 45. 99 Euringer, Richard, Vortrupp „Pascha“ - Roman der ersten Expedition deutscher Flieger in die Wüste, Berlin 1937, S. 70f. (Im Folgenden: Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937.) 100 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 18f. 101 Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 356. 33 Als auch dieser im Juni 1913 einem Attentat zum Opfer fiel102, wurde der ägyptische Prinz Said Halim Pascha, ein Mitglied des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, zum Großwesir ernannt. Jedoch lag ein Großteil des politischen Einflusses und der Macht bei den drei führenden Köpfen des Komitees: Enver Bey, Talaat Bey (nunmehr Innenminister) und Djemal Bey.103 Von diesen insgesamt vier mächtigsten Männern im Osmanischen Reich waren drei (Said Halim, Enver, Talaat) Befürworter einer Annäherung an den Dreibund, der 1913 offiziell noch immer existierte. Lediglich Djemal sah größere Chancen in der Kooperation mit Frankreich und der Entente, vor allem weil er sich so einen größeren Schutz vor Russlands Ambitionen erhoffte.104 Das Deutsche Reich hielt sich hingegen auf der politischen Bühne zurück. Schon nach dem italienisch-türkischen Krieg in Nordafrika war erste Kritik an der deutschosmanischen Zusammenarbeit, besonders auf militärischem Gebiet, laut geworden. Nach der Niederlage im Ersten Balkankrieg konnten sich ehemalige Militärreformer vor harscher Kritik in der Presse kaum retten.105 Besonders die Arbeit des berühmten und im Osmanischen Reich sehr geachteten Colmar Freiherr von der Goltz war Ziel solcher Attacken. In einem Brief an den Kommandierenden General des IV. osmanischen Armeekorps Pertev Pascha schreibt er resignierend: „Für die große Welt hat der geschlagene Feldherr immer Unrecht.[...] Mich hat meine Erfahrung eine grenzenlose Verachtung alles dessen gelehrt, was öffentliche Meinung und Urteil der Welt genannt werden kann.“106 Für das deutsche Ansehen bei den europäischen Großmächten, das zu einem großen Teil auf der Einschätzung der militärischen Stärke des Reichs beruhte, war es wichtig, die Zusammenarbeit mit der Türkei auf diesem Sektor dennoch fortzusetzen. Ein Abzug deutscher Militärberater wäre einem Eingeständnis des Scheiterns der Militärhilfe gleichgekommen, was zu einer deutlichen Schwächung der politischen 102 Nach kurzem Waffenstillstand fiel nach Wiederaufnahme der Kämpfe am 28. März 1913 Adrianopel. Am 10. Juni 1913 wurde im Vertrag von London neben großen Gebietsverlusten auf dem Balkan auch die Übergabe der Stadt an Bulgarien festgeschrieben. Dieser für die Türkei sehr unvorteilhafte Friedensschluß sorgte für die gravierende Unzufriedenheit, die in dem Anschlag auf den Großwesir mündete. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 3. 103 Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 256f. 104 Vgl. Ebenda, S. 257 und Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 19. 105 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 119. 106 Brief Goltz Pascha an Pertev Pascha vom 4.1.1913, BAMA Freiburg, N 737/ 11. 34 Position Deutschlands im Nahen Osten beigetragen hätte. So war man in Berlin bemüht, die Schuld an dem Versagen der osmanischen Armee bei den Türken selbst zu suchen, während die Diplomaten zugleich versuchten, den sensiblen Partner am Bosporus dem Reich gewogen zu halten.107 Ein formelles Bündnis mit dem Osmanischen Reich kam für das Deutsche Reich aber weiterhin nicht in Frage. Zu groß waren die Spannungen zwischen der Hohen Pforte und den anderen Mitgliedern des Dreibundes Österreich-Ungarn und Italien. Zu groß war auch die Furcht davor, die im Orient engagierten Großmächte zu bedenklichen Reaktionen zu provozieren. So blieb es bei der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung für Konstantinopel bei möglichst weitgehender politischer Zurückhaltung, wie schon in den Jahren vor der „jungtürkischen Revolution“.108 Die jungtürkische Regierung hatte derweil noch mit der Niederlage und den daraus resultierenden politischen Spannungen sowie der Integration der Flüchtlingsmassen aus den ehemaligen Balkanbesitzungen zu kämpfen. Deutsche Hilfen waren willkommen, aber deutsche Einmischung in die Politik nicht, auch weil kein Mitglied der Regierung wirklich mit voller Unterstützung einer der Großmächte rechnete, die trotz Zusicherung der Wahrung des status quo am Bosporus untätig blieben, als sich die Truppen der Balkanstaaten bedrohlich der osmanischen Hauptstadt näherten.109 Noch während in Berlin und Konstantinopel die Folgen des Ersten Balkankrieges analysiert wurden, zerbrach Ende Juni 1913 die Allianz der Sieger über die Türkei an der mazedonischen Frage. Bulgarien wollte seinen Machtbereich durch Einverleibung Mazedoniens zu einem „großbulgarischen Reich“ ausdehnen. Serbien und Griechenland waren hingegen selbst an mazedonischen Gebieten interessiert, während Rumänien durch einen Sieg über Bulgarien auf eine Annexion der Dobrudscha hoffte. Die geschlagene Türkei sah in dieser Wendung die Gelegenheit, zumindest Teile ihres europäischen Besitzes zurückzugewinnen und eine Pufferzone zwischen Westgrenze und Hauptstadt zu errichten.110 Der sehr kurze Zweite Balkankrieg endete mit der Niederlage Bulgariens. Die osmanischen Truppen konnten im Verlauf der Kampfhandlungen Adrianopel zurückerobern und im 107 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 121. Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 171. 109 Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 15. 110 Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 259. 108 35 Friedensschluß mit Bulgarien wurde die Westgrenze des Reiches auf die MaritzaLinie festgelegt.111 Dieser militärische Erfolg gab der Regierung des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ vorerst die nötige Sicherheit, um (weitgehend) ohne Furcht vor neuen Putschversuchen oder Attentaten handeln zu können. Oberstleutnant Enver Bey, der im Zweiten Balkankrieg Adrianopel zurückgewann, genoß hohe Popularität. Im Januar 1914 wurde er zum Generalmajor und Pascha sowie zum Kriegsminister ernannt.112 Von da an bestimmte er wesentlich die außenpolitischen Beziehungen und konnte später auch das Bündnis mit den Mittelmächten gegen den Widerstand zahlreicher türkischer Politiker durchsetzen.113 Doch zunächst nutzte Enver den günstigen Ausgang des Zweiten Balkankrieges, um die deutsch-türkischen Beziehungen zu vertiefen. Von einem Rückzug des deutschen Engagements aus dem Osmanischen Reich war nun keine Rede mehr. Im Gegenteil, die militärische Zusammenarbeit erreichte durch die Berufung einer offiziellen Militärmission unter Generalleutnant Otto Liman von Sanders Ende 1913 einen Höhepunkt, an dem Enver offenbar stark mitgewirkt hatte.114 Obgleich diese Militärmission ein Politikum war und die Position des deutschen Generals Liman von Sanders zu diplomatischen Unstimmigkeiten und einer schweren Krise mit Russland führte, ist in der Entsendung noch nicht der Grundstein für die spätere deutsch-türkische Allianz zu sehen. In der türkischen Regierung gab es gewichtige Stimmen, wie die des Marineministers Djemal Pascha oder des Finanzministers Djavid Bey, die für eine Anlehnung an die Entente plädierten. Noch im Juli 1914 wurden von der Hohen Pforte Bündnisvorschläge an Frankreich und 111 Diese entspricht der heutigen Westgrenze der Türkei. Zum genauen Verlauf der Friedensverhandlungen: Immanuel, Friedrich: Der Balkankrieg 1912/13 - Fünftes Heft (Schlußheft). Der zweite Balkankrieg im Juli 1913, Berlin 1914, S. 90-95. 112 Hale, Turkish Politics 1994, S. 45. 113 Zu den genaueren Umständen des Beitritts der Türkei zum Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn siehe Kapitel II.2.c. 114 Petter, Wolfgang: Die deutsche Militärmission im Osmanischen Reich, in: Jaschinski, Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des Kaisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002, S. 89. Im Vergleich dazu sieht J. Wallach eine Beteiligung Envers weniger deutlich, sondern rückt auch deutschen Druck zur Entsendung dieser Mission ins Blickfeld. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 126f. 36 Großbritannien übermittelt. Sogar mit dem „Erzfeind“ Russland verhandelte man, doch überall wurde der Türkei eine mehr oder weniger unhöfliche Abfuhr erteilt.115 Ebenso versuchte man zwar von deutscher Seite fortwährend, die Beziehungen nach Konstantinopel zu verbessern, an ein Bündnis dachte die Regierung in Berlin allerdings erst, als der Krieg in Europa praktisch unausweichlich war. Die hektischen Bemühungen Deutschlands um weitere Verbündete, ebenso die Angst der Türkei ohne wirkliche Unterstützung einer Kriegspartei zum Spielball der Mächte zu werden, führten im August 1914 schließlich zum Abschluß eines ersten Vertrages zwischen den beiden Staaten.116 b) Die wirtschaftlichen Beziehungen Im Unterschied zu den teilweise bereits seit Jahrhunderten bestehenden wirtschaftlichen Verbindungen der europäischen Mächte Frankreich und Großbritannien zur Hohen Pforte konnte das Deutsche Reich als „junge Nation“ keine Beziehungen ähnlichen Ausmaßes vorweisen. Zugleich war Deutschland eine aufstrebende bedeutende Industriemacht, die Betätigungsfelder und Märkte suchte. Da im Osmanischen Reich durch die bereits erwähnten „Kapitulationen“ der Tätigkeit ausländischer Investoren und Kaufleute kaum Grenzen gesetzt waren, hatte beinahe jedes Land dort starke wirtschaftliche Handelsinteressen. Diese tradierten Verträge, die bereits seit dem 16. Jahrhundert die Form von „Kapitulationen“ hatten, besagten im Wesentlichen: 1) Die Freiheit des Handelsverkehrs war festgelegt, indem man ausländischen Kaufleuten Schutz vor osmanischen Kontrollen ihrer Schiffe gewährte, Ausnahmen vom Strandrecht und die Festlegung der Zölle regelte. Neben der Tatsache, daß die 115 Die Entente versprach sich einen größeren Vorteil von einer neutralen Türkei. Vor allem fürchtete man sich vor der Notwendigkeit, zu große Zugeständnisse an die Hohe Pforte machen zu müssen, die man lieber „kontrollierte“, als sie als Bündnispartner anzuerkennen. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 20. Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 262. Emin, Turkey 1930, S. 6971. Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 15. 116 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 21f. Auf die genauen Umstände des Kriegseintritts wird an späterer Stelle eingegangen. Siehe Kapitel II.2.c. 37 Hohe Pforte Ausländern gewichtige zollpolitische Ausnahmeregelungen eingeräumt hatte, waren zusätzlich noch Immunitäten in der Steuerpolitik zugestanden worden. Der größte Teil des Geldes, das in türkischem Staatsgebiet von ausländischen Händlern erwirtschaftet wurde, floß unangetastet aus dem Reich ab. 2) Die durch die Kapitulationen begünstigten Ausländer unterstanden der Gerichtsbarkeit ihres eigenen Konsulats und zwar in Zivil- wie auch den meisten Strafsachen. Zivilklagen osmanischer Untertanen gegen ausländische Beklagte bedurften einer strengeren und komplizierteren Beweisführung. Strafsachen durften nur direkt von der Hohen Pforte verfolgt werden. 3) Die Angehörigen der jeweils vertragschließenden europäischen Nation durften ihre Religion im Osmanischen Herrschaftsgebiet frei ausüben. Behinderungen durch die türkischen Behörden waren untersagt.117 Auch das Königreich Preußen hatte 1761 einen solchen Vertrag mit dem Sultan geschlossen, dessen Gültigkeit für das Deutsche Reich 1890 bekräftigt wurde.118 Allerdings war das Deutsche Reich für die Türkei weder der wichtigste Handelspartner, noch hatten die osmanischen Importe vor dem Kriege für Deutschland einen besonders hohen Wert.119 Im Jahre 1913 betrug der aus dem Osmanischen Reich nach Großbritannien ausgeführte Warenwert etwa das Vierfache des Handelsvolumens mit Deutschland. Umgekehrt führte das Deutsche Reich nur etwa für die Hälfte des britischen Warenwertes Güter in die Türkei aus, was für die 117 Overbeck, Kapitulationen 1917, S. 9-11. Emin, Turkey 1930, S. 112f. Overbeck, Kapitulationen 1917, S. 21-26. Der Autor versucht, die deutsch-türkischen Verträge als vorbildlich für den Umgang „zwischen voll- und gleichberechtigten Gliedern der Völkerrechtsgemeinschaft“ (S. 26) darzustellen. Die Artikel des Vertrages sind für das Osmanische Reich jedoch de facto kaum weniger benachteiligend als etwa die Verträge mit Frankreich oder Großbritannien, denn trotz der schwachen wirtschaftlichen Position Deutschlands im Mittelmeerraum, herrschte offensichtlich kein Gleichgewicht zwischen den Vertragspartnern, sondern eine einseitige Überlegenheit der europäischen Macht. Diese Realität spiegelte der Vertragstext selbstverständlich nicht wider. 119 Zwar nahm das Handelsvolumen gemessen am Warenwert zwischen 1888 und 1913 deutlich zu, aber insgesamt blieb es hinter dem gewünschten Niveau zurück. Türk, Fahri: Die deutsche Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften zwischen 1871 und 1914 – Die Firma Krupp, die Waffenfabrik Mauser und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, Frankfurt am Main (u.a.) 2007, S. 20f. (Im Folgenden: Türk, Türkeigeschäfte 2007.) 118 38 Hohe Pforte ein Handelsdefizit bedeutete.120 Für die beiden späteren Verbündeten gab es demnach wichtigere Handelspartner, was den zivilen Handel angeht, ein Umstand, der nicht zuletzt auf die fehlenden Transportkapazitäten Deutschlands im Mittelmeer zurückzuführen war.121 Anders gestaltete sich die Situation, wenn man die Rüstungslieferungen, den Kapitalexport und vor allem die Investitionen in den Eisenbahnbau im Osmanischen Reich betrachtet. Die Türkei war im Vergleich zu den europäischen Großmächten ein industriell unterentwickelter Staat.122 Eine moderne Rüstungsproduktion, wie sie seit Abdul Hamid II. angestrebt wurde, fehlte beinahe völlig. Lediglich im Umfeld von Konstantinopel gab es einige Munitionsfabriken.123 Um die gewünschte Modernisierung der Armee durchführen zu können, wodurch die Hohe Pforte hoffte höheres außenpolitisches Ansehen zu erlangen und sich effektiv innenpolitischen Gegnern widersetzen zu können, war das Land auf Waffenimporte angewiesen. Ein Umstand, den sich das Deutsche Reich gerne zu nutzen machte. Schon im Zuge der Orientkrise in den 1870er Jahren hatte Alfred Krupp erste größere Rüstungsaufträge mit dem Osmanischen Reich abschließen können.124 Diese Form der wirtschaftlichen Beziehungen wurde von beiden Seiten bevorzugt ausgebaut, nicht zuletzt weil der Sultan den deutschen Beteuerungen glaubte, keine weitergehenden, politischen Interessen in seinem Herrschaftsbereich zu verfolgen. Die deutsche Industrie sicherte sich so wegen der vielen Konflikte im und gegen das Osmanische Reich einen ständigen Absatzmarkt und die Türkei konnte auf Waffen zurückgreifen, die seit dem deutsch-französischen Krieg (1870/71) einen sehr guten Ruf genossen. Eine aktiv fördernde Funktion in diesem Geschäft kam den preußischen/deutschen Militärangehörigen zu, die im Rahmen 120 verschiedener Verträge zu Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 10. Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 168. 122 Emin, Turkey 1930, S. 91f. 123 Zudem war die Leistungsfähigkeit besonders in der Produktion von Artilleriemunition noch 1915 stark eingeschränkt. Liman von Sanders, Otto: Fünf Jahre Türkei, Berlin 1920, S. 99. (Im Folgenden: Liman, Fünf Jahre Türkei 1920.) 124 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 32. Dieser Umstand hielt Krupp freilich nicht davon ab, auch Geschäfte mit den Balkanstaaten und anderen Protagonisten der Orientkrise abzuschließen. Kössler, Armin, Aktionsfeld Osmanisches Reich – Die Wirtschaftstinteressen des Deutschen Kaiserreiches in der Türkei 1871-1908 (Unter besonderer Berücksichtigung Europäischer Literatur), New York 1981, S. 107-113. (Im Folgenden: Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981.) 121 39 Instruktionszwecken nach Konstantinopel geschickt wurden. Der spätere Generalfeldmarschall von der Goltz Pascha hatte bereits 1889 im Rahmen seiner Tätigkeit in der Türkei darauf verwiesen, daß Geschäfte vor Ort meistens über persönliche Beziehungen zustande kämen.125 Die Militärinstrukteure besaßen derartige Beziehungen, wie Äußerungen Bismarcks zur „Nützlichkeit“ der sogenannten „Kaehler-Mission“126 gegenüber dem Fürsten zu Hohenlohe- Schillingsfürst127 im Jahre 1880 bestätigen.128 Allein in den Jahren von 1885 bis 1887 gingen aus Deutschland Waffenlieferungen im Wert von über 16 Millionen Reichsmark an den Bosporus; hierbei handelte es sich um den Kauf von 500.000 Gewehren und 50.000 Karabinern der Firmen Mauser und Loewe.129 Fortan bildete der Rüstungsexport eine der wichtigsten Stützen der Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Türkei. Im Jahre 1898 schreibt Hauptmann Morgen, der Militärattaché der deutschen Botschaft in Konstantinopel, nach Berlin: „[...] es darf daran erinnert werden, daß durch die Vermittlung der deutschen Militärmissionen in den Jahren 1885-1895 nicht weniger als 100 Millionen für Bestellungen an Kriegsmaterial (Torpedoboote, Feldartillerie, Küstengeschütze, Gewehre, Artillerie- und Infanterie-Munition) an Deutschland gegeben wurden.“130 Die Waffenexporte deutscher Firmen in die Türkei nahmen stetig zu, und die gleichzeitige Aufrüstung der Balkanstaaten machte eine weitere Aufrüstung der osmanischen Armee nötig. Die Rüstungsspirale in Südosteuropa und Kleinasien drehte sich unaufhörlich.131 Trotz verstärkten Konkurrenzkampfes mit englischen, amerikanischen und vor allem französischen Firmen konnten deutsche Firmen den größten Marktanteil auf dem militärischen Sektor behaupten.132 Die engeren Rüstungsbeziehungen ließen die Gesamthandelsbilanz der beiden Staaten bis 1905 enorm ansteigen.133 125 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 105. Zur „Kaehler-Mission“ (ab 1882) siehe unten, S. 49f. 127 1880 Staatsekretär des Auswärtigen Amtes. 128 Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 114. 129 Ebd., S. 121. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 105. 130 Zitiert nach: Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 248. 131 Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 167. 132 Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 266-268. 133 Die Türkei importierte das sechsfache an Warenwert im Vergleich zu 1888 und exportierte 1905 sogar das 22-fache des Warenwertes ohne jedoch zu einer ausgeglichenen Handelsbilanz zu kommen. Emin, Turkey 1930, S. 39 126 40 Die „jungtürkische Revolution“ tat den Waffenlieferungen höchstens kurzfristig Abbruch, denn die Beteiligung von Militärkreisen garantierte praktisch eine hohe Nachfrage. Allerdings war der deutsche Handelspartner offenbar nicht wirklich daran interessiert, den osmanischen Truppen zu modernster Bewaffnung zu verhelfen. Noch lange nach der Ausmusterung aus den Streitkräften des Deutschen Reiches wurden veraltete Gewehre Modell 1888 und ebenso veraltete Kanonen an die türkische Armee geliefert.134 Der größte Coup war in dieser Hinsicht der Verkauf von zwei überholten Linienschiffen der Brandenburg-Klasse an die osmanische Marine im Jahre 1910.135 Auch wenn man das Streben nach möglichst großem Gewinn zu Grunde legt, so verwundert es doch, daß die militärischen Entscheidungsträger im Deutschen Reich und die Deutschen im Osmanischen Reich, die angeblich so entscheidend an den Rüstungsgeschäften beteiligt gewesen sind, so wenig auf die Modernität achtgaben. Der Grund lag möglicherweise darin, daß wegen der vorsichtigen deutschen Außenpolitik ein Bündnis mit der Türkei nicht absehbar war. Bezeichnenderweise bot im Ersten Weltkrieg die Ausrüstung der Osmanen viel Anlaß zur Klage für die deutschen Offiziere.136 Die Aufrüstungsbestrebungen der Hohen Pforte hatten trotz solcher Unzulänglichkeiten dennoch einen hohen Preis. Für ein überwiegend agrarisch geprägtes Land, das von inneren Unruhen und verlorenen Kriegen geschüttelt wurde, dazu noch durch nachteilige Verträge keinen gravierenden Einfluß auf den gewinnträchtigen ausländischen Handel auf seinem eigenen Staatsgebiet nehmen konnte und das ständig befürchten mußte, in Konflikte mit den überlegenen europäischen Großmächten hineingezogen zu werden, waren solche Käufe ohne Kredit nicht finanzierbar. Die Verschuldung der Hohen Pforte bei überwiegend ausländischen Gläubigern – unter ihnen auch die Deutsche Bank – nahm schließlich 134 Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 269f. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 106. Es handelt sich um die „S.M.S. Kurfürst Friedrich Wilhelm“ und die „S.M.S. Weißenburg“ (beide Stapellauf 1891), die später unter den Namen „Haireddin Barbarossa“ bzw. „Torgut Reis“ unter osmanischer Flagge fuhren. Mühlmann, Carl: Das deutsch-türkische Waffenbündnis im Weltkriege, Leipzig 1940, S. 11f. (Im Folgenden: Mühlmann, Waffenbündnis 1940.) 136 Zur Ausrüstungsproblematik siehe auch unten, S. 136f. 135 41 derartige Ausmaße an, daß im Jahre 1881 alle türkischen Einnahmen der „Dette Publique Ottomane“ zugeführt werden mußten. Dieser Zusammenschluß aller Gläubiger des Osmanischen Reiches kontrollierte praktisch zur Gänze die bedeutenden Wirtschaftsprojekte und hier vor allem den Eisenbahnbau, der auf osmanische Konzessionen und finanzielle Unterstützung angewiesen war. Durch diese umfassende Kontrolle der Finanzen konnte die Verschuldung des Osmanischen Reiches bis zum Jahre 1898 um 240 Millionen Mark verringert werden. Allerdings geschah dies unter völliger Vernachlässigung türkischer Interessen. Durch den Entzug der finanziellen Mittel sah sich der Sultan gezwungen, weitere Geldquellen zu Lasten der Untertanen zu erschließen, was der politischen Stabilität des Landes nicht gerade förderlich war.137 Allein von den Einnahmen einer Sondersteuer der Hohen Pforte auf die Zehntabgaben und auf die Zölle gegenüber den Balkanstaaten gingen über 96% an die Krupp-AG.138 Zwischen 1881 und 1908 mußte sich die osmanische Regierung 51,5 Millionen Ltq139 (954,3 Millionen M) im Ausland leihen. Obwohl die direkten Steuern und Zölle für die osmanischen Untertanen weiter stiegen, reichten die Einnahmen nicht aus, um die enormen Ausgaben zu decken. Daher war schließlich auch die jungtürkische Regierung gezwungen, ihre Kriege durch ausländische Anleihen zu finanzieren und die Verschuldungspolitik der früheren Regierung fortzusetzen.140 Deutsche Gläubiger hielten 1881 einen Anteil von 4,7% an Schuldverschreibungen der Hohen Pforte. Der Prozentsatz stieg auf 12,1% im Jahre 1898 und 1907 auf 15,1%. Die Quote entsprach einem Gegenwert von 77 Millionen Ltq (1,43 Milliarden M).141 Die Finanzgeschäfte mit dem Osmanischen Reich setzten sich bis zum Beginn des Krieges ungemindert fort und sorgten für eine steigende Abhängigkeit der Türkei von Deutschland. Zugleich steigerte sich das Engagement Berlins zur Wahrung des 137 Zur Organisation der Schuldenverwaltung siehe: Hallgarten, George F.: Imperialismus vor 1914 – Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg, Band I, München 21963, S. 475f. (Im Folgenden: Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band I) 1963.) 138 Von 2,1 Millionen Ltq (38,9 Millionen M) sind das 2,02 Millionen Ltq (37,5 Millionen M). Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 279. 139 Ltq = türkisch Pfund (türk. Lira) 140 Die Gesamtsumme der Anleihen zwischen Juli 1908 und Juli 1914 betrug 46 Millionen Ltq (852,4 Millionen M). In Anbetracht des kürzeren Zeitraums bedeutet dies eine rapide steigende Verschuldung, wobei gleichzeitig der durchschnittliche Zinssatz der Darlehen von 4,1% auf 4,6% kletterte. Zur Verteilung der Staatsschulden siehe: Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 23f. 141 Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 168 und S. 174. 42 status quo am Bosporus – wenn auch nicht bis zur tatsächlichen militärischen Hilfe –, denn im Gebiet des Osmanischen Reiches lief seit den späten 1880er Jahren das wohl prestigeträchtigste Wirtschaftsunternehmen des Deutschen Reiches im Ausland: Der Bau der Baghdadbahn. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte der Eisenbahnbau eine immer größere Bedeutung gewonnen. Der Personen- und Güterverkehr ermöglichte auf einem Schienennetz höhere personale Mobilität, schnelleren Warenaustausch einschließlich einer steigenden arbeitsteiligen Produktion und schuf ungleich größere Transportkapazitäten als Pferdefuhrwerke oder andere Tiergespanne. Auch für die militärischen Operationen gewannen der Truppentransport auf der Schiene, der Transport schwerer Waffen und ihrer Munition sowie der Transport von Versorgungsgütern eine erhebliche Bedeutung. Das Kriegsbild des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde wesentlich dadurch beeinflußt.142 Diese Entwicklung war auch der Hohen Pforte nicht entgangen. Allerdings sah sich das Osmanische Reich finanziell und technisch nicht in der Lage, sein Territorium mit einem durchgehenden Schienennetz zu versehen.143 Lediglich einige kurze Strecken, denen höchstens eine regionale Bedeutung zugemessen werden konnte, verbanden wirtschaftlich interessante Orte im Reich. Diese Linien konzentrierten sich auf die türkischen Besitzungen auf dem Balkan, den west-anatolischen Teil des Reiches um Konstantinopel und Smyrna (Izmir) und den Bereich zwischen dem Golf von Alexandrette (Iskenderun) und Adana.144 Diese Trassen wurden alle von ausländischen Firmen erbaut oder zumindest betrieben, die zugleich das rollende Material lieferten, wobei hier in der Mehrzahl englische und französische Unternehmen involviert waren. Die beiden Großmächte bewarben sich auch seit 1863 um die Konzession für den Bau einer Bahnlinie, die quer durch das Osmanische 142 Eine Überblicksdarstellung der Eisenbahnentwicklung, mit besonderem Augenmerk auf der militärischen Nutzung findet sich bei: Fiedler, Siegfried: Taktik und Strategie der Einigungskriege 1848-1871, (Neudruck der Ausgabe Bonn 1991) Augsburg 2002, S. 139-142. 143 Lodemann, Jürgen und Pohl, Manfred: Die Bagdadbahn – Geschichte und Gegenwart einer berühmten Eisenbahnlinie, Mainz 1988, S. 3. (Im Folgenden: Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988.) 144 Ebd. und Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 126. 43 Reich vom Bosporus zum Persischen Golf führen sollte.145 Der Sultan zögerte jedoch, die Konzession zu erteilen, da beide Staaten unverhohlen eigene Interessen mit dem Bahnbau zu verfolgen schienen und überdies die positive Wirkung für das Osmanische Reich zweifelhaft war. Außerdem drohte dadurch größere finanzielle Abhängigkeit von den europäischen Großmächten.146 Das Deutsche Reich bot hier wegen der bismarckschen „Nichteinmischungspolitik“ eine mögliche Alternative. Schon Sultan Abdulaziz (1861-1876) versuchte daher, deutsche Investoren und Ingenieure für den Bau einer Eisenbahnstrecke von Haidar Pascha147 über Angora (Ankara) und Mosul nach Baghdad und schließlich nach Basra zu gewinnen. Obwohl ihm dies gelang, konnte bis zum Jahre 1875, als der türkische Staatsbankrott jede Weiterführung unmöglich machte, nur ein kleines Teilstück (93 km) von Haidar Pascha bis Ismid fertiggestellt werden.148 Auch Sultan Abdul Hamid II. bemühte sich nach der Thronübernahme 1876 um deutsche Beteiligung an einer Bahnlinie, die Konstantinopel mit Baghdad verbinden sollte. 1888 kam es schließlich zur Erteilung einer Konzession für den Bau, den Betrieb und die Verwaltung einer Bahnlinie an eine Investorengruppe unter Federführung der Deutschen Bank.149 Allerdings sollte sie zunächst nur von Haidar Pascha bis Angora führen. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten, die sowohl mit der Finanzierung des Projektes als auch dem eigentlichen Bau zu tun hatten, konnte 145 Die wichtigsten Parteien sind hier eine französische Investorengruppe um Collas und die englischfanzösische Bankgruppe der Banque Ottomane, die zugleich sehr vorteilhafte Beziehungen zur bereits erwähnten „Dette Publique Ottomane“ unterhielt. Sıtkı, Bekir: Das Bagdad-Bahn-Problem 1890-1903, Freiburg i. Br. 1935, S. 18. (Im Folgenden: Sıtkı, Bagdad-Bahn-Problem 1935.) 146 Ebd., S. 16. Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 134. 147 Ein damals noch wenig ausgebauter Handelshafen im Süden von Konstantinopel an der asiatischen Küste des Marmarameeres. 148 Für diesen Bau zeichnete hauptsächlich die türkische Regierung selbst verantwortlich, die den österreichischen Ingenieur Wilhelm Pressel zu diesem Zweck anstellte. Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 126. Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 4. Sıtkı, Bagdad-BahnProblem 1935, S. 17. Paul Butterfield schreibt hingegen, daß für den Bau eine französische Firma verantwortlich gewesen wäre, während die türkische Regierung den Betrieb bis 1880 geführt hätte, bis eine englische Firma diese Strecke übernahm. Butterfield, Paul K.: The Diplomacy of the Bagdad Railway 1890-1914, Göttingen 1932, S. 10. 149 Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 142. An dieser Konzession sollen ursprünglich auch englische Investoren beteiligt gewesen sein. Jastrow, Morris (jr.): The War and the Bagdad Railway – The story of Asia Minor and its relation to the present conflict, Philadelphia/London 21918, S. 82. Damit sind vermutlich englischen Betreiber der Linie Haidar Pascha – Ismid gemeint, die ihre Rechte an die deutschen Investoren verkauften. Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 13. 44 die Bahnlinie bis zum 31. Dezember 1892 fertiggestellt werden.150 Die Durchführung des Projekts führte zu einer spürbaren Verschlechterung der Beziehungen zu Frankreich und Russland, die sich beide in ihrer Interessensphäre angegriffen fühlten. Russland sah, daß sein westlicher Nachbar sich zunehmend am Bosporus, der Schlagader der russischen Schwarzmeerhäfen, engagierte, und Frankreichs wirtschaftliche Vormachtstellung im Osmanischen Reich mußte den ersten herben Rückschlag verkraften. Österreich-Ungarn, Italien und England hingegen begrüßten – wenn auch hinter vorgehaltener Hand – den deutschen Erfolg, weil sie hofften, nun zu Lasten des französischen Einflusses ihre Position in Kleinasien ausbauen zu können.151 Durch den Eisenbahnbau hatten deutsche Firmen und mittelbar auch die vorwiegend preußisch-deutsche Politik Zugang zu einem weiteren lebenswichtigen Bereich des Osmanischen Reiches erlangt.152 Dabei wurde die wirtschaftliche Bedeutung des Streckenausbaues in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch durch weitere Projekte ergänzt, die im Gefolge der ehrgeizigen Planung entstanden. Neue Bahnhöfe und Verladestationen mußten entlang der Strecke errichtet werden. Der Hafen von Haidar Pascha wurde ausgebaut, um den voraussichtlich wachsenden Warenverkehr umschlagen zu können, und selbstredend ließ es sich die Bahnbaugesellschaft nicht nehmen, einen besonders repräsentativen Bahnhof an diesem Endhaltepunkt in unmittelbarer Nähe zum Herrschaftszentrum des Osmanischen Reiches zu errichten. Sogar in die Förderung der Landwirtschaft entlang der Bahnlinie wurde investiert, um die zukünftige Rentabilität zu sichern.153 150 Bemerkenswert ist die Tatsache, daß aufgrund mangelnder Erfahrung deutscher Firmen im Bahnbau auf türkischem Gebiet eine französische Firma von den deutschen Investoren mit der Durchführung beauftragt wurde. Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 20f. Zu den Finanzierungsschwierigkeiten siehe: Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 144-147. 151 Ebd., S. 143f. 152 Für die politische Abhängigkeit solcher Großunternehmungen von der Genehmigung durch höchste Stellen im Deutschen Reich spricht schon die juristisch unnötige Einholung einer Erlaubnis des Auswärtigen Amtes, bevor überhaupt Verhandlungen mit der Türkei begonnen wurden. Damit wurde faktisch die Anfrage gestellt, ob eine solche Unternehmung von der Regierung als politisch opportun erachtet wurde. Die eigenhändige Unterschrift Bismarcks unter den Vorgang verdeutlicht, daß man sich in Berlin der Tragweite der Unternehmung bewußt war. Bode, Friedrich Heinz: Der Kampf um die Bagdadbahn 1903-1914 – Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-englischen Beziehungen, ND Aalen 1982, S. 2f. Sıtkı, Bagdad-Bahn-Problem 1935, S. 19f. Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 139f. 153 Zu den Folgeprojekten des anatolischen Bahnbaues: Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 3540. 45 Eine umfassende Konzession für den Bau einer durchgehenden Eisenbahnlinie bis Baghdad vermochte die bisherige Anatolische Bahnbaugesellschaft jedoch erst im März 1903 zu erlangen.154 Die Widerstände von englischer, französischer und russischer Seite hatten die politische Brisanz einer von Deutschen kontrollierten Linie bis zum Persischen Golf sehr deutlich werden lassen. Zugleich mußte auch die osmanische Seite erkennen, daß ihre Einflußnahme auf die künftige Entwicklung der Bahn praktisch ausgeschaltet werden sollte. Schon im Jahre 1899 war ein Vorschlag der Hohen Pforte, das Baghdadbahnprojekt als „türkische Staatseisenbahn“ durchzuführen, auf entschiedene Ablehnung der deutschen Seite gestoßen.155 Die Hoffnung auf einen „selbstlosen“ Einsatz des Deutschen Reiches hatte sich damit verflüchtigt und das Land statt dessen nur in die Abhängigkeit von einer weiteren ausländischen Großmacht geführt. Dennoch war das kleinasiatische Reich auf das technische Wissen europäischer Ingenieure angewiesen, wollte es seine Verkehrsinfrastruktur modernisieren. Die Konflikte der Europäer untereinander hatten aus Sicht der Hohen Pforte immerhin eine vereinte Anstrengung zur Ausnutzung der türkischen Schwäche verhindert, und weitere Zugeständnisse an das Deutsche Reich versprachen, diesen positiven Effekt noch eine Weile aufrechtzuerhalten. So wurde in den Jahren von 1901-1906 unter deutscher Anleitung und mit deutschem Material die Hedjasbahn (DamaskusMedina) gebaut.156 Auch der Ausbau der anatolischen Bahnen bis nach Aleppo und der Anschluß oder Ausbau kleinerer Nebenbahnen konnte 1908 vertraglich geregelt werden.157 Durch die „jungtürkische Revolution“ im selben Jahr wurden allerdings die ohnehin schwierigen und schleppenden Bauarbeiten gänzlich unterbrochen. Erst nach der endgültigen Absetzung Abdul Hamids II. konnten die Arbeiten wieder aufgenommen werden. Die bereits erwähnten Kriege und politischen Wirren sowie wachsender 154 Ein guter Überblick über die komplexen Verhandlungen, die schließlich zur Vertragsunterzeichnung führten bei: Sıtkı, Bagdad-Bahn-Problem 1935, S. 96-151. 155 Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 49. 156 Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 176. Ein Überblick über den Bau und die Tätigkeit des leitenden Ingenieurs Meißner bei: Pönicke, Herbert: Die Hedschas- und Bagdadbahn erbaut von Heinrich August Meißner-Pascha, Düsseldorf 1958, S. 2-13. 157 Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 64f. 46 Widerstand der Entente in der „Dette Publique Ottomane“ erschwerten die Arbeiten bis zum Kriegsausbruch zusätzlich.158 Die bis zu diesem Zeitpunkt erreichten positiven Auswirkungen auf den Warentransport zu den Hauptumschlagsplätzen sowie auf den zivilen Personenverkehr verdienen sicherlich Beachtung.159 Dagegen muß ebenso festgehalten werden, daß die zahlreichen Unterbrechungen im Streckennetz einen raschen Truppentransport, wie ihn die moderne Kriegführung erforderte, nahezu unmöglich machten. Ebenso war der finanzielle Gewinn für die osmanische Seite wegen der bereits erwähnten wirtschaftlichen Sonderrechte der ausländischen Bahnbetreiber eher gering. Aus politischer Sicht waren die Bahnarbeiten jedoch von größerer Bedeutung für das deutsch-türkische Verhältnis als die „regulären“ Handelsbeziehungen sowie die Rüstungs- und Kapitalgeschäfte Deutschlands mit der Türkei. c) Die militärischen Beziehungen Erste Bemühungen, durch Militärberater Einfluß auf die osmanische Armee zu nehmen, gab es bereits während des Krieges zwischen Österreich/Russland und dem Osmanischen Reich (1787-1792).160 Der preußische König Friedrich Wilhelm II. erhoffte sich durch Einflußnahme auf die Hohe Pforte einen langen und für die beiden europäischen Mächte verlustreichen Krieg. Preußen könnte dann als Friedensvermittler auftreten und als Gegenleistung gegenüber dem Zaren und dem habsburgischen Kaiser Gebietsansprüche in Polen geltend machen. Zum Zwecke der Einflußnahme auf das türkische Heer wurden daher – zunächst incognito – der preußische Oberst von Goetze und die beiden Leutnante von Schmidt und von 158 Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 177f. Zahlen zur Produktions- und Handelssteigerung bei: Grunwald, Kurt: Penetration Pacifique – The financial vehicles of Germany´s „Drang nach dem Osten“, in: Wallach, Jehuda (Hrsg.): Germany and the Middle East 1835-1939 - International Symposium April 1975, Tel-Aviv 1975, S. 91. 160 Zum Ursachen und Verlauf des Krieges siehe: Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990, S. 71-99. 159 47 Scholten im Jahre 1788/89 an den Bosporus gesandt.161 Der Einfluß von Goetzes blieb jedoch verschwindend gering, da die Hohe Pforte eine offizielle Allianz mit Preußen anstrebte, zu der Friedrich Wilhelm II. aber nicht bereit war. Der Großwesir mißtraute dem preußischen Offizier deshalb so sehr, daß er ihm Kontakte mit seinem Stab und damit der Kommandozentrale der osmanischen Armee verwehrte.162 Kurz vor Ende des Krieges gelang es von Goetze jedoch Zugang zum Stabe zu erhalten und dort einen Kriegsplan auszuarbeiten, der durch den baldigen Waffenstillstand und die beginnenden Friedensverhandlungen allerdings nicht mehr umgesetzt werden konnte.163 Diese ersten Militärberater unterschieden sich in ihrem Auftrag offenbar dadurch von ihren Nachfolgern, daß sie in die operativen Vorgänge eingreifen und weniger eine systematische Ausbildung betreiben sollten und konnten. Um eine Festigung der militärischen Beziehungen bemühten sich die Hohe Pforte und Preußen erst wieder im frühen 19. Jahrhundert. Im Jahre 1837 wurden einige preußische Offiziere – der Bekannteste unter ihnen war der junge Helmuth von Moltke – auf Bitten des Sultans offiziell in die Türkei entsandt.164 Zwei Jahre später endete diese Mission, ohne merkliche Reformen in den militärischen Strukturen des osmanischen Heeres durchgesetzt zu haben. Offenbar waren beide Seiten darin übereingekommen, daß „die Zahl der Instrukteure zu gering war, um einen durchschlagenden Erfolg erzielen zu können“.165 Trotz dieses eher unrühmlichen 161 Der genaue Auftrag der Offiziere scheint strittig zu sein. So schreibt Kurt von Priesdorff, daß von Goetze den Auftrag gehabt habe „das türk. Heer auf preuß. Art zu bilden.“ Priesdorff, Kurt von (Hrsg.): Soldatisches Führertum. Teil 3 – Die preußischen Generale von 1763 bis zum Tode Friedrichs des Großen, Hamburg o.J. [1936], S. 412. Ebenso finden sich diese Angaben in: Deutsche Offiziere in der Türkei 1756-1939, BAMA Freiburg, MSg 2/3284, Blatt 1. (Im Folgenden: MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der Türkei.). Johann Wilhelm Zinkeisen berichtet hingegen von einer „Instruction“ des preußischen Königs an von Goetze, die besagt, daß der Offizier durch Ratschläge an die Hohen Pforte oder direkte Kriegsplanung im Stabe des osmanischen Großwesirs für einen verlustreichen und langandauernden Krieg zu sorgen habe. Zinkeisen, Johann Wilhelm: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa, Bd. VI, Gotha 1859, S. 679-682. (Im Folgenden: Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches 1859.) 162 Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches 1859, S. 703f. 163 In der Tat verschlechterten sich die preußisch-osmanischen Beziehungen durch das Kriegsende und die fruchtlose Militärhilfe so sehr, daß Oberst von Goetze um seine körperliche Unversehrtheit fürchten mußte und um seine Abberufung bat. Diese wurde ihm am 4. September 1791 gewährt. Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches 1859, S. 794f., 813 und 832f. 164 Moltke selbst war schon seit längerer Zeit ohne offizielle Stellung in der Türkei und verbachte insgesamt etwa vier Jahre dort. Trumpener, Ulrich: German Officers in the Ottoman Empire, 18801918: Some comments on their backgrounds, functions and accomplishments, in: Wallach, Jehuda (Hrsg.): Germany and the Middle East 1835-1939 - International Symposium April 1975, Tel-Aviv 1975, S. 31. (Im Folgenden: Trumpener, German Officers 1975.) 165 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 27. 48 Endes ließ die Mission bereits einige Umstände deutlich werden, die auch die späteren offiziellen Militärinstrukteure betreffen sollten. So wurden die preußischen Offiziere vom Sultan großzügig in die höfische Gesellschaft eingeführt, wo die meisten zudem mit hohen Auszeichnungen bedacht wurden. Sie genossen in vollem Umfang die Gastfreundschaft der Türkei und wurden in militärischen Fragen zum „Fachsimpeln“ eingeladen. Einmischung in das wirkliche Tagesgeschäft des Heeres war jedoch unerwünscht und ungefragte Kommentare verbat sich der osmanische Herrscher von vornherein.166 Die Betonung liegt dabei auf „offiziellen Instrukteuren“ oder solchen, die mit der Unterstützung der deutschen Regierung rechnen konnten, denn auch nach dem Abzug der preußischen Offiziere 1839 taten Deutsche Dienst in der Armee des Osmanischen Reiches. Da es sich dabei hauptsächlich um Offiziere außerhalb eines Dienstverhältnisses in den deutschen Staaten handelte, waren die Reformbemühungen solcher „Privatpersonen“ – mit wenigen Ausnahmen – noch weniger erfolgreich als diejenigen der „Moltke-Mission“.167 Nach der Proklamation des Deutschen Reiches wurde in den 1880er Jahren abermals eine Militärmission an den Bosporus geschickt, die sogenannte „Kaehler-Mission“, benannt nach dem ranghöchsten Offizier und Führer der Mission, dem preußischen Oberst Otto Kaehler. Als er im April 1882 nach Konstantinopel reiste, wurde er von zwei preußischen Hauptleuten und einem Rittmeister begleitet.168 Offiziere anderer deutscher Bundesstaaten waren nicht vertreten, da, ähnlich der diplomatischen Ebene, noch bis nach der Jahrhundertwende die Militärbeziehungen zwischen Deutschem Reich und Türkei ausschließlich vom preußischen Heer wahrgenommen wurden.169 166 Moltke selbst beschreibt die offensichtliche Geringschätzung, die ihm entgegengebracht wird, sehr anschaulich in seinem Brief aus Konstantinopel vom 1. September 1839: „[...] die ersten Würdenträger des Reiches waren von der größten Aufmerksamkeit [...]; die Obersten räumten uns den Vortritt ein, die Offiziere waren noch leidlich höflich, der gemeine Mann aber machte keine Honneurs mehr, und Frauen und Kinder schimpften gelegentlich hinter uns her. [...] Wir waren höchlich ausgezeichnete Individuen einer äußerst gering geschätzten Kategorie [...].“ Moltke, Helmuth von: Unter dem Halbmond – Erlebnisse in der alten Türkei 1835-1839, bearb. v. Helmut Arndt, Tübingen/Basel 1979, S. 349. Zur Besoldung der Offiziere durch den Sultan siehe: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 22f. 167 Laut Trumpener wurden einige dieser Offiziere zu Generälen befördert. Ob dies als Zeichen für Erfolge bei Reformen gewertet werden kann, bleibt fraglich. Trumpener, German Officers 1975, S. 32. Wallach beschreibt hingegen, daß auf dem Gebiet der Rüstungsaufträge für deutsche Firmen auch dieser Personenkreis gute Arbeit leistete. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 32. 168 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 42. 169 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 18. 49 Die Aufgaben der Offiziere um Oberst Kaehler entsprachen denen ihrer Vorgänger. Sie sollten sich ein Bild von den Zuständen in der osmanischen Armee machen, die nur wenige Jahre zuvor den russisch-türkischen Krieg erfolglos ausgefochten hatte, Reformvorschläge ausarbeiten und der türkischen Führung bei deren Umsetzung – selbstverständlich mit Hilfe der deutschen Wirtschaft – beratend zur Seite stehen. Kommandofunktionen oder gar Kampfeinsätze waren grundsätzlich ausgeschlossen.170 Der Auftrag der Reformer war demnach nur vage formuliert und ließ den Offizieren einen verhältnismäßig großen Ermessensspielraum, wie sie ihre „Beratung“ umsetzten. Eine deutsche koordinierende Stelle in Konstantinopel gab es nicht. Die tatsächlichen Wirkungsmöglichkeiten der deutschen Offiziere waren somit vollständig von den Kommandobehörden und der Militärbürokratie der Türkei und in besonderem Maße vom Wohlwollen des Sultans abhängig, zumal Abdul Hamid II. damals große Angst vor einem Militärputsch gegen seine repressive Herrschaft hatte. Schon bald erkannten die preußischen Offiziere üble Mißstände im Heer, die auf die Furcht des Sultans, aber auch auf generelle Ausrüstungs- und Ausbildungsmängel sowie strukturelle Probleme zurückzuführen waren. Korruption in den höchsten Stellen sowie das geringe Ansehen der „ungläubigen Europäer“ erschwerten den Offizieren ihre Aufgabe beträchtlich.171 Jedoch muß auch darauf verwiesen werden, daß bei den deutschen Offizieren nur wenig Bereitschaft bestand, sich auf die Verhältnisse vor Ort einzulassen. Dies begann mit der Tatsache, daß keiner der entsandten Offiziere die Sprache des fremden Landes erlernte. Geschäftssprache in den entsprechenden Kreisen im Osmanischen Reich war die französische Sprache. Dies half den Offizieren zwar bei der „regulären“ Verständigung, ermöglichte aber ebenso den Türken, in ihrer eigenen Sprache zu verhandeln, ohne Gefahr zu laufen, den „Christen“ zu viel zu verraten. Hinzu trat, daß sowohl im militärischen als auch im kulturellen Sinne die eigenen bewährten, aber eben preußischen Maßstäbe an die osmanische Umgebung angelegt wurden. Kaehler verfaßte eine Denkschrift für den Sultan, in der er die 170 171 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 41. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 45-48. 50 Umstrukturierung des türkischen Heeres nach preußischem Vorbild forderte.172 Diese Forderung ist verständlich, bedenkt man, daß zu dieser Zeit das preußische Heerwesen weltweit hohes Ansehen genoß und sich die „kaehlerschen Offiziere“ in dieser Armee am besten auskannten. Sie läßt allerdings die speziellen Verhältnisse im Osmanischen Reich unberücksichtigt. Schließlich fehlte auch ein wirklicher Einblick, da die Angehörigen der Mission praktisch auf den Großraum Konstantinopel beschränkt blieben. Alle Anschauungen mußten daher von den wenigen besichtigten Truppen in der Stadt oder ihrer Nähe herrühren, deren Zustand und Ausrüstung keinesfalls repräsentativ für die Gesamtheit der Streitkräfte war. Die Tatsache, daß die deutschen Vorschläge von den zuständigen Stellen in Konstantinopel und sogar vom Sultan selbst mit vorbildlicher Höflichkeit ignoriert wurden, löste Frustration bei den Preußen aus, die schließlich in Resignation mündete. Kaehler schrieb in einem Brief an seine Frau den bezeichnenden Satz: „Ja es ist ein herrliches Land, wenn nur kein Türke darin wäre.“173 Obwohl die preußischen Offiziere wenig Fortschritte verzeichnen konnten, forderten sie schon bald Verstärkung aus der Heimat an, um – beginnend mit systematischer Schulung – strukturelle Änderungen nach europäischem Vorbild vorzubereiten. Im Osmanischen Reich sollte ein umfassendes Militärschulwesen eingeführt werden. Zwar gab es bereits einige Schulen für Offizieranwärter, jedoch äußerten sich die Europäer sehr abfällig über den Lehrstoff an diesen Bildungsstätten. Es würden ausschließlich veraltete französische Lehrbücher auswendig gelernt und die praktische Ausbildung fehlte gänzlich.174 Zu Beginn des Jahres 1883 übermittelte man die Bitte des Sultans um Entsendung eines weiteren deutschen Offiziers für die Betreuung des Militärschulwesens nach Deutschland. Ausgewählt wurde der preußische Major im Großen Generalstab Colmar Freiherr von der Goltz.175 Freiherr von der Goltz trat bei seiner Ankunft in der Türkei nicht sofort in türkische Dienste, 172 Ebd., S. 50. Brief Kaehlers vom 8. November 1882, zitiert nach: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 46. 174 Goltz, Friedrich Freiherr von der/ Foerster, Wolfgang: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz – Denkwürdigkeiten, Berlin 1932, S. 113. (Im Folgenden: Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932) 175 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 54. 173 51 sondern nutzte die Zeit, um sich einen Eindruck von Land und Leuten zu verschaffen.176 Der damals 40 Jahre alte Major hatte einen scharfen Blick für die Mißstände in der türkischen Armee, aber auch in der türkischen Verwaltung und Regierung. Bereits kurz nach seinem offiziellen Übertritt in türkische Dienste begann er die Arbeit an neuen Ausbildungsvorschriften für den Generalstabsdienst, den Felddienst und für Taktik, die in die türkische Sprache übersetzt wurden und damit den Schülern nicht nur einen einfacheren Zugriff als die französischsprachige Literatur boten, sondern vor allem eine nach neuen operativen und taktischen Maximen entwickelte Anleitung sicherten.177 Neben solchen theoretischen Grundlagen legte Goltz großen Wert auf die praktische Ausbildung der angehenden Offiziere. Darunter verstand er Manöver größerer Truppenkörper, Schießausbildung mit scharfer Munition und Generalstabsreisen an die Grenzen und mögliche Kriegsschauplätze des Osmanischen Reiches. Diese Maßnahmen erfreuten sich bei den jüngeren türkischen Offizieren größter Beliebtheit, wie der spätere türkische General Pertev Pascha in seinen Lebenserinnerungen über Goltz schreibt.178 Eine völlig andere Reaktion rief der preußische Reformer jedoch bei Sultan Abdul Hamid II. hervor. Da er selbst mit Hilfe der Armee an die Macht gelangt war, lag ihm verständlicherweise daran, eine analoge Gefährdung seiner Machtstellung von vornherein auszuschließen. Goltz formulierte die Situation in einem Schreiben vom Juni 1885 folgendermaßen: „Jede Truppenversammlung, jede Selbständigkeit irgendeines Führers, die bei den militärischen Anstalten getroffen werden müssen, erregt bei ihm den Wahn, daß sich dahinter ein Komplott verberge. Sein Streben ist viel mehr darauf gerichtet, die Armee zu schwächen, kampfunfähig und wehrlos zu machen, als sie zu stärken.“179 Das Streben des Sultans nach umfassender Kontrolle der bewaffneten Macht, schränkte die Handlungsmöglichkeiten des preußischen Reformers deutlich ein, denn 176 Das Ergebnis dieser Erkundungen war ein kurze Abhandlung, die unter dem Titel „Die Streiter des Halbmondes“ abgedruckt ist bei: Schmitterlöw, Bernhard von: Aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Freiherr von der Goltz-Pascha – Nach Briefen an seinen Freund, Berlin/Leipzig 1926, S. 95-104. (Im Folgenden: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926) 177 Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 114. 178 Ausführlich und geradezu enthusiastisch berichtet er beispielsweise über eine Generalstabsreise nach Thessalien im Jahre 1894. Pertev, Demirhan: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz – Das Lebensbild eines großen Soldaten – Aus meinen persönlichen Erinnerungen, Göttingen 1960, S. 25-28. (Im Folgenden: Pertev, Goltz Lebensbild 1960) 179 Zitiert nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 109. 52 Mittel für modernere Ausrüstung und umfangreiche Ausbildungsvorhaben der Truppen wurden nur zögerlich oder überhaupt nicht bewilligt. Was für den osmanischen Herrscher eine „sinnvolle Vorsichtsmaßnahme“ war, erschien dem Freiherrn als „sträfliche Vernachlässigung“ eines wichtigen – oder gar des wichtigsten – Instrumentes staatlicher Machtausübung. Dabei war Major von der Goltz keineswegs der einzige, der die „Blockadehaltung“ des Sultans verurteilte, denn auf solcherlei Widerstände waren bereits die anderen preußischen Offiziere gestoßen. Aber Goltz vertrat seine Auffassung ungleich energischer und scheute auch nicht davor zurück, dem Sultan bis an den Rand einer öffentlichen Demütigung entgegenzutreten. Bernhard von Schmitterlöw berichtet anekdotenhaft, Goltz habe im Jahre 1886 dem Sultan den fertigen Entwurf einer neuen Armeeorganisation vorgelegt und dafür einen Orden erhalten. Der Entwurf sei aber nicht umgesetzt worden und so habe Goltz ihn ein zweites Mal eingereicht, woraufhin er als Belohnung einen kostbaren Brilliantenschmuck für seine Frau bekam, der Entwurf aber weiterhin ignoriert wurde. Der dritte Versuch brachte Goltz eine finanzielle Anerkennung von 20.000 Francs (ca. 16 330 M) ein180, führte aber immer noch nicht zur Umsetzung. Erst die vierte Vorlage beim Sultan habe schließlich den Herrscher zu dem entnervten Ausspruch „Was will der Goltz denn nun noch haben?“ und damit zu einem Umdenken veranlaßt.181 Wenn auch der geschilderte Ablauf – von der wörtlichen Rede des Sultans ganz zu schweigen – kaum der Realität entspricht, so zeigt dieses Beispiel doch, welche Spannungen Auftrag und Engagement der Preußen verursachen konnten. Freiherr von der Goltz schaffte sich zudem weitere Feinde, als er die ihm anvertrauten Militärschulen der Kontrolle eines vom Sultan beauftragten Agenten entziehen wollte. Diese Affäre zog weite Kreise und Goltz konnte schließlich nur durch die Drohung mit seinem Abschied aus der Armee die Oberhand gewinnen.182 Kaehler, noch am 29. Juni 1882 zum preußischen Generalmajor befördert, brachte die Dinge auf den Punkt, als er in einem Brief nach Deutschland schrieb: „Ich glaube der Sultan hat uns gegenüber so etwas von dem Gefühle des 180 Schmitterlöw betont, daß Goltz diesen Betrag selbstverständlich einer wohltätigen Organisation gespendet habe, was den Anekdotencharakter unterstreicht. 181 Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 116f. 182 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 56f. 53 Zauberlehrlings und würde heilfroh sein, wenn er die Preußen, die er rief, mit Anstand wieder los werden könnte.“183 Am Ende ließ Abdul Hamid II. „seine gerufenen Preußen“ allerdings nicht ziehen. Die Verträge der Reformer waren von Anfang an zeitlich befristet, in der Regel auf drei Jahre, und mußten nach Ablauf der Frist neu verhandelt werden. Während des gesamten Verbleibs im türkischen Dienst waren diese Offiziere von ihrer heimischen Armee lediglich „zur Disposition (z.D.) gestellt“, das heißt, sie behielten ihren Rang im preußischen Heer, ließen ihre Dienstgeschäfte jedoch ruhen und konnten nach Ablauf des Vertrages mit der Hohen Pforte wieder bei vollem Anspruch auf die früheren Bezüge und adäquate Verwendung in Deutschland dienen.184 Diese Praxis sollte das Deutsche Reich auch in den kommenden Jahren und während des Ersten Weltkrieges beibehalten, wenngleich in modifizierter Form. Für die deutschen Offiziere bedeutete dies Verfahren eine Minimierung des Risikos, da ihnen ihre Dienstposten und sogar ihre Gehälter sowie die Pensionsansprüche vom Dienstherrn garantiert wurden. Außerdem war der finanzielle Anreiz, am Bosporus auszuhelfen, beträchtlich. In den ersten Verträgen wurden Generalmajor Kaehler 30.000 Francs (ca. 24.500 M) Jahresgehalt und zusätzliche Rationen zugesprochen, während seine Offizierskameraden als preußische Majore z.D. immerhin mit 23.000 Francs (ca. 18.800 M) Gehalt rechnen konnten.185 Diese Summen waren erstaunlich, bedenkt man, daß ein preußischer Stabsoffizier ohne Kommando um 1900 in der Heimat etwa 5.850 M bezog, von speziellen Zulagen abgesehen.186 Die komfortable finanzielle 183 Zitiert nach: Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 120. Zur Beförderung Kaehlers siehe: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 43. 184 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 36. 185 Ebd., S. 44. 186 Die Einkommen der deutschen Offiziere waren in recht komplizierten Vorschriften und Gesetzen geregelt. Vielen Offizieren standen neben dem „Grundgehalt“ noch weitere Zulagen, wie beispielsweise Servisgelder, Wohnungsgeldzuschüsse oder Pferdegelder zu, die gemäß der Vorschriften für den jeweiligen Offizier festgelegt wurden. Die genannte Summe ist ein Annäherungswert für das Grundgehalt. Dennoch kann als sicher angesehen werden, daß die Offiziere, die in die Türkei gingen, wesentlich mehr Geld vom Sultan erhielten als in ihren Funktionen im Deutschen Reich. Eine Zusammenfassung der Bezüge von deutschen Offizieren um 1900 in: B., E. v.: Das Diensteinkommen der Offiziere [aktiven, inaktiven und des Beurlaubtenstandes] im Frieden, Burg 1900. Die gesetzliche Grundlage und ausführliche Regelung der Bezüge sowie der Zulagen wird geregelt im: Besoldungsgesetz vom 15. Juli 1909, in Reichs-Gesetzblatt 1909, Nr. 38, S. 573-661, Berlin 1909. Eine anschauliche Darstellung der Reallohnentwicklung für einige Dienstgradgruppen 54 Ausstattung der Deutschen in Konstantinopel, die bei den jeweiligen Neuverhandlungen sogar noch weiter ausgebaut wurde, bot reichlich Angriffspunkte für Gegner der Reformer im türkischen Reich. Dort wurden die Beamten und Offiziere, sogar jene des herrscherlichen Hofes, entweder unregelmäßig oder bisweilen längere Zeit überhaupt nicht bezahlt.187 Da die Erfolge der Instrukteure auf sich warten ließen, war vielen Türken zudem nicht ersichtlich, weshalb sich der Sultan ein so teures „Spielzeug“ wie die Preußen leistete. Diese Einstellung mag seltsam erscheinen, wenn man bedenkt, daß viele Reformvorhaben doch gerade auch am türkischen Widerstand scheiterten, aber aus der Sicht der unterbezahlten osmanischen Staatsdienerschaft sind Existenz- und Modernisierungsängste sicherlich nachvollziehbar. Die deutschen Offiziere nutzten zudem die Furcht des Sultans, die „wahren Verhältnisse“ im Osmanischen Reich und in seiner Armee könnten bekannt werden, für sich aus. Daher verband man Verhandlungen über die Verlängerung des Dienstes in Konstantinopel stets mit der Forderung nach einer Gehaltserhöhung. Schon 1885 wurden die Bezüge Kaehlers auf 40.000 Francs (ca. 32.700 M) und die seiner Begleiter (preußische Majore z.D.) auf 30.000 Francs (ca. 24.500 M) erhöht.188 Als im Jahre 1888 allerdings die drei preußischen Offiziere Hobe, Ristow und Kamphoevener,189 die mittlerweile zu türkischen Generälen avanciert waren, neue nahezu exorbitante Forderungen stellten, intervenierte auch die deutsche Regierung, um einen drohenden Prestigeverlust und den Eindruck der Geldgier zu verhindern.190 Der Sultan lehnte jedoch den angebotenen Austausch der Offiziere ab und einigte sich schließlich mit den Militärs auf eine deutliche Gehaltserhöhung unter Wegfall verschiedener Sonderleistungen.191 Daß solche Verhandlungen bald in der deutscher Offiziere bei: Tippach, Thomas: Koblenz als preußische Garnison- und Festungsstadt – Wirtschaft, Infrastruktur und Städtebau, Köln [u.a.] 2000, S. 268-271. 187 Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 102f.; Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 71. 188 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 63. 189 Kaehler war im Jahre 1885 verstorben. 190 Kamphoevener forderte (inkl. außerordentlichen Zulagen) bis zu 60.000 Francs (ca. 49.000 M) von der Hohen Pforte. Diese Forderung überschritt sogar das Gehalt des deutschen Kriegsministers deutlich. Bismarck selbst war sehr erzürnt über dieses Verhalten. Trumpener, German Officers 1975, S. 34. 191 Zu den Verhandlungen: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 69-72. 55 Konstantinopler Öffentlichkeit publik wurden und die preußischen Offiziere in ein noch schlechteres Licht setzte, darf nicht verwundern. Ein weiterer Bonus wurde den fremdländischen Beratern gewährt. Auch er sorgte für einige Mißstimmungen. Mit Vertragsabschluß und Übertritt erhielten die preußischen Offiziere einen um einen Dienstgrad höheren Rang in der Armee des Sultans. Der preußische Oberst Kaehler wurde somit zunächst zum kaiserlich osmanischen Brigadegeneral (Miri Liwa) befördert. Da ihn Wilhelm I. aber noch nachträglich als preußischen Generalmajor zur Disposition stellte, erhielt er rasch den Rang eines osmanischen Generalleutnants und wurde zudem zweiter gleichberechtigter Chef des türkischen Generalstabes.192 Die Erhöhung des Dienstgrades war eine Forderung des preußischen Militärkabinetts gewesen, das darin nicht nur eine Anerkennung des höheren Ausbildungsstandes sah, sondern den entsandten Offizieren auch die mit dem höheren Dienstgrad verbundenen Dienstposten und Wirkungsmöglichkeiten eröffnen wollte. Diese Praxis wurde bis zum Ende des Ersten Weltkrieges beibehalten. Weiter darf nicht unerwähnt bleiben, daß sich bereits vor der Jahrhundertwende erste Anzeichen für „innerdeutsche Konflikte“ abzeichneten. Offenbar traute weder die entsendende deutsche Regierung den Reformoffizieren vollkommen, noch bildeten die Deutschen untereinander eine homogene Gemeinschaft. Schon kurz nach dem Dienstantritt Kaehlers 1882 hatte Bismarck den preußischen Offizieren streng untersagen lassen, sich in irgendeiner Art und Weise in die deutsch-türkische Politik einzumischen, und anläßlich der oben erwähnten Gehaltsverhandlungen kam es zu Verstimmungen zwischen dem deutschen Botschafter am Bosporus und den preußischen Offizieren.193 Trotz des militärischen Auftrages der Reformer ließen sich demnach die politischen Aspekte des preußischen Engagements nicht ausklammern. Auch Goltz schrieb in einem Brief vom 8.6.1885: 192 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 43. Auch die Begleiter Kaehlers (eigentlich preußische Hauptleute oder Rittmeister) wurden vom Kaiser befördert und als Majore zur Disposition gestellt. In Verbindung mit der „Beförderung“ in der osmanischen Armee stiegen die Deutschen in kürzester Zeit zwei Dienstgrade auf, was ein weiterer Anreiz für den Dienst am Bosporus gewesen sein wird, da die Standzeiten in der preußischen Armee wesentlich länger waren. 193 Ebd., S. 45 und S. 70. 56 „Es zeigen sich in dieser Isolierung auf dem fremden Boden am deutschen Charakter überhaupt mancherlei Seiten, die nicht angenehm sind, die aber die Palaistürken scharf durchschauen und benutzen.“194 Tatsächlich konnten die politischen Gegner der preußischen Reformer diese Differenzen nutzen, um die Reformvorhaben zu torpedieren.195 Nicht immer waren die Differenzen mit persönlicher Antipathie zwischen den deutschen Offizieren verbunden, da zumindest Kaehler in dem bereits zitierten Brief eine hohe Meinung von Goltz erkennen läßt.196 In ihren Methoden und ihrer Dienstauffassung konnten die Deutschen allerdings ihre ganz persönlichen Ansichten verfolgen, da eine koordinierende und faktisch vorgesetzte Stelle vor Ort fehlte. Kaehler und nach seinem Tode von der Goltz waren zwar dienstälter als die übrigen Preußen und mit höheren Posten innerhalb der osmanischen Hierarchie ausgestattet, standen aber in keinem direkten Vorgesetztenverhältnis. Die Reformoffiziere waren de jure eigenständige Vertragsnehmer beim Sultan, obwohl sie im Deutschen Reich weiterhin eine Stellung bekleideten und daher die „Wünsche“ des Kaisers oder der deutschen Regierung, die sich der politischen Implikation dieser Konstellation bewußt waren, nicht einfach ignorieren konnten.197 In ihrem Selbstverständnis blieben die Offiziere ihrem Kriegsherrn, also dem deutschen Kaiser und preußischen König verpflichtet. Sie sahen sich lediglich als an die Hohe Pforte abkommandiert 194 Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 110. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 54. 196 Siehe oben S. 53f. 197 Goltz traf zum Beispiel 1886 keine Anstalten, seinen Vertrag mit dem Sultan zu verlängern, sondern wollte wieder nach Deutschland zurückkehren. Die Intervention des Sultans beim Kaiser hatte jedoch eine Kabinettsorder zur Folge, die es als „allererwünschteste Lösung“ bezeichnete, wenn Goltz in der Türkei bliebe, wozu sich Goltz dadurch genötigt sah. Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 135. Da ihm auch die dritte Vertragsverlängerung durch eine kaiserliche „Bitte“ praktisch „aufgezwungen“ wird, bemerkt Goltz in einem Brief von 1893 verärgert: „Ich versichere Dich, daß mein Hauptmotiv, meine Stellung hier mit ihrem immerhin reichlichen Einkommen aufzugeben, das Gefühl gegen das Vaterland war. Noch einmal werde ich aber künftig nicht mein und meiner Familie Existenz um eines so idealen Grundes halber aufs Spiel setzen.“ Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 119. Grundsätzlich konnten zivile deutsche Stellen keine verbindlichen Weisungen an das Militär erlassen. Aus den Briefen des Freiherrn von der Goltz spricht eine „moralische Verpflichtung“, die er gegenüber seinem Vaterland, seinem Monarchen und dessen Repräsentanten gegenüber empfand. Diese Einflußmöglichkeit der deutschen Reichsleitung auf die deutschen Offiziere in der Türkei blieb auch während des Ersten Weltkrieges noch bestehen. 195 57 und tiefergehende Loyalitäten gegenüber dem Sultan als obersten Dienstherrn empfanden sie nicht.198 Eine regelmäßige Berichterstattung nach Berlin gab es – wieder einmal mit der Ausnahme des Freiherrn von der Goltz – nicht. Daher wundert es nicht, daß die politisch Verantwortlichen auf Anfragen aus Konstantinopel zum Teil unangemessen reagierten, indem sie auf den Eigenantrieb des Sultans verwiesen, der „irgendwann“ einsetzen werde.199 Die gehobene Dienststellung der deutschen Reformoffiziere sorgte zudem im Umgang mit anderen deutschen Militärbehörden oder der Botschaft für Probleme. So bestanden einige der Herren auch dann auf einer Behandlung gemäß ihrer Stellung im türkischen Dienste, wenn sie als deutsche Offiziere zur Disposition keinen Anspruch darauf erheben konnten. Neben kleineren, aber nicht minder skandalösen Auseinandersetzungen über die Titulatur erlaubten sich einige deutsche Offiziere, namentlich der türkische Marschall und Kavallerie-Instrukteur von Hobe, offen gegen den deutschen Botschafter zu opponieren. Dieser hatte vorgeschlagen, eine regelmäßige Berichterstattung einzuführen, die über den Schreibtisch des Generals von der Goltz laufen sollte. Dieses Kontrollinstrument wurde durch von Hobe Pascha, dessen Instrukteurs-Tätigkeit völlig ergebnislos blieb und der sich lieber eines „bequemen Lebens“ bei Hofe erfreute, auf das schärfste kritisiert und schließlich nahm der Streit derart heftige Formen an, daß Wilhelm II. 1894 die Abberufung von Hobes verfügte. Diese Affäre war auch deswegen delikat, weil von österreichischer Seite vermutet wurde, daß gegen von Hobe stichhaltige Korruptionsvorwürfe vorgelegen hätten.200 Sie belegt zudem 198 den Anspruch der deutschen Auch Colmar Freiherr von der Goltz Pascha sah den Kaiser weiterhin als seinen obersten Dienstherren an, wenngleich er gegenüber seinen türkischen Kameraden und Untergebenen im Laufe der Zeit eine echte Zuneigung entwickelte, zumal er ihm im eigenen Lande nicht die Achtung zuteil wurde wie im Osmanischen Reich. Im Oktober 1914 schreibt Goltz an seinen Freund, den osmanischen General Pertev Pascha, wie unzufrieden er mit dem Posten als Generalgouverneur von Belgien sei. Brief von Goltz Pascha an Pertev Pascha, Brüssel 17.10.1914, BAMA Freiburg, N 737/11. 199 Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 120. 200 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 81-84. Ob diese Vorwürfe eine reale Grundlage hatten, muß Spekulation bleiben. Hobe selbst gab die ungeklärten Vorgesetztenverhältnisse als Grund für seine Intervention an. In Wirklichkeit fürchteten die Reformer aber, daß von der Goltz sie durch eine zentrale Berichterstattung an den Kaiser über ihre – eher bescheidenen – Reformbemühungen in Mißkredit bringen könnte. Ein weiteres Indiz dafür, wie entschieden sich der Freiherr für Militärreformen im Osmanischen Reich einsetzte. 58 Militärangehörigen auf Autonomie besonders gegenüber zivilen Stellen.201 Solche Stellen waren im Deutschen Reich gegenüber der bewaffneten Macht nicht weisungsbefugt und trotz einer grundsätzlich anderen Ausgangssituation im Osmanischen Reich war die Mehrzahl der Militärreformer nicht bereit, in Kleinasien auf diese Sonderstellung zu verzichten, obschon die politisch-diplomatischen Verflechtungen mit ihren Dienststellung gravierende sein konnten. Die ständigen Bemühungen der Botschaft auf die Reformer Einfluß zu nehmen, führten stattdessen zu einem gesteigerten Mißtrauen der militärischen Seite gegenüber den eigenen Diplomaten. Der Dienst der deutschen Reformoffiziere war demnach alles andere als eine einfache Mission. Widerstände von türkischer Seite, Friktionen mit deutschen Stellen und die schwierige Balance zwischen dem militärischen Auftrag und der internationalen Politik, die jede mögliche Machtverschiebung zu Gunsten Deutschlands in Kleinasien mit Argusaugen überwachte, waren stete Hindernisse auf dem Wege zu wirksamen Reformen. Hinzu traten noch Unklarheiten im Auftrag, so daß den Offizieren zwar wichtige militärische Aufgaben – wie etwa Kommandofunktionen – untersagt, ihnen aber auch keine klaren Kompetenzen zuerkannt wurden. Die Stellung eines „Militärberaters“ war eben nicht mit eindeutig definierten Befugnissen verbunden, sondern die Handlungsmöglichkeiten waren nicht zuletzt vom persönlichen Einfluß des Offiziers abhängig, der diesen Posten innehatte. So blieb die Wirksamkeit der meisten preußischen Berater recht begrenzt. General Kamphoevener etwa, der durch die hohen Gehaltsforderungen von sich reden gemacht hatte, blieb bis 1909, volle 27 Jahre, im Osmanischen Reich tätig, wurde vom Deutschen Kaiser nobilitiert und erlangte sogar den Rang eines türkischen Marschalls. Spürbare Veränderungen in seinem militärischen Reformbereich bewirkte er hingegen nicht.202 Goltz begründete die Erfolglosigkeit seiner Mitreformer folgendermaßen: 201 202 Siehe hierzu auch unten S. 116f. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 72. 59 „Die übrigen lieben Landsleute haben seinerzeit, als sie des Großherrn ganz sicher waren, das ihrige getan, um sich durch hohlen Übermut aller Herzen zu entfremden.“203 Der Freiherr war es auch, dem wohl noch am ehesten Erfolge beschieden waren. Zwar vermochte auch er nur langsam etwas zu bewegen, aber seine schriftlichen Leitfäden für die Militärschulen und seine ständigen Forderungen nach praktischer Ausbildung wurden, wenngleich erst lange nach seinem offiziellen Ausscheiden aus türkischen Diensten, allmählich umgesetzt. Noch wichtiger waren die persönlichen Bindungen, die Goltz zum türkischen Offiziernachwuchs aufbaute. Viele der damaligen Militärschüler, die später zu seinem engeren Stab gehörten, erreichten hohe Posten in der osmanischen Armee und manche wurden Befehlshaber in den Balkankriegen 1912/13.204 Der preußische Instrukteur erfreute sich offenbar bei seinen Schülern und Untergebenen einer deutlich höheren Beliebtheit als bei seinen vorgesetzten Stellen. Dennoch bildete sich um den späteren Generalfeldmarschall, ähnlich seinem Vorgänger Moltke, ein Mythos, der noch Jahrzehnte später spürbar war. So berichtet der spätere Generalmajor Back, der 1911 Leiter eines Offizierübungslagers in der Türkei wurde: „Wohl kein Ausländer hat jemals diesen Einfluß auf den Türken gewonnen, wie v.d. Goltz.“205 Damit wird aber auch überdeutlich, daß von der Goltz eine Ausnahmeerscheinung und kaum repräsentativ für die Leistungen der deutschen Offiziere in der Türkei war. Am 12. Dezember 1895 verließ Goltz die Türkei und trat wieder in preußische Dienste über.206 Nach dem Ausscheiden des wohl bekanntesten und energischsten deutschen Offiziers aus türkischen Diensten folgte bis zum Ausbruch der Balkankriege noch eine ganze 203 Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 116. Pertev, Goltz Lebensbild 1960, S. 17. 205 Bericht von Gen.maj. a.D. Back über die Tätigkeit der Mil.Miss. i.d.Türkei vor dem Weltkriege, 25.10.1920,BAMA Freiburg, RH 61/ 413, S. 4f. (Im Folgenden: RH 61/ 413, Bericht von Gen.maj. a.D. Back.) Back wurde 1914 nach seiner Zeit in der türkischen Offizierausbildung zum preußischen Oberst z.D. befördert und führte als osmanischer Generalmajor ein Armeekorps an den Dardanellen. 1917 kehrte er als Oberst und Brigadekommandeur in die preußische Armee zurück. MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der Türkei, Blatt 6 u. Blatt 9. 206 Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 160. 204 60 Reihe weiterer Reformer, die an dieser Stelle nicht alle benannt werden können. Zu keiner Zeit hielten sich jedoch viel mehr als 20 offiziell entsandte Preußen im osmanischen Heer auf. Hinzu kamen einige aufgrund privater Initiative dienende deutschstämmige Offiziere.207 Wie Freiherr von der Goltz berichtet, waren 25 deutsche Offiziere als Führer von sogenannten Offizier-Übungslagern und ModellRegimentern eingeplant.208 Der Erfolg dieser Offiziere scheint, nicht zuletzt in Anbetracht der verheerenden Niederlage in den Balkankriegen, recht begrenzt gewesen zu sein. Der k.u.k. Feldmarschall-Leutnant und Militärbevollmächtigte in der Türkei Joseph Pomiankowski schreibt jedenfalls in seinen Erinnerungen, daß diese deutschen Instrukteure keinerlei Einfluß auf Organisation, Ausbildung und Kriegsvorbereitungen gehabt hätten.209 Damit wären die Militärberater für das osmanische Desaster 1912/13 nicht verantwortlich gewesen, was allerdings nicht verhinderte, daß sie zum Ziel internationaler Kritik wurden.210 Die begrenzten Einflußmöglichkeiten änderten sich nach der Absetzung des Sultans Abdul Hamid II. kaum. Die Spannungen zwischen den effektiv herrschenden türkischen Militärs und den „überbezahlten“ preußischen Beratern verschärften sich eher noch. Der Ruf nach einem beschleunigten Abzug der Deutschen wurde laut.211 „Nach der Absetzung Abdul Hamids nahmen die türkischen Generale – mit geringen Ausnahmen entweder vollständige militärische Laien, oder aber reine Theoretiker, zum großen Teil zu alt oder krank – die Organisation und Ausbildung der Armee in ihre Hände. Es waren zwar auch zirka 20 deutsche Instruktionsoffiziere vorhanden, jedoch konnten diese unter der Führung der unfähigen, aber sehr selbstbewußten 207 Zur Entwicklung der Militärmission bis zur „Jungtürkischen Revolution“: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 85-90. 208 Colmar Freiherr von der Goltz, Winke für die in den türkischen Dienst als Instrukteure übertretenden Offiziere, Vertraulich, Konstantinopel August 1909, BAMA Freiburg N 155/3, (hier Blatt 62). Abgedruckt in ANHANG A [S.418f.]. (Im Folgenden: Goltz, Winke 1909.) Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, daß einige der eingeplanten Offiziere auch im Ersten Weltkrieg noch in der Türkei tätig waren, wie etwa der bayerische Major von Lossow sowie die preußischen Majore Bischof und Back. 209 Pomiankowski, Joseph: Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches – Erinnerungen an die Türkei aus der Zeit des Weltkrieges, Wien (u.a.) 1928, S. 32. (Im Folgenden: Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928.) 210 Siehe unten, S. 73-75. 211 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 87f. 61 türkischen Generale nichts durchsetzen. Die wichtigsten Entschlüsse und Absichten wurden übrigens vor den Deutschen geheimgehalten.“212 Viele der älteren deutschen Offiziere verließen kurz nach der endgültigen Absetzung des Sultans 1909 die Türkei, unter ihnen auch der mehrmals erwähnte und schließlich zum türkischen Marschall beförderte Kamphoevener.213 Diese Entwicklung kam den neuen türkischen Machthabern nicht ungelegen, konnten sie doch endlich die „erfolglosen Kostenverursacher“ los werden. Schon vor dem Ende des hamidischen Regimes waren Verhandlungen mit Berlin mit dem Ziel geführt worden, etwa ein Dutzend jüngere deutsche Offiziere als Ersatz für die mittlerweile hochrangigen Preußen in Konstantinopel zu erhalten. Interessanterweise fiel hierbei wieder der Name des Freiherrn von der Goltz. Er sollte die offizielle Mission anführen.214 Obwohl die revolutionären Vorgänge 1909 die Planungen weitgehend zunichte machten, blieben die Militärs am Bosporus bei ihrer Bitte um die Hilfe des zwischenzeitlich zum preußischen Generalobersten beförderten von der Goltz. Tatsächlich reiste dieser mit Zustimmung des Kaisers schon im Juli 1909 in die Türkei. Allerdings war sein Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer und glich eher einer Inspektionsreise, zumal er keinen Anstellungsvertrag mit dem neuen Sultan abschloß. Während seines ersten Aufenthaltes 1909 stellt Goltz allerhand Mißstände in der Armee fest, die immer noch nicht abgestellt waren. Er forderte energisch deren Behebung und die Abhaltung größerer Manöver, um die Einsatzbereitschaft der revolutionsgeschüttelten Truppen gewährleisten zu können. Dabei kam ihm der Umstand zu Hilfe, daß drei der höchsten Funktionsträger in der Armee, unter ihnen auch der Kriegsminister, seine ehemaligen Offizierschüler waren. So konnte er in den Jahren 1909 und 1910 anläßlich weiterer Kurzaufenthalte in der Türkei wirklich einige Manöver abhalten, während er bei organisatorischen Fragen weiterhin auf Widerstände stieß. Diese Phase erhöhter Aktivität im osmanischen Heer endete schon bald mit dem Angriff Italiens auf die tripolitanischen Besitzungen der Hohen Pforte.215 212 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 33. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 99. 214 Ebd., S. 94. 215 Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 313-319. 213 62 Drei weitere wesentliche Entwicklungen der Zeit bis zu den Balkankriegen (1912/13) sollen hier noch erwähnt werden. Da ist zuerst an die Tatsache zu erinnern, daß nach der „jungtürkischen Revolution“ erstmals auch Offiziere aus süddeutschen Bundesstaaten offiziell in die Türkei entsandt wurden. Trotz Bedenken und offenbar auch Widerstandes auf preußischer Seite erreichte der bayerische Major Otto von Lossow 1910 seine Anstellung in Konstantinopel.216 Lossow sollte in den kommenden Jahren an den Kampfhandlungen auf dem Balkan teilnehmen, wo er erstmals nach der langen Zeit der deutschen Reformbemühungen die Entwicklungen in der osmanischen Streitmacht unter Kriegsbedingungen beobachten und vor allem über sie berichten konnte. Außerdem wurde Lossow 1915 zum deutschen Militärattaché und im April 1916 zum Militärbevollmächtigten in Konstantinopel ernannt und konnte dadurch während des Ersten Weltkrieges einen nicht geringen Einfluß auf die deutschen Offiziere im Osmanischen Reich ausüben. Ihm folgten weitere Offiziere, unter denen der bayerische Oberleutnant Franz Carl Endres und der preußische Leutnant Hans Rohde hervorzuheben sind. Beide berichteten als Schriftsteller über die türkischen Verhältnisse.217 Auch für die süddeutschen Offiziere galten im übrigen die Vertragsbedingungen, die schon Oberst Kaehler 1882 ausgehandelt hatte: Beibehaltung des Dienstgrades in der jeweiligen deutschen Armee, Erhöhung des Dienstgrades und direkte Anstellung durch den Sultan.218 Zum zweiten ist von Bedeutung, daß der deutsche Einfluß auf die türkische Marine verhältnismäßig gering blieb. Zwar befand sich seit 1884 der deutsche Korvettenkapitän und türkische Konteradmiral Starke als Marineberater in der Türkei, gewichtige Ergebnisse seines Aufenthaltes sind jedoch nicht bekannt. Starke verließ 1891 die Türkei und wurde Anfang 1892 durch den Korvettenkapitän und späteren türkischen Admiral Kalau vom Hofe ersetzt. Auch dessen Einfluß blieb gering; er machte eher durch Zerwürfnisse mit dem türkischen Marineminister und durch Fehlplanungen bei Marinegeschäften mit den deutschen Werften in Kiel von 216 Da die Anfrage aus der Türkei durch vorherige private Initiative Lossows entstand, kann hier durchaus von „erreichen“ gesprochen werden. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 26. 217 Offiziere: Trumpener, German Officers 1975, S. 35f. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 66. 218 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 30f. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, daß schon aufgrund der niedrigeren Dienstgrade der erwähnten Offiziere die Bezahlung durch den Sultan wesentlich moderater ausfiel als bei den Offizieren um den Preußen Kaehler. 63 sich reden.219 Die wenig fruchtbaren Ansätze einer Zusammenarbeit mit der kaiserlichen Marine hat die türkische Regierung 1908 dazu veranlaßt, Großbritannien um Hilfe bei der Reorganisation der Marine zu bitten. Dieser Bitte kamen die Briten ab 1909 mit insgesamt drei aufeinanderfolgenden Marinemissionen unter den Admiralen Gamble (1909-1910), Williams (1910-1912) und Limpus (1912-1914) nach, wodurch der Einfluß der Deutschen weitgehend auf die Einfädelung von Rüstungslieferungen beschränkt wurde.220 Schließlich darf zum dritten nicht vergessen werden, daß nicht nur deutsche Offiziere ins Osmanische Reich gingen, sondern auch türkische Offiziere in das Deutsche Reich reisten, um dort ausgebildet zu werden. Schon 1882 hatte der Sultan diesen Austausch angeregt und nach längerer Beratung stimmte Berlin der Entsendung türkischer Offiziere zu. Dennoch blieben stets Bedenken, daß politische Verwicklungen entstehen könnten, wenn Preußen – in dessen Armee wurden die Türken praktisch exklusiv entsandt – offiziell die Ausbildung übernahm. Diese Befürchtungen verhinderten eine intensive Ausbildung einer größeren Anzahl türkischer Soldaten.221 Dennoch wurde der Austausch zwischen beiden Armeen in den Jahren von 1895 bis 1908 weiter intensiviert und neben Offizieren sollten künftig türkische Unteroffiziere in das Ausbildungsprogramm einbezogen werden. Auch diese Vertiefung der Beziehungen wurde durch die Sorge der Deutschen vor einem Verlust des „moralischen Wertes“ der Truppe im Falle einer engeren Einbindung der türkischen Armeeangehörigen behindert.222 Die Ausbildung selbst reichte offenbar von „Anschauungsreisen“, die einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte und der Industrie vermitteln sollten, bis hin zu praktischer Ausbildung in 219 Zu Starke und Kalau vom Hofe siehe: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 58f. und 102104. 220 Rooney, Chris B.: The International Significance of British Naval Missions to the Ottoman Empire, 1908-1914, in: Middle Eastern Studies, Vol. 34, no. 1, Abingdon 1998. Zitiert nach der OnlineAusgabe: http://www.library.cornell.edu/colldev/mideast/ottus.htm (Stand: 18.09.2006.) 221 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 60f. 222 Schulte, Bernd F. : Vor dem Kriegsausbruch 1914 – Deutschland, die Türkei und der Balkan, Düsseldorf 1980, S. 22. (Im Folgenden: Schulte, Vor dem Kriegsausbruch 1980.) 64 technisch anspruchsvollen Militärbereichen, wie der Ausbildung zum Artillerieoffizier.223 Sogar Enver Pascha, der nach dem „jungtürkischen Handstreich“ auf die Hohe Pforte 1913 zum osmanischen Kriegsminister und 1914 zum Vizegeneralissimus224 avancieren sollte, diente in den Jahren 1909-1911 als Militärattaché in Berlin, bis er zur Teilnahme am türkisch-italienischen Kriege nach Tripolis abreiste.225 Wie sich später noch zeigen wird, war diese Zeit im Urteil der deutschen Offiziere für seine militärische Bildung wenig fruchtbar. II.2. Die Entwicklung zum deutsch-türkischen Bündnis (1912/13-1914) a) Die Balkankriege 1912/13 als „Generalprobe“ für die deutschen Offiziere Wie bereits angeklungen ist, stellten die kriegerischen Auseinandersetzungen des Osmanischen Reiches mit den Balkanstaaten das deutsch-türkische Verhältnis auf eine harte Probe. Das beruhte zum einen auf der offiziellen Neutralität des Deutschen Reiches, die schon im türkisch-italienischen Kriege für Enttäuschung in Konstantinopel sorgte, hatte die Hohe Pforte doch die vage Erwartung gehabt, daß Deutschland aufgrund der militärischen Beratungstätigkeit und besonders nach der Vermittlerrolle im Zuge der Orientkrise der 1870er Jahre zugunsten des Osmanischen Reiches eingreifen würde. Zum anderen waren sich die meisten Presseorgane und ganz besonders diejenigen der späteren Ententemächte einig, daß die deutschen Reformer in den letzten gut 30 Jahren nichts erreicht hätten.226 Eine Einschätzung, die reformkritische Kreise in Konstantinopel teilten. 223 Ebd., S. 23. Zum Dienst türkischer Offiziere in Deutschland auch in der Marine siehe: Römer, Matthias: Die deutsche und englische Militärhilfe für das Osmanische Reich 1908-1914, Frankfurt am Main (u.a.) 2007, S. 168-180. (Im Folgenden: Römer, Militärhilfe 2007.) Für die preußische Armee lassen sich im Zeitraum von 1884-1915 154 türkische „Offizieren à la suite“ nachweisen. Römer, Militärhilfe 2007, S. 386-391. Für die übrigen deutschen Kontingente liegen keine Zahlenangaben vor. 224 Offiziell lag der Oberbefehl über die osmanischen Truppen beim Sultan Mehmed V. Allerdings war dieser politisch so schwach, daß der effektive Oberbefehl beim Vizegeneralissmus (stellv. Oberbefehlshaber) Enver Pascha lag, der diesen Titel am 21.10.1914 erhielt. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 88. 225 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 287. Mühlmann, Carl: Enver Pascha, in: Deutsche Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften (Hrsg.): Heerführer des Weltkrieges, Berlin 1939, S. 143. 226 Schulte, Vor dem Kriegsausbruch 1980, S. 28. 65 Diese kritische Bewertung soll im Folgenden überprüft werden; Grundlage dafür sind die Berichte der wenigen deutschen Offiziere, die an den Kampfhandlungen aktiv teilnehmen konnten und die Kooperation mit den türkischen Truppen bewerteten. Auch während der Balkankriege arbeiteten deutsche Offiziere an der Reorganisation der türkischen Militärausbildung und insbesondere des Heerwesens. Allerdings war diese Tätigkeit weiterhin auf den Großraum Konstantinopel konzentriert. Die Deutschen dienten als Instrukteure in Modelleinheiten, als Lehrer an den wenigen Truppen- und Offizierschulen oder als Berater im Kriegsministerium. Einige Offiziere drängten jedoch darauf, an der Front ein Kommando zu bekommen, um Kriegserfahrungen zu sammeln. Immerhin hatte das Deutsche Reich seit 1871 keinen großen Krieg mehr ausgefochten.227 Bedenken gegen einen solches direktes Engagement wurden vor allem in Berlin geäußert. Der Einsatz deutscher Offiziere in türkischen Einheiten konnte von den übrigen Großmächten propagandistisch als offizielles Engagement zugunsten des Osmanischen Reiches gewertet werden, ein Eindruck, den Deutschland auf jeden Fall vermeiden wollte. Zudem glaubte die militärische Führung im Deutschen Reich nach den bisherigen begrenzten Erfolgen der Militärberater nicht an deren wirklich effektiven Einsatz in Feldformationen auf dem Balkan, da die Türken sicher dafür sorgen würden, daß der Einfluß auf die Kriegführung möglichst gering bliebe.228 Als Lösung dieser Probleme sahen die leitenden Stellen im Deutschen Reich die Annahme der türkischen Staatsangehörigkeit durch die teilnehmenden Offiziere an. 227 Es gab zwar besonders in Afrika einige kriegerische Auseinandersetzungen mit der indigenen Bevölkerung der deutschen Kolonien. Die Eigenart solcher „Kolonialkriege“ wie auch die relativ geringe Beteiligung deutschstämmiger Truppen machen solche Kriegserfahrung aber keinesfalls repräsentativ für den Leistungsstand der deutschen Armeen. Generell sind diese Kämpfe auch nicht mit Kriegen unter europäischen Großmächten und souveränen Staaten zu vergleichen. Einführend zu den Auseinandersetzungen in Afrika siehe: Pesek, Michael: Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika – Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt am Main 2005. Becker, Felicitas/Beez, Jigal (Hrsg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905-1907, Berlin 2005. Kriegsgeschichtliche Abteilung I des Großen Generalstabes (Bearb.): Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, Erster Band: Der Feldzug gegen die Hereros, Berlin 1906. Ders.: Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika, Zweiter Band: Der Hottentottenkrieg, Berlin 1907. Nuhn, Walter: Sturm über Südwest – Der Hereroaufstand von 1904 - Ein düsteres Kapitel der deutschen kolonialen Vergangenheit Namibias, Augsburg 2002. 228 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 114f. Daß die deutsche Seite selbst durch die unpräzise Auftragsformulierung und unkoordinierte Strukturen nicht unerheblich zum mangelnden Erfolg der Reformer in Konstantinopel beigetragen hatte, blieb unberücksichtigt. 66 Diese sehr vordergündige Vorgehensweise schützte nicht gegen propagandistische Vorwürfe, genügte jedoch formalen Anforderungen der Diplomatie und erlaubte der Hohen Pforte das deutsche Engagement etwa gegenüber England und Russland abzuwiegeln.229 In der Tat machte die Hohe Pforte die Annahme der türkischen Staatsangehörigkeit sogar zur Bedingung für eine Frontverwendung. Einige Offiziere waren bereit, diese Forderung zu erfüllen, ließen sich aber von deutscher Seite zusichern, nach Beendigung des Krieges wieder in den jeweiligen deutschen Bundesstaat und seine Streitmacht übertreten zu können.230 Die Offiziere aus den süddeutschen Staaten waren offenbar besonders bemüht, an den Balkankriegen teilzunehmen. Vor allem galt dies für die beiden bereits erwähnten Bayern Otto von Lossow und Franz Carl Endres sowie für den KavallerieOberleutnant Kaspar Graf von Preysing-Lichtenegg-Moos, der aber schon Ende November 1912 die Türkei wieder verlassen mußte.231 So konnten speziell die bayerischen Armeeangehörigen mit den preußischen gleichziehen, die ebenfalls drei Offiziere auf den Kriegsschauplatz entsenden durften.232 Einigen deutschen Offizieren war somit vergönnt, erste Kriegserfahrungen mit der osmanischen Truppe zu sammeln. Lossow diente zunächst im Stab der osmanischen „Ostarmee“, die in mehreren Kämpfen vom 22. Oktober bis zum 1. November 1912 vernichtend geschlagen wurde, und erhielt danach das Kommando über eine osmanische Division, die allerdings kaum zum Kampfeinsatz kam, während Endres im Stab des späteren Kriegsministers Izzet Pascha Dienst tat.233 Die jeweiligen 229 Auf ähnlich durchschaubare, aber formal offenkundig ausreichende Art und Weise vollzog das Osmanische Reich 1914 den Ankauf der beiden Schiffe der deutschen „Mittelmeer-Division“. Siehe unten, S. 95-97. 230 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 116 schildert die türkische Forderung als Vorsichtsmaßnahme gegen den möglichen Abzug der deutschen Offiziere während der laufenden Kämpfe. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 38 sieht in der türkischen Maßnahme einen weitergehenden Schritt gegen jedwede unliebsame Einmischung des Deutschen Reiches. Die Erfahrungen der deutschen Soldaten untermauern diese Ansicht. 231 Graf von Preysing-Lichtenegg-Moos hatte sich auf abenteuerliche Weise selbst der türkischen Armee zur Verfügung gestellt und besaß damit nicht offiziellen Charakter wie seine Kameraden. Die türkischen Befehlshaber entledigten sich daraufhin zügig des „Abenteurers“. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 43. Kurzbiographien zu diesem und Carl Endres: Ebd., S. 247f. und S. 241f. 232 Ebd., S. 39. Die Namen der preußischen Offiziere finden sich bei: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 117. 233 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 41f. 67 Erfahrungsberichte waren bei allen deutschen Kriegsministerien und Generalstäben gefragt und wurden zwischen den Bundesstaaten ausgetauscht.234 Eine private Veröffentlichung von Kriegserfahrungen wurde hingegen schon vorher untersagt: „[...] Abgesehen davon, daß es uns nichts nützt, fremden Heeren ihre Fehler zum Bewußtsein zu bringen, ungünstige Beurteilungen auch nicht zur Besserung unserer Beziehungen zu ihnen beitragen, wird auf jeden Fall und zwar auch durch günstige Besprechungen auf die stattgehabte Beobachtung aufmerksam gemacht, und die Folge ist die Erschwerung künftiger Beobachtungen.“235 Die meisten der überlieferten Erfahrungsberichte an die vorgesetzten Stellen stammen von Otto von Lossow, was um so interessanter ist, als eben dieser später als Militärattaché in der Türkei Verwendung finden sollte. Die Berichte und Aussagen des bayerischen Majors über die türkischen Leistungen müssen als „wenig schmeichelhaft“ charakterisiert werden. In praktisch jedem Schriftstück, das nicht ausschließlich mit Waffenwirkung oder ähnlichen, eher technischen Fragen zu tun hat, beschreibt er die osmanischen Truppen als unzureichend ausgerüstet und ausgebildet. Die Offiziere seien unfähig und vor allem unwillig, die Soldaten richtig zu führen, zudem leisteten einige von ihnen ständig mehr oder weniger offenen Widerstand gegen Befehle, die von ihm als Deutschem in osmanischer Uniform kämen.236 Als Beispiel sei sein streng vertraulicher Bericht über ein Gefecht bei Ormanli am 18., 19. und 20. November 1912 angeführt. Er kritisiert hier, daß die türkischen Befehlshaber keinen Überblick über die Truppenbewegungen gehabt hätten. Dadurch wären die ohnehin erschöpften und zusammengewürfelten Verbände auf dem Weg zu ihren Einsatzräumen unnötig umhergeschickt worden. Der einzige Effekt sei somit eine weitere Verschlechterung der Einsatzbereitschaft der Truppen gewesen.237 234 Schreiben Nr. 24829 des Kriegsministeriums in München an den bayerischen Generalstab und den preußischen Attaché in München vom 6.11.1912, KA München, MKr. 986. 235 Schreiben des Kriegsministeriums in München an sämtliche unmittelbar berichtenden Stellen. No. 2457 vom 16. Februar 1912, KA München, MKr. 986. 236 Diese Einschätzung des Widerstandes gegen deutschen Einfluß in der osmanischen Kommandostruktur dient im Rahmen der Überlegungen zu einer Militärmission ebenfalls, um die Notwendigkeit eines besonders weitgehenden Engagements im osmanischen Reich zu unterstreichen. Siehe unten, S. 73-78. 237 Bericht des kaiserlich osmanischen Oberstleutnants und königlich bayerischen Majors v. Lossow über ein Gefecht im Balkankrieg 1912 gegen die Bulgaren, S. 2, KA München, MKr. 986. 68 Außerdem waren die Kommunikationsverbindungen völlig unzureichend, da das Personal der Telegraphenstationen größtenteils vor den Kämpfen geflohen war. Telefonverbindungen mit höheren Kommandostellen konnten nur gewährleistet werden, wenn die Stationen durch Marinesoldaten besetzt waren. Ansonsten mußte auf Meldereiter zurückgegriffen werden. Allerdings versagten diese völlig, denn um einen schriftlichen Befehl über eine Distanz von 6 km zu befördern, hätten die Reiter 9 Stunden benötigt.238 Wenn ein Befehl eines vorgesetzten türkischen Offiziers dann tatsächlich einmal Lossow erreicht habe, so sei er oft „unbrauchbar“ gewesen, da wichtige Angaben, wie etwa die Abgangszeit, fehlten.239 In Ermangelung ausreichender Feldartillerie und begünstigt durch die Küstennähe des Gefechtsfeldes wurde Lossow – so fügte er kritisch an – als Feuerunterstützung das türkische Linienschiff „Torgut Reis“ (früher die deutsche „S.M.S. Weißenburg“) zugewiesen. Allerdings meldet ihm der Kommandanten des Schiffes, keinen Signaltrupp zur Verfügung stellen zu können. Eine sachdienliche Kommunikation mit dem Kriegsschiff oder gar eine wirksame Feuerleitung war dadurch nicht möglich. Der bayerische Offizier bemerkt dazu: „Kaum glaublich!! Wahrscheinlich nur eine faule Ausrede. Indolenz u. Verständnislosigkeit.“240 Aufgrund seines scharfen Protestes wird ihm vom osmanischen Armeehauptquartier empfohlen, durch Schwenken einer Fahne das Signal zum Feuern an das Schiff zu übermitteln. Die Unwirksamkeit eines solchen Verfahrens liegt auf der Hand. Verschlimmert wurde die Situation dadurch, daß die „Torgut Reis“ in den kommenden Tagen die Feuerunterstützung der Heeresverbände einstellte, als der Kommandant glaubte, seiner Pflicht genüge getan zu haben. Dabei spielte der Stand der Kampfhandlungen zu Lande offenbar keine Rolle. Lossow bestand deshalb energisch auf der Entsendung eines Signaltrupps, der ihm tatsächlich kurz vor dem Ende der Kämpfe auch zur Verfügung gestellt wurde. Jedoch nutzten die Soldaten des Trupps die Umstände des letzten Kampftages, um sich abzusetzen, worauf Lossow frustriert schreibt: 238 Bericht des kaiserlich. osmanischen Oberstleutnants und königlich bayerischen Majors v. Lossow über ein Gefecht im Balkankrieg 1912 gegen die Bulgaren, S. 7f., KA München, MKr. 986. 239 Lossow kritisiert hier insbesondere den General Pertev Pascha, der ein Schüler des Freiherrn von der Goltz war und –wie Lossow selbst bemerkt – „als der befähigste und gebildeste der türkischen Generalstabsmänner“ galt. Ebd., S. 30f. 240 Ebd., S. 3. 69 „Eine gemeine Feigheit! Es bedurfte an den Gefechtstagen und ebenso später der größten Energie und der gröbsten Mittel, um das aktive und passive Wiederstreben [sic] der Flotte zu überwinden, sich meinem Befehl d.h. dem Befehl eines Landoffiziers zu fügen!“241 Die Kämpfe endeten schließlich mit einem Rückzug der osmanischen Truppen. Neben den beschriebenen Mißständen geht aus dem Bericht hervor, daß der Ausbildungsstand der Offiziere und Mannschaften – offenbar nicht nur nach deutschem Maßstab – mangelhaft war. Die Mannschaften hätten zum großen Teil vor dem Kriege noch nie einen scharfen Schuß abgefeuert und die Offiziere wären nicht einmal in der Lage gewesen, die Truppen zum raschen Beziehen von Stellungen zu bewegen, von effektiven Angriffsbewegungen ganz zu schweigen.242 Um dieses desolate Bild abzurunden, liegt dem Bericht in Anlage die Übersetzung der Schilderungen eines türkischen Arztes bei. So seien dem ganzen Detachement, das praktisch Divisionsumfang besaß, nur ein Arzt und ein Apotheker zugeteilt gewesen. Der Apotheker sei zudem an Dysenterie erkrankt und direkt am ersten Tag ins Lazarett gebracht worden. Das Sanitätspersonal bestand aus 15 Mann, die kaum über Medizin und Verbandmaterial verfügten. Krankentragen fehlten. Ähnliche Zustände beschreibt der Chefarzt der Sanitätskompanie der Denisli-Division in einem geheimen Bericht.243 Der Eindruck ist verheerend und Lossow läßt auch in der Folge keine Gelegenheit aus, um diese persönliche Einschätzung bei den höchsten Stellen im Deutschen Reich publik zu machen. Andere deutsche Offiziere, die an den Balkankriegen aktiv teilnehmen konnten, teilen Lossows negatives Urteil über die militärische Leistungsfähigkeit der Türkei. Die Auswirkungen des Mangels an Kommunikationsmitteln erlebte beispielsweise der preußische Major Veith.244 In seinem Bericht über die „Ursachen der türkischen 241 Ebd., S. 30. Bericht des kaiserlich. osmanischen Oberstleutnants und königlich bayerischen Majors v. Lossow über ein Gefecht im Balkankrieg 1912 gegen die Bulgaren, S. 38 u. 40, KA München, MKr. 986. 243 Bericht des Chefarztes der Sanitätskompagnie der Denisli-Division, Kara Burnu 23.1.1913, Geheim, KA München, MKr. 986. 244 Nach Angaben im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg handelt es sich um den preußischen Major Veit (hier ohne „h“ geschrieben), der zuvor stellvertretender Kommandeur des Dragoner Regiments von Wedel (Pommersches) Nr. 11 war. Von 1909-1912 hielt er sich als Kavallerie-Kommandeur und osmanischer Oberstleutnant in Konstantinopel auf. Vgl. hierzu: MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der 242 70 Niederlage nach meinen Erfahrungen bei der Kavallerie Division Salih Pascha“ vom 10. November 1912 beklagt er das Fehlen sowohl telegraphischer Leitungen als auch die völlige Desorganisation des Meldereiterwesens, was zu völliger Verwirrung auf dem Schlachtfeld geführt habe.245 Die osmanische Führung charakterisiert er wie folgt: „Der türkische Truppenoffizier ist zu alt, der Generalstab zu jung. Der Generalstab ist bei der Truppe nicht geachtet, jedoch gefürchtet wegen seiner politischen Einflüsse und Bestrebungen und seiner Arroganz.“246 Der bereits erwähnte „Abenteurer“ Oberleutnant Graf von Preysing schreibt in einem Brief nach Bayern, daß nicht etwa die bulgarische Armee, sondern der Hunger die türkische Niederlage bewirkt habe.247 Und vollkommen resigniert berichtet der bayerische Hauptmann und osmanische Major Endres im September an das Kriegsministerium in München: „Allgemeine Lehren, die von Wirkung auf unsere Gesamtlehre sein könnten aus dem Kriege zu ziehen, wird ein vergebliches Unternehmen sein. Der Krieg ist im Grossen und Ganzen aus naheliegenden Gründen nicht lehrhaft gewesen. Die türkische Armee war so wenig geeignet zu einer operativen Offensive, dass sie eigentlich in erster Linie an sich selbst zu Grunde ging. [...] Endlich haben noch Klima und Boden, Natur der Menschen und politische Verhältnisse Grundlagen geschaffen, wie sie in einem deutsch-französischen Kriege wohl nicht vorkommen werden. [...]“248 Nur sehr vereinzelt tauchen auch anerkennende Urteile über die osmanischen Streitkräfte auf. Der damalige türkische Oberst Back – zu diesem Zeitpunkt für die Türkei, Blatt 6. Rangliste der Königlich Preußischen Armee und des XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps für 1909, Berlin 1909, S. 356. (Im Folgenden: Rangliste 1909.) Deutscher Offizier-Bund (Hrsg.): Ehren-Rangliste des ehemaligen Deutschen Heeres – Auf Grund der Ranglisten von 1914 mit den inzwischen eingetretenen Veränderungen, Bd. 1, (Neudruck der Ausgabe Berlin 1926) Osnabrück 1987, S. 453. (Im Folgenden: Ehren-Rangliste 1914, Bd. 1.) 245 Ursachen der türkischen Niederlage nach meinen Erfahrungen bei der Kavallerie Division Salih Pascha, Bericht des Majors Veith vom 10.11.1912, BAMA Freiburg, W 10/ 50321, S. 1f. (Im Folgenden: W 10/ 50321, Bericht des Majors Veith.) 246 Ebd., S. 4. 247 Brief des Oberleutnants a.D. Graf von Preysing an den Kommandeur des bayr. 7. Chevauleger Regiments vom 8.11.1912, BAMA Freiburg, W 10/ 50321, S. 2. (Im Folgenden: W 10/ 5321, Brief des Oberleutnant a.D. Graf von Preysing.) 248 Ein Abdruck des Schreibens ist zu finden im: Schreiben Nr.1024K. Chef des Generalstabes der Armee an den bayr. Militär-Bevollmächtigten GenMaj. Wenninger, Berlin den 1.Juli 1913, KA München, MKr. 986. 71 Ausbildung türkischer Offiziere verantwortlich249 – schreibt: „Die Leistungen waren unter den schwierigen Verhältnissen gute. Die Offiziere waren zwar unbeholfen aber aufopferungsfähig. Sie bedurften natürlich immer eines gewissen Drucks und der Kontrolle.“250 Und Graf von Preysing ist der Ansicht, man könne mit den türkischen Soldaten die Welt erobern, immer vorausgesetzt, sie würden von deutschen Offizieren geführt und von deutscher Intendantur versorgt.251 Diese Aussagen mögen zum einen den persönlichen Erfahrungshorizont widerspiegeln, denn Back war Ausbilder der türkischen Offiziere, die dort kämpften und kam nicht in eine Frontverwendung, kannte daher die „wirklichen Verhältnisse“ nur bedingt. Andererseits konnte er schlechterdings kaum eingestehen, daß seine Ausbildung versagt hätte, sondern die „widrigen Umstände“ und „Charakterfehler der Türken allgemein“ mußten als Ursachen herhalten. Ähnlich argumentiert Graf Preysing in dem Bericht an seinen Regimentskommandeur. In seiner Verwendung als Führer berittener Patrouillen dürfte er kaum in Kämpfe größeren Ausmaßes verwickelt gewesen sein.252 Allerdings deutet der Verweis auf die Notwendigkeit deutscher Führung auf eine Empfehlung für die eigene Person hin. Nach dem eigenständigen Übertritt in osmanische Dienste hätte eine Entsendung als offizieller Militärberater für Preysing eine materiell reizvolle und prestigeträchtigere Perspektive geboten.253 In diesen nicht völlig negativen Urteilen zeichnen sich bereits maßgebende Einschätzungen der deutschen Offiziere ab, wenn es um Lehren aus den Balkankriegen geht. Das sind zum einen Lehren für die moderne Kriegführung, die Lossow im Gegensatz zu Endres sehr wohl aus den Kämpfen zu ziehen vermag. Er meint damit Beobachtungen über Geschoß- und Waffenwirkung sowie über die 249 Siehe zu Generalmajor Back auch oben, S. 60. RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 8f. 251 W 10/ 5321, Brief des Oberleutnants a.D. Graf von Preysing, S. 2. 252 Zu seiner Verwendung: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 43. 253 Der Prestigegewinn besteht dabei vor allem in dem Status als offizieller und von deutscher Seite ausgewählter Militärberater (verbunden mit höherem Rang und besserer Bezahlung), im Gegensatz zu dem „Ruch des Söldnerhaften“, der seiner aufdringlichen Dienstnahme in der Türkei auch nur eine kurze Dauer bescherte. Ein Prestigegewinn in den Augen der deutschen Kameraden in der Heimat war mit einer Entsendung in das Osmanische Reich nur selten verbunden. 250 72 Bedeutung einer intakten Truppenmoral.254 Zum anderen werden aber allgemeine Überlegungen über den Zustand des Osmanischen Reiches und seiner Armee nach Deutschland übermittelt, die mit Perspektiven einer zukünftigen Zusammenarbeit verbunden werden. Lossows Ausführungen verdienen hier wieder besondere Aufmerksamkeit, da sie in schonungsloser und die Türkei geradezu beleidigender Art und Weise den entscheidenden Stellen in München und Berlin ein Bild von einem möglicherweise verbündeten Osmanischen Reich aufzeigen sollten. Einen Eindruck von den drastischen Ansichten in diesen Berichten gibt ein Schreiben an das bayerische Kriegsministerium vom 2. April 1913: „In der Völkerkunde, in Büchern und Schriften, in der öffentlichen Meinung der Welt sind über die Türken 2 Leitsätze verbreitet: 1. Die Türken sind ein Herrenvolk. 2. Die Türken sind ein kriegerisches Volk. Nichts falscheres als diese Sätze. 1. Wenn das Ideal eines „Herren“ ein faules, ungebildetes, indolentes Subjekt ist, das, soweit irgend möglich, jede körperliche und geistige Arbeit vermeidet, -dann sind die Türken „Herren“. Die Türken sind ein Sklavenvolk, das nur mit eiserner Zuchtrute, mit eiserner Faust, mit der Knute regiert und zur Ordnung, Zucht, Arbeit und Disziplin erzogen werden kann. 2. Ich kann mir auf der ganzen Welt kein unkriegerisches Volk denken als die heutigen Türken d.h. das Völkergemisch in Makedonien, Thrakien und Anatolien, das die heutigen türk. Armeen geliefert hat.“255 Die türkische Armee des Balkankrieges ist seiner Meinung nach mutlos und unkriegerisch. Ein Umstand, für den die Regierung in Konstantinopel, damit meint er die Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, die sich im Januar 1913 an die Macht geputscht hatte, die Verantwortung trage. Überhaupt läßt Lossow an keinem politisch Verantwortlichen in der Türkei ein gutes Haar. Besonders der junge 254 Kriegserfahrungen, Bericht des Oberstleutnant von Lossow vom 25.1.1913, Streng Vertraulich. Kriegserfahrungsbericht, Bericht von Lossow vom 3.2.1913, Geheim. Beide in: KA München, MKr. 986. 255 Abschrift eines Schreibens von Lossow an das kgl. bayr. KM vom 2.4.1913, Geheim, S. 15-17. KA München, MKr. 986. 73 Enver Bey wird von ihm als kaltblütiger Mörder des früheren osmanischen Kriegsministers dargestellt. Der Ton in Lossows Berichten wirkt in der Tat nach dem jungtürkischen Putsch schärfer als in den Berichten, die er direkt über seine Kriegserlebnisse geschrieben hatte. Die sehr stark pauschalisierenden Äußerungen des bayerischen Offiziers sollten augenscheinlich dazu beitragen, die katastrophale Niederlage einer Armee zu erklären, die seit mehreren Jahrzehnten angeblich durch deutsche Offiziere reformiert worden war. Um von vorneherein den Eindruck zu vermeiden, daß die deutsche Ausbildung ineffektiv und nutzlos sei, wurde früh nach den Ursachen für die türkische Niederlage gesucht. Dabei hielten sich die deutschen Offiziere die zweifellos eigentümlichen Verhältnisse am Bosporus als große Hemmnisse zugute. Die internationale Tagespresse kümmerte sich um solche Erklärungen wenig. Die deutschen Militärreformer wurden heftig kritisiert, allen voran der preußische Generalfeldmarschall (seit 1911) von der Goltz. Obgleich diese Kritik mehrheitlich politisch motiviert war256, sah sich Goltz genötigt, einen Aufsatz mit dem Titel „Der jungen Türkei Niederlage und die Möglichkeit ihrer Wiedererhebung“ zu verfassen, in dem er sich der Anschuldigungen zu erwehren suchte.257 Er verwies darauf, daß ihm keinerlei direkte Einflußnahme möglich gewesen sei, da er sich während der Balkankriege nicht in der Türkei aufgehalten habe. Zudem könne die deutsche Ausbildung des osmanischen Heeres gar nicht versagt haben, denn wenn „damit aber der ‚preußische Drill’ – dies geheimnisvolle auch im Vaterlande noch in der 256 Neben Artikeln in der Presse der Entente-Staaten kam die schärfste Kritik offenbar aus Italien. Sehr wahrscheinlich wirken hier Verstimmungen aus dem „Tripoliskrieg“ von 1911 nach, da auch das Deutsche Reich die Aggression Italiens gegen das Osmanische Reich kritisiert hatte. Siehe hierzu: Zeitungsausschnitt in BAMA Freiburg N 737 /24: Offener Brief an Freiherrn von der Goltz (von Josef Sonntag aus Rom), in: Janus-Münchner Halbmonatsschriften, 1. Jahrgang Nr. 23, München 1912, S. 529-532. Der Autor, selbst Kritiker der „Türkeifreundlichkeit“ des Feldmarschalls, bezeichnet die italienische Kritik als „unverschämt“, aber in der Sache richtig. Die weitere Argumentation nennt die „innere Fäulnis“ und das „Barbarentum“ der Osmanen als ursächlich für die Niederlage. Der Artikel mündet schließlich in dem Fazit, daß sich Deutschland besser andere Verbündete für seine Interessen im Orient suche, da die Türken „sich immer noch an den Meistbietenden halten“ werden. Die öffentliche Kritik bezieht sich demnach weniger auf fachliches Versagen der deutschen Reformer als vielmehr auf das Scheitern der politischen Intentionen des Deutschen Reiches, dessen Orientpolitik auf einer Fehleinschätzung der osmanischen Leistungsfähigkeit beruhe. 257 Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 156. 74 Phantasie vieler Leute umgehende Schreckgespenst – zusammenbrechen konnte, hätte er zuvor erst eingeführt werden müssen, woran niemand gedacht hat“. 258 Die Anschuldigungen in der Presse, auch in den deutschen Blättern, hatten eine starke Frustration der deutschen Offiziere zur Folge. Sowohl Lossow als auch Goltz geben den Journalisten eine Mitschuld an der Niederlage. Lossow erklärte, daß der „Osmanische Lloyd“, die einzige deutsche Zeitung in der Türkei, nur durch Schmeichelei gegenüber den Jungtürken und durch falsche Siegesmeldungen auffalle, was der „deutschen Sache“ sehr geschadet habe. Die osmanische Seite habe sich in ihrer Kriegführung bestätigt gesehen und den Einfluß deutscher Militärberater auf den Feldzug minimiert.259 Auch Goltz verweist schon 1909 anläßlich der Bitte des Kaisers um einen weiteren Aufenthalt bei der türkischen Armee auf die unsachliche Berichterstattung in der deutschen Presse. In einem Brief an seinen Sohn Friedrich äußert er die Sorge, daß das übertriebene Lob für seine frühere Tätigkeit völlig unrealistische Erwartungen bei den deutschen Stellen wecken könnte. Zudem werde durch eine unmäßig positive Darstellung der Erfolge bei der Reform der türkischen Armee das Ego der nunmehr regierenden Jungtürken ins Unerträgliche gesteigert. Die deutsche Presse zeige sich hier aber wieder „in ihrer vollen Erbärmlichkeit“.260 In seinem Aufsatz über die Niederlage der türkischen Armee kommt Goltz abschließend sogar zu dem Urteil: „Wenn ich trotzdem durch halb Europa als der Verderber der armen türkischen Armee bezeichnet worden bin, so hat mich dies um eine Erfahrung bereichert, nämlich, daß alles was öffentliche Meinung und Urteil der Welt heißt, noch mehr Geringschätzung verdient, als ich sie vorher schon besaß [...].“261 Die deutschen Reformer sahen sich also zu Unrecht angegriffen. Zugleich erkannten sie aber auch, daß es der „Öffentlichkeit“ weitgehend gleichgültig war, wer en detail 258 Goltz, Colmar Freiherr von der: Der jungen Türkei Niederlage und die Möglichkeit ihrer Wiedererhebung, Berlin 1913, S. 68. (Im Folgenden: Goltz, Niederlage 1913.) 259 Abschrift eines Schreibens von Lossow an das kgl. bayr. KM vom 2.4.1913, Geheim, S. 23f. KA München, MKr. 986. In dieser Argumentation mag Apologetik mitschwingen, doch es wird auch deutlich, daß die deutschen Offiziere der Ansicht waren, mit genügenden Befehlsbefugnissen die osmanischen Armee zum Erfolg verhelfen zu können. Die „Unfehlbarkeit“ der eigenen Lehren und deren Anwendbarkeit auf orientalische Verhältnisse werden fraglos vorausgesetzt. 260 Goltz an seinen Sohn Friedrich, Friedrichroda den 1.6.1909, BAMA Freiburg, W 10/ 50716, Blatt 151-154. 261 Goltz, Niederlage 1913, S. 70. 75 und in welchem Umfang für die Niederlage verantwortlich war. Es galt daher vor allem, größeres Unheil von der deutsch-türkischen Kooperation und damit in erster Linie weiteren Prestigeverlust vom Deutschen Reich abzuwenden. Endres und Lossow verfaßten Denkschriften zu einer zukünftigen Gestaltung der militärischen Reformen im Osmanischen Reich. Carl Endres entwickelte in seinen Ausführungen das Modell einer vollständigen Übernahme der wichtigsten Kommandoposten in der Türkei durch deutsche Offiziere. Es sollte ein deutscher „Generalinspekteur“ eingesetzt werden, der nicht nur finanziell unabhängig agieren könnte, sondern auch das Recht hätte, jeden türkischen General abzusetzen, der sich als unzureichend befähigt erwiese. Außerdem sollten die Divisionskommandeure deutsche Offiziere sein, die direkt diesem Inspekteur unterstünden, und selbstverständlich müßten die Militärschulen Deutschen unterstellt werden.262 Diese Überlegungen verkannten jedoch die Position des Deutschen Reiches gegenüber dem souveränen und zu jenem Zeitpunkt offiziell nicht verbündeten Osmanischen Reich vollkommen. Dennoch vertrat auch Otto von Lossow ähnliche Ansichten bezüglich einer „militärischen Vasallisierung“ der Türkei. Er sah zwei Möglichkeiten für die Zukunft des militärischen Engagements im Orient. Einerseits konnte Deutschland die bisherigen Anstellungsverträge der Militärberater noch einige Jahre tolerieren, um mit deren Auslaufen auch die deutsch-türkische Zusammenarbeit ohne großes Aufsehen zu beenden. Damit würde Deutschland ein weiteres Fiasko, wie es unzweifelhaft bei Beibehaltung der bisherigen Beratertätigkeit zu erwarten sei, erspart werden. Sollte sich der Kaiser aber für eine Fortsetzung der militärischen Hilfe aussprechen, so müsse zunächst die türkische Seite dazu gebracht werden, quasi um deutsche Unterstützung zu betteln. Andernfalls wäre es niemals möglich, die weitgehenden Forderungen als neues Reformwerk umzusetzen. Als wichtigste Komponente einer solchen Reform erschien Lossow die einheitliche Führung der Reformoffiziere, die in einer deutlich aufgewerteten Militär-Mission zusammengefasst werden sollten. Der Missionschef sollte den höchsten türkischen Rang im Militär bekleiden und im Notfall sogar den Kriegsminister oder den Chef des Generalstabes absetzen können. Auch dem Missionschef sollten ähnlich dem „Generalinspekteur“ bei Endres nahezu 262 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 122. 76 unbegrenzte Vollmachten von der Ausbildung über das Eisenbahnwesen bis hin zur Personalpolitik zugestanden werden. Die verschiedenen Ausbildungsanstalten sowie 1-2 Divisionen sollten direkt deutschen Kommandeuren unterstellt werden. Kein deutscher Offizier dürfe dem Befehl eines Türken unterstehen. Lediglich dem Kriegsminister und dem Generalstabschef könne man „eine Art Scheinstellung einräumen“. Abschließende Forderungen zielten auf die Beibehaltung der Erhöhung des Dienstgrades beim Übertritt in osmanische Dienste, da die türkischen Offiziere im Verhältnis zu ihrer Kompetenz unangemessen hohe Ränge besäßen. Dabei könnte sogar eine Erhöhung um 2 Dienstgrade möglich sein. Zudem wird – man mag sich kaum wundern – eine Erhöhung des Gehaltes für längerdienende Reformoffiziere gefordert.263 In seiner bereits erwähnten drastischen Ausdrucksweise hatte Lossow schon einige Monate zuvor deutlich gemacht, welche Zukunft er für die deutsch-türkische „Zusammenarbeit“ sah: „Nur unter Vormundschaft (so etwa wie Ägypten unter England) werden die Leute zur Arbeit, Pflicht, Disziplin und Ordnung erzogen werden können- und die noch gesunden Elemente des Volkes werden sich dabei viel wohler befinden und glücklicher sein, als unter der jetzigen Schweinewirtschaft.“264 Die Forderungen der Deutschen mögen nachvollziehbar sein, wenn man berücksichtigt, wie frustrierend die Erfahrung einer solch schweren Niederlage in Verbindung mit einem hohen Maß an öffentlicher, zum Teil unberechtigter Kritik gewesen sein muß. Dennoch dürfte den Beteiligten klar gewesen sein, daß ihre Forderungen in keinem Falle vom Sultan akzeptiert werden würden. Auch für jeden anderen Staat hätten die Berichte eine völlig inakzeptable Zumutung dargestellt, doch offenbar sah man die Türkei als so geschwächt an, daß derartige MaximalForderungen gestellt werden konnten und zwar in der Hoffnung, wenigstens einen Teil davon umsetzen zu können. Interessanterweise ist dies ein Prinzip, daß schon Goltz als das gängige, türkische Vorgehen beschreibt.265 Inwieweit Hoffnungen auf 263 Bericht Lossows „Gedanken über Reformen in der Türkei“, Konstantinopel den 19.5.1913, KA München, MKr. 986. 264 Abschrift eines Berichts Lossows an das königlich bayerische Kriegsministerium vom 4.2.1913, Geheim, S. 8f. KA München, MKr. 986. 265 In einem Brief aus Konstantinopel vom 22.8.1893 schreibt Goltz: „Der Sultan ist gewöhnt, daß man 100 fordere, um 1 zu bewilligen.“ Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 120. 77 eine eigene Verwendung als Missionschef oder „Generalinspekteur“ bei Lossow oder Endres eine Rolle spielten, muß Spekulation bleiben. In jedem Fall erhielten die Vorschläge der Reformoffiziere Unterstützung durch den deutschen Botschafter in Konstantinopel und den Militärattaché. Tatsächlich gelang es bei der nunmehr vom „Komitee für Einheit und Fortschritt“ geführten Regierung, das Modell einer einheitlich strukturierten deutschen Militärmission mit einem starken Missionschef durchzusetzen. Der Großwesir, zu diesem Zeitpunkt noch Mahmud Schefket Pascha, machte allerdings die Berufung eines Offiziers ohne Türkeierfahrung als Leiter der Militärmission zur Bedingung. Ob damit tatsächlich die hinderliche „Cliquen-Wirtschaft“ unterbunden oder nur die Zeit gewonnen werden sollte, die der „unerfahrene“ Chef zur Eingewöhnung brauchen würde, bleibt dahingestellt.266 Mit dieser Einigung leiteten die beiden Ländern einen neuen Abschnitt in ihrer militärischen Zusammenarbeit ein, denn am 22. Mai 1913 stellt die türkische Regierung den förmlichen Antrag auf Entsendung einer deutschen Militärmission, der ersten Mission, die diese Bezeichnung auch verdiente.267 b) Liman von Sanders und die Deutsche Militärmission vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1913-1914) Otto Liman von Sanders, preußischer Generalleutnant und Mitte 1913 durch Kaiser Wilhelm II. nobilitiert, war zum Zeitpunkt seiner Berufung „einer der ältesten 266 Jehuda Wallach beschreibt die Verhandlungen und sieht im Handeln des Großwesir die Bemühung, eine ähnlich enge, persönliche Beziehung wie zwischen Goltz und Pertev Pascha zu verhindern. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 124. Goltz spricht in seiner Privatkorrespondenz mit General von Kluck, dem späteren Befehlshaber der deutschen 1. Armee, allerdings in auffallend löblicher Art und Weise von Mahmud Schefket Pascha und es kann angenommen werden, daß Goltz auf seinen Reisen den Großwesir kennengelernt hatte, wo er in seiner offenen Art aus seiner Wertschätzung sicher keinen Hehl gemacht hätte. Außerdem war der preußische Generalfeldmarschall einer der Befürworter der jungtürkischen Bestrebungen im Osmanischen Reich. Brief von Goltz an Kluck, Berlin den 24.4.1909, BAMA Freiburg, N 737/12. Brief Goltz an Herrn Alexander vom 14.6.1913, BAMA Freiburg, W 10/ 50716, Blatt 190. Der Großwesir mußte also eine persönliche Benachteiligung, wie er sie anführte, weniger fürchten als die Tatsache, daß eine stärkere deutsche Einmischung von anderen bekannten und leider eben wenig bewährten Deutschen die noch fragile neue Regierung nur schwächen und möglicherweise zu ihrem Sturz beitragen könnte. 267 In der Forschung ist offenbar nicht geklärt, ob deutsche oder türkische Initiative für dieses Gesuch ausschlaggebend gewesen ist; diese Frage vermag auch die vorliegende Arbeit nicht zu beantworten. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 126. 78 Kommandeure der deutschen Armee“.268 Glaubt man den Zeitangaben in Limans Erinnerungen und bei Jehuda Wallach, so war der zukünftige Chef der Militärmission zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme durch das Militärkabinett „noch nicht einmal“ nobilitiert.269 Da Liman in seinen Erinnerungen zudem den Absatz des Telegramms betont, in dem ausdrücklich keine besonderen Sprach- und Landeskenntnisse gefordert werden, ist zu vermuten, daß der General über keine „Sonderqualifikationen“ dieser Art verfügte.270 Die Gründe für die Berliner Entscheidung sind daher kaum nachzuvollziehen, zumal der deutsche Botschafter Wangenheim in seinem Schreiben eine „allererste militärische Kraft“ gefordert hatte, die „als Chef des Generalstabes eines Armeekorps selbständig Generalstabsreisen geleitet“ habe.271 Mit dieser Stellenbeschreibung war sicher nicht der Kommandeur einer Division in Kassel gemeint. Wallach wirft der deutschen Seite deswegen schwere Fehler in der Auswahl der Mitglieder der Militärmission vor.272 Die Plausibilität dieser Aussage wird später noch zu untersuchen sein. An dieser Stelle muß aber konstatiert werden, daß Liman von Sanders sicher nicht zu den wichtigsten und „allerersten“ militärischen Befehlshabern im Deutschen Reich zählte. Seine Berufung verwundert um so mehr, wenn man den Vertrag betrachtet, der mit der Hohen Pforte geschlossen wurde. In bewährter „Tradition“ der Verträge mit den früheren deutschen Militärberatern wurde kein offizielles Schreiben zwischen den beiden Regierungen aufgesetzt, sondern ein Vertrag zwischen Liman von Sanders und dem osmanischen 268 Dies ist eine eigene Aussage. Liman von Sanders, Otto: Fünf Jahre Türkei, Berlin 1920, S. 9. (Im Folgenden: Liman, Fünf Jahre Türkei 1920.) 269 Liman gibt das Datum der Anfrage aus Berlin mit dem 15. Juni 1913 an. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 9. Wallach nennt als Datum der Nobilitierung den 16. Juli 1913. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 136. Auch wenn er fälschlicherweise den Tag der Nobilitierung mit dem Tag des Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. (15.Juni 1913) gleichsetzt, so impliziert doch die Nähe der Erhöhung Limans zum Angebot der Entsendung entweder ein „Ködern“ Limans für diesen fernen Posten oder auch die Erkenntnis, daß in die Türkei ein Offizier von entsprechendem Stande entsandt werden müsse, wenn schon nicht der „Fähigste“ geschickt werden würde. Siehe dazu auch Kapitel IV.3. 270 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 10. 271 Ebd. 272 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 134. 79 Marineminister als Vertreter der Regierung geschlossen.273 Auf der politischen Ebene war Deutschland also weiterhin bemüht, keine unnötigen Spannungen durch offizielles Engagement am Bosporus zu erregen. Der im Oktober von türkischer Seite und im November 1913 von Liman unterzeichnete Geheimvertrag, der auch Regelungen für das zur Militärmission gerechnete Führungspersonal enthielt, gewährte deutschen Offizieren eine umfassende Kontrolle des osmanischen Heerwesens.274 Der größte Teil des Abkommens betraf allerdings die Stellung des Chefs der Militärmission innerhalb der osmanischen Hierarchie. Liman sollte Befehlshaber des I. osmanischen Armeekorps werden und Mitglied im Obersten Kriegsrat des Sultans. Damit erhielt er Kommandobefugnisse über dasjenige Armeekorps, dem der Schutz Konstantinopels und der Meerengen oblag, eine Stellung, deren politische Implikationen sehr bedeutsam werden sollten. Als Mitglied des Obersten Kriegsrates konnte er Einfluß auf praktisch alle Beratungen über militärische Gegenstände nehmen. Von der Organisation des Heeres über sämtliche Bereiche der Logistik, der Kommunkations- und Beförderungswege, der Ausbildung, bis hin zu Sanitätswesen und Mobilmachung erhielt der deutsche Chef der Mission Mitspracherecht. Zudem erhielt er die Aufsicht über alle Militärschulen und die Ausbildung der osmanischen Stabsoffiziere. Auch besaß er Mitbestimmungsrecht bei der Wahl von Offizieren, die für Beförderungen und Lehrgänge (auch im Ausland) vorgesehen waren. Alle ausländischen Offiziere im türkischen Heer unterstanden fortan dem deutschen General. Beinahe hätte diese Regelung auch den französischen General Baumann und verschiedene andere nicht-deutsche Offiziere getroffen, die mit der Ausbildung der Gendarmerie (Jandarma) befaßt waren. Mögliche Konflikte umging die Hohe Pforte geschickt, indem die Gendarmen dem Kriegsministerium entzogen und dem Innenministerium unterstellt wurden.275 Bei diesen Einheiten handelte es sich um eine Art paramilitärischer Polizeitruppe, die schon früh Reputation als „Elitetruppe“ 273 Die Wahl des Marineministers als Vertreter der Regierung für diese Heeresangelegenheit mag verwundern, sie beruht jedoch auf Machtstrukturen und –positionen innerhalb der osmanischen Regierung und „jungtürkischer“ Parteikreise. 274 Zu den folgenden Ausführungen über den Inhalt des Vertrages siehe auch die Abschrift in ANHANG B. 275 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 24. 80 genossen hatte. Liman gibt die Personalstärke dieser Truppe mit über 80.000 Mann an, während neue Forschungen die Zahl noch höher ansetzen.276 Im Kriege wurden diese Einheiten immer wieder an und hinter der Front eingesetzt; das Institut der Jandarma hat bis heute eine besondere Stellung in der modernen Türkei.277 Mit den obengenannten Vertragsbedingungen waren bereits einige der Forderungen der deutschen Offiziere im Gefolge der Balkankriege übernommen worden. Ebenso dürfte die Möglichkeit des Chefs der Militärmission zu umfassenden und jederzeitigen Truppenbesichtigungen – der osmanische Kriegsminister mußte lediglich „benachrichtigt“ werden – im Sinne der Reformoffiziere gewesen sein. Ganz besonders gilt dies aber für die neugeregelten Besoldungsverhältnisse. Die im Vertrag genannten Vergütungen erscheinen auf den ersten Blick geringer als die astronomischen Summen, die noch an die „Kaehler-Mission“ gezahlt wurden. Die Sätze reichen von 40 Ltq (ca. 741 M) für einen Oberleutnant bis zu 125 Ltq (ca. 2.316 M) für einen General. Allerdings handelt es sich bei diesen Sätzen um Monatsgehälter, was dann bei Ersteren etwa 8.900 M und bei Letzteren ungefähr 27.800 M ausmacht, wozu noch die Verpflegungsportionen entsprechend dem osmanischen Dienstgrad kommen. Im Vergleich dazu erhielt ein aktiver Oberleutnant der bereits sehr großzügig bezahlten Deutschen Schutztuppe pro Jahr 7.500 M und ein Stabsoffizier 14.100 M. Der höchstbezahlte Offizier in den deutschen Kolonien war der Kommandeur der Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika (Namibia), der 18.915 M pro Jahr bezog.278 Zieht man nun noch den Vergleich zur Bezahlung der aktiven türkischen Offiziere, so werden die Unterschiede noch gravierender. Im Unterschied zu einem türkischen Oberleutnant erhielt der in die osmanische Armee 276 Liman gibt die Zahl ebenfalls auf S. 24 an. Erickson spricht hingegen von 2.397 Offizieren und 39.268 Mann, die in „mobilen Regimentern“ organisiert waren. Inklusive aller Stäbe und Grenzschutzformationen hätten mehrere Hunderttausend Mann aufgeboten werden können. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 6. Diese Zahlen erscheinen möglicherweise zu hochgegriffen; zudem dürfte unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Osmanischen Reiches die Kampfkraft der ausgehobenen Formationen stark von der der „mobilen Regimenter“ abweichen. 277 Nähere Informationen über die Befugnisse der Jandarma und ihre geschichtliche Entwicklung gibt die offizielle Internetpräsenz: http://www.jandarma.tsk.tr/ing/start.htm (Stand: 24.09.2008.) 278 Friedag, B.: Führer durch Heer und Flotte, Berlin 21914 (Neudruck Krefeld 1974), S. 332. Die Gehälter der erstgenannten Offiziere beziehen sich auf die Gebiete Kamerun, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika. Die Gehälter der Schutztruppen-Offiziere waren seit der Jahrhundertwende unverändert geblieben. Vergleiche dazu: Das kleine Buch vom Deutschen Heere – Ein Hand- und Nachschlagebuch zur Belehrung über die deutsche Kriegsmacht, bearbeitet von Oberleutnant Hein, Kiel/Leipzig 1901, S. 131. 81 übergetretene Deutsche mit gleichem Dienstgrad beinahe das Zehnfache des Monatsgehalts.279 Der finanzielle Anreiz für den Dienst am Bosporus war demnach beträchtlich. Dies alles wird aber noch übertroffen vom Gehalt des Missionschefs, das mit monatlich 275 Ltq (ca. 5.096 M), also 3.300 Ltq (ca. 61.150 M) jährlich inklusiver aller Rationen veranschlagt wird. Hatten 1888 noch wesentlich niedrigere Gehaltsforderungen für einen schweren diplomatischen Zwischenfall gesorgt, so wurde jetzt ohne viel Aufsehen eine solche Summe mit dem nahezu bankrotten und kriegsgeschüttelten Osmanenreich vereinbart.280 Die Deckung dieser Ausgaben konnte daher auch nur durch einen Kredit sichergestellt werden, dessen Ansatz aber in keinem Fall überschritten werden durfte. Neben der sehr hohen Entlohnung der Offiziere wurde auch die Anhebung des Dienstgrades bei Übertritt in türkische Dienste beibehalten. Der somit zum türkischen General der Kavallerie avancierte preußische Generalleutnant Otto Liman von Sanders ließ zu guter Letzt auch die Rangfolge der osmanischen Armee für sein neugeschaffenes Amt „anpaßen“. Liman sollte als zweithöchster Offizier unmittelbar hinter dem Kriegsminister rangieren und nur im Falle eines höheren Dienstalters des Chefs des Generalstabes der Armee sollte er Platz 3 in der Rangfolge einnehmen. Die Vertragsdauer war auf 5 Jahre festgesetzt. Schriftlich hatte die deutsche Militärmission damit weitreichende Befugnisse im türkischen Heer bekommen und durch die Beförderungsregelung hatte ihr Chef zugleich ein Druckmittel gegenüber türkischen Offizieren, die noch eine Karriere anstrebten. Der Wortlaut des Vertrages läßt zwei Schlußfolgerungen zu. Einerseits war das Osmanische Reich nach den bitteren Niederlagen der vergangenen Jahre eindeutig in einer schwachen Position und erkannte dringenden Handlungsbedarf, weshalb die Hohe Pforte bereit war, vorübergehend ein (möglicherweise unverhältnismäßig) großes Stück ihrer Leitungs- und Kommandobefugnisse an einen fremden, vertraglich 279 Grundlage dieser Berechnung bilden die Angaben über Monatsgehälter in: Intelligence Department Cairo (Hrsg.): Handbook of the Turkish Army, Cairo 61915, S. 120 (Im Folgenden: Handbook of the Turkish Army 1915.) Laut dieser Aufstellung erhält ein (regulärer) türkischer Oberleutnant 500 Piaster = 5 Ltq im Monat und zusätzlich „Rationsgeld“ in Höhe von etwa 3 Ltq. Ob die Bezahlung im Kriege variierte geht aus den Ausführungen nicht hervor. Siehe dazu auch die Angaben zu den Währungen bei Türk, Türkeigeschäfte 2007, S. 7 u. 54. 280 Zu der Forderung Kamphoeveners siehe oben, S. 55. 82 gebundenen Offizier als Mitbestimmenden zu delegieren. Auf der anderen Seite offenbart er den Willen zu einem stärkeren Engagement auf deutscher Seite. Der Vertrag war ganz auf die Person Liman von Sanders zugeschnitten, enthielt aber ausschließlich eine Aufzählung seiner Rechte, während seine Verpflichtungen nicht festgehalten wurden. Auch die Ziele der Militärmission werden nicht näher benannt. So entstand eine problematische Unklarheit im Auftrag der Militärmission, denn durch die unpräzise Formulierung der Pflichten, blieben auch die Grenzen der zugesicherten Kompetenzen Gegenstand fortwährender Diskussion; ein Umstand, der im Ersten Weltkrieg für zahlreiche Spannungen zwischen dem Chef der Militärmission und dem osmanischen Verbündeten – insbesondere dem Kriegsminister Enver Pascha – sorgte. Immerhin bildete dieser Vertrag aber die Grundlage für die Entsendung des Generalleutnants und von etwa 42 weiteren Offizieren nach Konstantinopel. Diese Zahl wurde bis Kriegsausbruch langsam und danach in gesteigertem Maße erweitert. Anfang August 1914 waren der deutschen Militärmission 71 Mann unterstellt, deren osmanische Dienstgrade zwar vom Fähnrich bis zum Marschall reichten, deren größter Teil aber aus Stabsoffizieren bestand.281 Liman bestätigt eine Anhebung der Personalstärke auf 70 Offiziere im Laufe der ersten Hälfte des Jahres 1914 als geplante Friedensstärke.282 Edward Erickson ist der Meinung, daß die deutsche Planung der Mission insgesamt 1.100 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften vorgesehen habe.283 Eine Zahl, die möglicherweise für die Stärke im Verlauf des Krieges zutreffen mag, aber mit Sicherheit nicht die deutschen Planungen vorher wiedergibt284. Das Deutschen Reich hatte nämlich einen Mangel an Offizieren zu beklagen, der im Zuge der Heeresvermehrung von 1913 noch verschärft wurde. Wollte die militärische Führung im Reich also nicht die Qualität der eigenen Neuaufstellungen gefährden, war eine Entsendung größerer Gruppen qualifizierter 281 Von 71 Offizieren waren 45 türkische Stabsoffiziere als Oberst (9), Oberstleutnant (16) oder Major (20). Kannengießer, Hans: Gallipoli – Bedeutung und Verlauf der Kämpfe 1915, Berlin 1927, S. 230236. (Im Folgenden: Kannengießer, Gallipoli 1927.) Kannengießer selbst war 1914 türkischer Oberst im Kriegsministerium in Konstantinopel. 282 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 11. Ähnlich gibt diese Zahlen der k.u.k. Militärbevollmächtigte wieder. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 53. 283 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 12. 284 Liman selbst spricht von „über 800“ Offizieren, Sanitätsoffizieren und Beamten, die bis Kriegsende durch die Militärmission „verwaltet“ wurden. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 32. 83 Offiziere nicht möglich.285 Ein solches Kontingent am Bosporus hätte zudem das fragile politische Gleichgewicht empfindlich gestört. Wie bereits vorher gezeigt wurde, war das Engagement der deutschen Außenpolitik für die Türkei bis zum Sommer 1914 begrenzt. So gab der Deutsche Kaiser dem Chef der neuen Militärmission ausdrücklich mit auf den Weg, sich nur militärisch und auf keinen Fall politisch einzubringen. Die Politisierung des türkischen Offizierkorps sei dessen größter Fehler, soll er Liman gesagt haben.286 Wie schon bei den Offizieren um Kaehler war die deutsche Führung besorgt, daß ihr militärisches Fachpersonal seine Kompetenzen überschreiten könnte und das ausgerechnet an einer der sensibelsten Stellen der Weltpolitik. Interessanterweise hatte aber offenbar in Berlin niemand in Erinnerung, wie leicht die Reformoffiziere in politische Spiele hineingezogen werden konnten, denn es lassen sich keinerlei Maßnahmen erkennen, die einer Vermischung der politischen und militärischen Aspekte der Mission vorgebeugt hätten. Es wurde nicht auf „orienterfahrenes“ Personal zurückgegriffen, es fand keine nachweisbare Vorausbildung der Offiziere für den Dienst am Bosporus statt und die Vertragsklauseln enthielten – wie erwähnt – unpräzise Vorgaben. Es ist zwar fraglich inwieweit sich „türkeierfahrene“ Offiziere wie Lossow oder Endres angesichts ihrer extrem kritischen Berichte aus den Balkankriegen besser an die örtlichen Gegebenheiten hätten anpassen können, doch ein „gut gemeinter Rat“ des Kaisers allein konnte die Versäumnisse nicht ausgleichen, zumal schon zu Zeiten der preußischen Militärberater des späten 19. Jahrhunderts Interventionen höchster Stellen in Berlin notwendig gewesen waren, um die zahlreichen politische Fehltritte der deutschen Offiziere zu entschärfen. Doch aus den langjährigen Erfahrungen wurden mit der Errichtung einer mit großzügigen Vollmachten ausgestatteten Militärmission nur unzureichende Konsequenzen gezogen und diese Problematik sollte sich später fortsetzen. 285 Förster, Stig: Der doppelte Militarismus – Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen status quo, Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart 1985, S. 268. Siehe hierzu auch die zum Teil veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen des damaligen Direktors des Allgemeinen Kriegsdepartements Generalmajor Franz Wandel. Granier, Gerhard: Deutsche Rüstungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg – General Franz Wandels Tagebuchaufzeichnungen aus dem preußischen Kriegsministerium, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Band 38, Freiburg i. Br. 1985, S. 142f. (Im Folgenden: Granier, Deutsche Rüstungspolitik 1985.) 286 Ebd., S. 11. 84 Schon kurz nach der Ankunft Limans in Konstantinopel (14.12.1913) bewahrheiteten sich denn auch die Befürchtungen der deutschen Führung zum ersten Male. Die russische Regierung war nämlich nicht gewillt, eine mittelbare Kontrolle des Deutschen Reiches über die Dardanellen und den Bosporus zu tolerieren. Der Vertrag der Militärmission sah die Kommandoübernahme des Deutschen und nunmehrigen osmanischen Generals der Kavallerie über das I. Armeekorps vor, das ausgerechnet um Konstantinopel stationiert und gleichzeitig auch für den Schutz der Meerengen zuständig war. Aus deutscher und osmanischer Sicht war diese Festlegung sinnvoll, da das genannte Korps als „Vorzeige-„ und Lehrformation dienen sollte, das zudem die kürzesten Nachschubwege hatte. In Sankt Petersburg befürchtete man, daß die türkischen Truppen in die Lage versetzt würden, eine „Schlagader“ Russlands, die Verbindung der Schwarzmeerhäfen zum Mittelmeer, effektiv abzuschnüren; ein Szenario, das aufgrund der schlechten russisch-türkischen Beziehungen nicht abwegig war. Nach dem Dardanellenvertrag von 1841 konnte der Sultan fremden Kriegsschiffen die Durchfahrt durch die Meerengen auch im Frieden verweigern. Für die Handelsschiffahrt kriegführender und auch neutraler Staaten konnte das Osmanische Staatsoberhaupt ebensolche Verbote verhängen, sofern sie Häfen der Kriegsparteien anlaufen wollten.287 Für die russische Regierung bedeutete ein deutscher Befehlshaber offenbar einen Schritt zu militärischer „Aufrüstung“ an den Meerengen, der gegen Russland gerichtet war. Möglicherweise befürchtete man zudem eine Schmälerung des eigenen militärischen Drohpotentials gegenüber der Hohen Pforte in Fragen der Durchfahrtsrechte oder wollte einen eventuellen Einfluß Deutschlands auf die 287 Der Dardanellenvertrag von 1841, der in den folgenden Jahrzehnten mehrfach novelliert wurde, erlaubte dem Osmanischen Reich die Meerengen für Kriegsschiffe zu sperren. Wiederholte Versuche Englands und besonders Russlands, eine Freigabe der Durchfahrt auf diplomatischem Wege zu erreichen, scheiterten (zuletzt 1911). Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990, S. 401-405. Kos, Orientkrise 1984, S. 238 u. 300. Diese Klausel wurde trotz mehrmaliger Versuche Russlands auch in Nachverhandlungen nicht geändert. Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990, S. 583. Die Behauptung Mühlmanns, eine Sperrung der Dardanellen liege „im türkischen Belieben“, ist hingegen „nur“ rechtlich zutreffend, denn die Hohe Pforte riskierte mit einer willkürlichen Sperrung internationale Sanktionen. Dennoch verfügte das Osmanische Reich durch diese Regelung über ein Drohpotential, das vor allem in St. Petersburg ernst genommen wurde. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 43. 85 Meerengen verhindern, zumal die politische Atmosphäre zwischen Berlin und St. Petersburg zusehends kühler wurde. Der russische Botschafter in Konstantinopel, Giers, protestierte entsprechend den russischen Befürchtungen scharf bei der Hohen Pforte gegen die Ernennung Limans zum Kommandierenden General. Türkischerseits verwahrte man sich gegen diese Einmischung in innere Angelegenheiten. Doch als Russland nicht nachgeben wollte, Frankreich und Großbritannien ebenfalls Protest beim Sultan einlegten und die Gefahr eines Krieges immer näher rückte, gab die deutsche Seite nach. Aufgrund massiven Drucks aus Berlin gab Liman von Sanders seinen Posten auf, wurde zum preußischen General der Kavallerie befördert und die jungtürkischen Machthaber verliehen ihm den türkischen Rang eines Marschalls. Damit verbunden war die Ernennung zum Generalinspekteur der türkischen Armee, der keine direkte Kommandogewalt besaß. Obwohl diese Lösung keine der Seiten wirklich befriedigte, war die direkte Kriegsgefahr vorerst abgewendet.288 Liman hingegen sah den Vorgang als unnötiges Nachgeben gegenüber dem Ausland an.289 Er offenbart damit allerdings mangelndes Verständnis für die politisch wie militärisch komplizierte Situation an den Meerengen. Die russische Führung schien nur zu bereit, einen Krieg zu beginnen, der nicht nur die Frage der Position des deutschen Missionschefs, sondern auch diejenige der Kontrolle über den Schwarzmeer-Zugang ein für alle Mal zugunsten Russlands klären sollte. Das Osmanische Reich wäre jedoch nicht in der Lage gewesen alleine einem russischen Angriff, der von den westlichen Ententemächten zumindest toleriert, wenn nicht gar unterstützt worden wäre, standzuhalten und es war – trotz des militärberaterischen Engagements – höchst unwahrscheinlich, daß die Mittelmächte der Hohen Pforte in einem solchen Kriege beistehen würden. Für Liman von Sanders spielten solche Überlegungen im Vergleich zum Verlust seines Truppenkommandos jedoch nur eine untergeordnete Rolle, was umso mehr verwundert, bedenkt man, daß er diese Einschätzung nach dem Ersten Weltkrieg und vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Orient 288 Zu den Vorgängen der „Liman-von-Sanders-Krise“ siehe: Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band II) 1963, S. 434-437. Hildebrand, Das vergangene Reich 1995, S. 296-299. Kröger, Martin: Letzter Konflikt vor der Katastrophe. Die Liman-von-Sanders-Krise 1913/14, in: Dülffer, Jost/Kröger, Martin/Wippich, Rolf-Harald (Hrsg.): Vermiedene Kriege – Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 1865-1914, München 1997, S. 657-671. 289 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 15f. 86 niederschrieb. Die Hohe Pforte war sich der eigenen Schwäche nur zu bewußt und entschied für den angesprochenen Kompromiß. Die Militärmission und ihr Chef hatten damit die erste Krise überstanden, aber weitere sollten folgen. Diese politischen Begleiterscheinungen bei Beginn der Mission verhinderten nicht, daß die Reformoffiziere schon bald ihre Arbeit aufnahmen. Eine Handvoll Offiziere erhielt Kommandos über osmanische Divisionen, wurden Generalstabschefs in türkischen Armeekorps oder übernahmen Funktionen in technischen Truppenteilen wie Pionieren oder Artillerie.290 Von besonderer Bedeutung war die Tatsache, daß der preußische Oberst und türkische Generalmajor Bronsart von Schellendorf, der zuvor als Angehöriger der deutschen Militärmission das Kommando über die 3. osm. Infanterie-Division hatte, die Funktion des 1. Souschefs (stellvertretenden Chefs) des osmanischen Generalstabes übernahm, während Enver selbst in Personalunion Kriegsminister und Chef des Generalstabes der Armee wurde.291 Entgegen der Behauptung, der deutsche Missionschef hätte „für die Berufung“ gesorgt, macht es eher den Eindruck, als hätte der türkische Kriegsminister Enver die Ernennung Bronsarts veranlasst.292 In jedem Fall hatten die deutschen Offiziere damit die einflußreichsten Positionen im osmanischen Heer besetzt. Wie erwähnt, blieb die Jandarma aber dem Zugriff der Militärmission entzogen und die osmanische Marine stand unter der Kontrolle einer britischen Mission unter Admiral Limpus, die zahlenmäßig etwa dem deutschen Engagement entsprach.293 Die deutschen Offiziere begannen mit der Inspektion der Truppen, überarbeiteten Ausbildungsprogramme und bemühten sich um einen Wiederaufbau der Einheiten, 290 Deutsche Offiziere hatten beispielsweise das Kommando über die 5. und 10. osm. InfanterieDivision und über das 3. Artillerie-Regiment sowie das 8. Infanterie-Regiment. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 11 291 De facto war Bronsart von Schellendorf mit den Aufgaben des Chef des Generalstabes betraut. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 36. 292 Erickson betrachtet die Stellenbesetzung als Coup Limans. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 12. Liman selbst verweist auf den Wunsch Envers. Liman, Fünf Jahre Türkei, S. 30. Da der anfangs noch sehr einflußreiche Izzet Pascha (bis Dezember 1913 Vorgänger von Enver als Kriegsminister) Bronsart und Liman aus Deutschland kannte, ist nicht auszuschließen, daß die türkische Seite hier gezielt Einfluß auf die Auswahl nahm. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 127. Die späteren Meinungsverschiedenheiten zwischen Liman und Bronsart können aber sowohl für die Richtigkeit von Limans Behauptung als auch für eine nachträgliche Sicht Limans sprechen. Siehe unten, S. 365f. 293 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 13. 87 die in den Balkankriegen schwere Verluste erlitten hatten. Auch wirtschaftlich waren die deutschen Heeresreformer tätig, da sie über den Status der Militärmission Einfluß auf Rüstungsaufträge nehmen konnten, einen Sektor, der zwischen deutschen und französischen Firmen hart umkämpft war.294 Für die vorgesetzten Stellen im Deutschen Reich war zudem eine Einschätzung der Bündnisfähigkeit des Osmanischen Reiches von hohem Interesse. Die Krisen der vergangenen Jahre und zuletzt der Konflikt um die Berufung der Militärmission hatten gezeigt, wie angespannt die Lage in Europa war. Der Zusammenhalt des Dreibundes zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien war fraglich, während sich die Entente zwischen Großbritannien und Frankreich als immer stärker erwies und eine Annäherung an Russland suchte. Die strategisch wichtige Position der Türkei rückte das Land daher in die deutsche Bündnisüberlegungen als Option gegen die Entente. Die bisherigen Berichte über die Zustände in den türkischen Streitkräften waren aber alles andere als hoffnungsvoll und dies sollte sich auch unter der neuen Militärmission zunächst nicht ändern. Liman berichtete nach Berlin in den schwärzesten Farben über die Verfassung des Heeres. Die Truppen, die er besichtigte, waren unterernährt und seit langem nicht mehr bezahlt worden. Von moderner militärischer Ausrüstung konnte keine Rede sein und die Ausbildung des Offizierkorps spottete jeder Beschreibung.295 Von spürbaren Erfolgen der vorherigen deutschen Militärberater konnte er nicht berichten. Zudem waren die hygienischen Zustände in den Kasernen und die sanitätsdienstliche Versorgung – gelinde gesagt – katastrophal, wie der bayerische Oberstabsarzt und türkische Sanitäts-Oberstleutnant Prof. Dr. Georg Mayer, der ebenfalls der Militärmission unterstand, entsetzt feststellte.296 294 Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band II) 1963, S. 436-438. Längerfristig beabsichtigte man damit wohl auch die türkische Abhängigkeit von deutschen Rüstungslieferungen weiter zu verstärken, die bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beständig größer wurde. Siehe hierzu Kapitel II.1.b). 295 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 19. Zum Zustand der osmanischen Streitkräfte 1914 siehe auch auch Kapitel III.1. 296 Zu den Erfahrungen Mayers siehe S. 115-117 u. 139. Mayer, der nach seinem Wehrdienst als einjährig Freiwilliger der bayerischen Armee zunächst ein ziviles Medizinstudium absolvierte, tat sich besonders auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung hervor. Dadurch und durch seine in China gesammelten „Auslandserfahrungen“ wurde er für die Stelle des obersten Sanitätsoffiziers der Militärmission ausgewählt. Ein Überblick über den Werdegang Mayers bis zu seinem Eintritt in türkische Dienste ist zu finden bei: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 61-64. 88 Hinzu kamen erste Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Stellen. Insbesondere das schlechte persönliche Verhältnis zwischen Liman von Sanders und Kriegsminister Enver Pascha war einer raschen und vor allem effektiven Heeresreform nicht gerade zuträglich.297 So hatte Enver direkt nach seinem Amtsantritt über 1.000 Offiziere unter dem Vorwand, sie seien zu alt oder „ineffektiv“, aus der Armee entfernen lassen, wogegen Liman heftig protestierte. Allerdings tat er dies nicht wegen möglicher Schäden für die Moral der Truppe oder wegen der Internierung verschiedener Offiziere, sondern hauptsächlich weil er sich bei der Beschlußfassung übergangen fühlte und eine politische Demonstration Envers befürchtete, die seine eigene Position zu schwächen drohte.298 Für den Deutschen ging es vorrangig um die Sicherung seiner eigenen Kompetenzen und erst danach um den Zustand der Armee, obwohl die „Entlassungskriterien“ Envers offenbar eher vage waren und die bewaffnete Macht mindestens kurzfristig weiter schwächten.299 Die Ansicht des Chefs des deutschen Generalstabes Helmuth von Moltke über den Wert des Osmanischen Reichs als potentiellen Verbündeten ist dementsprechend düster. Wie Liman berichtet, habe der General bereits im Dezember 1913 keinerlei Hoffnung in die türkischen Fähigkeiten gesetzt und Liman mit auf den Weg gegeben: „Ich verstehe nicht, warum wir eine Militär-Mission nach der Türkei senden. Angesichts des Zustandes dieser Armee, der doch nicht zu helfen ist, ist dies ganz nutzlos. – Ich habe zum wenigsten in den Contrakt aufnehmen lassen, dass Sie alle im Falle eines Krieges zurückberufen werden können.“300 Gute drei Monate nach Beginn der Tätigkeit der deutschen Militärmission, im März 1914, hatte sich die Einstellung des Generalstabchefs nicht geändert, wie er dem Chef des k.u.k. österreichisch-ungarischen Generalstabes Franz Freiherr Conrad von 297 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 143-145. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 17f. Liman spricht von etwa 1.100 Offizieren und Pomiankowski sogar von etwa 2.000 Offizieren. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 40. 299 Detaillierte Angaben über die Entlassenen liegen nicht vor. Es ist jedoch zu vermuten, daß die jungtürkische Regierung hier „politisch mißliebige“ sowie verbliebene Offiziere des hamidischen Regimes entfernte, um die Stellen mit Vertrauensleuten zu besetzen, die sich nicht zwangsläufig durch höhere militärische Qualifiktation auszeichnen mußten. 300 Brief Marschall Liman von Sanders an das Reichsarchiv vom 01.08.1924. BAMA Freiburg, W 10/ 51677, Der Krieg der Türkei. (Im Folgenden: W 10/ 51677, Brief Marschall Liman an das Reichsarchiv) 298 89 Hötzendorf schrieb: „Die Türkei ist militärisch eine Null! [...] Unsere Militärmission gleicht einem Ärztekollegium, das am Sterbebett eines unheilbar Kranken steht.“301 Der deutsche Kaiser hatte im April 1914 ebenfalls ein düsteres Bild der osmanischen Armee gezeichnet und noch Mitte Mai brachte Moltke in einer Denkschrift zum Ausdruck, daß mit der Hohen Pforte als Bündnispartner für das Deutsche Reich auf absehbare Zeit überhaupt nicht zu rechnen sei.302 Am 12. Mai bekräftigte Moltke seine Einstellung, als er gegenüber Conrad die türkische Armee als „absolut wertlos“ bezeichnete. Beide Generäle waren sich zudem einig, daß der Ausbau der osmanischen Flotte nur eine Verschwendung von – hauptsächlich geliehenen – Geldmitteln sei.303 Zweifellos hatten hier die Erfahrungen der deutschen Reformoffiziere ihre Wirkung getan. Allerdings muß bedacht werden, daß bei diesen Beurteilungen rein militärische Überlegungen im Vordergrund stehen. Die strategische Bedeutung eines verbündeten Osmanischen Reiches, das operative Möglichkeiten gegen „neuralgische Punkte“ der Ententemächte bot, wurden noch außer Acht gelassen. Zwar bestand die einzige realistische und sehr wirkungsvolle Option für die Hohe Pforte in der Sperrung der Meerengen, doch die – wie sich erweisen sollte „utopischen“ – Pläne zum Suez-Kanal, im Kaukasus und in Richtung Indien vorzustoßen, beschäftigten während des Krieges nicht nur die Generalstäbe beider Seiten, sondern banden Kräfte der Mittelmächte und vor allem der Entente in nicht zu vernachlässigendem Ausmaße. Diese Faktoren tauchten jedoch erst im Kalkül der deutschen Führung auf, als am 28. Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger und seine Gemahlin ermordet wurden und „das Signal des heranziehenden Ungewitters“ gegeben war.304 301 Brief Moltkes an Conrad von Hötzendorf vom 13.3.1914. Conrad von Hötzendorf, Franz: Aus meiner Dienstzei 1906-1918 – Dritter Band: 1913 und das erste Halbjahr 1914. Der Ausgang des Balkankrieges und die Zeit bis zum Fürstenmord in Sarajevo, Wien/Leipzig/München 1922, S. 612. (Im Folgenden: Conrad, Aus meiner Dienstzeit III, 1922) 302 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 150f. 303 Conrad, Aus meiner Dienstzeit III, 1922, S. 672. 304 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 69. 90 c) Die deutsch-osmanische Zusammenarbeit bis zum Kriegseintritt der Türkei In der Phase gespannter Erwartung und diplomatischer Hektik vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges war das Deutsche Reich verstärkt auf der Suche nach Verbündeten. Der Dreibund-Partner Italien ließ seit längerem wenig Bereitschaft erkennen, aktiv in einen europäischen Krieg einzutreten, und bald wurde deutlich, daß Deutschland und Österreich-Ungarn weitgehend isoliert waren. Das Osmanische Reich gewann als möglicher Verbündeter an Attraktivität. In der politisch brisanten Lage zeigte Deutschland sogar die wachsende Bereitschaft, ein formelles Bündnis mit der Hohen Pforte einzugehen und damit endgültig jede Zurückhaltung in der Orientpolitik aufzugeben.305 Dementsprechend war es an der Zeit, Erfolgsmeldungen über die deutsche Reformtätigkeit zu verlautbaren. Am 23. Juli 1914 nahm der Sultan anläßlich eines türkischen Feiertages eine Militärparade in Konstantinopel ab. Die Truppen, die dort vorbeimarschierten, waren tadellos gekleidet, ausgerüstet und gedrillt, wie der deutsche und der US-amerikanische Botschafter beeindruckt berichteten. Dabei hatte Liman von Sanders diese Parade offenbar inszeniert, indem er die besten Truppenteile aus dem ganzen Reich und sämtliche verfügbare Ausrüstung heranschaffen ließ.306 Schon gut eine Woche später, am 31. Juli, meldete der deutsche Botschafter Freiherr von Wangenheim nach Berlin, laut einer Aussage des Chefs der Militärmission könne die Türkei im Kriegsfalle 4-5 einsatzbereite Armeekorps aufbieten, deren Qualität deutlich besser sei als noch zu Zeiten der Balkankriege.307 Auch wenn zur gleichen Zeit der k.u.k. Militärbevollmächtigte die erfolgreiche Arbeit der deutschen Militärmission in Anbetracht der kurzen Vorbereitungszeit ausdrücklich lobt und die osmanischen Truppen im Kriege wirklich erstaunliche Leistungen erbrachten, so ist der plötzliche deutsche Optimismus zumindest überraschend.308 Es steht zu vermuten, daß ein Richtungswechsel in der 305 Damit war der vollständige Bruch mit mit dem bismarckschen Grundsatz der „Peripherie-Politik“ vollzogen, der auch die wilhelminische „Weltpolitik“ noch bis Kriegsausbruch beeinflusst hatte, um sich mit den Ententemächten – auch in anderen, europäischen Fragen – politisch zu verständigen zu können. Schöllgen, Gregor: Imperialismus und Gleichgewicht – Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, München 1984, S. 329-347 u. 380-392. (Im Folgenden: Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht 1984.) 306 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 135-136. 307 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 151. 308 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 41. 91 nahöstlichen Außenpolitik angesichts des drohenden Krieges die berichtenden Stellen dazu veranlaßte, ein möglichst „ansprechendes“ Bild abzugeben. Bezeichnenderweise hatte der deutsche Botschafter nämlich noch am 22. Juli – also einen Tag bevor er Zeuge der „großartigen Parade“ wurde – ein Angebot Enver Paschas zu einer engeren Zusammenarbeit, die in einem formellen Bündnis münden sollte, rundweg abgelehnt.309 Andererseits hatten Mitglieder der türkischen Regierung Sondierungsgespräche mit Frankreich und sogar mit Russland geführt. Allerdings wurden sämtliche Bündnisangebote in mehr oder minder direkter Art und Weise abgewiesen.310 Das Ziel der Gespräche war die Erhaltung des territorialen status quo in Form einer Einigung mit Russland oder durch Schutz der Entente. Die Ententemächte entschieden jedoch ohne längeres Zögern, daß eine Allianz mit Russland und den damit verbundenen Interessen des Zaren am Bosporus wünschenswerter sei als ein Bündnis mit dem Osmanischen Reich.311 Als letzte starke Verbindung zu den westeuropäischen Großmächten blieb dem Sultan daher nur der Kontakt nach Großbritannien über die britische Marinemission und die Flottenrüstung.312 Möglicherweise aus der Erfahrung mit den älteren Schiffen aus Deutschland resultierend, die zu dieser Zeit bereits nicht mehr als Prestigeobjekte angesehen werden konnten, bestimmt aber durch den wirtschaftlichen Einfluß der britischen Marineberater, hatte die Hohe Pforte bereits einige Jahre zuvor zwei neue Dreadnought-Schlachtschiffe in britischen Werften in Auftrag gegeben, die „Sultan Osman I.“ und die „Reschadieh V.“.313 Die britische Regierung beschloß jedoch, 309 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 15. Zum Angebot an das Russische Reich: Bodger, Allan: Russia and the Ottoman Empire 1984, S. 96. Zu den Verhandlungen mit Frankreich: Fulton, Bruce L.: France and the End of the Ottoman Empire, in: : Kent, Marian (Hrsg.): The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984, S. 161f. 311 Emin, Turkey 1930, S. 66. 312 Offenbar spielten die französischen Instruktoren der Jandarma keine so gewichtige Rolle, da sie in diesem diplomatischen Zusammenhang nirgendwo Erwähnung finden. 313 Carver, Michael: The National Army Museum Book of the Turkish Front 1914-18 – The Campaigns at Gallipoli, in Mesopotamia and in Palestine, London 2004, S. 5. (Im Folgenden: Carver, Turkish Front 2004.) Die beiden Schiffe wurden unter den Namen „HMS Erin“ („Reschadieh V.“) beziehungsweise „HMS Agincourt“ („Sultan Osman I.“) in die britische Flotte eingegliedert. Jung, Peter: Der k.u.k. Wüstenkrieg – Österreich-Ungarn im Vorderen Orient 1915-1918, Graz/Wien/Köln 1992, Anm. 13, S. 173. (Im Folgenden: Jung, Der Wüstenkrieg 1992.) 310 92 beide Schiffe für die eigene Flotte zu requirieren, da die Fertigstellung praktisch mit der Mobilmachung am 1. August zusammenfiel. Die türkischen Besatzungen, die extra angereist waren, um die neuen Schiffe zu übernehmen, telegraphierten ihre Empörung nach Konstantinopel, während die offizielle britische Stellungnahme erst am 3. August erging.314 Dort fanden – angeheizt durch von deutscher Seite finanzierte Pressekampagnen – öffentliche Proteste in großem Ausmaße statt, hatten doch öffentliche Anleihen und Spenden die Finanzierung ermöglicht und eine „gut organisierte Begeisterung“ hervorgerufen.315 Ob diese beiden Schiffe militärisch ausschlaggebend gewesen wären, erscheint zumindest fragwürdig, bedenkt man, daß Konstantinopel ebensowenig über ausreichende Werft- und Wartungskapazitäten für solche moderne Schiffe 316 Ersatzteilfabriken. verfügte wie über geeignete Munitions- oder Der Prestige- und damit der politische Wert der Schiffe wurde im Osmanischen Reich allerdings hoch eingeschätzt und daher muß konstatiert werden, daß Großbritannien durch dieses Vorgehen die Türkei mittelbar in das Lager der Mittelmächte trieb. Am 2. August 1914, also einen Tag vor der offiziellen Konfiskation der Schiffe, unterzeichneten Botschafter Freiherr von Wangenheim und Großwesir Said Halim Pascha einen Geheimvertrag, dessen Kern ein Verteidigungsbündnis gegen Russland darstellte. Deutschland und die Türkei verpflichteten sich zunächst zur Neutralität im Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien. Sollte das Russische Reich jedoch in den Krieg eingreifen und damit für Deutschland im Rahmen der Vereinbarungen mit dem österreichischen Verbündeten den Bündnisfall auslösen, so sollte das Osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg eintreten.317 Die deutsche Kriegserklärung an Russland am 1. August hatte den Vertrag allerdings zu einem hauptsächlich symbolischen Akt degradiert, da die Hohe Pforte nun nicht mehr 314 Trumpener rechtfertigt diesen Schritt nachträglich mit einem türkischen Angebot, beide Schiffe in deutsche Häfen einlaufen zu lassen, anstatt sie nach Konstantinopel zu überführen. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 24. 315 Palmer, Alan: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, München/Leipzig 1992, S. 321f. (Im Folgenden: Palmer, Verfall 1992.) Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 78f. 316 Der Ausbildungsstand der türkischen Marine entsprach nicht den Anforderungen moderner Kriegsschiffe, wie auch an spätere Stelle noch zu zeigen sein wird. Siehe unten, S. 139f. 317 Eine Paraphrasierung des Vertrages ist abgedruckt bei: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 270. 93 gezwungen war, auf deutscher Seite zu kämpfen.318 Das Osmanische Reich erklärte am 5. August seine Neutralität, die aufgrund der bereits am 2. August erlassenen Generalmobilmachung zur „bewaffneten Neutralität“ wurde.319 Zu diesem Zeitpunkt war trotz der Geheimhaltung des Bündnisvertrages mit dem Deutschen Reich bereits deutlich geworden, daß die Ententemächte den Großteil der Sympathien am Bosporus verspielt hatten. Doch auch jetzt noch war ein türkischer Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte keineswegs sichergestellt. Die Beziehungen zur Wiener Hofburg waren seit der Annexion Bosnien-Herzegowinas belastet und noch im Mai 1914 schrieb der k.u.k. Militärbevollmächtigte an Conrad von Hötzendorf, daß der Versuch der Habsburger-Monarchie in Südanatolien eine österreichisch-ungarische Einflußsphäre zu schaffen, das Verhältnis zur türkischen Regierung weiter verschlechtert habe.320 Von deutscher Seite war der Versuch unternommen worden, mit Hilfe des Geheimvertrages das „tatsächliche Oberkommando“ über die türkische Armee zu erlangen. Der Reichskanzler hatte diese Formulierung in die Verhandlungen eingebracht, möglicherweise rekurrierte er dabei auf die Berichte und Empfehlungen der Offiziere aus den Balkankriegen, die eine umfassende deutsche Kontrolle gefordert hatten, um überhaupt mit der osmanischen Armee militärisch erfolgreich sein zu können. Die Formulierung wurde jedoch abgeändert. Da das Oberkommando nominell beim Sultan lag, der kaum von Deutschland übergangen werden konnte, wollte man keine Mißstimmung erzeugen.321 Der osmanische Vertragspartner konnte sich hier geschickt eines deutschen Überrumpelungsversuches erwehren. Die Tatsache, daß es überhaupt zu solch einer „Verteidigung“ kommen mußte, weckte 318 Zu den Kriegsplänen und dem damit verbunden Ablauf der Kriegserklärungen siehe: Strachan, Hew: Der Erste Weltkrieg – Eine neue illustrierte Geschichte, München 22004, S. 63-71. (Im Folgenden: Strachan: Der Erste Weltkrieg 2004.) 319 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 24. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 40. 320 Brief Pomiankowskis an Conrad vom 13. Mai 1914. Conrad, Aus meiner Dienstzeit III, 1922, S. 655. Die Donaumonarchie erwog kurzzeitig eine „Kolonisierung“ der Küstengebiete Südanatoliens, die jedoch verständlicherweise beim Sultan auf Ablehnung stieß. Mit diesen Plänen verband die Wiener Hofburg zugleich die Bemühungen, das Osmanische Reich wirtschaftlich soweit zu stärken, daß es als Partner gegen die neuentstandenen Balkanstaaten fungieren und seine westlichen Besitzungen sichern konnte. Sollte das Reich dennoch zerfallen, so hätte man sich wenigstens „ein kleines Stück vom Kuchen“ gesichert. Bridge, F.R.: The Habsburg Monarchy and the Ottoman Empire 1900-1918, in: Kent, Marian (Hrsg.): The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984, S. 43ff. 321 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 158. 94 zugleich neues Mißtrauen gegenüber den deutschen „Helfern“. Außerdem fühlten sich die entente-freundlichen Regierungsmitglieder, die sich am 3. August vor vollendete Tatsachen gestellt sahen, von Enver hintergangen, was die Stellung des Kriegsministers und indirekt auch Deutschlands in Konstantinopel schwächte.322 Wohl nicht zu Unrecht fürchtete man in Berlin eine einseitige Aufkündigung des Vertrages durch die Hohe Pforte, sollten militärische Anfangserfolge an den europäischen Fronten ausbleiben.323 Es setzte nunmehr hektische Aktivität auf allen diplomatischen Kanälen ein. Die Entente bemühte sich um die Beibehaltung der türkischen Neutralität, während die Mittelmächte – insbesondere Deutschland – versuchten, die jungtürkischen Machthaber zum Kriegseintritt zu bewegen. Der Großwesir war dabei sehr zurückhaltend, wohl auch aus Angst um seinen umfangreichen Besitz im britisch kontrollierten Ägypten.324 Der Finanzminister Djavid Bey kritisierte die weitgehende Unterstellung unter deutsche Kontrolle, die auch den abgeschwächten Vertrag prägte, und Marineminister Djemal Pascha, der erst nachträglich von dem Vertrag erfuhr, erhoffte sich dadurch eine Friedensperiode für die Türkei, in der das Land durch den Krieg der übrigen Großmächte wirtschaftlich gewinnen könne. Lediglich Innenminister Talaat Bey und Kriegsminister Enver Pascha sahen in dem deutsch-türkischen Bündnis eine Chance für militärische Erfolge an der Seite der Mittelmächte. Talaat stand dem Abkommen aber dennoch weit weniger enthusiastisch gegenüber als Enver.325 Damit war von den fünf mächtigsten Männern im Osmanischen Reich zunächst nur ein einziger voll von der Allianz mit Berlin und ihren vorhersehbaren kriegerischen Implikationen überzeugt. Der Sultan als offizieller Herrscher des asiatischen Reiches besaß keinen realen Einfluß auf die Entscheidungsprozesse. Vielmehr galt er als Repräsentationsfigur, die von dem jungtürkischen Minister in der Öffentlichkeit benötigt wurde. Politische Entscheidungen konnten von den Mitgliedern der Regierungspartei durch die umfassenden Änderungen in der osmanischen Verfassung im Zuge der Absetzung Abdul Hamids II. weitestgehend ohne ihn getroffen 322 Larcher, Maurice: La Guerre Turque dans la Guerre Mondiale, Paris 1926, S. 38. (Im Folgenden : Larcher, La Guerre Turque 1926) 323 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 75. 324 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 76. 325 Emin, Turkey 1930, S. 68. 95 werden.326 Doch Enver Pascha besaß auch als Kriegsminister und Chef des Generalstabes der Armee nicht die Machtfülle, seine politischen Gegner einfach übergehen zu können. Dafür bot sich der türkischen Seite endlich die Gelegenheit, aus einer vorteilhaften Verhandlungsposition heraus den europäischen Großmächten zu begegnen. Nach Jahren offener oder verdeckter Geringschätzung war dies ein nicht zu unterschätzender psychologischer Faktor. Ob ernsthafte Bedenken bestanden hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Armee oder der Zustände bei der Truppe, der Rüstungskapazitäten oder der wirtschaftlichen Folgen für die Bevölkerung darf mit Blick auf das Verhalten der Führungsschichten am Bosporus vor und während des Ersten Weltkrieges mit Recht bezweifelt werden. Die bessere Verhandlungsposition sollte sich allerdings schon bald für die Türkei auszahlen. Die deutsche kaiserliche Marine besaß im Mittelmeer ein kleines Kontingent an Schiffen, die „Mittelmeer-Division“, bestehend aus dem Panzerkreuzer „S.M.S. Goeben“ und dem kleineren Geschützten Kreuzer „S.M.S. Breslau“.327 Diese „Mittelmeer-Division“ war auf sich gestellt und nicht in der Lage, den kombinierten britischen und französischen, deutlich überlegenen Seestreitkräfte wirksam entgegenzutreten. Daher entschloß sich der Admiralstab in Berlin am Morgen des 4. August 1914, den Befehlshaber des Verbandes, Konteradmiral Wilhelm Souchon, anzuweisen, in Richtung Dardanellen zu fahren und im Hafen von Konstantinopel anzulegen.328 Noch während der Kohlenaufnahme im neutralen italienischen Hafen von Messina erreichte Souchon am 6. August der Gegenbefehl, der ein Einlaufen in Konstantinopel aufgrund politischer Umstände untersagte. Der deutsche Flottenchef entschied sich allerdings, diesen Befehl nicht zu befolgen, angeblich aus politischer Weitsicht, vermutlich aber auch aus der Sorge, bei einem Einlaufen in die Adria durch die defensive k.u.k. Flottenstrategie dann lediglich im Hafen von Pola festzuliegen.329 Diese Entscheidung führte dazu, daß zwei deutsche Kriegsschiffe in Richtung Dardanellen dampften, verfolgt von britischen Schiffen, obwohl es nicht 326 Palmer, Verfall 1992, S. 303f. Zu technischen Daten der beiden Schiffe siehe: Lorey, Hermann: Der Krieg in den türkischen Gewässern, Erster Band: Die Mittelmeer-Division, Berlin 1928, S. 1f. (Im Folgenden: Lorey, Krieg I, 1928) 328 Lorey, Krieg I, 1928, S. 5. 329 Ebd., S. 14f. 327 96 gesichert schien, daß den Schiffen überhaupt die Einfahrt in die Dardanellen gestattet werden würde, zumal diese bereits mit Ausgabe der türkischen Teilmobilmachung (1. August) für die militärische Schifffahrt gesperrt worden waren.330 Zum Glück für den Konteradmiral hatte das türkische Kabinett mittlerweile seine Meinung wieder geändert und war bereit, die „Goeben“ und die „Breslau“ einfahren zu lassen. Allerdings nutzte Said Halim Pascha die Gelegenheit, dem deutschen Botschafter einige schmerzhafte Zugeständnisse abzuringen. Deutschland sollte sich verpflichten, das Osmanische Reich bei der Abschaffung der Kapitulationen zu unterstützen sowie bei eventuellen Friedens- oder gar Bündnisverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien für die Pforte Partei nehmen. Zudem forderte der Großwesir deutschen Einsatz für eine Erweiterung der türkischen Grenzen im Kaukasus, und bei der Rückgewinnung der Ägäischen Inseln sollte Griechenland in die Schranken gewiesen werden. Schließlich wurde festgelegt, daß die Türkei eine angemessene Kriegsentschädigung erhalten solle und das Deutsche Reich keinen Separatfrieden schließen dürfe, solange noch Teile des Osmanischen Reiches besetzt wären. Aus Angst, den deutschen Schiffen könne im letzten Moment noch die rettende Einfahrt in die Dardanellen verwehrt werden, stimmte Freiherr von Wangenheim zu, da die deutsche Seite kaum damit rechnete, die vertraglichen Vereinbarungen einhalten zu müssen.331 Am 10. August 1914 gingen die Schiffe der „MittelmeerDivision“ vor Konstantinopel vor Anker.332 Schon wenige Tage später wurden beide Schiffe durch einen fiktiven Verkauf osmanischer „Besitz“.333 Die Schiffe erhielten türkische Namen, die Besatzungen trugen türkische Uniformen, und die HalbmondFlagge wurde gehißt. Die britischen Verfolger mußten sich mit dieser Erklärung abfinden, da London zu diesem Zeitpunkt noch immer auf die Neutralität der Osmanen hoffte.334 Die Öffentlichkeit in Konstantinopel feierte die beiden deutschen Schiffe auch als Ausgleich für den Verlust durch die britische Requisition. Die 330 Emin, Turkey 1930, S. 72. Immerhin handelte es sich bei den osmanischen Forderungen um Maximalforderungen, die nur im Falle eines vollständigen Sieges realistisch waren. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 28f. 332 Lorey, Krieg I, 1928, S. 21. 333 Im Kriegstagebuch der Mittelmeerdivision ist eindeutig vermerkt, daß die Schiffe „selbstverständlich“ deutsch bleiben. Kriegstagebuch der Mittelmeerdivision, Eintrag 12.08.1914. BAMA Freiburg, RM 40/ 184, Blatt 174. (Im Folgenden: RM 40/ 184, KTB Mittelmeerdivision.) 334 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 18. 331 97 jungtürkischen Führer teilten diesen Enthusiasmus in realistischer Einschätzung der maritimen Schwäche jedoch nicht, und so stellten sie auch noch an Wien die Anfrage, ob nicht aus der Adria einige k.u.k. Schiffe nach Konstantinopel verlegt werden könnten.335 Dennoch kann das Einlaufen und die Übernahme der deutschen Schiffe als richtungweisend für die türkische Bündnispolitik im Ersten Weltkrieg angesehen werden. Unter dem wachsenden Druck aus Berlin zum sofortigen Kriegseintritt der Osmanen hatte Enver Pascha noch am 5. August ein Bündnisangebot an Russland gerichtet. Dieses Angebot wurde am 9. August sogar um eine mögliche Waffenhilfe gegen Österreich-Ungarn auf dem Balkan erweitert.336 Obwohl die russische Regierung das türkische Ersuchen abgelehnt hatte, erregten die Verhandlungen auf deutscher Seite einige Besorgnis. „Es war dies in der Tat ein weitgehendes Doppelspiel, sodass sogar die Vermutung aufgetaucht ist, dass diese Sondierungen nicht nur zum Schein unternommen wurden.“337 In jedem Fall schlug das osmanische Pendel nach dem 10. August deutlich zugunsten der Mittelmächte aus. Am 15. August stellte die britische Marinemission offiziell ihre Arbeit ein, verblieb aber trotz der Bitte ihres Chefs um Abberufung einstweilen in Konstantinopel.338 Der letzte Schritt zum praktischen Abbruch der Beziehungen mit der Entente war die Beendigung der britischen Marinemission und die Abreise der Berater am 15. September 1914. Am 9. September hatte die Hohe Pforte einseitig die Abschaffung der Kapitulationen verkündet. Die deutschen und österreichischungarischen Botschafter fühlten sich durch diese Maßnahme dermaßen überrumpelt, daß sie gemeinsam mit den Botschaftern der Entente, Russlands und Italiens offiziell dagegen protestierten.339 Dennoch mußten sich die Entscheidungsträger in Berlin und Wien schließlich „mit recht sauren Mienen“ einverstanden erklären.340 Durch diese 335 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 74. Manuskript von Carl Mühlmann „Der Eintritt der Türkei in den Weltkrieg“, o. Dat. BAMA Freiburg, W 10/ 51677, S. 3. (Im Folgenden: W 10/ 51677, Manuskript Mühlmanns.) 337 W 10/ 51677, Manuskript Mühlmanns, S. 5. 338 Palmer, Verfall 1992, S. 323. Chris B. Rooney, "The International Significance of British Naval Missions to the Ottoman Empire, 1908-1914," Middle Eastern Studies, Vol. 34, no. 1 (January 1998). Zit. nach: http://www.library.cornell.edu/colldev/mideast/ottus.htm (Stand: 28.11.06.) 339 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 38. 340 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 78. 336 98 Maßnahme hatte die türkische Seite unmißverständlich klar gemacht, daß sie sich als gleichberechtigter Partner sah und keineswegs gedachte, weiterhin Spielball anderer Großmächte zu bleiben. In Deutschland war man sich dagegen bewußt, daß ein Bündnis mit der Türkei einen wichtigen Impuls für die Kriegführung geben könnte, war allerdings nicht bereit, jeden Preis für das Bündnis zu bezahlen. Die türkeikritischen Stimmen in Berlin wurden lauter und forderten mit Erfolg Verhandlungen über „Ersatzprivilegien“ für die abgeschafften Kapitulationen.341 Offenbar herrschten demnach in Berlin und Konstantinopel recht unterschiedliche Vorstellungen davon, was die Ziele eines gemeinsamen Bündnisses sein sollten. Das Deutsche Reich tat sich dabei schwer über militärische Vorteile hinausgehende Ziele zu formulieren, was nicht zuletzt wohl daran lag, daß die gesamte deutsche „Weltpolitik“ keinem näher definierbaren Ziel folgte.342 Die Absichten, die Deutschland aus strategischer Sicht mit einem Bündnis verfolgte, ergaben sich größtenteils aus der geographischen Lage des Osmanischen Reiches. Es grenzte im Kaukasus an das Russische Reich, bot dort eine neue Front gegen die Armee des Zaren und konnte durch die Sperrung des Schwarzmeer-Zugangs und -Ausgangs Druck auf St. Petersburg ausüben. Zudem bestand theoretisch die oben erwähnte Möglichkeit, das Britische Empire am Suez-Kanal zu bedrohen.343 Sollte das nicht möglich sein, so erhoffte man sich in Berlin zumindest, britische und russische Truppen an anderen Fronten zu „beschäftigen“, während in Europa gekämpft wurde.344 Neben diesen beiden – aus deutscher Sicht – „Hauptfronten“ im Schwarzen Meer und am Suez-Kanal, erhoffte sich Berlin Auswirkungen eines Bündnisses auf die Haltung der Balkanstaaten. So glaubten sowohl Deutschland als auch ÖsterreichUngarn zumindest an eine fortdauernde Neutralität – oder gar ein Beitrittsgesuch – Rumäniens, Bulgariens und Griechenlands, sollte das Osmanische Reich sich den 341 Weber, Eagles on the Crescent 1970, S. 165. Baumgart, Winfried: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus (1890-1914) – Grundkräfte, Thesen und Strukturen, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1972, S. 50-53. 343 Der deutsche General- und der Admiralstab sahen einhellig die Bedrohung Russlands als primäre Aufgabe und dann das „Abschneiden der britischen Lebensader“ in Ägypten als zweite Aufgabe. Brief von Admiral Tirpitz an Admiral Souchon vom 14.08.1914, BAMA Freiburg N 156/2, Blatt 1. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 160. 344 Weber, Eagles on the Crescent 1970, S. 59. 342 99 Mittelmächten anschließen.345 Von Interessen Deutschlands an einer Weiterführung der Baghdadbahn oder von möglichen Gebietsansprüchen im Kaukasus war zunächst keine Rede. Dies verwundert nicht, da beide Gebiete für das grundsätzliche Ziel, den Krieg rasch zu gewinnen, kaum von Bedeutung waren und eine wirkliche „Kriegszieldebatte“ in Deutschland erst mit zunehmender Dauer des Krieges aufkam.346 Für das Osmanische Reich war der Kaukasus hingegen von Beginn an eines der Hauptmotive für ein Bündnis mit den Mittelmächten. Enver Pascha, wie auch ein beachtlicher Teil der jungtürkischen Partei sah die Teile des Kaukasus mit überwiegend muslimischer Bevölkerung im Zuge des Panturanismus als Teil des osmanischen Einflußbereichs an. Daher wurde noch vor dem Einlaufen der Deutschen Mittelmeerdivison von Deutschland Unterstützung bei angestrebten „Grenzkorrekturen“ an der russischen Grenze gefordert.347 Für die Türkei war in jedem Falle Russland der Hauptgegner, denn das Zarenreich forderte schon seit langem die Kontrolle über die Dardanellen und Konstantinopel fürchtete – wohl nicht ganz zu Unrecht –, daß der Zar seine Ziele notfalls auch durch eine Zerschlagung des als schwach emfpundenen Osmanischen Reiches durchsetzen wollte.348 Die jungtürkische Regierung wollte jedoch die Souveränität des Reiches und die Machtposition der Partei unbedingt erhalten und sah diese Option in der Koalition mit den Mittelmächten am besten gewährleistet. In zweiter Linie orientierten sich die türkischen Erwartungen in Richtung Südost-Europa. Hier hoffte man auf die abschreckende Wirkung des Waffenbündnisses gegenüber den früheren Gegnern Bulgarien und Rumänien, deren Haltung zu den Kriegsparteien fraglich blieb. Außerdem erhoffte man sich deutsche Vermittlung in der Frage der Ägäischen Inseln, welche die Türkei an Griechenland – auf das der Deutsche Kaiser einen nicht 345 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 24f. Weber, Eagles on the Crescent 1970, S. 82. 346 Laak, Dirk van: Über alles in der Welt – Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 95-101. Einen vergleichenden Überblick – leider unter Ausklammerung des Osmanischen Reiches – bietet: Soutou, Georges-Henri: Die Kriegsziele des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges: ein Vergleich, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – Wirkung, Wahrnehmung, Analysen, München (u.a.) 1994, S. 28 – 53. 347 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 28. 348 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 26. 100 unerheblichen Einfluß besaß – verloren hatte.349 Für ein gemeinsames Vorgehen gegen die westlichen Ententemächte bestanden am Goldenen Horn hingegen keine Pläne.350 Offenbar besaßen die überwiegend von den arabischen Untertanen bewohnten südlichen Provinzen, die zugleich die möglichen Fronten mit Großbritannien waren, in den Überlegungen der türkischen Führung nur eine untergeordnete Rolle. Die jeweiligen Erwartungen an die Zusammenarbeit divergierten demnach beträchtlich, sieht man einmal von der Absicht ab, den Krieg zu gewinnen. Im Falle eines Sieges mußten die unterschiedlichen Interessenlagen jedoch ein beträchtliches Konfliktpotential bergen. Diese Gedanken wurden vorerst aber hintangestellt, da die allgemeine Lage jeden noch so vagen militärischen Vorteil erforderte. Für das Deutsche Reich erschien daher der „Waffenbund“ mit einer vor kurzem noch als „bündnisunfähig“ bezeichneten Großmacht wie eine Notlösung.351 Allerdings gab sich offenbar auch der türkische Bundesgenosse kaum Illusionen über die Beständigkeit der Vereinbarung hin. Enver Pascha gab gegenüber dem USBotschafter unumwunden zu, daß beide Bündnispartner ihre eigenen Interessen verfolgten und den jeweils anderen nur so lange unterstützen würden, wie es für sie von Vorteil sei.352 Die Gegensätzlichkeit der Interessen sollte im Laufe des Krieges noch deutlicher zu Tage treten. Die Fassade der „deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft“ hatte aber bereits erste Risse, bevor das Osmanische Reich überhaupt in den Krieg eingetreten war. Die deutsche Seite bemühte sich unterdessen – auch unter dem Eindruck der im Frühherbst gescheiterten Offensive in Frankreich – verstärkt um einen Kriegseintritt Konstantinopels. Wichtige Mittel hierfür waren bekanntlich bereits unter deutschem Einfluß. Deutsche Heeresoffiziere besetzten Schlüsselfunktionen in den osmanischen Streitkräften und nach dem Ende der britischen Marinemission übernahm der deutsche Admiral Wilhelm Souchon, der nun offiziell im Dienste des Sultans stand, 349 Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht 1984, S. 410. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 23. 351 Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht 1984, S. 417. 352 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 167. 350 101 am 24. September den Oberbefehl über die türkische Flotte.353 Schon kurz zuvor hatte Souchon in seiner Funktion als Kommandant der deutschen Schiffe unter türkischer Flagge versucht, gegen die russischen Schiffe im Schwarzen Meer vorzugehen. Am 14. September 1914 liefen Teile der türkischen Flotte aus, mit vollem Wissen und der Unterstützung des osmanischen Kriegsministers Enver Pascha, um einen „Zwischenfall“ mit der russischen Marine zu provozieren. Das eigenmächtige Handeln Envers führte jedoch zu offenem Streit mit den übrigen Regierungsmitgliedern, was Enver dazu zwang, die Vollmacht für Admiral Souchon zu widerrufen.354 Zur gleichen Zeit verstärkte Berlin den Druck auf seine Offiziere am Bosporus, um ein „Mitreißen der Türkei“ in den Krieg zu erreichen.355 Der deutsche Botschafter war von diesem rigoroseren Vorgehen keineswegs begeistert. Insbesondere fürchtete Freiherr von Wangenheim, daß eine verstärkte Flottenpräsenz vor der 356 Schwarzmeerküste Rumäniens das Land auf die Seite Russlands treiben könnte. Noch weniger Interesse an einem Kriegseintritt zeigte die türkische Regierung, wie aus einem Schreiben des Botschafters an das Auswärtige Amt deutlich wird: „Izzet Pascha sagte zu Liman: ‚Wir stehen fest zu Ihnen. Aber ein Selbstmordopfer können Sie von uns nicht verlangen. Auch Deutschland hat sich in den Nöten des Balkankrieges für uns nicht geopfert. Siegen Sie irgendwo, so dass wir an Ihren endgültigen Erfolg glauben können, dann werden Bulgarien und wir losgehen.’ Admiral Souchon hat heute im Einverständnis mit Enver und Großvezir erklärt, dass er nicht hier sei um Komödianten zu spielen. Er verlange, dass die Flotte zu Übungszwecken ins Schwarze Meer ausfahre. Eventuell würde er ohne Befehl fahren; wenigstens mit den deutschen Schiffen. Infolgedessen ist, wie ich vertraulich erfahre, Kabinettskrisis ausgebrochen.“357 In der scharfen Reaktion Souchons, der schon das Einlaufen in die Adria aus Sorge vor möglicher Untätigkeit abgelehnt hatte, wird einmal mehr deutlich, daß maßgebliche deutsche Offiziere bestrebt waren, möglichst bald und offenbar auch 353 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 155. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 39f. 355 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 21. 356 Lorey, Krieg I, 1928, S. 42. 357 Brief Wangenheim an Auswärtiges Amt vom 19.9.1914. BAMA Freiburg, W 10/ 50285, Blatt 81f. 354 102 ohne Zustimmung der türkischen Regierung die Neutralität der Hohen Pforte zu beenden. Tatsächlich sollte gut einen Monat später der deutsche Admiral und nunmehr osmanische Marine-Oberbefehlshaber entscheidend zum Kriegseintritt beitragen. Ende Oktober 1914 lief der Großteil der türkischen Flotte erneut aus, diesmal mit dem erklärten und sanktionierten Ziel, durch einen Angriff auf russische Schiffe den Kriegszustand herbeizuführen. Bronsart von Schellendorf, der als stellvertretender Chef des türkischen Generalstabes zu einem engen Vertrauten Enver Paschas geworden war, hatte Admiral Souchon am 25.10. mitgeteilt, daß Enver ohne Zustimmung des Ministerrates keinen Angriffsbefehl geben könne. Allerdings sei er bereit, ein Auslaufen zu genehmigen und danach vertraulich einen Angriffsbefehl zu erlassen, um die Minister vor vollendete Tatsachen zu stellen.358 Noch am gleichen Tage soll Marineminister Djemal Pascha dem Admiral diesen Geheimbefehl übergeben haben.359 Die deutsch-freundliche Fraktion in der türkischen Regierung unter Führung des Kriegsministers hatte es geschafft, in gut einem Monat die einflußreichsten Minister für sich zu gewinnen, unter ihnen auch den eigentlich francophilen Djemal Pascha. Zwei Umstände trugen wesentlich dazu bei. Zum einen das weiterhin ungeschickte Gebaren der Ententemächte, die durch absichtliche oder unabsichtliche Provokationen die öffentliche Meinung in Konstantinopel gegen sich aufbrachten. Nach der Beschlagnahme der Schiffe und dem unrühmlichen Ende der Marinemission hatten britische Schiffe am 26. September ein türkisches Torpedoboot außerhalb der Dardanellen gestoppt und zurückgeschickt mit der Bemerkung, daß zukünftig jedes türkische Schiff, welches die Meerengen verlasse, als feindlich betrachtet werde.360 Zum anderen hatte die Hohe Pforte am 30. September bei der deutschen Regierung einen Kredit über 5 Millionen Ltq erbeten. Berlin war aber nur 358 Brief Bronsart von Schellendorf an Souchon vom 25.10.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 2, Blatt 2. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 166. 360 Vgl. Ebd., S. 161 und Lorey, Krieg I, 1928, S. 44. Lorey berichtet zudem, daß britische Kräfte am 14. Oktober 1914 ein türkisches Flugzeug abgeschossen hätten. In Anbetracht der äußerst unterentwickelten Luftstreitkräfte im Osmanischen Reich (8 Maschinen. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 227. ) und dem damit verbundenen „Sonderstatus“ ist es verwunderlich, daß nirgendwo sonst von diesem Abschuß berichtet wird. Er ist daher fragwürdig. 359 103 bereit, die volle Summe zu genehmigen, wenn vorher die Türkei auf deutscher Seite in den Krieg eintreten würde. Zunächst wurde eine „Anzahlung“ von 250.000 Ltq angeboten, die später durch Verhandlungen auf 2 Millionen Ltq angehoben wurde. Wie Souchon am 22.10. berichtete, hatte diese Zahlung den gewünschten Erfolg am Bosporus: „Das verlangte Geld für kriegerische Aktion (2 000 000 Ltg.[Ltq]) ist eingetroffen. Enver Pascha will daher losschlagen.“361 Mit dem Befehl an Souchon vom 25.10. waren alle Weichen auf Kriegseintritt gestellt.362 Zwei Tage später lief Souchon mit den türkischen Schiffen ins Schwarze Meer aus und am 29. Oktober beschossen die verschiedenen Verbände – ohne vorherige Kriegserklärung – die russischen Häfen Sewastopol, Odessa, Feodosia und Noworossisk, wobei einige Hafenanlagen beschädigt und einige russische Schiffe versenkt wurden.363 Die Tatsache, daß Enver Pascha vorher einen Befehl zum Angriff erteilt hatte, wurde noch einige Zeit nach Kriegsende geheimgehalten. So schreibt Bronsart in einem Kommentar zum amtlichen Werk des Reichsarchivs über die Operation des Admirals Souchon, er habe größte Bedenken dagegen gehabt, aber Souchon habe zum Handeln gedrängt. Sicherlich sei es „in der Sache richtig“, daß das türkische Flottenkommando den Kampf gesucht habe, jedoch könne man dies so nicht einräumen. In der abgeänderten Form, die offenbar der Version von 1914 entspricht, wurde eine Provokation durch einen russischen Minenleger „erdichtet“, die logischerweise eine Vergeltungsaktion zur Folge haben mußte. Diese Version wird vom Reichsarchiv für den Druck übernommen.364 In einer Abschrift seines Tagebuchs finden sich unter dem 31.10. beziehungsweise dem 2.11. Einträge, die von der „unangenehmen Überraschung“ Bronsarts durch die Ereignisse sprechen, obwohl er doch selbst am 24.10. bereits von dem Plan Envers für Souchon berichtet hatte.365 361 RM 40/ 184, KTB Mittelmeerdivision, Eintrag 22.10.1914, Blatt 224. Angeblich fällt die Erstellung des Befehls genau mit dem „Zahlungseingang“ aus Deutschland, dem 22.10.1914, zusammen. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 23. 363 Eine ausführliche Darstellung der Operationen bei Lorey, Krieg I, 1928, S. 46-57. 364 Brief Bronsart an das Reichsarchiv vom 3.7.1928. BAMA Freiburg, RH 61/ 158. 365 Ebd. Bronsart war am 31.10. noch auf einer Dienstreise zur deutschen OHL und kehrte erst am 2.11. nach Konstantinopel zurück. 362 104 Auch der Überbringer des Geheimbefehls, Djemal Pascha, trug nach außen seine Überraschung zur Schau. Als er in einem „Klub“ von der Beschießung erfuhr, soll er gesagt haben: „Es ist gut; aber wenn es schief geht, so ist dieser Souchon der erste, den ich hängen lasse!“366 In jedem Fall kamen alle diese Reaktionen zu spät, um den Lauf der Dinge noch zu beeinflussen. Schon am 30. Oktober waren der russische, britische und französische Botschafter abgereist und am 2. November erklärte Russland dem Osmanischen Reich den Krieg. Die britischen Schiffe vor den Dardanellen warteten ähnlich wie die osmanische Marine eine formelle Kriegserklärung ihrer Regierung nicht ab, sondern beschossen bereits am 3. November einige Forts an den Meerengen, ehe am 5. November die Kriegserklärungen der Regierungen in London und Paris den Bosporus erreichten.367 Das Osmanische Reich befand sich auf Seiten der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. II.3. Strukturelle Probleme der deutsch-türkischen Zusammenarbeit vor dem Ersten Weltkrieg Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlicht haben, waren die Erkenntnisse und Meldungen der deutschen Offiziere aus der Türkei überwiegend negativ konnotiert. Die Andersartigkeit von Land, Leuten und Kultur des Osmanischen Reiches stieß nach anfänglicher Faszination mehrheitlich auf Unverständnis, das besonders in militärischen Fragen alsbald zu harscher Kritik führte. Vor allem die Aussagen der Offiziere, die aktiv an den Balkankriegen teilnehmen konnten, zeigen wie überraschend die Mißstände in der krisengeschüttelten osmanischen Armee auf die Deutschen wirkten; das ist zweifellos erstaunlich, zumal es Erfahrungen gab. So 366 Auszug aus dem Buch „Zwei Jahre in Konstantinople [sic]“ von Harry Stuermer, Lausanne 1917. BAMA Freiburg, N 156/ 4, Blatt 1. Auch wenn der Wortlaut dieser Reaktion Djemals „in das Reich der Legende“ (Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 166.) gehören mag, so zeigt sie doch, wie ernsthaft die Akteure bemüht waren, die Schuld am Kriegseintritt von sich zu weisen. 367 Strachan, First World War 2001, S. 680. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 37. 105 befand sich beispielsweise der bayerische Offizier Otto von Lossow schon seit Anfang 1911 in türkischen Diensten. Eine Anstellung, die er wie erwähnt durch private Initiative beim türkischen Botschafter erreichen konnte. Es stellt sich daher die Frage, welche Rahmenbedingungen die deutschen Offiziere im Orient wahrnahmen und wie sie darauf reagierten. Das Leben im Osmanischen Reich unterschied sich bereits im Alltag grundlegend von dem in den Staaten des Deutschen Reiches. Die Zeitrechnung beruhte auf einem Kalender, dessen Jahr 354 beziehungsweise 355 Tage hatte und dessen Monate um einen Tag kürzer als im christlichen Kalender waren. Aufgrund des unterschiedlichen Beginns der kalendarischen Zeitberechnung befand sich das Osmanische Reich zu Anfang des christlichen 20. Jahrhunderts „erst“ im mohammedanischen 14. Jahrhundert. Zudem wurden die Tage jeweils nach Sonnenauf- und Sonnenuntergang eingeteilt, wobei dieses Intervall, unabhängig von der Jahreszeit, als eine Dauer von „12 Stunden“ definiert wurde.368 Dieser unterschiedliche Zeitbegriff mußte im militärischen Bereich zwangsläufig zu Mißverständnissen und Irritationen führen. Erst recht aber war das türkische Pflicht- und Arbeitsethos nicht mit dem deutschen und besonders dem preußischen vereinbar. Den türkischen Offizieren, die schnell als Verantwortliche für viele Mißstände der osmanischen Armee ausgemacht waren, und den Beamten wurde der – offenbar allgemein übliche369 – gemächlichere Tagesablauf als Faulheit ausgelegt. Lossow schreibt in seinem Geheimbericht vom Februar 1913: „Niemand will etwas von Arbeit und Pflichterfüllung wissen. In der Theorie-ja-, da redet jeder davon mit vollem Maul. In der Praxis- da geht jeder (mit verschwindenden Ausnahmen) der Arbeit aus dem W[e]ge.“370 Der fehlende Eigenantrieb, resultierend aus starker Bindung an Weisungen und dem Mangel an Handlungsspielräumen, wurde häufig als Verantwortungsscheu angesehen und mit Kismet- oder Schicksalsgläubigkeit sowie „typisch türkischem Fatalismus“ in 368 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 182. Ebd., S. 181. 370 Kriegserfahrungsbericht, Bericht von Lossow vom 3.2.1913, Geheim, S.8. KA München, MKr. 986. 369 106 Verbindung gebracht, die tatsächlich im Osmanischen Reich recht weit verbreitet waren.371 Schon bald war dieses „Grundübel“ der osmanischen Kultur in praktisch allen Berichten deutscher Offiziere zu finden. Sogar Colmar Freiherr von der Goltz, der als ausgesprochener Freund des Osmanischen Reiches gelten kann, kritisierte die Auswirkungen der „türkischen Arbeitsmentalität“ auf das Heerwesen. Er berichtet von „einer Verwaltung, in der von jeher Zentralisation, schleppender Bureaukratismus und unendliches Formenwesen vorgeherrscht hatten, niemand aber an Selbständigkeit oder gar Initiative gewöhnt war“.372 Seine Absicht war jedoch, die türkischen Offiziere und Mannschaften in Schutz zu nehmen. Schuld an dem Versagen der Armee in den Balkankriegen – und anläßlich dieser Niederlagen hatte er die Schrift überhaupt verfaßt – seien verwaltungsinterne Behinderungen der nötigen Reformen sowie politische Wirren gewesen. Die Herrschaft Abdul Hamids II. und dessen Sturz durch die „Jungtürken“ mit der anschließenden, radikalen Umstrukturierung hätten die Armeeangehörigen derart verunsichert, daß es verführerisch bequem gewesen sei, keine Verantwortung zu übernehmen und sich so jeder Rechenschaft zu entziehen.373 Goltz kannte die Schwierigkeiten im Osmanischen Reich wohl am besten von allen deutschen Offizieren. Während seiner kurzen Entsendungen an den Bosporus in den Jahren 1909 und 1910 hatte er die Gelegenheit genutzt und seine Beobachtungen schriftlich zusammengefaßt mit dem Ziel, den zukünftigen deutschen Militärreformern einen Leitfaden und eine Einstiegshilfe an die Hand zu geben. Diese „Winke für die in den türkischen Dienst als Instrukteure übertretenden Offiziere“ sprechen bereits einige der Probleme an, über die sich die Militärreformer später beschweren.374 Von der Goltz beschreibt eindrücklich den sorglosen Umgang der türkischen Seite mit Vorbereitungen für Unternehmungen aller Art. Außerdem forderten türkische Militärtheoretiker nicht etwa ein ausgeprägtes Organisations-, 371 Demm, Eberhard: Zwischen Kulturkonflikt und Akkulturation: Deutsche Offiziere im Osmanischen Reich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 696. (Im Folgenden: Demm, Kulturkonflikt 2005.) 372 Goltz, Niederlage 1913, S. 17. 373 Goltz, Niederlage 1913, S. 9. 374 Zu den folgenden Ausführungen: ANHANG A, Colmar Freiherr von der Goltz „Winke für die in den türkischen Dienst als Instrukteure übertretenden Offiziere“, Konstantinopel 1909/10. 107 sondern ein Improvisationstalent der Soldaten. Weitere Kritikpunkte sind die mangelnde praktische Ausbildung in allen Truppenteilen, das völlige Fehlen eines Unteroffizierkorps und mangelnde Eigenverantwortlichkeit der Truppenführer und Generäle. Wichtige Entschlüsse seien oft nur durch energischen Druck „von oben“ durchzusetzen. Auch bedürfte ihre Umsetzung ständiger Kontrolle und detaillierter Anleitung. Die Folgerungen für die Instrukteure, die Goltz aus diesen Einsichten zieht, unterscheiden sich allerdings grundlegend von denen Lossows und Endres´ drei Jahre später. Der preußische Generaloberst empfiehlt seinen Kameraden eine „[u]nermüdliche Ausdauer und grosse Geduld“ im Umgang mit den osmanischen Untergebenen.375 Das Beharren auf Formalitäten im Exerzierreglement, das im übrigen bereits weitgehend das deutsche sei, und Pedanterien in Kleinigkeiten wirkten kontraproduktiv. Vielmehr müsse die kriegsmäßige Übung und die praktische Ausbildung an den Waffen Vorrang haben. Ordnung und Disziplin dürften dabei nicht zu kurz kommen, aber – mit Rücksicht auf die Mentalität der Türken – auf keinen Fall übertrieben werden, da sonst der Lernerfolg gefährdet sei. In einer Ergänzung vom Dezember 1910 stellt Goltz dann einen konkreten Lösungsansatz zur Modernisierung der Streitmacht vor. Für alle drei Waffengattungen (Infanterie, Kavallerie und Artillerie) seien mittlerweile Modell-Regimenter geplant worden. Als Kommandeur solle jeweils ein deutscher Instrukteur fungieren, der durch einen türkischen Stabsoffizier für den Inneren Dienst und einen türkischen Offizier als Dolmetscher und Gehilfen unterstützt werde. Diese Regimenter könnten als Ausbildungs- und Vorbildregimenter der jeweiligen Armeen dienen und alle Offiziere sollten wenigstens für die Dauer von einem Jahr zu diesen speziellen Formationen kommandiert werden. Außerdem seien Offizier-Übungslager einzurichten, in denen jeweils 120 türkische Offiziere für die Dauer von 3 Monaten in modernen Infanterietaktiken ausgebildet würden, wobei die Offiziere abwechselnd Mannschafts- und Führungsfunktionen wahrnähmen. Diese Ausbildungslager sollten ebenfalls von einem deutschen Instrukteur geleitet werden. 375 Goltz, Winke 1909, Blatt 58 [hier S.412.]. 108 Das Bemühen um eine grundlegende Reform des osmanischen Heeres ist in den Ausführungen des Freiherrn von der Goltz deutlich zu erkennen. Sie haben nichts mit den späteren Forderungen nach „völliger Unterjochung“ unter deutsche Oberhoheit zu tun, da der größte Teil der türkischen Armee unter türkischem Kommando verbleiben sollte. Vielleicht ahnte der alternde Goltz aber schon, daß einige der deutschen Offiziere ernsthafte Probleme mit der Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten haben würden, denn neben der ständigen Mahnung zur Geduld verweist er in dem Zusatz von 1910 noch auf die „höfliche Form“, die unerläßlich sei, um das Vertrauen der Offiziere und Mannschaften zu gewinnen. Dazu gehöre auch, daß der deutsche Experte und Reformer stets „selbst das beste Beispiel an Pflichttreue, Pünktlichkeit, Unermüdlichkeit und Einsicht geben muss, weil darauf geachtet wird“.376 Mit solchen Forderungen hatten die deutschen Militärangehörigen aber immer wieder Schwierigkeiten, wie noch zu schildern sein wird.377 In der Schrift von der Goltz´ ist schließlich noch eine Passage besonders hervorzuheben: „Wir dürfen nicht vergessen, dass eine jahrhunderte [sic] lange konsequente Erziehung des eigenen Heeres durch soldatische Monarchen uns viele Dinge als ganz selbstverständlich erscheinen lässt, die es nicht sind, und deren Mangel uns in der Fremde verwundert. Strenge Pünktlichkeit im Dienste, unbedinger Gehorsam auch bei abweichender Meinung, sorgfältigste Pflichterfüllung nicht nur in wichtigen, sondern auch in den kleinsten Dingen [...] sind Produkte der Erziehung.“378 Hier wird ein stark idealisiertes Bild des preußisch-deutschen Offizierkorps gezeichnet, das so weder auf die Offiziere im Deutschen Reich noch auf diejenigen in osmanischen Diensten zutraf. Schon in der ersten längeren Phase deutscher Militärreformen unter General Kaehler zeigt sich wenig von „unbedingtem Gehorsam auch bei abweichender Meinung“. Der Mangel an klaren Befehlsstrukturen bei den deutschen Reformer verleitete offenbar eher zu „Machtkämpfen“ unter den Offizieren. In der osmanischen Hierarchie genossen sie verhältnismäßig hohe 376 Goltz, Winke 1909, Blatt 62 [hier S. 420]. Siehe besonders Kapitel V. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Fehlverhalten und Leistungen der Deutschen im Orient. 378 Goltz, Winke 1909, Blatt 57 [hier S. 410]. 377 109 Eigenständigkeit, da jeweils einer als Reformer für Kavallerie oder Pionierwesen ein eigenes Tätigkeitsfeld übernommen hatte. Unabhängig vom Erfolg oder auch Mißerfolg im eigenen Aufgabenbereich wollten sich die „zuständigen Offiziere“ unter Berufung auf Fachkompetenz und daraus abgeleitete Autorität keinesfalls in ihre Arbeit hereinreden lassen, wie die „Von-Hobe-Affäre“ sehr deutlich zeigte.379 Dabei wurde die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Sultan und damit dem eigentlichen Dienstherren weniger Ernst genommen. Viel wichtiger war die Möglichkeit, die Berichterstattung an den deutschen Kaiser unmittelbar beeinflussen zu können. Offiziell waren die deutschen Militärreformer bekanntlich nur auf Zeit abgeordnet, mit der vertraglichen Zusicherung einer Wiedereinstellung in die deutschen Streitkräfte. Als Oberkommandierender galt ihnen weiterhin der Kriegsherr in Berlin, der durch seine Äußerungen diese Einschätzung bestätigte. Wohl das eklatanteste Beispiel für diese Form der „Doppelmoral“ auf deutscher Seite ist der Befehl des Admirals Souchon, in dem deutlich gemacht wird, daß die Schiffe „Goeben“ und „Breslau“ zwar offiziell türkisch werden, aber inoffiziell „selbstverständlich“ (!) deutsch bleiben.380 Hier wird nicht nur ein Loyalitätskonflikt deutlich, sondern auch ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem osmanischen Verbündeten. Nach dem Selbstverständnis des Admirals erscheint es undenkbar, daß der Kaiser die Schiffe einem „rückständigen Land“ wie dem Osmanischen Reich auf Dauer überlassen könnte und die Befehle aus Berlin geben ihm in dieser Situation Recht. In diesem Fall sorgte jedoch eine politische Zwangslage und somit Opportunismus für einen reibungslosen Ablauf, doch die Problematik der „doppelten Loyalitäten“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der deutsch-türkischen Militärbeziehungen. Bereits im April 1914 verfaßte der deutsche Chef des türkischen Generalstabes Bronsart von Schellendorf einen Brief an das Militärkabinett in Berlin, in dem er sich darüber beklagt, daß niemand zwei Herren gleichzeitig dienen könne. Zugleich betont er aber seine Treue „selbstverständlich und in erster Linie“ zur deutschen Seite.381 379 Siehe oben, S. 58. Siehe oben, S. 97. 381 Abschrift eines Briefes Bronsarts von Schellendorf an Freiherr von Marschall, Konstantinopel 25. April 1914, BAMA Freiburg W 10/ 50748. (Im Folgenden: W 10/ 50748: Brief Bronsarts vom 25. 380 110 Wäre diese Haltung offiziell bekannt geworden, so hätten sich daraus zweifellos gravierende Mißstimmungen zwischen der Hohen Pforte und Berlin ergeben. Schließlich besaß die deutsche Militärmission einen gültigen Vertrag mit dem Sultan, in dem eine Berichterstattung vorbei am osmanischen Dienstherrn nicht vorgesehen war. Inoffiziell dürfte sich die osmanische Seite, hier vor allem Enver Pascha als Kriegsminister, allerdings keinerlei Illusionen hinsichtlich der deutschen Gesinnung hingegeben haben. Von offiziellen Protesten wurde – gemäß der landesüblichen politischen Vorgehensweise – zugunsten einer subtileren Ausnutzung möglicher deutscher Gewissenskonflikte abgesehen. Enver wehrte sich beispielsweise bis 1917 vehement dagegen, daß Bronsart als Chef des osmanischen Generalstabes abgelöst werden sollte. Nach Aussage des Generalmajors Otto von Lossow, der zu diesem Zeitpunkt deutscher Militärbevollmächtigter in Konstantinopel war, wäre Bronsarts Ablösung zwar aus fachlichen Gründen wünschenswert, aber nicht durchzusetzen, weil er Enver Pascha sehr „bequem“ sei.382 Die Tatsache, daß eine militär-fachliche Entscheidung aufgrund der „Befindlichkeit“ Enver Paschas verschoben werden mußte, zeigt sehr deutlich, wie sehr militärische Tätigkeit in der Türkei mit persönlichen Beziehungen verknüpft war, die zugleich strukturell und institutionell erhebliche Auswirkungen hatten. Wilhelm II. hatte zwar ausdrücklich vor der „Politisierung“ in der türkischen Armee gewarnt, war sich aber anscheinend nicht bewußt, wie allgegenwärtig politische Erwägungen im Dienst am Bosporus waren. Bekanntlich waren die einflußreichsten Persönlichkeiten im türkischen Militär zugleich Angehörige der Regierung (z.B. Marineminister oder Kriegsminister) und Anhänger der herrschenden jungtürkischen Gruppierung „Komitee für Einheit und Fortschritt“. Djemal Pascha hatte im Verlauf des Krieges gleichzeitig das Amt des Marineministers, das Kommando der osmanischen 4. Armee April 1914.) Umsichtigerweise hat Bronsart seinen Brief direkt an von Marschall gerichtet und mit dem Vermerk versehen, der Brief sei nur für ihn bestimmt und ganz vertraulich zu behandeln. Der Adressat war Oberst Freiherr Marschall gen. Greiff, der 1914 Abteilungschef im Militärkabinett war und 1918 als Generalmajor Nachfolger des Freiherrn v. Lyncker Chef des Militärkabinetts wurde. Ehren-Rangliste 1914, Bd. 1, S. 2. Mombauer, Annika: Helmuth von Moltke and the origins of the First World War, Cambridge 2003, S. 33. 382 Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims zu: „Die Ursachen für den Zusammenbruch der Palästina-Front“ bearbeitet von Generalmajor a. D. von Frankenberg und Proschlitz, Potsdam 1930, BAMA Freiburg, W 10/ 50592, S. 12. (Im Folgenden: W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims.) 111 und den Posten des Militär-Gouverneurs der osmanischen Provinz „Syrien“ inne.383 Diese Verbindung von Streitmacht und zivilen Staatsorganen waren nach dem jungtürkischen Staatsstreich zu einem grundlegenden Merkmal der türkischen Staatsund Militärorganisation sowie zum tragenden Pfeiler der angestrebten Modernisierung geworden. Faktisch hatte eine Gruppe junger Offiziere den alten Sultan gestürzt und einen autoritären Ein-Parteien-Staat gegründet. Vordergründig bedeutete dies noch keine große Änderung gegenüber dem hamidischen Regime, denn schon in den Jahrhunderten zuvor war das osmanische Militär stets die Klammer gewesen, die den weitläufigen Vielvölkerstaat zusammenhielt, da sie angesichts des mangelhaften Verwaltungsapparates das effektivste Machtinstrument des Herrschers darstellte. Der neue Sultan Mehmet V. war jedoch nur eine Repräsentationsfigur und die Machtausübung lag realiter in den Händen der Minister und der Angehörigen des Kommitees für Einheit und Fortschritt, dem eben jene Militärs angehörten, die für den Umsturz verantwortlich waren. Diese wiederum versuchten ihre Vertrauten, bei denen es sich meist ebenfalls um Offiziere handelte, in prestigeträchtige, lukrative, aber eben auch verantwortungsvolle Positionen zu bringen. Auf diese tradierte Weise wurde Loyalität geschaffen und gesichert. So förderte auch Enver Pascha seinen Onkel Halil, der Kommando an der Front bei Kutel-Amara für den verstorbenen Freiherrn von der Goltz übernahm, in seiner militärischen Karriere.384 Andererseits wurden militärisch fähige Offiziere an einem Avancement gehindert, wenn in ihnen parteiinterne Konkurrenz gesehen wurde, wie es bei Mustafa Kemal der Fall war.385 Die Einflußnahme der Komitee-Angehörigen erstreckte sich aufgrund der gleichzeitig ausgeübten Staatsämter uneingeschränkt auf die zivilen Bereiche.386 Auf diese Art war die militärische und zivile Hierarchie durchsetzt von „Günstlingen“ oder „Aufsteigern“, die von den deutschen 383 Die Provinz „Syrien“ beinhaltete sowohl Syrien als auch Palästina und weite Teile der arabischen Halbinsel. Pope, Stephen/Wheal, Elizabeth-Anne: Dictionary of the First World War, Barnsley 22003, S. 134f. (Im Folgenden: Pope/Wheal: Dictionary 2003.) 384 Zu einer Kurzbiographie Halil Paschas siehe: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 219. 385 Ebd., S. 218f. 386 So machte Enver seinen Schwager zum Wali (Großgouverneur, Vorsteher eines Wilajets/Verwaltungsbezirks) des Bezirks Khinis im Kaukasus. Interessanterweise war dieser später an dem Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung beteiligt. Aufsatz von Georg Mayer „Die Armeniergreuel 1914/15“, o. Dat, S. 2f., KA München HS 2049. (Im Folgenden: HS 2049, Die Armeniergreuel 1914/15.) Zur Amtsbezeichnung und der Funktion eines Walis siehe: Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 338. 112 Verbündeten gering geachtet wurden, auch wenn sich einige als sehr fähige Befehlshaber erwiesen.387 Die Parteinahme auf der richtigen Seite in der osmanischen Hauptstadt blieb für türkische Offiziere das hervorstechende Mittel, um möglichst rasch aufzusteigen; daher waren politische Erwägungen und Handlungsweisen für sie von großer Bedeutung. Aufgrund dieser umfassenden Machtbefugnisse waren die hochgestellten Partei- und Regierungsmitglieder bei ihren osmanischen Untergebenen sehr gefürchtet, eine Tatsache, die sich auch für die deutschen Offiziere als „zweischneidiges Schwert“ erwies. Einerseits erhielten sie zwar die Möglichkeit, „widerwillige“ türkische Stellen durch den Verweis auf eine Berichterstattung an höherer Stelle zur „Einsicht“ zu bewegen, andererseits konnte ein schlechtes Verhältnis zu ihnen aber die Dienstgeschäfte bis zur Unmöglichkeit erschweren. Das wohl prominenteste Beispiel in dieser Hinsicht stellt das extrem angespannte Verhältnis zwischen Liman von Sanders und Enver Pascha dar. Die Tatsache, daß der türkische Kriegsminister noch keine 35 Jahre alt war, jedoch schon das zweithöchste militärische Amt nach dem Sultan innehatte, mußte für einen preußischen General wie Liman, der eine eher unspektakuläre Karriere vorzuweisen hatte, bereits schwer zu ertragen sein. Diesen jungen Mann als Vorgesetzten zu haben, mußte geradezu zwangsläufig zu Friktionen führen. Läßt man „niedere Beweggründe“ wie Neid oder persönliche Eitelkeiten einmal außer Acht, so scheinen auch auf fachlicher Ebene unübersehbare Gegensätze geherrscht zu haben. Enver wird beispielsweise mehrfach durch Liman eine unzureichende militärische Bildung und mangelnde Erfahrung unterstellt.388 Zudem setzte der junge Vizegeneralissimus seine Pläne zur Neuorganisation der bewaffneten Macht auch ohne Beratung mit dem deutschen Missionschef um, weswegen dieser sich in seinen Kompetenzen übergangen fühlte.389 387 Der spätere Chef des türkischen Generalstabes (1917/18), Hans von Seeckt, macht in einer Denkschrift vom November 1918 deutlich die pateipolitische „Durchseuchung der Armee“ dafür verantwortlich, daß aus der „kleinen Zahl befähigter Generale für die wichtigsten Stellen die ausschieden, welche abweichender Gesinnung waren oder sich von dem politischen Treiben fernhielten“. Rabenau, Friedrich von: Seeckt – Aus seinem Leben 1918-1936, Leipzig 1940, S. 104. (Im Folgenden: Rabenau, Seeckt 1940.) 388 In diesem Zusammenhang wird von den „etablierten Generälen“ in Konstantinopel gerne die Anekdote kolportiert, der Sultan habe von der Ernennung Envers erst aus der Zeitung erfahren und daraufhin entsetzt ausgerufen, daß dieser noch viel zu jung für den Posten sei. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 38f. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 17. 389 So löste Enver unter anderem den Obersten Kriegsrat auf, dessen Mitglied Liman von Sanders laut seines Vertrages mit der Hohen Pforte war. Ohne den Missionschef darüber zu informieren, wurden dadurch die Vertragsbedingungen geändert. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 18f. 113 Im Gegenzug ließ der deutsche Missionschef bei seinen Inspektionen alle Diplomatie vermissen. Der deutsche Botschafter Freiherr von Wangenheim berichtet beispielsweise an das Auswärtige Amt in Berlin, daß Liman bei der Inspektion eines türkischen Reiterregiments nach dem Bestand an kranken Pferden gefragt habe. Daraufhin wurde ihm gesagt, daß es keine kranken Pferde im Regiment gäbe. Diese Auskunft veranlaßte den Marschall jedoch erst recht zu Nachforschungen innerhalb der Liegenschaft, bei denen er eine Tür zu einem „Eiskeller“ entdeckte. Auf Nachfragen war kein Schlüssel für die Tür zu finden und auch ein Schlosser sei nicht aufzutreiben gewesen. So ließ Liman die Tür schließlich mit einer Axt einschlagen und fand im Keller etwa 20 kranke Pferde vor, von denen die Hälfte gleich erschossen werden mußte.390 Abgesehen davon, daß die Verhaltensweise des türkischen Regimentskommandeurs in dienstlicher Hinsicht eindeutig verwerflich und für die Leistungsfähigkeit der Truppe sowie das Reformvorhaben im Ganzen schädlich war, muß gleichzeitig die Vorgehensweise Limans als „ungeschickt“ angesehen werden. Offenbar scheint es ihm hier eher um die Düpierung des Verantwortlichen als um eine konstruktive Belehrung gegangen zu sein. In einer ähnlichen Situation stellte Liman von Sanders bei der Besichtigung von Truppenteilen der 8. osmanischen Division fest, daß die Offiziere und Mannschaften seit langer Zeit keine Gehälter und Löhnungen mehr bekommen hatten. Die Bekleidung war zerschlissen, Schuhwerk kaum vorhanden und die Mannschaften aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes nicht in der Lage, irgendwelche Übungen abzuhalten. Nachdem der türkische Divisonskommandeur Oberst Ali Risa Bey ihm diese Zustände offen geschildert hatte, verfaßte Liman einen kritischen Bericht, den er direkt an Enver Pascha sandte. Dieser setzte daraufhin den Divisonskommandeur ab. Liman intervenierte sogleich gegen die Entscheidung mit der Begründung, daß er nicht arbeiten könne, wenn jeder Offizier, der ihm die Wahrheit sage, entfernt werde. Dieser Vorfall muß eine längere Auseinandersetzung nach sich gezogen haben, an deren Ende Liman sich durchsetzen konnte.391 390 Streng vertraulicher Brief Freiherr von Wangenheims an Staatsekretär von Jagow, Pera 16. März 1914, BAMA Freiburg, W 10/ 50748. 391 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 19f. 114 Spätestens hier sollte man annehmen, daß Liman die unterschiedlichen Ansätze zur „Problemlösung“ erkannt hätte. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Die dienstlichen Differenzen zwischen Liman und Enver steigerten sich zu gravierenden persönlichen Antipathien, die im Verlaufe des Krieges schließlich in eine regelrechte Verachtung Limans für Enver mündeten.392 Der Chef der Militärmission war aber keineswegs der einzige Deutsche, dessen dienstliche Differenzen sich zu persönlichen Fehden mit politischen Auswirkungen entwickelten. Als weiteres Beispiel hierzu mag der bayerische Oberstabsarzt Prof. Dr. Georg Mayer dienen. Professor Mayer gehörte zusammen mit Liman von Sanders zu den ersten deutschen Offizieren, die im Dezember 1913 als Angehörige der Militärmission in Konstantinopel eintrafen. Er sollte als türkischer Oberstleutnant393 und Vizepräsident der Medizinalabteilung im Kriegsministerium die Reorganisation des osmanischen Sanitätswesens leiten.394 Auf dessen Zustand wird an anderer Stelle noch genauer eingegangen werden.395 Hier ist zunächst von Bedeutung, daß Mayer zwar über eine ausgezeichnete fachliche Eignung, aber offenbar nicht über die soziale Kompetenz verfügte, die unter den lokalen Gegebenheiten für einen dauerhaften Erfolg notwendig gewesen wäre.396 Die direkte Art, mit der er Mißstände anprangerte, führte schon bald zum Zerwürfnis mit seinem – offenkundig weniger qualifizierten – Vorgesetzten Suleiman Numan Pascha. In einem Falle entdeckte er zum Beispiel, daß ein türkischer Bakteriologe gefährliche „Impfungen“ mit infiziertem Blut durchführte, wodurch sich die Ansteckung mit Typhus dramatisch erhöhte: „Ich ließ sofort [...] ein geharnischtes Telegramm an Enver abgehen, in dem die unsinnigen Impfungen verboten und die Abberufung des Serwet verlangt war. Was 392 „Da Liman von Sanders nicht durchdrang, so steigerte sich seine bis zur Verachtung gesteigerte Abneigung gegen Enver noch mehr.“ W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 17. 393 In der osmanischen Armee wurde in den Dienstgradbezeichnungen nicht zwischen Sanitätsdienst und Felddienst unterschieden. 394 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 64. 395 Siehe Kapitel unten, S. 138f. 396 Oberstabsarzt Prof. Mayer verfügte über Auslandserfahrung in China und umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung. In einem Qualifikationsbericht der Militärärztlichen Akademie in Bayern vom Januar 1913 wird er sogar als „Zierde der militärärztlichen Akademie“ bezeichnet. Hierzu und zum weiteren Werdegang Mayers: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 62ff. 115 geschah? [...] Serwet und Süleiman Numan wurden als Wohltäter der Menschheit gefeiert: Beide erhielten hohe Orden!!“397 Aus deutscher Sicht erscheint dieses Ergebnis zunächst unverständlich, ja sogar medizinisch gefährlich, für Enver bildete sie jedoch die einzige Art sein Gesicht zu wahren. Der deutsche Arzt hatte im dienstlichen Verkehr seinen unmittelbaren Vorgesetzten Suleiman Pascha einfach übergangen und direkt beim Kriegsminister interveniert. Obgleich sein Vorgesetzter offenbar tatsächlich unfähig war, wäre eine solche Vorgehensweise (Nichtbeachtung des Dienstweges und „geharnischte“ Formulierung des Telegramms) mit Sicherheit auch im Deutschen Reich nicht toleriert worden. Durch seine harte Reaktion hatte Prof. Mayer zudem offiziell die Kompetenz des Suleiman Pascha in Frage gestellt und eine entsprechende Rüge durch Enver Pascha hätte ihn darin bestätigt. So blieb Enver nach türkischer Einschätzung und Mentalität nur der genannte Ausweg, so falsch er fachlich auch gewesen sein mag.398 Oberstleutnant Mayer stellte nach einer Reihe ähnlicher Vorfälle fest: „Meine Beliebtheit wuchs natürlich nicht durch dieses fortwährende Aufdecken unhaltbarer Zustände.“399 Im Oktober 1915 hatte der bayerische Sanitätsoffizier schließlich nicht nur praktisch sämtliche vorgesetzten Stellen brüskiert, sondern auch durch schroffste Behandlung von Untergebenen erreicht, daß die türkische und die deutsche Seite einhellig seine Abberufung in die Heimat durchsetzten.400 Einmal mehr zeigt sich hier, wie sehr das Verhalten oder das persönliche Verhältnis der Agierenden mittelbaren Einfluß auf militär-fachliche Entscheidungen hatte. Ein falscher Ton oder eine abfällige Äußerung deutscherseits führte schnell zu einer empfindlichen Reaktion der türkischen Seite. Die Diplomaten waren dann um Schadensbegrenzung bemüht, um das deutsch-türkische Bündnis nicht unnötig zu belasten und zugleich einen Prestigeverlust durch deutsche Ungeschicklichkeiten zu verhindern. Umgekehrt konnte einem die richtige Umgangsweise allerdings auch 397 Aufsatz von Georg Mayer „Der Flecktyphus in der Türkei im Weltkrieg“, o. Dat, S. 9., KA München HS 2049. (Im Folgenden: HS 2049, Der Flecktyphus in der Türkei.) 398 Immerhin hatten die Mitglieder des „Komitee für Einheit und Fortschritt“ erst im Jahre 1913 die Herrschaft an sich gerissen. 399 HS 2049, Der Flecktyphus in der Türkei, S. 13. 400 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 67f. 116 viele Probleme aus dem Weg räumen, wie sich im Kriege noch zeigen sollte. Dafür mußten die deutschen Militärberater jedoch bereit sein, sich der unterschiedlichen Mentalität bis zu einem gewissen Grade anzupassen. In jedem Fall aber verdienten die Worte des Freiherrn von der Goltz, der zur Höflichkeit mahnte, mehr Beachtung, als ihnen die Militärmission bis zum Kriegsausbruch einzuräumen bereit war.401 Ein wesentlicher Faktor für die anfänglichen Schwierigkeiten und Reibungen muß allerdings auch in der Struktur der deutschen Heere und ihrer Offizierskorps gesehen werden. Im Deutschen Reich war das Militär – besonders in den preußisch geprägten Gebieten – eine in vielen Belangen „autonome“ Einrichtung. Militärangehörige unterlagen beispielsweise einer eigenen Strafgerichtsbarkeit, die sie häufig der zivilen Rechtsprechung entzog, auch wenn es sich um Konflikte mit der Zivilbevölkerung handelte.402 Das Nebeneinander von Militär und zivilen Stellen im Reich wurde noch dadurch unterstrichen, daß die bewaffnete Macht der ministeriellen und parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen war. Das Parlament konnte alleine über die Budgetierung Einfluß nehmen und das Kriegsministerium besaß keine direkte Befehlsgewalt, sondern nahm im Wesentlichen Verwaltungs- und Versorgungsaufgaben wahr.403 Außerdem besaßen deutlich mehr militärische als zivile Amtsträger über das Immediatrecht einen unmittelbaren Zugang zum Kaiser. Diese Rechte wurden während des Krieges nahezu „inflationär“ an das Militär vergeben und festigten so seine Sonderstellung im Reich.404 Die Offizierkorps genossen zudem innerhalb des Deutschen Reichs den Ruf der „Exklusivität“. Mit dem Beruf des Offiziers war in vielen Bundesstaaten ein 401 Goltz, Winke 1909, Blatt 62 [hier S. 419f.]. Trotz heftiger Diskussionen um eine Reform der Militärstrafgerichtsordnung in den 1890er Jahren konnte die Öffentlichkeit weiterhin von solchen Verfahren ausgeschlossen werden, wenn der Kaiser befand, daß dadurch dienstliche Belange oder die Disziplin betroffen werden könnten. Siehe hierzu: Deist, Wilhelm: Militär, Staat und Gesellschaft – Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, S. 21ff. (Im Folgenden: Deist, Militär 1991.) 403 Ostertag, Heiger: Bildung, Ausbildung und Erziehung des Offizierkorps im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918 – Eliteideal, Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurt am Main (u.a.) 1990, S.223. (Im Folgenden: Ostertag, Offizierkorps 1990.) Auch Kaiser Wilhelm I. hatte zur Festigung seiner eigenen, direkten Kommandohoheit die Kompetenzen des Kriegsministeriums zunehmend beschnitten. Sein Enkel, Wilhelm II., setzte diesen Kurs energisch fort. Deist, Militär 1991, S. 23f. u. S. 132f. 404 Deist, Wilhelm: Das Militär an der „Heimatfront“ 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945, in: Thoß, Bruno/Volkmann, Hans-Erich (Hgg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn (u.a.) 2002, S. 377. 402 117 beträchtliches Sozialprestige verbunden, dem nicht zwangsläufig eine finanzielle oder auch charakterliche Entsprechung zugrunde lag. Da das Gehalt der Subalternoffiziere (Leutnante, Oberleutnante) kaum ausreichte, um ein standesgemäßes Leben zu führen, mußten andere Förderer aushelfen, sonst drohte rasch eine Überschuldung.405 Die hervorgehobene soziale Stellung machte die Offizierlaufbahn dennoch für die adeligen und zunehmend auch für bürgerliche Kreise attraktiv.406 Die Mehrheit der Offiziere sah sich als privilegierte Angehörige eines Standes, der dem Monarchen verpflichtet und diesem treu ergeben war.407 Die vermehrte Aufnahme von bürgerlichen Aspiranten408 trug zusammen mit steigenden Anforderungen an die Schulbildung vorübergehend liberalere Anschauungen an die Offizierkorps heran, die häufig unter dem Druck der adeligen Standes-Kameraden aufgegeben werden mußten.409 Infolgedessen war die Mehrheit der Offizierkorps 405 In seiner Kabinettsordre vom 5. Juli 1888 ermahnt Kaiser Wilhelm II. die Offizere ausdrücklich, den Versuchungen einer luxuriösen Lebensweise, die über ihren Verhältnissen liegt, zu widerstehen. Er macht die Regimentskommandeure für etwaige Negativfolgen verantwortlich. Kabinettsordre Wilhelms II. aus Anlaß der Übernahme des Oberbefehls über die Armee, 5. Juli 1888, zit. nach: MeierWelcker, Hans (Hrsg.): Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1964, S. 196. (Im Folgenden: Meier-Welcker, Offiziere 1964.) Die Gefahr einer Überschuldung aufgrund einer luxuriösen Lebensführung nahm noch zu, da der zunehmende gesellschaftliche Wohlstand im deutschen Kaiserreich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dazu nötigte, die selbstbeanspruchte Exklusivität nach außen zu zeigen. Demeter, Karl: Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt am Main 41965, S. 230ff.. (Im Folgenden: Demeter, Das deutsche Offizierkorps 1965.) Zur Finanzlage der Offiziere siehe: Schmidt-Richberg, Wiegand: Die Regierungszeit Wilhelms II., in: Meier-Welcker, Hans/Groote, Hugo von (Hrsg.): Handbuch zu deutschen Militärgeschichte 1648-1939, Bd. V, Von der Entlassung Bismarcks bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1890-1918), Frankfurt am Main 1968, S. 88. (Im Folgenden: Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II. 1968. ) Ostertag,, Offizierkorps 1990, S.61-69. 406 Die gesellschaftliche Bevorzugung wurde als „nutzbringend angelegtes Kapital“ angesehen, denn wer befehlen solle, müsse „einen gewissen Stolz auf seine Stellung besitzen“. Goltz, Colmar Freiherr von der: Das Volk in Waffen – Das Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit, Berlin 6 1925, S. 78. 407 „Die Armee verstand sich selbst als den Hauptträger des monarchischen Gedankens, der Offizer trat auf als Königsdiener, nicht als Staatsdiener.“ Meier-Welcker, Hans (Hrsg.): Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1964, S. 68. Diese Einstellung kann nicht verwundern, leisteten deutsche Offiziere ihren Diensteid doch in doppelter Verpflichtung auf die Person des jeweiligen Monarchen oder Landesfürsten und dazu auf den Deutschen Kaiser. Schaible, C.: Standesund Berufspflichten des deutschen Offiziers, Berlin 61908, S. 82. (Im Folgenden: Schaible, Standespflichten 1908.) 408 Der Adel war aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und der Heeresvermehrungen nicht mehr in der Lage, den gestiegenen Bedarf an Offizieren zu decken. Messerschmidt, Manfred: Militär und Politik in der Bismarckzeit und im wilhelminischen Deutschland, Darmstadt 1975, S. 59. 409 Deist, Wilhelm: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918 – Erster Teil, Düsseldorf 1970, S. XVIf. (Im Folgenden: Deist, Militär und Innenpolitik 1970.) Karl Demeter bezeichnet die weitgehende Abschottung des Offizierkorps als ursächlich für diese Anpassung, die er „geistige Inzucht“ nennt. Demeter, Das deutsche Offizierkorps, S. 228. Detlef Bald formuliert positiver und sieht die Assimilierung als eine wichtige Form der „Selbstregeneration“ des Offizierkorps, die zu einer engen 118 nicht nur eine Stütze der Monarchie, sondern vordergründig auch eine „unpolitische“ Einrichtung. Fragen der Reichstags- oder Parteipolitik wurden von vorneherein aus der höheren Offizierbildung ausgeklammert, zumal die Offiziere kein aktives Wahlrecht besaßen.410 Stattdessen beschränkte man die Ausbildung der Stabsoffiziere in Preußen auf militär-fachliche Gegenstände und „nutzbringende Fächer“ (z.B. europäische Fremdsprachen, Geometrie oder auch Physik für die Pionierausbildung),411 eine Selbstbegrenzung, die beispielsweise in Bayern nicht in diesem Ausmaße stattfand. Hier lehrte man an der Kriegsakademie ein eher breitgefächertes und weniger militärisch spezialisiertes Wissen als in Preußen.412 Zudem wurde in Bayern das Abitur als Zugangsvoraussetzung zum Offizierberuf gefordert, was zur damaligen Zeit eine nicht unwesentliche Bildungsschranke darstellte.413 Beide Grundlinien Schwerpunktsetzungen der Ausbildung kritisiert wurden und in der von Zeitgenossen Tat näherten ob sich ihrer die Ausbildungsgrundlagen bis zum Ersten Weltkrieg in Teilen einander an. So bekam beispielsweise in beiden Staaten die „charakterliche Erziehung“ des Offiziers ein größeres Gewicht, was als Zeichen der „inneren Aristokratisierung“ gedeutet wird.414 Als Folge dieser strukturellen Gegebenheiten wurde eine große Zahl an fachlich gut ausgebildeten, aber auch einseitig militärisch sozialisierten und geschulten Offizieren herangezogen.415 Ihr besonderer gesellschaftlicher Status, ein herrschernahes Verzahnung der alten Oberschicht und des aufstrebenden Bürgertums im Militär führte. Bald, Detlef: Der deutsche Offizier – Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982, S. 87f. Ostertag, Offizierkorps 1990, S.40-57 u. S. 81f. 410 Demeter, Das deutsche Offizierkorps 1965, S. 161. Der preußische Oberst a. D. Schaible warnte in seinem mehrfach neuaufgelegten Leitfaden für das Offizierkorps: „Politische Parteiungen zersetzen die Armee, sie sind das Grab der Kameradschaft und des Korpsgeistes.“ Schaible, Standespflichten 1908, S. 83. 411 Diese Entwicklung beginnt in Preußen mit der Umstrukturierung der Ausbildungspläne für Offiziere an der Kriegsakademie in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Bald, Detlef: Der deutsche Generalstab 1859-1939 – Reform und Restauration in Ausbildung und Bildung, München 1977, S. 46. 412 Bald, Detlef: Die bayerische Kriegsakademie – Konzeption der Ausbildung im Wandel der Zeit von 1867 bis 1914, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 43, München 1980, S. 223-245. 413 Rumschöttel, Hermann: Das bayerische Offizierkorps 1866-1914, Berlin 1973, S. 54f. u. S. 60. (Im Folgenden: Rumschöttel, Das bayerische Offizierkorps 1973.) In Preußen konnten die Bildungsanforderungen zugunsten praktischer Fähigkeiten und charakterlicher Eignung häufig geringer betont werden. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II. 1968, S. 88. 414 Rumschöttel, Das bayerische Offizierkorps 1973, S. 56. 415 Allerdings hatten verfügten auch militärische Liegenschaften oder Bildungsanstalten über teilweise umfangreiche Bilbiotheken. Der Schwerpunkt lag dabei zwar auf militärischer/militärgeschichtlicher Literatur, doch waren hier auch Werke der Philosophie, Bellestristik oder der Religionswissenschaften 119 Autostereotyp sowie eine – zumindest idealiter – anerzogene aristokratische Geisteshaltung und Pflichterfüllung auch in kleinsten Dingen bargen die Gefahr, daß Offiziere ein Überlegenheitsdünkel gegenüber allem „Unstandesgemäßen“ entwickelten.416 Sie verstanden sich als eine dienende „Funktionselite“ im Reich. Dies wird einerseits in der zunehmenden Professionalisierung der Ausbildung deutlich, in deren Verlauf sie oftmals exklusiv mit neuesten technischen Entwicklungen – wie etwa Flugzeugen, Luftschiffen, drahtlosen Kommunikationsmitteln oder U-Booten – arbeiteten. Die Erfolgs- und vor allem Beförderungskriterien orientierten sich hier rigoros am militärfachlich Zweckmäßigen. Charakterliche Beurteilungen wurden oftmals der militärischen Leistung untergeordnet.417 Zum anderen zeigte der „Elite-Gedanke“ sich in im Dienstverständnis der Offiziere. Heiger Ostertag formuliert dies: „Der Dienst war derart kein Dienst für das Land, kein Staatsdienst, kein Dienen am Volk, sondern eine Treuepflicht einzig und allein gegenüber dem König, dem deutschen Kaiser.“418 Damit kam den Offizieren eine systemstablisierende Funktion zu, mußten sie doch in höchstem Maße an der Erhaltung der sozialen und politischen Ordnung interessiert sein. Dem politischen „Staatsgebilde“ fühlten sie sich nicht verpflichtet. Dazu gehörte gleichzeitig eine Absonderung von den Diskursen und Idealen der zivil-bürgerlichen Gesellschaft, mit der die Armee über Wehrdienstleistenden und die Wehrpflicht weiterhin Reserveoffizieranwärter verknüpft wurden blieb. allerdings Die durch Offizierkorps und Militärgeistlichkeit im konservativen Sinne ausgebildet und erzogen.419 Christliche und patriotische Gesinnung waren 1890 von Wilhelm II. gleichermaßen als Anforderungen an die Offiziere formuliert worden, und doch besaßen diese meist nur eine oberflächliche und indifferente Haltung zur Religion.420 vorhanden. In welchem Umfange diese Möglichkeiten genutzt wurden, läßt sich aber nicht feststellen. Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 164-196. 416 Solche Tendenzen wurden im Reich allerdings gefördert, da den Monarchen an einem geschlossenen und loyalen Offizierkorps als Gegengewicht zu innenpolitischer Opposition gelegen war. Meier-Welcker, Offiziere 1964, S. 80. In ähnlicher Weise war das Großbürgertum daran interessiert, im Offizierkorps einen Verbündeten gegen die „gefürchtete“ Sozialdemokratie zu haben. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II. 1968, S. 86. 417 Deist, Militär und Innenpolitik 1970, S. XVIII. 418 Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 216. 419 Vogt, Arnold: Religion im Militär – Seelsorge zwischen Kriegsverherrlichung und Humanität. Eine militärgeschichtliche Studie, Frankfurt am Main (u.a.) 1984, S. 168f. (Im Folgenden: Vogt, Religion im Militär 1984.) Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 236. 420 Vogt, Religion im Militär 1984, S. 39 u. S. 206. 120 Eine christliche Komponente in der militärischen Erziehung war eher als Schutz vor dem „gott- und vaterlandslosen“ Sozialismus – sowie der nicht minder als „verwerflich“ empfundenen Sozialdemokratie – gedacht, der durch Rekruten in die bewaffnete Macht einzudringen drohte. Allerdings waren dies für die meisten Offiziere nur Schlagworte und „Parolen“, denn genaue Vorstellungen von den gesellschaftlichen Veränderungen und Neuerungen, die mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches einhergingen, hatten sie nicht. Ihr Erfahrungshorizont blieb auf das militärische Umfeld begrenzt.421 Von einer Sensibilisierung gegenüber als „anrüchig“ empfundenen außenpolitisch- 422 diplomatischen Feinheiten konnte erst recht keine Rede sein. Daß die deutschen Offiziere auch dem Anspruch als Funktionselite nur in begrenztem Umfange gerecht werden konnten, zeigte sich bald nach Kriegsausbruch. Die Anforderungen des „modernen Krieges“ an Strategie, Taktik, Logistik, Mensch und Maschine waren andere als erwartet und es dauerte (zu) lange, bis die militärische Führung, die in ihrer Mehrheit auf Tradition beharrte und modernisierende Elemente übersah oder gar ignorierte, versuchte, sich den geänderten Gegebenheiten anzupassen. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für das kaiserliche Seeoffizierkorps beibringen. Die soziale Zusammensetzung und die Bildungsanforderungen unterschieden sich zwar deutlich von denen des Heeres, jedoch war die Ausbildung ebenso je nach Verwendung und Laufbahn fachbezogen und fand unter Ausklammerung „der Politik“ statt.423 Das Ideal des Offiziers im Kaiserreich, und da waren sich die Landesherren weitgehend einig, stellte der militärische Fachmann dar, der sich durch standesbezogene Lebensführung, Ehr- und Pflichtgefühl und Loyalität gegenüber seinem Monarchen auszeichnete. Eine 421 partei-politische Orientierung oder Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 305f. Wilhelm Deist bemerkt einschränkend, daß sich vor allem inaktive Offiziere in der Innenpolitik sehr wohl engagieren konnten. Allerdings nicht in den Parteien der Volksvertretungen, sondern eher in nationalgesinnten Vereinen und Verbänden, deren innenpolitischer Einfluß recht beträchtlich sein konnte. Deist, Militär 1991, S. 107. 423 Scheerer, Thomas: Die Marineoffiziere der kaiserlichen Marine – Sozialisation und Konflikte, Bochum 2002, S. 83-87. 422 121 Beschäftigung mit der „Tagespolitik“ war unerwünscht.424 Schriftstellerische Tätigkeiten, in denen Kritik am Militärsystem öffentlich geäußert wurde, waren unter den Offizieren streng verpönt.425 Für den Großteil seiner Offiziere blieb Wilhelm II. als Oberbefehlshaber bis zu seiner Abdankung die unangefochtene Autorität, doch die „Verehrung“ für den Kaiser nahm mit den ausbleibenden Erfolgen an der Westfront zusehends ab.426 Wegen dieser überwiegend internalisierten Einstellung brachten die meisten Offiziere sicherlich keine besonderen Befähigungen für den Einsatz im Osmanischen Reich mit. Ganz im Gegenteil zeigte sich hier bereits ein wesentlicher Grund für eine Vielzahl späterer Konflikte mit den türkischen Bundesgenossen. Während im osmanischen Militär die politische Orientierung und Nähe geradezu eine Grundvoraussetzung für jeden „erfolgreichen“427 Offizier war, sahen die deutschen Offiziere darin eine Verletzung der Standesmaximen. Außerdem wurde rasch deutlich, daß Loyalität türkischer Militärs gegenüber dem greisen Sultan nur sehr eingeschränkt vorhanden war, da ein schnellerer Aufstieg nach dem Umsturz nur über Gönner in der regierenden jungtürkischen Partei zu erreichen war. Türkische Offiziere geringen Dienstalters, die aufgrund enger Beziehungen zur (de facto) regierenden Partei einen hohen Rang bekleideten, für den sie nach deutschen Maßstäben kaum die nötige Ausbildung und militärische Erfahrung besaßen, wurden als Exempel eines „politisierten“ Offizierkorps angesehen, wie es die deutsche militärische Führung ablehnte. Viele Deutsche begegneten ihren osmanischen Kameraden daher voreingenommen und reserviert. Jedoch gab es auch Ausnahmen, wie etwa den Freiherrn von der Goltz, der rasch lernte, sich diesen äußeren 424 Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 220. Karl Demeter unterstreicht diese Haltung durch ein Zitat General Constantin von Alvenslebens: „Der preußische General stirbt, aber er hinterläßt keine Memoiren“. Demeter, Das deutsche Offizierkorps 1965, S. 163. Die zahlreichen überlieferten Memoiren bezeugen allerdings, daß sich nicht alle Offiziere an diese Auslegung gehalten haben. 426 Walter Görlitz bezeichnet den Kaiser in der Einleitung zu den Aufzeichnungen des Admirals von Müller als „sakrosankt“. Görlitz, Walter (Hrsg.): Der Kaiser... – Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander v. Müller über die Ära Wilhelms II., Göttingen (u.a.) 1965, S. 9. Diese Einschätzung ist in ihrer absoluten Form jedoch nicht haltbar und bedarf der Relativierung, wie sie etwa bei Wilhelm Deist zu finden ist. Deist, Militär 1991, S. 103f. 427 Der Grad des „Erfolges“ wurde dabei nicht zwingend im militärischen Bereich, sondern am gesellschaftlichen Rang und Sozialprestige gemessen. Für einen Mann wie Djemal Pascha war etwa seine angesehene und gefürchtete Stellung als Gouverneur der osmanischen Provinz Syrien sowie als Marineminister (originär zivile Dienststellungen) wichtiger als seine militärischen Kommandofunktionen, die er zeitgleich bekleidete. 425 122 Gegebenheiten anzupassen und – interessanterweise wie die türkischen Führer – größeren Wert auf eine eigene Beurteilung der Persönlichkeit der Offiziere zu legen als auf den militärischen Werdegang. Eine weitere Schwierigkeit für die Militärreformer bestand darin, daß der diplomatische und insgesamt der außenpolitische Bereich des Deutschen Reiches strikt vom militärischen Bereich getrennt war. Dienstliche Einblicke in die komplexe Materie der internationalen und interkulturellen Kooperation blieben daher weitgehend den Militärattachés oder Militärbevollmächtigten vorbehalten.428 Die Reformer wurden vor ihrer Entsendung nicht darin unterwiesen, welch diplomatisches Gewicht ihren Handlungen beigemessen werden konnte. Die Vorgeschichte der Deutschen Militärmission und auch die Zuspitzung der politischen Situation am Bosporus bis zum Kriegseintritt der Türkei lassen zudem darauf schließen, daß eine besondere Vorbildung der deutschen Soldaten für den Einsatz in Kleinasien weder für notwendig gehalten wurde, noch überhaupt erwünscht war. Den wohl eindeutigsten Hinweis darauf gibt das Schreiben des deutschen Botschafters von Wangenheim, welches der Entsendung Limans vorausgeht. Darin werden ausdrücklich Sprach- und (!) Landeskenntnisse als unnötig bezeichnet, da eine entsprechende Unterweisung durch das Botschaftspersonal erfolgen könnte.429 Mit überraschender Klarheit wird hier ein Anforderungsprofil formuliert, das aus Sicht des Botschafters auch für die Stellung des gesamten deutschen Engagements galt. Die Militärs sollten sich ausschließlich um ihren Fachbereich kümmern und im übrigen vom Knüpfen sozialer und politischer Kontakte sowie einer Verstrickung in 428 Militärattachés waren den Botschaften zugeteilt, um dem Botschafter in militärischen Fragen zu beraten. Sie waren damit Teil der Hierarchie der Botschaft, wo sie direkt nach dem stellvertretenden Botschafter rangierten. Militärbevollmächtigte hingegen waren beim jeweiligen Empfangsstaat „akkreditierte“ Offiziere (meist hohe Stabsoffiziere oder Generale), die über weitgehende Eigenständigkeit verfügten und weder dem Botschafter noch einem Ministerium unterstanden, sondern direkte Vollmachten vom jeweiligen Monarchen besaßen. Innerhalb der deutschen Staaten wurden schon früh Militärbevollmächtigte gesandt, wie beispielsweise der bayerische Militärbevollmächtigte in Berlin, während im internationalen Bereich nur der Militärbevollmächtigte am Hofe des Zaren als eigenständiger „Militärdiplomat“ gelten konnte. Die „Militärbevollmächtigten“ in Sofia und Konstantinopel führten lediglich den Titel, hatten aber realiter den Posten des Militärattachés inne. Meisner, Heinrich Otto: Militärattachés und Militärbevollmächtigte in Preußen und im Deutschen Reich – Ein Beitrag zur Geschichte der Militärdiplomatie, Berlin 1957, S. 67f. Zu Lossow: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 126. 429 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 10. 123 die „Abgründe osmanischer Sitten“ abgehalten werden. Aus einem Schreiben des preußischen Staatsekretärs von Jagow an das „Königlich bayerische Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern“ vom Dezember 1913 geht hervor, daß das Auswärtige Amt in Berlin großen Wert darauf legte „[...] alle Bestimmungen zu entfernen, die geeignet gewesen wären, die deutschen Offiziere in künftig etwa eintretende innerpolitische Verwicklungen in der Türkei hineinzuziehen“.430 Dies verdeutlicht zwar die Forderung nach „unpolitischem“ Verhalten der Militärreformer, allerdings beabsichtigte das Auswärtige Amt offenbar auch eine „überparteiliche“ Stellung der Militärmission zu schaffen, damit diese nach einem eventuellen Regierungsumsturz am Bosporus ihre „rein fachliche Arbeit“ fortsetzen könnten und der deutsche Einfluß in Kleinasien gewahrt bliebe. Der Botschaft in Konstantinopel wäre es – als „Außenstelle“ des Auswärtigen Amtes – damit zugefallen über diese Überparteilichkeit der Militärberater zu wachen. Dadurch wollte sich die deutsche Botschaft weiter Einfluß auf die Offiziere der Mission bewahren, die ihr rein rechtlich nicht unterstanden. Zweifellos war dies ebenfalls ein Versuch außenpolitischen Einfluß des Militärs zu verhindern. Liman verbat sich jedoch von vorneherein eine solche Einmischung der Diplomaten in militärische Angelegenheiten in strikter Auslegung seines Dienstvertrages mit der Hohen Pforte. Es zeigt sich, daß der Ressortegoismus beinahe zwangsläufig zu Konflikten zwischen der Botschaft und der Militärmission führen mußte.431 Festzuhalten bleibt, daß offenbar weder im Deutschen Reich noch bei den entsprechenden Stellen im Ausland eine Nachfrage nach speziell geschultem militärischem Personal für die Auslandsverwendung bestand. Aus diesem Grunde mußten die deutschen Militärangehörigen „in der Fremde“ selbst Erfahrungen sammeln und danach ihr Handeln ausrichten. Eine solche Verfahrensweise erforderte gerade im Osmanischen Reich mit seinen nicht geringen und wohl auch nicht unberechtigten Vorbehalten gegenüber den europäischen Mächten eine umfangreiche Einarbeitungsphase. Die Bereitschaft von deutscher Seite 430 Schreiben Nr. 763 von Staatsekretär von Jagow an Freiherrn von Hertling vom 22.12.1913. HStA München Abt. II., MA 95027. 431 Siehe hierzu auch unten, S. 374f. 124 zu solch mühevollem Vorgehen erweist sich dabei jedoch als sehr gering und bis zum Kriegsbeginn nimmt sie sogar noch weiter ab. Unter den älteren Reformern kann nur bei Goltz das Bemühen beobachtet werden, sich dem neuen Arbeitsumfeld anzupassen. Dabei genoß Freiherr von der Goltz den Vorteil, daß er zunächst in die Türkei reisen konnte, um sich vor Ort mit Hilfe der bereits anwesenden deutschen Reformoffiziere ein Bild von seinem Aufgabenbereich zu machen und danach zu entscheiden, ob er die Stelle annehmen wollte.432 Er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, vor (!) seinem Dienstantritt in der Türkei ausführliche Erkundigungen über die türkische Armee und die politische Lage in Konstantinopel einzuholen.433 Möglicherweise hängen diese Freiheiten mit dem großen Bekanntheitsgrad Goltz´ und einigen Fürsprechern in höheren Positionen zusammen.434 Es liegt allerdings auch der Verdacht nahe, daß die meisten deutschen Offiziere ihre dienstlichen Verpflichtungen nicht allzu ernst nahmen. In den 1880er und 1890er Jahren stand vermutlich die gute Bezahlung und für später entsandte Offiziere offenbar die Hoffnung auf eine karrierefördernde Wirkung eines Auslandsdienstpostens im Vordergrund und weniger das ernsthafte Bemühen um eine Modernisierung der Streitmacht des Sultans.435 Die Offiziere berichteten zwar von der Verärgerung, die sie aufgrund ständiger Obstruktion der türkischen Seite gegen die Reformmaßnahmen empfanden, jedoch gibt es an keiner Stelle Hinweise darauf, daß sich die Militärberater um Vermittlung bemüht hätten. Stets ist davon die Rede, daß die preußischen (!) Reformvorstellungen gescheitert seien. Über Lösungen, die Struktur und Mentalität des Osmanischen Reiches zu berücksichtigen suchten, finden sich so gut wie keine Aufzeichnungen. 432 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 55. Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 94. Seine Aufzeichnung finden sich ebenda abgedruckt auf den Seiten 95-104. 434 Goltz genoß offenkundig bei Generalfeldmarschall von Moltke (d.Ä.) und dem Prinzen Friedrich Karl ein recht hohes Ansehen. Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 81 u. S. 94. 435 Ein Beispiel hierfür ist Otto von Lossow, der sich auch um einen Dienstposten in China beworben hatte, doch aufgrund besserer „Verbindungen“ in die Türkei entsandt wurde. In diesem Zusammenhang sind auch seine scharfen Forderungen nach einem starken Führer einer deutschen Militärmission zu sehen. Ein Posten, für den er sich selbst sicher als qualifiziert erachtete. Spätere Spannungen zwischen ihm und Liman von Sanders unterstreichen die gegensätzlichen Führungsansprüche. Auch Liman von Sanders gelang durch seine rasche Beförderung zum preußischen General der Kavallerie und türkischen Marschall ein sozialer Aufstieg, wie er ihm im Deutschen Reich kaum möglich gewesen wäre. 433 125 Die große Ausnahme bildete nur Freiherr von der Goltz, wenn auch viele Schilderungen in seiner Biographie eher beschönigen und deswegen kritisch zu betrachten sind.436 Goltz hatte in seinen „Winken“ den zukünftigen deutschen Instrukteuren die Notwendigkeit der Improvisation ans Herz gelegt. Dazu gehörten auch Zugeständnisse in der soldatischen Ausbildung. Für alle drei Waffengattungen machte er geltend, daß besonders das Material und der niedrige Bildungsstand in der Osmanischen Armee eine Ausbildung exakt nach deutschem Vorbild unmöglich machen und diese daher „aus dem Mechanischen in das durchdacht Zweckmässige“437 übertragen werden sollte. Zwar würde den deutschen Offizieren ihre Tätigkeit dadurch erleichtert, daß bei Infanterie und Artillerie weitgehend deutsche Reglements und Vorschriften eingeführt wären, aber ein wortgetreues Befolgen dieser Vorschriften hätte schon in Deutschland nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht und müßte somit in der Türkei von vorneherein unterbleiben.438 Goltz sah die Notwendigkeit, auf die Verhältnisse vor Ort einzugehen, und zugleich deutet sich bereits an, daß er bereit war, das eigene System kritisch zu betrachten. Eine wichtige Erkenntnis war die Tatsache, daß mitteleuropäische Maßstäbe nicht ohne weiteres auf das Osmanische Reich angewandt werden konnten. Nach der katastrophalen türkischen Niederlage in den Balkankriegen bringt er diese grundsätzliche Einsicht, „[d]aß deutsche Taktik in der ihrer inneren Natur nach ganz anders gearteten türkischen Armee gar nicht betrieben werden kann“439, auch in aller Öffentlichkeit vor. Seine berechtigten Mahnungen wirkten sich aber kaum auf das Verhalten der übrigen deutschen Offiziere aus.440 Zorn und Enttäuschung über 436 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 54f. Goltz, Winke 1909, Blatt 59 [hier S.414]. 438 Ebd., Blatt 59 und 60 [hier S. 414-416.]. Goltz verwirft für die türkische Kavallerie auch die Doktrin der geschlossenen Kavallerieattacke, an der im Deutschen Reich zu dieser Zeit noch festgehalten wurde, obwohl sich die Stimmen mehrten, die diese Kampfformation als Anachronismus bezeichneten. Schulte, Bernd F.: Die deutsche Armee 1900-1914 – Zwischen Beharren und Verändern, Düsseldorf 1977, S. 479-483. (Im Folgenden: Schulte, Die deutsche Armee 1977.) Storz, Dieter: Kriegsbild und Rüstung vor 1914 – Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford (u.a.) 1992, S. 269-272. (Im Folgenden: Storz, Kriegsbild 1992.) 439 Goltz, Niederlage 1913, S. 68. 440 Goltz hatte sich mit seiner oft ausgesprochen kritischen Haltung gegenüber den Verhältnissen im preußischen Militär auch Antipathien bei vorgesetzten Stellen geschaffen. So wurde er 1902 zum kommandierenden General des I. Armeekorps mit Sitz in Königsberg (Ostpreußen) ernannt. Mudra, Bruno von: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, in: Goltz, Colmar Freiherr von der: Das Volk in Waffen – Das Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit, Berlin 61925, S. XXIf. Goltz selber fühlte sich offenbar dorthin abgeschoben und bemühte sich, durch „Verbesserungs437 126 fehlgeschlagene Bemühungen und die militärische Niederlage, die eine breite Mehrheit der Presse den deutschen Reformern ankreidete, sprechen aus den drastischen Forderungen eines Otto von Lossow oder Franz Carl Endres. Nur mit „eiserner Zuchtrute“ sollte das Osmanische Reich überhaupt zu retten sein. Wohlgemerkt sollte diese Gewalt dazu dienen, einem souveränen Staat „deutsche Ordnung“ aufzuzwingen. Eine übertriebene und realitätsferne Forderung, die das mangelnde Einfühlungsvermögen und die fehlende „politische Bildung“ von Offizieren unterstreicht, deren Berichte als „Expertenmeinungen“ bei den entsprechenden Stellen im Deutschen Reich durchaus Gewicht haben mußten. Im als „kulturell rückständig“ erachteten Reich des Sultans glaubten deutsche Offiziere sich solcher Töne bedienen zu können, wenn auch in ihren Berichten an die heimischen Dienststellen der Ton schärfer war als im direkten dienstlichen Verkehr mit türkischen Stellen. Diese Äußerungen waren jedoch nur geeignet, sollten sie der türkischen Seite bekannt werden, die deutsch-türkische Zusammenarbeit endgültig scheitern zu lassen. Diese Feststellung mutet heutzutage dermaßen „selbstverständlich“ an, daß es verwundert, warum bis 1914 als einziges bekanntes Beispiel für die positive Wirkung von Höflichkeit und einem „freundlichen Wort“ gegenüber Untergebenen stets Colmar Freiherr von der Goltz angeführt werden muß. Besonderen Eindruck machte von der Goltz auch durch die Beherrschung der türkischen Sprache.441 Darin unterschied er sich von fast allen seinen Kameraden, und gerade das Sprachenproblem sorgte im dienstlichen Bereich häufig für Reibungen und Mißverständnisse. Die sprachlichen Verhältnisse im Osmanischen Reich waren äußerst kompliziert. Die drei wichtigsten Sprachen waren Türkisch, Arabisch und eine Mischform aus türkischen, arabischen und persischen Anleihen, die auch als „Hochsprache“ oder „Osmanisch“ bezeichnet wurde.442 Außerdem wurden die vorschläge“ zu Dienstvorschriften oder dem militärischen Ausbildungswesen allgemein beim preußischen Kriegsministerium den Kontakt nach Berlin zu halten. Die Reaktion, die er darauf beim Kriegsminister erwartet, formuliert er in einem Brief an Mudra: „Na, ich hab´ es ja gleich gesagt, daß niemand mit ihm auskommen kann; nun geht der Krakehl auch da schon los.“ Brief Goltz an Mudra vom 12.02.1902, BAMA Freiburg, W 10/ 50716, Blatt 74. 441 Pertev, Goltz Lebensbild 1960, S. 17. 442 Endres, Franz Carl: Die Türkei – Mit 215 Abbildungen, München 1916, S. XIII. (Im Folgenden: Endres, Die Türkei 1916.) Daneben gab es selbstverständlich noch weitere Sprachen und Dialekte, wie etwa Armenisch, Albanisch, Hebräisch, Ägyptisch oder auch Griechisch im Osmanischen Reich. Dies führte zum Teil dazu, daß sich Angehörige der herrschenden Volksgruppe der Türken nicht mit Untertanen albanischer Abstammung verständigen konnten. Jäckh, Ernst: Der aufsteigende Halbmond 127 arabischen Schriftzeichen verwendet, was für die an das lateinische Alphabet gewöhnten Europäer eine zusätzliche Schwierigkeit bedeutete.443 Die deutschen Offiziere, die nicht einer der Landessprachen mächtig waren, kommunizierten daher in französischer Sprache mit höheren türkischen Offizieren. Allerdings beherrschten nur wenige osmanische Militärs die französische Sprache, wobei die Mannschaften vollkommen ausgeklammert werden können. Es war daher stets ein Dolmetscher notwendig, dessen Qualitäten sehr unterschiedlich sein konnten. Viele Dolmetscher gehörten selbst einer Minderheit im Osmanischen Reich an, sie beherrschten zwar europäische Sprachen, aber dafür das Türkische nicht besonders gut. Schon kleinste Verwechselungen in der Begrifflichkeit konnten jedoch das Ehrgefühl des Gegenübers empfindlich verletzten und zu ernsten Verstimmungen führen. Einheimische und mit den Sitten vertraute Dolmetscher, die den Europäern gleichzeitig Hilfestellung bei kulturellen Fragen liefern konnten, sogenannten „Dragomane“, waren nur in begrenzter Anzahl vorhanden und blieben zumeist dem diplomatischen Dienst vorbehalten.444 Zusammenfassend müssen für die deutschen Reformoffiziere von der „KaehlerMission“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges demnach folgende Grundprobleme konstatiert werden: - Die deutschen Offiziere wurden in einen ihnen vollkommen fremden Kulturkreis entsandt. Schon in ganz alltäglichen Dingen, wie Zeitrechnung oder Sprache, zeigten sich Hürden für die Kooperation. - Die Ausbildung der Offiziere gab keine Hilfestellung für die Anpassung an einheimische Gegebenheiten. - Erfahrungswerte anderer Offiziere stellten die einzige zuverlässige Hilfestellung für neue Instruktionsoffiziere dar. Interessanterweise sind in schriftlicher Form lediglich die Winke des Freiherrn von der Goltz erhalten, – Beiträge zur türkischen Renaissance, Berlin 1911, S. 175. (Im Folgenden: Jäckh, Der aufsteigende Halbmond 1911.) 443 So kam es zu der interessanten Erscheinung, daß zwar die türkische Sprache gelehrt wurde, aber die Schriftsprache dabei ausgeklammert blieb. Edib Bej, Habib: Türkisch – Praktische Türkische Sprachlehre für Anfänger, Weimar 1916, S. VII. (Im Folgenden: Edib Bey, Türkisch 1916.) 444 Zu diesen sprachlichen und organisatorischen Schwierigkeiten: Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 695. 128 die 1909/10 und damit 15 Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Osmanischen Reich entstanden sind. - Das anerzogene und von den deutschen Monarchen gewünschte Selbstverständnis des Offizierkorps erwies sich als ernstzunehmendes Hindernis. Im Umgang mit als „zivilisatorisch und militärisch rückständig“ angesehenen Kulturen wie dem Osmanischen Reich führte es oft zu überzogenem Selbstbewußtsein und „Überlegenheitsdünkel“. - Die Rahmenbedingungen im Osmanischen Reich erforderten eine Koordinierung deutscher Reformbemühungen und einen präzise formulierten Auftrag. Die Militärmission erfüllte diese Anforderungen jedoch nicht, sondern diente zur Schaffung der Position eines priviligierten Missionschefs, dessen weitreichenden Kompetenzen lediglich eine vage umrissene Aufgabenstellung gegenüber stand. - Das bereits im Deutschen Reich zu beobachtende Nebeneinander von politischen Führungsansprüchen und militärischer Autonomie setzte sich am Bosporus fort und erschwerte die Arbeitsverhältnisse zusätzlich. - Die deutschen Ausbildungsgrundsätze und mitteleuropäischen Maximen der Kriegführung waren nur begrenzt auf den nahöstlichen Kriegsschauplatz übertragbar. Eine kritische Analyse strukturbedingter Probleme der deutschen Reformoffiziere, die in den Balkankriegen zum Teil eben nicht nur als Beobachter fungierten, sondern Erfahrungen in Kommandofunktionen sammelten, fand im Reich vor 1914 nicht statt. Dabei spielte sicherlich die Verteidigung gegen die publizistischen Vorwürfe einer deutschen Mitschuld an der türkischen Niederlage eine Rolle. Die deutschen Militärs konnten ein Scheitern ihrer „überlegenen Taktik und Ausbildung“ nicht eingestehen, wenn sie ihr Ansehen in Europa nicht schmälern wollten. Dabei waren diese Taktiken offenbar nicht einmal ansatzweise in die osmanische Kriegführung übernommen worden. Die langjährige Präsenz deutscher Militärberater dokumentierte nach außen jedoch deren starken Einfluß auf türkische Heeresreformen, und weder die deutsche noch die osmanische Seite hätten die Erfolglosigkeit dieses Engagements zugeben können, ohne einen bedeutenden Gesichtsverlust hinzunehmen. 129 Spätestens mit dem Eintreffen der Militärmission und laufender, kritischer Berichterstattung erfuhren die entsprechenden Stellen im Reich beinahe regelmäßig von Mißständen und Reibungen in deren Dienstbetrieb. Daß man sich im Großen Generalstab zu diesem Zeitpunkt keinen Illusionen hingab, was die militärische Leistungsfähigkeit des Osmanischen Heeres und die Schwierigkeiten einer erfolgreichen Reform angeht, zeigen die Äußerungen Moltkes.445 Reaktionen des Generalstabs auf die Probleme vor Ort oder gar Bemühungen um eine eingehende Vorbildung der deutschen Instruktionsoffiziere lassen sich aber nicht erkennen.446 Die Haltung Berlins änderte sich jedoch schlagartig mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Plötzlich war das Osmanische Reich dank seiner strategisch günstigen Lage ein gefragter Bündnispartner und Kritik an dem militärischen Wert der osmanischen Truppen war nicht mehr erwünscht. Da die deutsche Militärmission aber erst kurz vor dem Ausbruch des Krieges in Konstantinopel eintraf, konnten tiefgreifende Verbesserungen im osmanischen Heerwesen in realistischer Betrachtung schwerlich erwartet worden sein. Dennoch mußten Erfolge her. Zunächst sollte dafür Sorge getragen werden, daß die Türkei nach außen als schlagkräftiger Bündnispartner in Erscheinung treten konnte. Ziel war die Bindung möglichst starker russischer und britischer Kräfte an den Grenzen des Osmanischen Reiches. Für die Hohe Pforte war ein Bündnis mit den Mittelmächten jedoch mit existenziellen Überlegungen verbunden. Ein militärischer Erfolg hätte die jungtürkische Herrschaft sichern und zugleich die Niederlage auf dem Balkan ausgleichen können. 445 Siehe oben, S. 89. Eine Ausnahme bilden diejenigen Fälle, in denen die diplomatischen Beziehungen oder gar die Wirtschaftsinteressen betroffen sind. Siehe hierzu Kapitel V.2. 446 130 III. Die deutschen Soldaten und ihre türkischen „Waffenbrüder“ im Ersten Weltkrieg Mit dem Eintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutschlands und ÖsterreichUngarns in den Ersten Weltkrieg erreichte die deutsch-türkische Zusammenarbeit eine neue Qualität. Wollte man eine Niederlage der Türkei gegen die technisch überlegenen Streitkräfte Großbritanniens, Frankreichs und Russlands verhindern, mußte die Unterstützung durch die Mittelmächte deutlich über eine Militärmission zur Ausbildung der Armee und die Entsendung der „S.M.S. Goeben“ und „S.M.S. Breslau“ hinausgehen. Tatsächlich stieg die Zahl der deutschen Soldaten, die im Osmanischen Reich oder in türkischen Formationen Dienst taten, im Kriegsverlauf deutlich an. Da ereignisgeschichtliche Darstellungen bereits in ausreichender Menge vorliegen, wird der Kriegsverlauf im Folgenden nur in dem Umfang dargestellt, wie es geboten ist, um die Berichte und Eindrücke der deutschen Soldaten in den Gesamtzusammenhang des Geschehens einzuordnen.447 III.1 Die bewaffnete Macht des Osmanischen Reiches bei Kriegsausbruch 1914 Bei Kriegseintritt verfügten die mobilen türkischen Landstreitkräfte im November 1914 über eine effektive Stärke von etwa 470.000 bis 500.000 Mann.448 Die kaiserlich osmanische Marine bestand überwiegend aus Schiffen älteren Typs und zählte gut 40 Kampffahrzeuge. Über nennenswerte Luftstreitkräfte verfügte das Osmanische Reich nicht. Der Oberbefehl lag nominell bei Sultan Mehmet V., wurde in Wahrheit jedoch durch Enver Pascha als Chef des Generalstabes, Kriegsminister und Vizegeneralissmus geführt. Der Kriegsminister war zugleich Vorsitzender des Obersten Kriegsrates, dem 447 Obwohl einzelne Kriegsschauplätze im Osmanischen Reich sehr umfassend erforscht sind, wurden andere – wie etwa der Kaukasus – bisher operationsgeschichtlich vernachlässigt. Im diesem Sinne ist die „ausreichende Menge“ durchaus noch ergänzungsbedürftig. 448 Diese höhere Zahl enthält zusätzlich die mobilen Formationen der Jandarma, die für bestimmte Aufgaben im Kriege genutzt werden konnten und wurden. Vgl. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 7 und Handbook of the Turkish Army 1996, S. 8-10. Sie beinhaltet nicht die Garnisons- und Festungstruppen sowie Versorgunsgstruppenteile. 131 später auch Feldmarschall von der Goltz als sellvertretender Vorsitzender, der Chef des Generalstabes sowie alle Kommandierenden Generale der osmanischen Streitkräften angehörten, wobei letztere ihre Aufgaben nur wahrnahmen, wenn sie in Konstantinopel waren.449 Der Kriegsrat hatte jedoch nur beratende Funktion und keine wesentlichen Einflußmöglichkeiten auf die Operationen, denn diese Aufgabe nahm der türkische Generalstab war. Dessen Chef war ebenfalls Enver Pascha, der später den preußischen Oberst (später Generalmajor) Bronsart von Schellendorff und – seit Ende 1917 – Generalmajor von Seeckt als 1. Stellvertreter und einen türkischen Offizier als 2. Stellvetreter hatte. Diese deutschen Offiziere nahmen de facto die Tätigkeiten des Chefs während des Krieges wahr, da Envers Ämterfülle ihm nicht genug Zeit für alle Aufgaben ließ. Der Generalstab besaß nach der Mobilmachung 7 Abteilungen: - Operationen - Aufklärung (dazu gehörend die Jandarma) - Eisenbahn- und Kommunikationslinien - Allgemeine Aufgaben (Logistik, Bewaffnung, Verwaltung, Telegraphie) - Sanitätswesen - Hauptquartier-Verwaltung - Kartographie Im Kriegsverlauf kam noch eine Abteilung für die Fliegertruppen hinzu.450 Die Landstreitkräfte des Sultans waren im Frieden in Armeekorps (A.K.) aufgeteilt, die sich in je 3 Infanterie-Divisionen (I.D.) á 3 Infanterie-Regimentern (I.R.) untergliederten, die wiederum 3 Infanterie-Bataillone besaßen.451 Durch diese „Dreiteilung“, die offenbar auf Anregung des Freiherrn von der Goltz zurückgeht,452 449 Handbook of the Turkish Army 1996, S. 15f. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 223. MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Organisation u. Stand d. Türkischen Luftstreitkräfte am 1.7.1918“, o. Seitenzahl. 451 Neben diesen Infanterieformationen waren für eine osmanische Division noch verschiedene Unterstützungsformationen vorgesehen. So war jedem Infanterie-Regiment eine MaschinengewehrKompanie mit 4 Maschinengewehren zugeteilt. Außerdem sollte eine Division über 24 Feldgeschütze (Kaliber 7,5 cm – 8,7 cm) verfügen, die in 3 Artillerie-Abteilung aufgeteilt waren. Hinzu kamen ebenfalls eine Kavallerie-Schwadron pro Regiment, eine Genie-Kompanie (Pionierformation) für die Division und verschiedene logistische Truppenteile. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 69. 452 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 10. 450 132 hatte die Türkei eine Entwicklung vorweggenommen, die sich im Deutschen Reich erst im Jahre 1915 durchsetzte, nachdem man führungstechnische und logistische Probleme mit der bisherigen Divisionsgliederung zu zwei Infanterie-Brigaden mit jeweils zwei Infanterie-Regimentern erfahren hatte.453 Ein osmanisches A.K. sollte 1914 über ein eigenständiges Artillerie-Regiment mit 24 10,5cm Haubitzen und eine eigenständige Kavallerie-Brigade verfügen.454 Diese „Korpstruppen“ sollten im Kriege auf die Divsionen verteilt werden, die im Schwerpunkt der Operationen lagen. In der Armee galt das strikte Prinzip der Befehlstaktik. Die Einhaltung dieses Frührungsgrundsatzes wurde scharf überwacht und eigenmächtiges Handeln wurde – besonders natürlich bei schlechtem Ausgang – hart sanktioniert. Soweit die Konzeption, die auf den ersten Blick kaum problematisch erscheint. Bei näherer Betrachtung offenbarten sich in der Praxis allerdings deutliche Schwächen. Im Osmanischen Reich galt prinzipiell die allgemeine Wehrpflicht. Die männliche Bevölkerung wurde zum 1. März desjenigen Jahres dienstpflichtig, in dem der Betreffende das 20. Lebensjahr vollendete. Danach bestand eine 25jährige Dienstpflicht. Die aktive Dienstzeit wurde 1914 um jeweils ein Jahr auf 2 Jahre für die Infanterie und die Kavallerie sowie 3 Jahre für die Artillerie und die technischen Truppenteile verkürzt. An den Dienst in den aktiven Formationen455 schloß sich eine 16jährige Wehrbereitschaft in der Reserve (Ihtiyat) an. Für die verbleibenden sieben Jahre wurden die Wehrpflichtigen der Müstahfiz zugeteilt, einer Art „territorialer Verteidigungstruppe“, die wohl am ehesten mit dem Landsturm in Preußen vergleichbar ist. Für die Mobilmachung und die Neuformation von Einheiten im Krieg wirkte sich besonders die Tatsache nachteilig aus, daß das „Redif-System“ seit 1913 praktisch aufgegeben worden war. Jetzt wurden die Soldaten mit ihrem Übergang in die Reserve nicht mehr in zusammenhängende Reserve-Formationen 453 Die Infanterie-Divisionen erhielten in der Folge nur noch 1 Brigade mit 3 Regimentern; hinzu kamen weitere Kampf- und Unterstützungstruppen. Lezius, Martin: Die Entwicklung des deutschen Reichsheeres vom Dreißigjährigen Kriege bis zum Weltkrieg, in: Cron, Hermann, u.a. (Hrsg.): Ruhmeshalle unserer alten Armee, Bd. 1, Berlin 5[1934], S. 220. 454 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 225. 455 Im Türkischen heißt die aktive Armee „Nizamiye“. Dieser Begriff taucht ebenfalls in Schilderungen deutscher Soldaten auf, die mit „Nizamtruppen“ meist Formationen meinen, die verhältnismäßig gut ausgebildet und ausgerüstet waren. Der Status als „Nizam“ entwickelte sich im Verlaufe des Krieges also auch zu einer Art „Qualitätsprädikat“ für türkische Einheiten. 133 überstellt, sondern ihnen wurde nur noch ein nahegelegenes Depot als Sammelpunkt im Mobilmachungsfalle Truppenteile war der zugewiesen.456 osmanische Zur Vermehrung Generalstab daher der kämpfenden auf vollständige Neuaufstellungen angewiesen. Damit wich die osmanische Heeresorganisation bereits in einem wesentlichen Punkt von der europäischer Großmächte und auch der des Deutschen Reiches ab.457 Zudem herrschten bei der Auswahl der neuen Rekruten mannigfache Ausnahme- und Sonderregelungen. So waren zum Dienst an der Waffe generell nur Muslime verpflichtet. Christen, Juden und andere religiöse Gruppen wurden statt dessen mit einer entsprechenden Steuer belegt, wobei auch in einigen Bezirken der muslimischen Bevölkerung die Befreiung vom Wehrdienst durch entsprechende Geldzahlung erlaubt war.458 Aus den kurdischen Stammesangehörigen im Gebiet des Kauskaus und in Nord-Mesopotamien wurden ausschließlich „irreguläre“ Kavallerie-Einheiten gebildet.459 Ähnliches geschah mit arabischen Wehrpflichtigen, die den nomadisch lebenden Stämmen angehörten und entweder zu Kavallerie- oder zu Kamelreiter-Formationen zusammengefaßt wurden.460 Der 456 Zur Rekrutierungspraxis siehe Erickson, Ordered to Die 2001, S. 8f. Im Deutschen Reich wurden im Falle der Mobilmachung die Reserveangehörigen zum „Auffüllen“ der aktiven Verbände genutzt. Daneben gab es Reserveformationen in großer Zahl, die einen Kader aus aktivem Personal besaßen und ansonsten Reservisten enthielten Im Ersten Weltkrieg gewannen darüber hinaus auch die Verbände der Landwehr I. und II. Aufgebots an Bedeutung für den Fronteinsatz. Hierzu, wie auch zum Landsturm siehe: Elze, Walter: Das Deutsche Heer von 1914, (Neudruck der Ausgabe 1928) Osnabrück 1968, S. 4. 458 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 65. Bereits kurz nach Kriegseintritt des Osmanischen Reiches wurden solche Exemtionen aufgehoben. Fortan mußten auch nicht-muslimische Bevölkerungsteile Wehrdienst leisten. Allerdings wurden solche Rekruten oft mit erhöhtem Mißtrauen durch ihre Vorgesetzten bedacht und daher zum größten Teil zu unbewaffneten Arbeits-Bataillonen überstellt, die im Straßen-, Feldlagerbau oder ähnlichen Funktionen eingesetzt waren. Intelligence Section , Cairo (Hrsg.): Handbook of the Turkish Army, (Neudruck der Ausgabe Cairo 81916) Nashville 1996, S. 3. (Im Folgenden: Handbook of the Turkish Army 1996.) 459 Der Begriff „irregulär“ kennzeichnet hier Formationen, die weitgehend ohne Uniformierung, einheitliche Ausrüstung, standardisierte Struktur und taktisch außerhalb der Reglements der osmanischen Armee operierten. 460 Die Unterscheidung der arabischen Bevölkerung des Reiches in „seßhafte Araber“ und „Nomaden/Beduinen“ ist von großer Bedeutung. Die „seßhaften Araber“, die hauptsächlich in den Siedlungen der osmanischen Provinzen Syrien und Mesopotamien wohnten, wurden auch zum Dienst in „strenger regulierten Formationen“ - wie Infanterie-Regimentern – herangezogen. Besonders gegen Kriegsende, als viele arabischen Nomadenstämme sich gegen die türkische Herrschaft auflehnten, gewann diese Unterscheidung noch an Bedeutung. Zu der Rekrutierung solcher Kavallerie-Verbände siehe: Handbook of the Turkish Army 1996, S. 64f. 457 134 Gefechtswert solcher Formationen variierte naturgemäß je nach Gefechtsszenario beträchtlich. Außerdem war ihr Einsatz faktisch auf ihre Heimatgebiete begrenzt.461 Wie aus den vorhergehenden Kapiteln ersichtlich wurde, litt das türkische Heer vor und nach den verlustreichen Niederlagen im Ersten Balkankrieg an gravierenden strukturellen Problemen. Als die Hohe Pforte am 2. August die Mobilmachung verkündete, mußten zunächst die aktiven Formationen auf ihre kriegsmäßige Stärke gebracht werden, da sie im Frieden, wie in den meisten Ländern üblich, aus Kostengründen einen verringerten Personalbestand hatten. Außerdem mußten aus den vorhandenen dienstpflichtigen Reservisten neue Verbände zusammengestellt werden, für die allerdings erfahrene Führer und Unterführer sowie hinreichende Ausrüstung fehlten und deren Kampfwert daher gering war. Im August 1914 bedeutete dies, daß die 22 vorhandenen Infanterie-Divisionen von der durchschnittlichen Friedenspräsenzstärke von etwa 4.000 Mann auf eine Kriegsstärke von 11.000-12.000 Mann gebracht und gleichzeitig 13 neue Divisionen aufgestellt werden mußten.462 Das Osmanische Reich besaß 1914 eine geschätzte Einwohnerzahl von etwa 20-25 Millionen, wovon aber weniger als die Hälfte (9-10 Millionen Menschen) ethnisch gesehen Türken waren und damit dem Teil der Bevölkerung angehörten, der bevorzugt zum Militärdienst herangezogen wurde. Von diesen waren allerdings nur circa 1.200.000 Männer überhaupt zum Dienst an der Waffe geeignet.463 Allein um die aktiven Divisionen auf volle Stärke zu bringen, benötigte die osmanische Heeresleitung bereits knapp 480.000 Mannschaften und 12.500 Offiziere.464 Zudem sollten bis zum Ende des Jahres 1914 weitere 600.000 Reservisten einberufen werden.465 461 Felix Guse, der ehemalige Chef des Generalstabes der 3. osmanischen Armee findet in seinem Werk über die Kaukasusfront einige wenig schmeichelhafte Formulierungen für solche „irregulären“ Einheiten, die er als „militärisch völlig wertlose Horde“ ansieht. Guse, Felix: Die Kaukasusfront im Weltkrieg bis zum Frieden von Brest, Leipzig 1940, S. 15. (Im Folgenden: Guse, Die Kaukasusfront 1940.) 462 Hierbei sind unterschiedliche Zahlen zu beachten. So gibt Maurice Larcher eine Gesamtzahl von 38 Infanterie-Divisionen bei der Mobilmachung an, während Erickson nur 37 Infanterie-Divisionen zählt. Die fragliche 38. osmanische I.D. führt Erickson erst für den November 1914 an. Vgl. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 62 und Erickson, Ordered to Die 2001, S 38 u. 43. 463 Vgl. dazu: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 15f. und Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 65 sowie Emin, Turkey 1930, S. 78-80. 464 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 7. 465 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 66. 135 Für die Mobilmachung seines Feldheeres rechnete der türkische Generalstab mit einem Zeitraum von 40-45 Tagen. Diese Schätzung berücksichtigte schon verschiedene Verzögerungen und logistische Schwierigkeiten, da idealiter nur die Hälfte der Zeit vorgesehen war. In der Realität waren bei einigen Korps allerdings auch diese großzügigen Schätzungen unhaltbar. So brauchte das X. osmanische A.K. (Sitz in Ersingjan) 55 Tage und das I. osmanische A.K. (Konstantinopel) erstaunlicherweise sogar ganze 64 Tage, um seine Truppen zu mobilisieren. Zu allem Überfluß waren auch nach dem offiziellen Ende der Mobilmachung in allen Korps erhebliche Ausrüstungsmängel zu beklagen. Überall fehlten Transportmittel, Zugtiere oder gar ganze Versorgungseinheiten. Diese Mängel betrafen alle Armeekorps, egal ob sie in infrastrukturell besser erschlossenen Gebieten stationiert waren oder nicht, wenn auch die Probleme bei den abgelegeneren Formationen gravierender ausfielen.466 Zu den bereits erwähnten Schwierigkeiten kommen noch zwei wesentliche Umstände hinzu. Erstens besaß das osmanische Heer keine einheitliche Bewaffnung. Der wirtschaftliche Wettstreit der europäischen Großmächte um den „Absatzmarkt Kleinasien“ machte sich nun (zum zweiten Male nach den Balkankriegen) negativ bemerkbar. Die Infanteriebewaffnung bestand aus einer Vielzahl von Handfeuerwaffen verschiedenster Provenienz. Man verwendete ältere amerikanische, britische und deutsche Gewehre, die zum Teil bereits in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt worden waren.467 Zwar überwogen mittlerweile die Gewehre des deutschen Herstellers Mauser, aber auch hier variierten die Typen. So waren viele Gewehre noch vom Typ Mauser 71/84, also aus der Frühphase des deutschen Kaiserreiches, oder gar noch älter.468 Insgesamt gab es etwa 1,5 Millionen Gewehre in den Beständen der osmanischen Armee.469 Durch die hohe Zahl veralteter Gewehrtypen relativierte sich die Zahl brauchbarer Waffen jedoch, so daß Erickson sogar von einem Mangel von 200.000 Gewehren spricht.470 Außerdem war die 466 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 40f. Türk, Türkeigeschäfte 2007, S. 134. 468 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 17. 469 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70. 470 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 8. 467 136 Munitionsversorgung der Truppen keineswegs gewährleistet, da die einzige Munitionsfabrik des Osmanischen Reiches einen ungenügenden Produktionsausstoß hatte.471 Beim Geschützmaterial der Artillerie war die Situation ähnlich. Die türkische Feldartillerietruppe verfügte bei Kriegsausbruch über etwa 900 Geschütze und hätte 280 Geschütze mehr gebraucht, um die kriegsmäßige Stärke zu erreichen.472 Dank verschiedener Verträge mit europäischen Handelspartnern konnte die türkische Armee auch hier eine bunte Mischung aus veralteten Geschütztypen verschiedener Hersteller und Kaliber vorweisen.473 Zum Zweiten waren die rückwärtigen Dienste und Unterstützungsformationen nicht auf die Anforderungen eines größeren Krieges vorbereitet. Moderne Nachrichtenmittel wie etwa Feldtelefone waren – wenn überhaupt – nur bei höheren Stäben eingeführt.474 Ein öffentliches Telefonnetz existierte nur im Raum Konstantinopel und drahtlose Kommunikation war gänzlich unbekannt.475 Die Befehlsübermittlung über die weiten Entfernungen des Orients gestaltete sich daher ebenso schwierig wie Truppentransport und -versorgung. Das Schienennetz war auch noch 1914 völlig unzureichend und das vorhandene rollende Material reichte nicht aus, um die rasche Verlegung von Personal und Material zu gewährleisten. Während des Krieges waren Einheiten oft auf tage- oder wochenlange Märsche angewiesen, um von den Bahnendpunkten zu ihren Einsatzräumen zu gelangen. Auch der Nachschub mußte – abhängig vom Kriegsschauplatz – durch Ochsengespanne oder Karawanen (in seltenen Fällen per Flußboot) angeliefert werden, die lange Strecken auf kaum ausgebauten Wegen zurücklegten und zudem nur sehr begrenzte 471 Für jeden Soldaten waren gerade einmal 150 Patronen vorhanden und die Fabrik produzierte lediglich 300.000 Patronen am Tag. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70. Über die Qualität der gefertigten Handwaffenmunition liegen keine negativen Berichte vor. Eine eigene Fertigung für Artilleriemunition und Zünder besaß das Osmanische Reich vor dem Kriege nicht. Zur Munitionsproblematik siehe auch unten, S. 207f. 472 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 7f. 473 Neben Geschützen der Firmen Krupp und Schneider-Creuzot waren auch österreichisch-ungarische Skoda-Geschütze vorhanden. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70. Zu den Lieferzahlen der Firma Krupp und zum Wettstreit mit anderen Herstellern siehe: Türk, Türkeigeschäfte 2007, S. 164-169 u. S. 182f. sowie Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band II) 1963, S. 164-173. 474 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70. Römer, Militärhilfe 2007, S. 358. 475 Emin, Turkey 1930, S. 90f. 137 Ladekapazitäten hatten.476 Im Verlauf des Ersten Weltkrieges kam es so immer wieder zu Versorgungsengpässen mit zum Teil verheerenden Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit osmanischer Einheiten. Doch nicht nur die „mobilen“ Truppenteile waren von schweren Ausrüstungsmängeln betroffen. Die Befestigungen des Osmanischen Reiches, die sich fast ausschließlich an den Meerengen befanden, waren größtenteils veraltet, ebenso deren Artillerie. Zudem waren Festungsbauspezialisten oder ausgebildete Pioniere im türkischen Heer kaum vorhanden, was dazu führte, daß deutsche Offiziere in diesen Bereichen die Führungsaufgaben wahrnahmen.477 Daneben war das Sanitätswesen im osmanischen Heer unterentwickelt. Schon in den Balkankriegen hatten sich hier gravierenden Mängel gezeigt, die bis zum Kriegseintritt der Türkei nur teilweise behoben werden konnten. So gelang es nicht, die Zahl ausgebildeter Sanitätsoffiziere angemessen zu erhöhen. Für ein Infanterie-Bataillon waren lediglich drei Sanitätsdienstgrade geplant: Ein medizinischer Offizier, ein Chirurg und ein Apotheker; daneben wurde eine Handvoll Mannschaften als Sanitätshelfer und Krankenträger eingesetzt.478 Der Ausbildungsgrad dieser Offiziere unterlag beträchtlichen Schwankungen und die Mannschaften wurden wohl überhaupt nicht speziell ausgebildet.479 In diesem Bereich wirkten sich offenbar die Vorstellungen von medizinischer Versorgung im Zivilbereich aus, denn auch hier wies das Osmanische Reich gravierende Defizite auf. Es gabe nur wenige Krankenhäuser und noch weniger ausgebildete Ärzte für die Bevölkerung, so daß eine angemessene medizinische Versorgung nach europäischen Vorstellungen nur für wenige Menschen zugänglich war.480 Als vordringliches Problem erwiesen sich auch die hygienischen Zustände in der Armee. Zu dieser Zeit waren die hygienischen Bedingungen – gemessen an europäischen Standards – im gesamten Osmanischen Reich äußerst schlecht. 60 476 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 12 u. S. 31-35. Erickson, Edward J.: Strength Against Weakness: Ottoman Military Effectiveness at Gallipoli, 1915, in: The Journal of Military History, Vol 65, No. 4, Lexington 2001, S. 991. (Im Folgenden: Erickson, Strength Against Weakness 2001.) 478 Handbook of the Turkish Army 1915, S. 76. 479 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 116. 480 Siehe hierzu: Becker, Helmut: Äskulap zwischen Reichsadler und Halbmond – Sanitätswesen und Seuchenbekämpfung im türkischen Reich während des Ersten Weltkriegs, Herzogenrath 1990, S. 336367. (Im Folgenden: Becker, Äskulap 1990.) 477 138 Prozent der Ortschaften wiesen gesundheitlich bedenkliche Zustände auf. Seuchen wie Malaria, Typhus oder auch Syphilis waren weit verbreitet. 72 Prozent der Haushalte hatten Probleme mit krankheitsübertragenden Tieren, wie Ratten oder wilden Hunden, und nur 57 Prozent der Häuser verfügten überhaupt über sanitäre Einrichtungen, wie etwa Waschmöglichkeiten, Aborte oder zumindest ausreichende Wasserversorgung.481 Es verwundert daher nicht, daß auch die bewaffnete Macht unter zahlreichen Epidemien litt. Professor Georg Mayer berichtet anläßlich der Besichtigung von mehreren Kasernen im Raum um die osmanische Hauptstadt von nahezu verheerenden Lebensbedingungen in den militärischen Liegenschaften. Die Soldaten müßten teilweise auf feuchtem Stroh schlafen, das sie sich mit anderen Kameraden teilten. In einer Kaserne bestanden die Aborte aus Gefäßen, die wegen unregelmäßiger Leerung häufig überliefen. Daher sollten die Soldaten vor dem Betreten des Raumes hölzerne „Stöckelschuhe“ (Nalen) anziehen, um den Kontakt mit dem verunreinigten Boden zu vermeiden. Allerdings waren solche Holzschuhe nicht vorhanden.482 Bis zur ersten Jahreshälfte 1914 gelang es unter erheblichen Anstrengungen und durch eine harte Vorgehensweise Mayers, diese Zustände in den Kasernen weitgehend abzustellen und durch Impfungen die schlimmsten Seuchen zu bekämpfen. Die Aussage, daß die „Armee als seuchenfrei gelten könne“, ist jedoch dahingehend zu relativieren, daß die Einflußmöglichkeiten Mayers und der deutschen Militärreformer sich praktisch auf den Raum um Konstantinopel beschränkten.483 Auch die zweite türkische Teilstreitkraft, die Marine, wies erhebliche Probleme auf. Von ihren rund 40 Schiffen hatten 8 ihren Stapellauf noch im 19. Jahrhundert gehabt, darunter die beiden Panzerschiffe „Torgut Reis“ und „Haireddin Barbarossa“ (beide 1891). Auch bei der Marine zeigten sich der „Erfolg“ der zahlreichen Handelsverträge mit europäischen Mächten 481 und das Fehlen eigener Emin, Turkey 1930, S. 79f. Bericht von Georg Mayer „Die Reorganisation des türk. Sanitätswesens“, o. Dat., S. 10-13, KA München HS 2049. (Im Folgenden: HS 2049, Die Reorganisation des türk. Sanitätswesens.) 483 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 115 zitiert hier eine Aussage Mayers aus dem obengenannten Bericht. Neben der tatsächlichen räumlichen Einschränkung für die Reformer muß dabei auch die rechtfertigende Absicht Mayers bei diesem Bericht berücksichtigt werden. Sicherlich sollten hier die eigenen Erfolge entsprechend hervorgehoben werden. 482 139 Produktionsstätten in den vielfältigen Herkunftsländern der Kriegsschiffe. So waren 1914 neben Schiffen aus deutscher Fertigung überwiegend französische und britische Fahrzeuge sowie ein amerikanisches Schiff im Dienst. Der größte Teil der Flotte bestand aus kleineren Torpedobooten oder Kanonenbooten und Zerstörern.484 Während die kleineren Fahrzeuge in den beiden vorhandenen Werftanlagen, der Stenia Werft und dem Marinearsenal, gewartet werden konnten, waren die vorhandenen Einrichtungen für Kriegsschiffe moderner Bauart unzureichend. Die Stenia Werft, die vor dem Kriege einer französisch-italienischen Aktiengesellschaft gehörte, verfügte zwar über recht moderne Ausstattung (z.B. Preßluftanlagen, autogene Schweiß- und Schneidapparate), war aber zu klein, um große Schiffe, wie etwa die „S.M.S. Goeben“ aufnehmen zu können. Im Marinearsenal am Goldenen Horn waren gar nur 3 Trockendocks vorhanden, die lediglich von kleineren Booten genutzt werden konnten. Die Versorgung und Wartung großer Schiffe hing zudem von der – in der Regel unzureichenden – Versorgung mit Großkampfschiffe Ersatzteilen begrenzt ab, 485 blieb. wodurch Damit die Anzahl einsatzfähiger war der Aufgabenbereich der osmanischen Marine de facto auf Küstenschutz und die Sicherung der Zufahrt zum Schwarzen Meer eingeengt. Die Eignung zum Hochseeeinsatz war jedenfalls fragwürdig. An dieser Ausrichtung der osmanischen Seestreitkräfte konnte auch die Eingliederung der deutschen Schiffe „Goeben“ und „Breslau“ grundsätzlich nichts ändern, wenngleich die Schiffe moderner und besser waren als beinahe jedes Schiff, das die russische Schwarzmeerflotte aufbieten konnte.486 Der Erfolg der britischen Marinemission bei Ausbildung und Reform der Seestreitkräfte war nach Einschätzung der britischen Offiziere nur sehr mäßig. Offenbar hatte die Marine im Osmanischen Reich nie die Bedeutung bei den führenden Stellen erlangen können wie die Landstreitkräfte.487 484 Zu den Zahlen und Daten der Schiffe siehe die tabellarische Aufstellung bei: Römer, Militärhilfe 2007, S. 380-383. Vergleiche hierzu auch: Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 164f. 485 Detaillierte Beschreibungen der Werftanlagen im Osmanischen Reich bei: Lorey, Krieg I, 1928, S. 404-407. 486 Einzig der russische Kreuzer „Katarina II.“, der 1914 fertiggestellt wurde, war neueren Baujahres als die deutschen Schiffe. Zu den wichtigsten Daten und Zahlen der russischen Schwarzmeerflotte siehe: Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 168f. 487 Römer, Militärhilfe 2007, S. 362f. 140 Die junge Einrichtung der Fliegerei hatte in den osmanischen Streitkräften noch nicht Fuß gefaßt. Damit wich die Hohe Pforte allerdings kaum von den Verhältnissen in den Armeen der anderen Mächte ab, denn auch hier befand sich die Fliegerei zu Kriegszwecken noch im Anfangsstadium. Erst um 1910 hatte bei den europäischen Großmächten die Einführung von Flugzeugen in größerem Umfange begonnen. Beispielsweise verfügten Frankreich, Russland und Deutschland bis 1914 jeweils über 250-300 Flugzeuge und Flugzeugführer, während Österreich-Ungarn nur 39 Maschinen aufbieten konnte.488 Außerdem herrschte in den Armeen noch eine heftige Diskussion über die Einsatzgrundsätze und Möglichkeiten des Flugzeugs.489 Das Osmanische Reich verfügte 1914 hingegen nur über sechs einsatzbereite Maschinen, die auf die Armeen oder Armeekorps verteilt wurden und deren Kommando unterstanden.490 Eine eigenständige Kommandostelle für die Flieger gab es nicht, so daß der deutsche Oberleutnant Serno, beauftragt mit dem Auf- und Ausbau der türkischen Fliegerkräfte, in einem seiner Berichte schrieb: „Bei ihrem Kriegseintritt am 29. Oktober 1914 besass die Türkei noch keine Fliegerkräfte.“491 In Anbetracht dieser Umstände muß die Einsatzbereitschaft der türkischen Streitkräfte für einen „modernen Krieg“, wie er bei Kämpfen gegen die europäischen Großmächte trotz gewisser Abstriche auf den nahöstlichen Kriegsschauplätzen zu erwarten stand, bezweifelt werden. Eine realistische Einschätzung der deutschen Offiziere hätte ohne Zweifel zu dieser Erkenntnis führen müssen und auch die militärischen Gegner hatten hinreichende Gelegenheit, sich ein klares Bild von den Schwächen der osmanischen Truppen zu machen. Dennoch sollte der Kriegsverlauf in Kleinasien noch einige „Überraschungen“ für die Beteiligten bereit halten. 488 Storz, Kriegsbild 1992, S. 348f. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 152. Beispielgebend die Diskussion im Deutschen Reich und Frankreich in: Schulte, Die deutsche Armee 1977, S. 351-359. 490 Insgesamt waren es 8 Flugzeuge und 4 Schulmaschinen. Welchen Typs die Maschinen der Vorkriegszeit waren, konnte nicht festgestellt werden. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 227. 491 Serno, Erich: Ausbau, Organisation und Tätigkeit der türkischen Luftstreitkräfte im 1. Weltkrieg, o.J., BAMA Freiburg, MSg 1/231, S. 1. (Im Folgenden: MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte.) 489 141 III.2. Die deutsch-osmanische Kriegführung im Orient Das Osmanische Reich hatte an sehr ausgedehnten „Fronten“492 zu kämpfen. Jedoch waren nicht überall deutsche Soldaten eingesetzt, so daß sich die folgenden Ausführungen auf die drei wichtigsten Schauplätze konzentrieren können: - die Meerengen und Konstantinopel, - den Kaukasus, - Palästina, Syrien und Mesopotamien. Abgesehen vom Kaukasus umfassen die Abschnitte demnach mehrere, teilweise räumlich deutlich voneinander entfernte Fronten. Jedoch sind die Meerengen logistisch durch verhältnismäßig kurze und funktionierende Versorgungswege gekennzeichnet, was Auswirkungen auf die Art der Kriegführung und damit den deutschen Erfahrungshorizont hatte. Zudem fanden die Kämpfe nahe an Konstantinopel, dem Sitz des Sultans, der osmanischen Regierung und praktisch der gesamten Rüstungsindustrie, also dem „Herzen des Osmanischen Reiches“, statt. Das bedeutete, daß sich der Einsatz hier mehr als andernorts unter den Augen der Öffentlichkeit abspielte und dementsprechend immense Bedeutung für das deutschtürkische Bündnis hatte. Der Kaukasus, die wichtigste Front mit dem Russischen Reich, erforderte hingegen anspruchsvolle Gebirgs- und Winterkriegführung. Zudem kreuzten sich dort die politischen Interessen des Deutschen Reiches und des Osmanischen Reiches, was sich ebenfalls auf die gemeinsamen Operationen auswirkte. Das Gebiet zwischen Suez-Kanal und Persischem Golf, die „Front“ gegen Großbritannien493, war ein von wüstenartigen Klimabedingungen geprägtes, vegetationsarmes Gebiet. Die Umweltbedingungen führten in Verbindung mit den Härten des Krieges zu Hungersnöten, 492 Armut und Krankheiten in der Der Begriff „Front“ ist streng genommen für die hier genutzte Einteilung nicht zutreffend, da sich die Schauplätze realiter in mehrere Fronten unterteilen. Zur Vereinfachung und zur Unterscheidung von den Fronten im strategischen Sinne wird der Begriff daher in Anführungszeichen gesetzt, wenn damit die umfassenderen Kriegsschauplätze gemeint sind. 493 Die irregulären Truppen der arabischen Stämme, die später an der Seite der Briten kämpften, können hier ausgeklammert werden, da ihr militärischer Wert für größere Operationen sehr begrenzt war. 142 Zivilbevölkerung. Diese war überwiegend arabischer Abstammung und gehörte damit einer von der türkischen Herrscherelite differierenden Kultur an. Außerdem lagen dort religiös bedeutsame Städte, wie etwa Jerusalem, Bethlehem oder die alte Kalifenstadt494 Baghdad. Die infrastrukturellen Bedingungen waren für Operationen unzureichend und die militärische Versorgungslage daher schwierig. Nicht näher behandelt werden die Unternehmungen in Persien und Afghanistan sowie die Ereignisse im Hedjas oder Jemen. Diese Kriegsschauplätze spielten für den eigentlichen Kriegsverlauf eine untergeordnete Rolle und deutsche Soldaten fanden dort nur in sehr geringem Umfange Verwendung.495 Dagegen müssen die Seestreitkräfte und die Fliegertruppe aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Bedingungen gesondert untersucht werden. a) Die Kämpfe an den Meerengen496 Nach der Beschießung der russischen Schwarzmeerhäfen durch die türkische Flotte hatten Russland, Frankreich und Großbritannien dem Osmanischen Reich Anfang November 1914 den Krieg erklärt. Die militärische Planung des osmanischen Generalstabes sah nach dem Kriegsausbruch in Europa zunächst Truppenkonzentrationen um Konstantinopel, an den Meerengen und im europäischen Teil der Türkei, an der Grenze zu Griechenland und Bulgarien vor. Dazu wurden auch Kontingente aus den südlichen Provinzen des kleinasiatischen Reiches abgezogen. Diese Einheiten sollten dem Schutz der Hauptstadt dienen, da deren Verlust das türkische Engagement rasch beendet hätte.497 Die Hohe Pforte traute den benachbarten Balkanstaaten nach den Kriegen der vergangenen Jahre nur wenig, 494 Der Kalif war das Oberhaupt der sunnitischen Muslime. Der Begriff leitet sich vom arabischen Wort für „Nachfolger/Stellvertreter“ ab und meint damit den „Nachfolger des Propheten Mohammed“. Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 7. 495 Zu den deutschen Expeditionen nach Persien und Afghanistan siehe: Niedermayer, Oskar Ritter von: Unter der Glutsonne Irans - Kriegserlebnisse der deutschen Expedition nach Persien und Afganistan, Dachau 1925. Gehrke, Ulrich: Persien in der deutschen Orientpolitik während des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1960. Vogel, Renate: Die Persien- und Afghanistanexpedition Oskar Ritter v. Niedermayers 1915/16, Osnabrück 1976. Zum Kriegsverlauf im Hedjaz siehe: Brémond, Édouard: Le Hedjaz dans la guerre mondiale, Paris 1931. 496 Siehe hierzu Karte 3. 497 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 37. 143 während das Deutsche Reich darauf hoffte, Bulgarien und Rumänien durch militärische Erfolge auf seine Seite ziehen zu können. Für die türkischen Planungen waren die Verteidigung der Durchfahrt zum Schwarzen Meer und Konstantinopels voneinander abhängig. Zwar war es möglich, die Hauptstadt auch durch einen Einmarsch zu Lande zu erobern, doch würde ein Angreifer stets den Bosporus überqueren müssen, um beide Hälften der Stadt besetzen zu können. Sollte es britischen oder russischen Schiffen jedoch gelingen, die Dardanellen oder den Bosporus zu nehmen, wäre das „Herz“ des Reiches weitgehend schutzlos dem Beschuß der Schiffsgeschütze ausgeliefert. Ähnliche Überlegungen stellte bereits die britische Admiralität an. Winston Churchill, seit 1911 britischer Marineminister498, hatte die Möglichkeit eines Durchbruchs durch die Dardanellen bereits kurz nach seinem Amtsantritt erwogen. Er war jedoch zu der Auffassung gelangt, daß eine Forcierung der Dardanellen für die britische Flotte zu gefährlich und daher nicht zu empfehlen sei.499 Im Januar 1915 erreichte London ein Schreiben des russischen Großfürsten Nikolai, in dem dieser vor dem Hintergrund einer türkischen Offensive im Kaukasus500 um eine britische „Macht-Demonstration“ vor der türkischen Küste bat.501 Sie sollte die osmanischen Truppen ablenken und die Hohe Pforte verunsichern. Die britische Seite nahm den „Hilferuf“ aus Russland jedoch zum Anlaß, mit den Planungen einer großen Operation gegen die Meerengen zu beginnen. Obwohl die Gefahren einer rein maritimen Aktion bekannt waren, stimmte die britische Führung am 28. Januar 1915 einem Flottenvorstoß zu, der allerdings ohne Landungstruppen auskommen sollte.502 Die Verantwortlichen des britischen War Council503 rechneten zu diesem Zeitpunkt damit, daß etwa 129.000 Soldaten nötig wären, um eine erfolgreiche Landung an den 498 Im Englischen: „First Lord of the Admiralty”. Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 113. Strachan: Der Erste Weltkrieg 2004, S. 147. 500 Siehe Abschnitt III.2.1. b). 501 Travers, Tim: Gallipoli 1915, Stroud 32004, S. 19. (Im Folgenden: Travers, Gallipoli 2004.) 502 The Stationery Office (Hrsg.): Defeat at Gallipoli - The Dardanelles Commission Part II, 1915-16, (Neudruck der Ausgabe London 1918) London 2000, S. 1. (Im Folgenden: Stationery Office, Defeat at Gallipoli 2000.) Churchill hatte makabererweise in einem Planungsgespräch empfohlen, eine Flotte aus älteren Schlachtschiffen einzusetzen, die von Minenräumbooten begleitet werden sollten. Travers, Gallipoli 2004, S. 20. 503 Zu Aufgaben und Funktion sowie Zusammensetzung des War Council siehe: The Stationery Office (Hrsg.): Lord Kitchener and Winston Churchill – The Dardanelles Commission Part I, 1914-15, (Neudruck der Ausgabe London 1917) London 2000, S. 17-34. (Im Folgenden: Stationery Office, Kitchener and Churchill 2000.) 499 144 Dardanellen zu gewährleisten.504 Der Kriegsverlauf an der europäischen Westfront verlangte allerdings dort den Einsatz aller verfügbaren Landstreitkräfte. Ein größeres britisches Engagement im Mittelmeer wäre demnach einer Schwächung der Front gegen Deutschland gleichgekommen, worauf die deutsche Seite bei Abschluß des Bündnisses mit der Hohen Pforte gehofft hatte. Dennoch verfügte London bereits am 16. Februar die Verlegung von Landeinheiten auf die Insel Lemnos.505 Gleichzeitig beorderte das französische Oberkommando das Corps Expéditionaire d´Orient zur Unterstützung auf die Insel. Diese Truppen sollten zunächst nur kleinere Einsätze zur Beunruhigung des Gegners durchführen und keine große Landungsoperation.506 Der britische Kriegsminister Lord Kitchener hielt die Truppen noch zurück, da er hoffte, die Marine könne den Durchbruch durch die Dardanellen eigenständig 507 bewerkstelligen. Bis zum 18. März 1915 beschossen britische Schiffe mehrmals die türkischen Befestigungen an den Dardanellen. Hierdurch sollte die Verteidigung – insbesondere die Reichweite und Effektivität der Festungsartillerie – getestet werden. Ebenso landeten kleinere Einheiten der Royal Marines, um im Handstreich einige türkische Forts zu nehmen und Geschütze zu zerstören. Diese Unternehmungen wurden jedoch für die Briten verlustreich abgewiesen.508 Der „Erfolg“ dieser britischen Aktionen war eine erhöhte Alarmbereitschaft der Verteidiger.509 Die Munitionsvorräte der Festungsgeschütze wurden aufgestockt und größere Anstrengungen unternommen, um die Durchfahrt zu verminen. Diese Minensperren waren es, die dem britischfranzösischen Flottenverband beim eigentlichen Durchbruchsversuch am 18. März zum Verhängnis wurden. Die Flotte, bestehend aus 18 Großkampfschiffen und einer Vielzahl kleinerer Begleitfahrzeuge, fuhr an diesem Tag in zwei Wellen in die Meerengen ein und 504 Davon sollten immerhin knapp 48.000 Mann russische Soldaten sein. Diese waren an den späteren Operationen allerdings nicht beteiligt. Stationery Office, Defeat at Gallipoli 2000, S. 13. 505 Ebd., S. 39. 506 Carver, Turkish Front 2004, S. 17. 507 Travers, Gallipoli 2004, S. 31. 508 Carver, Turkish Front 2004, S. 17f. Rhodes, Robert James: Gallipoli, London 1965, S. 45. (Im Folgenden: Rhodes, Gallipoli 1965.) 509 Mühlmann, Carl: Der Kampf um die Dardanellen 1915, Berlin 1927, S. 64. (Im Folgenden: Mühlmann, Dardanellen 1927.) Lorey, Krieg I, 1928, S. 87. 145 belegte die osmanischen Geschützstellungen mit schwerem Feuer.510 Obwohl die Schiffsgeschütze der Artillerie der Verteidiger deutlich überlegen waren, gelang es nicht, die Dardanellenforts auszuschalten. Allerdings mußten die osmanischen Kanoniere sparsam mit der Munition umgehen, da der Vorrat trotz aller Bemühungen klein und der Nachschub durch die andauernden Kämpfe in Serbien nicht gesichert war.511 Trotzdem entwickelte sich ein harter Kampf zwischen den Schiffs- und den Festungsbatterien. Mehrere Schiffe der Entente wurden dabei beschädigt, wobei das französische Schlachtschiff „Gaulois“ so schwer getroffen wurde, daß es das Gefecht abbrach.512 Als die großen Schiffe jedoch wendeten, um den Minenräumern Platz zu machen, liefen sie direkt in ein neuangelegtes Minenfeld. Das französische Schiff „Bouvet“ sank innerhalb von 45 Sekunden und nahm dabei fast 600 Mann Besatzung mit in die Tiefe.513 Auch die beiden britischen Schiffe „Irresistible“ und „Ocean“ versanken aufgrund von Minentreffern, doch die Besatzungen konnten größtenteils gerettet werden.514 Zwei weitere Schiffe der Flotte wurden schwer beschädigt, konnten sich aber zurückziehen.515 Der Angriff wurde abgebrochen und der Durchbruchsplan am 19. März schließlich komplett aufgegeben.516 Im Gegensatz zu den katastrophalen Verlusten auf Seiten der Entente waren die türkischen Schäden gering. Von den 176 Geschützen fielen gerade einmal 9 aus und von diesen konnte sogar ein Teil wieder instandgesetzt werden.517 510 Rhodes, Gallipoli 1965, S. 60. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 70f. Travers gibt an, daß am Ende des 18. März noch größere Munitionsmengen bei den türkischen Batterien vorhanden waren, also von Munitionsknappheit keine Rede sein könne. Travers, Gallipoli 2004, S. 36. Es muß jedoch berücksichtigt werden, daß die türkische Führung und ihre deutschen Verbündeten von mehrtägigen Angriffen ausgehen mußten und daher Reserven bildeten. 512 Rhodes, Gallipoli 1965, S. 61. 513 Travers, Gallipoli 2004, S. 34. 514 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 73. 515 Travers, Gallipoli 2004, S. 35. 516 Für die kommenden Tage waren weitere Angriffe geplant. Offenbar machte schlechtes Wetter ein erneutes Vorgehen unmöglich. Carver, Turkish Front 2004, S. 19. Strachan: Der Erste Weltkrieg 2004, S. 152. 517 Die Zahl der Personalverluste (Tote und Verwundete) variiert zwischen 114 und 132 Mann. Vgl.: Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 73; Rhodes, Gallipoli 1965, S. 64; Erickson, Ordered to Die 2001, S. 79f. Mühlmann gibt zusätzlich die Zahl der deutschen Verwundeten und Toten mit 22 Mann an. Eine verläßliche Zahl der Verluste unter den britischen Besatzungen ließ sich nicht ermitteln. Das australische amtliche Werk gibt immerhin für die schwerbeschädigte „Inflexible“ einen Verlust von 30 Mann an. Bean, C.E.W.: The Story of ANZAC – From the Outbreak of War to the End of the First Phase of the Gallipoli Campaign, May 4, 1915, Sydney 111941, S. 198. (Im Folgenden: Bean, Story of ANZAC, Bd. 1 1941.) 511 146 Nach dem Scheitern der Flottenoperation wurde doch eine Aktion von Bodentruppen im Schutze der Marine vorbereitet. Am 25. April landeten die britischen und französischen Truppen von Lemnos aus an verschiedenen Punkten der GallipoliHalbinsel, benannt nach der Ortschaft518 im Nordosten der Halbinsel, und auf dem kleinasiatischen Festland. Truppen des Australian and New Zealand Army Corps (ANZAC) gingen bei Ari Burnu519, die britische 29th Division und Teile der Royal Naval Division an fünf Punkten an der Südspitze der Halbinsel an Land. Das Einsatzgebiet des französischen Expeditionskorps lag bei Kum Kale520 auf dem Festland.521 Insgesamt waren an den Landungsoperationen Ende April auf Seiten der Entente etwa 75.000 Mann beteiligt.522 Ihnen gegenüber standen die Verbände der neugeschaffenen 5. osmanischen Armee, deren Oberbefehl Liman von Sanders innehatte.523 Bemerkenswert ist, daß die Bildung der neuen Armee, die ausdrücklich zur Verteidigung der Meerengen gedacht war, kaum eine Woche nach dem gescheiterten Flottenangriff der Briten und Franzosen befohlen wurde.524 Zuvor waren die 1. Armee und die 2. Armee im Gebiet um die Meerengen und Konstantinopel disloziert gewesen mit dem Auftrag, sowohl gegen eine Landung vom Mittelmeer her als auch gegen eine mögliche russische Invasion über das Schwarze Meer zu sichern. So waren die türkischen Verbände auf eine mehr als 200 km lange Küstenlinie verteilt worden, während die Verteidigung der Halbinsel den Festungen und dem III. osmanischen Armeekorps überlassen war.525 Die 5. Armee stand nunmehr neben dem ohnehin an den Dardanellen stationierten III. Armeekorps (7., 9. und 11. I.D.), das XV. Armeekorps (3. und 11. 518 Heute Gelibolu genannt. Zeitgenössische Kartenwerke schreiben auch „Ari Burun“. Es scheint sich hierbei jedoch um einen Fehler zu handeln, da in den Texten der Zeitgenossen stets von „Ari Burnu“ die Rede ist. 520 Auch hier unterscheidet sich der Ortsname in der Literatur von den zeitgenössischen Karten. Um Mißverständnisse zu vermeiden, wird, abweichend vom Kartenwerk, die gebräuchliche Form „Kum Kale“ verwendet. 521 Rhodes, Gallipoli 1965, S. 96. 522 Travers, Gallipoli 2004, S. 47. Die alliierten Truppenstärken waren ungefähr: ca. 11.000 Mann Royal Naval Division; ca. 30.000 Mann ANZAC; ca. 18.000 Mann 29th Division; ca. 18.000 Mann des französischen Expeditionskorps. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 214, Anm. 1. 523 Liman befehligte zuvor die 1. Armee. Sein Nachfolger wurde Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, der bereits am 12.12.1914 als Generaladjutant des Sultans nach Konstantinopel gekommen war. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 66f. und S. 77. 524 Laut Liman wird der Entschluß zur Bildung der Armee am 24. März 1915 gefasst. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 76. 525 Vergleiche hierzu: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 42ff; Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 185; Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 72f. 519 147 I.D.) auf dem kleinasiatischen Festland; hinzu kam eine unabhängige Infanteriedivision (5. I.D.) sowie eine unabhängige Kavalleriebrigade, die am nördlichen Ende der Halbinsel am Golf von Saros positioniert waren.526 Die türkischen Truppen vor Ort umfaßten insgesamt etwa 60.000 Mann, die aber zur Abwehr auf eine größere Zahl möglicher Landungsstellen verteilt waren.527 Als die Ententetruppen am 25. April 1915 an verschiedenen Punkten der Halbinsel landeten, hatte die türkische Seite vier Wochen Zeit gehabt, sich auf einen Angriff vorzubereiten. Zwar herrschte im Hauptquartier Limans zunächst Unsicherheit über die wahren Absichten des britischen Oberbefehlshabers Sir Ian Hamilton, zumal ein Ablenkungsmanöver im Golf von Saros gestartet wurde, jedoch ließen die heftigen Kämpfe an der Südspitze des Halbinsel bald keinen Zweifel daran, daß dort der Schwerpunkt der Invasion lag.528 Trotz der Abwesenheit des Oberbefehlshabers und der anfangs unklaren Lage konnten die türkischen Truppen ein größeres Vordringen der angreifenden Briten zunächst verhindern. Die britische Landung bei „Y Beach“, etwa 3 Kilometer südwestlich der später hartumkämpften Ortschaft Krithia, scheiterte aufgrund einer Mischung aus Führungsfehlern und türkischem Widerstand, 529 Landungstruppen am 26. April evakuiert wurden. worauf die Auch der französische Landungsversuch bei Kum Kale, offenbar von Anfang an ebenfalls als Ablenkung geplant, wurde nach dem Versteifen des türkischen Widerstandes abgebrochen, die Truppen wurden in der Nacht vom 26. auf den 27. April wieder verladen und auf die Gallipoli Halbinsel verlegt.530 Die französischen Verluste werden mit 778 Mann angegeben, während die türkischen Verluste, nicht zuletzt durch schweren Beschuß 526 Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 993. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 80. Die Einheiten, die auf der Halbinsel selbst stationiert waren, hatten noch im Februar (inklusive der Festungstruppen) 39.500 Mann, 34.500 Gewehre, 16 Maschinengewehre und 313 teils veraltete Geschütze zur Verfügung. Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 992. 528 Liman selbst hielt sich bei Beginn der Landungen in der Nähe von Bulair, also im Norden der Halbinsel auf, wo das britische Ablenkungsmanöver durchgeführt wurde. Erst am Morgen des 26. April war er sich sicher, daß der wahre Angriff im Süden stattfand und verließ Bulair, wie auch sein Adjutant, der damalige Hauptmann Mühlmann, bestätigte. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 86 u. S. 89. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 94f. 529 Siehe zum Verlauf der Landung: Aspinall-Oglander, Cecil F.: Military Operations: Gallipoli – Vol I, Inception of the Campaign to May 1915, London 1929, S. 201-215. (Im Folgenden: AspinallOglander, Gallipoli Volume I, 1929.) 530 Travers, Gallipoli 2004, S. 78. Diese Landung ist die einzige, bei der auch die russische Seite mit einem leichten Kreuzer unterstützend engagiert war. 527 148 der Kriegsschiffe und durch das „Überlaufen“ oder auch „frühzeitiges Kapitulieren“, fast 2.000 Mann betrugen.531 Schon an diesem „Nebenschauplatz“ wird die Härte der Kämpfe deutlich. An fast allen Frontabschnitten versuchten die Landungstruppen verbissen, auf die weitgesteckten Operationsziele, die zum Teil 7-8 km von den Ausgangspunkten entfernt lagen – und realiter während des ganzen Feldzuges nie erreicht wurden – vorzustoßen. Ebenso verbissen versuchten die türkischen Verteidiger die Invasoren wieder „ins Meer zu werfen“. Bis zum 27. April hatte die britische 29th Division bereits 187 Offiziere und 4.266 Mann (von knapp 18.000) verloren und am 28. April waren die Verluste des Angreifers auf etwa 6.000 Mann gestiegen.532 Genaue Verlustzahlen der türkischen Truppen für den gleichen Zeitraum liegen nicht vor. Die Ausfälle dürften allerdings höher gewesen sein als die der Entente, da sich die artilleristische Überlegenheit der britischen Schiffsgeschütze verheerend auf die türkischen Soldaten auswirkte, die nur über unzureichende Feldbefestigungen oder Gräben verfügten. So hatten zwei türkische Regimenter, die im Süden der Halbinsel gegen die Briten kämpften, bis zum Abend des 26. April etwa 2.000 Mann verloren, also die Hälfte ihrer Personalstärke.533 Diese Einbußen der Osmanen mußten sich allerdings viel gravierender auswirken, da aufgrund der anfänglichen Unklarheit über die eigentlichen Landungsorte eine Vielzahl der Truppen noch auf dem Marsch war. An der Südspitze bei Seddil Bahr534 standen 6.300 Türken einer Übermacht von mehr als 20.000 Ententensoldaten gegenüber und weiter nördlich bei Ari Burnu waren lediglich 500 Verteidiger gegen 8.000 australische und neuseeländische Truppen eingesetzt.535 531 Aspinall-Oglander, Gallipoli Volume I, 1929, S. 263. Vgl. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 101f. und Travers, Gallipoli 2004, S. 77, der die französischen Verluste mit lediglich 250 Mann angibt. 532 Die Angaben beinhalten Tote, Verwundete und Vermißte. Carver, Turkish Front 2004, S. 37. Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 186. 533 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 103. Fewster, Kevin/Başarın, Vecihi/Başarın, Hatice Hürmüz: Gallipoli – The Turkish Story, Crows Nest 22003, S. 74. (Im Folgenden: Fewster/Başarın, Gallipoli 2003.) 534 Für diese Ortschaft gibt es in der Literatur wieder eine Vielzahl verschiedener Schreibweisen. Zur Vereinfachung wird hier die Schreibweise des zeitgenössischen Kartenwerkes gewählt. Andere Formen sind zum Beispiel: Sedd ul Bahr, Sedd-el-Bahr oder Sedd-el-Bahir. 535 Rhodes, Gallipoli 1965, S. 138. Fewster/Başarın, Gallipoli 2003, S. 63. 149 Die alliierten Landungen konnten Brückenköpfe sichern und weitere Truppen heranführen. In blutigen Kämpfen gelang es, einige Bodengewinne gegen die Verteidiger zu erzielen und eine zusammenhängende Frontlinie zu schaffen. Ein britischer Angriff am 28. April gegen die im Süden der Halbinsel gelegene Ortschaft Krithia wurde unter schweren Verlusten für beide Seiten abgewiesen.536 Anfang Mai hatte Liman von Sanders seiner Ansicht nach ausreichende Kräfte für einen Gegenangriff gesammelt. Er wollte die gegnerischen Linien durchbrechen und die Entente zur Aufgabe des Unternehmens zwingen. Mit der Durchführung wurde der deutsche Befehlshaber der neugeschaffenen „Südgruppe“ beauftragt, Oberst von Sodenstern.537 Um dem Feuer der gegnerischen Marine zu entgehen, sollten die Angriffe im Schutze der Dunkelheit stattfinden. Die türkischen Truppen und ihre Führer waren jedoch für solch anspruchsvolle Operationen weder ausgerüstet noch ausgebildet. Zudem warnte eine „halbherzige“ Artillerievorbereitung den Gegner vor dem bevorstehenden Unternehmen.538 Schon der erste Angriff in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai scheiterte unter schweren Verlusten für das osmanische Heer. Dennoch wurden die Nachtangriffe in den beiden folgenden Nächten wiederholt, allerdings ohne den erhofften Durchbruch zu erzielen.539 Wieder waren die Verluste auf beiden Seiten schwer, wenn auch die türkischen Verluste deutlich höher ausfielen.540 Nach diesem Fehlschlag ordnete Liman den Übergang zur Defensive an. Nur wenige Tage später, am 6. Mai, begannen daraufhin die Ententeverbände mit einer Reihe großer Angriffe gegen Krithia. Aber auch den britischen Truppen blieb ein 536 Carver, Turkish Front 2004, S. 37. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 141. Von Sodenstern war deutscher Oberstleutnant. Seine „Südgruppe“ bestand im Wesentlichen aus den Resten von zwei Divisionen, die kurzfristig durch einige Regimenter verstärkt wurden. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 85. Die “Nordgruppe” stand unter dem Befehl des türkischen Generals und früheren Befehlshabers des III. Korps, Essad Pascha. Diese verteidigte bei Ari Burnu. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 122. 538 Ebd. 539 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 115-119. Die neuere, englische Forschung spricht allerdings nur von 2 Nachtangriffen. Travers, Gallipoli 2004, S. 115. 540 Genaue Zahlen liegen nicht vor. Mühlmann, der zum Zeitpunkt der Angriffe der Generalstabschef von Oberst von Sodenstern war, gibt jedoch allein für eine türkische Division (15. I.D.) die Verluste mit 4000 Mann an. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 113 und S. 119. Auf alliierter Seite traf es die französischen Kolonialtruppen besonders schwer. Zeitweilig drohten diese Formationen gar zu zerbrechen, das Ende der Angriffe und Verstärkung durch britische Truppen klärten die Situation jedoch rechtzeitig. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 147. 537 150 durchschlagender Erfolg versagt. Die Vorstöße wurden unter empfindlichen Verlusten abgewiesen.541 Nach den vergeblichen Angriffen gingen beide Seiten Anfang Mai zur Verteidigung und damit zum Stellungskrieg über.542 Beide Seiten nutzten die Gelegenheit, Stellungen auszubauen und Verstärkungen heranzuführen. Der britische Oberbefehlshaber General Sir Ian Hamilton hatte in London jedoch die größeren Widerstände zu überwinden. Großbritannien und Frankreich brauchten ihre Truppen in Europa für den Kampf gegen das Deutsche Reich. Sie konnten sich daher nur zu verhältnismäßig geringen Verstärkungen durchringen.543 Ähnlich der Kriegführung in Frankreich und Belgien waren die Kämpfe auf der Gallipoli Halbinsel von einem Ausbau der Verteidigungsanlagen und gelegentlichen blutigen, aber erfolglosen Angriffen gekennzeichnet. Die Versenkung von drei britischen Großkampfschiffen durch ein deutsches U-Boot und ein türkisches Torpedoboot Mitte und Ende Mai führte zu einem Abzug der britischen Flotte und damit vorübergehend zur Unterbrechung der Feuerunterstützung für die gelandeten Ententeverbände.544 Obwohl die britischen Schiffe nach etwa einem Monat ihre Positionen wieder einnahmen, bekamen die osmanischen Verteidiger eine dringend benötigte Verschnaufpause nach dem ständigen Beschuß durch schwerste Schiffskaliber, die den Ausbau der Stellungen der Verteidiger ermöglichte.545 Die Situation in den nächsten Monaten wurde für die Soldaten beider Seiten schwer erträglich. Das heiße und trockene Klima sorgte bald für Wasserknappheit, von der besonders die Invasoren betroffen waren, da die von ihnen besetzten Küstengebiete kaum Quellen aufwiesen und die wenigen vorhandenen Wasserläufe austrockneten. So mußte der Nachschub auf dem Seewege herangeschafft werden. Die Verhältnisse 541 Reichsarchiv (Hrsg.): Die Operationen des Jahres 1915 – Die Ereignisse im Westen und auf dem Balkan vom Sommer bis zum Jahreswechsel, Berlin 1933, S. 181. (Im Folgenden: Reichsarchiv, Operationen 1933.) Detaillierte Informationen zu den britischen Angriffen bei: Bean, C.E.W.: The Story of ANZAC – From 4 May, 1915, to the Evacuation of the Gallipoli Peninsula, Sydney 1941, S. 1-43. (Im Folgenden: Bean, Story of ANZAC, Bd. 2, 1941.) 542 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 123. Reichsarchiv, Operationen 1933, S. 181. 543 Erst Mitte Juni 1915 genehmigte London Verstärkungen für die Gallipoli-Front und dann auch nur widerstrebend. Ausschlaggebend hierfür war allerdings die öffentliche Meinung, die sich zunehmend für diesen Schauplatz interessierte. Besonders in Australien und Neuseeland, beide Staaten Angehörige des britischen Commonwealth, war das öffentliche Interesse an den Kämpfen der „eigenen ANZAC Truppen“ an den Dardanellen groß. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 215ff. 544 Zu den Aktionen der Marine siehe Kapitel III.2.d). 545 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 133. 151 auf türkischer Seite waren allerdings kaum besser, denn aufgrund der hohen Truppenzahl auf der kargen Halbinsel mußte auch hier der Nachschub per Schiff über das Marmarameer transportiert werden. Dort gefährdeten alliierte Unterseeboote, die es durch die gesperrten Meerengen geschafft hatten, die Transporte.546 Zudem nahm aufgrund der unhygienischen Verhältnisse die Zahl des Ungeziefers zu. Besonders die sommerliche Fliegenplage auf der Halbinsel ist legendär.547 Durch die zahlreichen unbeerdigten Toten im „Niemandsland“ zwischen den Fronten konnten sie sich exponentiell vermehren.548 Solche Verhältnisse begünstigten in hohem Maße die Verbreitung von Krankheiten.549 Anfang August traten die britischen und französischen Einheiten, mittlerweile durch frische Truppen verstärkt, zu einer neuen, großen Offensive an. Am Abend des 6. August wurden die ersten beiden Divsionen (11. und 13.) des britischen IX. Corps in der Suvla Bucht, etwa 9 Kilometer nördlich von Ari Burnu, angelandet.550 Schon vorher hatten an den anderen Frontabschnitten große Angriffe der Entente begonnen.551 Auf türkischer Seite hatte man mit einer neuen Landung an anderer Stelle gerechnet, denn der Chef des Großen Generalstabes, General Erich von Falkenhayn, hatte Liman von Sanders bereits am 22. Juli eine entsprechende Warnung zukommen lassen.552 Da man jedoch den genauen Ort der britischen Operation nicht kannte, wurden die türkischen Truppen so verteilt, daß sie die möglichen Landungspunkte rasch erreichen konnten. Dadurch waren die Fronten nur dünn besetzt und so kam es, daß in der Suvla Bucht nur etwa 3.000 türkische 546 Lorey, Krieg I, 1928, S. 181f. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 134. In dem von Teilnehmern des Feldzuges herausgegebenen „ANZAC Book“ finden sich mannigfaltige Verweise auf die Insektenplagen. Etwa in dem Gedicht „Flies and Fleas“ oder im „ANZAC Alphabet“. The Anzac Book – Written and Illustrated in Gallipoli by The Men of Anzac, London (u.a.) 1916, S. 44 u. S. 115f. (Im Folgenden: Anzac Book 1916.) 548 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 132. 549 Larcher gibt die Zahl der Krankheitsfälle für die Entente mit 120.000 Mann an. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 236. Diese Zahl beinhaltet jedoch nur die behandelten Fälle und nicht die Zahl der dauerhaften Ausfälle. Für die türkische Seite nennt Erickson 64.000 Krankheitsfälle. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 95. Beide Angaben können höchstens als „Annährungswerte“ betrachtet werden, da eine zuverlässige Datenerhebung fehlt. 550 Travers, Gallipoli 2004, S. 179. 551 Carver, Turkish Front 2004, S. 62. 552 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 106. Falkenhayn warnte vor möglichen Landungen im Golf von Saros, nördlich von Gallipoli. 547 152 Verteidiger unter dem bayerischen Major Willmer553 den dortigen Abschnitt gegen zwei britische Divisionen mit etwa 16.000 Mann, die zudem über zwei weitere Divisionen in Reserve verfügten, halten mußten.554 Als die ersten Berichte über die neue Front eintrafen, entsandte die türkische 5. Armee sofort Verstärkungen in den bedrohten Abschnitt, um den befürchteten Durchbruch zu verhindern. Die vorgesehen Divisionen brauchten auf den schlechten Wegen der Halbinsel allerdings fast 24 Stunden länger als erwartet und waren durch die Gewaltmärsche in großer Hitze bei ihrem Eintreffen nicht sofort einsatzfähig.555 Zum Glück für die Verteidiger gingen die britischen Truppen nur zögerlich vor. Aufgrund verschiedener Schwierigkeiten in der Kommunikation und wohl auch durch Fehler der britischen Führung machten sich die gelandeten Truppen nicht sofort daran, die operativ bedeutsamen Höhen um die Bucht zu nehmen, sondern richteten zunächst ihr Lager ein.556 „Man glaubte dem Auge nicht trauen zu dürfen, das immer wieder über das friedliche Bild englischen Lagerlebens an der Suvla-Bucht schweifte und suchend dann nach hinten sich wandte, von wo die sehnsüchtig erwarteten türkischen Divisionen kommen mußten.“557 Erst am 9. August kam es zu ernsthaften Kämpfen zwischen den mittlerweile angreifenden Landungstruppen und den eben eingetroffenen türkischen Verstärkungen. Bei dieser Gelegenheit zeichnete sich der osmanische Oberst Mustafa Kemal Bey, der spätere Gründer der türkischen Republik, besonders aus. Liman übergab ihm den Befehl über den Frontabschnitt, nachdem sich der vorherige türkische Befehlshaber der sogenannten „Anaforta-Gruppe“558 nicht in der Lage gesehen hatte, den Angriffsbefehl zeitgerecht auszuführen. Der deutsche Armeechef ging davon aus, daß der energische Oberst mit allen Mitteln versuchen werde, den britischen Vormarsch zu stoppen, und er sollte nicht enttäuscht werden. Mustafa 553 Zu einem knappen Lebenslauf siehe: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 251f. Travers, Gallipoli 2004, S. 188. 555 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 151. 556 Das britische amtliche Werk macht den Truppenführern vor Ort schwere Vorwürfe und sieht die Hauptverantwortlichkeit für das Scheitern des späteren Angriffs bei diesen Offizieren. AspinallOglander, Cecil F.: Military Operations: Gallipoli – Vol II, May 1915 to the Evacuation, London 1932, S. 268-284. (Im Folgenden: Aspinall-Oglander, Gallipoli Volume II, 1932.) 557 Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 152. 558 Die Gruppe ist benannt nach der Ortschaft in der Nähe der Landungsstelle. 554 153 Kemal gelang es unter großem persönlichen Einsatz und mit größtmöglicher Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen eigenen Truppen, den Vormarsch aufzuhalten und am 10. August die Schlüsselpositionen des Frontabschnitts zu besetzen.559 Die Schlacht um die Landungszone an der Suvla-Bucht dauerte noch bis zum Ende des Monats August an. Britische Angriffe am 12., 15. und 21. August schlugen fehl und die Angriffe an den anderen Frontabschnitten hatten schon vorher keine durchschlagenden Erfolge gezeitigt.560 Danach setzte erneut Stillstand und Grabenkrieg ein. Das Scheitern dieser Operation führte in London zu einem Überdenken des gesamten Unternehmens. Zudem ordnete Bulgarien am 22. 9. 1915 die Mobilmachung an und trat auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg ein. Serbien wurde durch die von mehreren Seiten vorgetragenen Angriffe bald besetzt. Der Versorgungsweg von Deutschland in das Osmanische Reich war damit offen. Die Ententemächte kamen darin überein, dem angeschlagenen Balkanstaat zu helfen. Sie planten daher in Saloniki, das zum eigentlich noch neutralen Griechenland gehörte, Truppen zu landen.561 Dazu sollten auch Einheiten von der Dardanellenfront abgezogen werden. Am 14. Oktober beschloß die Regierung in London General Hamilton, den Oberbefehlshaber der Mediterranean Expeditonary Force, abzulösen und durch General Sir Charles Monro zu ersetzen. Ihm oblag jetzt die Aufgabe, die abgekämpften Truppen auf der Halbinsel zur Evakuierung vorzubereiten.562 Zeitgleich mit den Verlegungen vor allem französischer Truppen von Gallipoli nach Griechenland zog die osmanische Führung Formationen aus dieser Front, die der 5. Armee (Liman) im Laufe des Sommers von anderen Armeen zugeführt worden 559 Mustafa Kemal war bereits vorher durch seine harte Vorgehensweise aufgefallen. Schon bei den Abwehrkämpfen am 25. April soll er gesagt haben: „Ich befehle euch nicht anzugreifen, ich befehle euch zu sterben. In der Zeit, die vergeht bis wir sterben, können andere Truppen und Befehlshaber nach vorne kommen und unsere Plätze einnehmen.“ Erickson, Ordered to Die 2001, S. XV. Auch wenn solch ein Zitat höchstwahrscheinlich dem Reich der Legendenbildung um den späteren “Atatürk” entspringt, so verdeutlicht es seine Einstellung zum Kampf offenbar zutreffend. Liman selbst äußert sich beeindruckt von dem entschlossenen Vorgehen und der Leistung des Obersten, der die Entscheidung durch einen verlustreichen Sturmangriff erzwang. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 112. 560 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 91. 561 Die komplizierten politischen Vorgänge in Griechenland können hier nicht näher erläutert werden. Die britisch-französischen Truppen kamen jedoch auf „Einladung“ des griechischen Premierministers, der daraufhin vom deutschfreundlichen König Konstantin II. abgesetzt wurde. Einführend dazu siehe: Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 418f. 562 Travers, Gallipoli 2004, S. 275. 154 waren.563 Dennoch planten die Mittelmächte, offenbar auf Betreiben des Generals von Falkenhayn, eine Offensive, welche die hartumkämpfte Halbinsel von den Ententeverbänden befreien sollte.564 Deutschland und Österreich-Ungarn kündigten großzügige Material- und Truppenlieferungen für die Offensive an, die jedoch nur sehr zögerlich in Gang kamen. Als erste geschlossene Formationen trafen zwei k.u.k. Artillerie-Batterien Ende November und Dezember 1915 an der Front ein.565 Im Laufe des Novembers diskutierte das Kabinett in London über eine mögliche Evakuierung. Die Entscheidungsfindung zog sich hin, wurde aber schließlich durch schwere Unwetter beschleunigt, bei denen Ende November 280 Soldaten in den Schützengräben ertranken oder erfroren.566 Am 7. Dezember 1915 entschied man, die Landungsabschnitte in der Suvla-Bucht und den Abschnitt der ANZAC-Truppen, auf deutscher Seite als Anaforta- und Ariburnufront bezeichnet, zu räumen. In der Nacht vom 18. auf den 19.12. wurden die Truppen völlig überraschend für die türkische Seite eingeschifft.567 Die südliche Front gab man in der Nacht zum 9. Januar 1916 auf.568 Einen Tag zuvor hatte Liman von Sanders einen Angriff befohlen, um die verblieben Briten und Franzosen doch noch zu stellen. Dieser Versuch scheiterte jedoch unter schweren Verlusten für die eingesetzten türkischen Verbände.569 Die evakuierten Truppen ließen buchstäblich Berge von Kriegsmaterial an den Landungsabschnitten zurück. So zählte man 15 unbrauchbar gemachte Geschütze und 1.590 Fahrzeuge. 508 Maultiere, die nicht transportiert werden konnten, wurden erschossen.570 Zudem fielen den türkischen Soldaten zahlreiche persönliche Ausrüstungsgegenstände, Uniformteile und Nahrungsmittel in die Hände, was ihnen sehr gelegen kam.571 563 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 123. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 165. 565 Es handelt sich im eine 15-cm-Haubitzbatterie und eine 24-cm-Mörserbatterie mit insgesamt 84 Mann artilleristischem Personal. Durch die schlechten Wegeverhältnisse und verschiedene „protokollarische“ Verpflichtungen brauchte die Mörserbatterie ganze 2 Monate, um ihr Einsatzgebiet zu erreichen (22.10.-23.12.). Sie kam damit praktisch zu spät, um Wirkung zu zeigen, da die Briten bereits mit dem Truppen-Abzug begonnen hatten. Jung, Der Wüstenkrieg 1992, S. 38f. 566 Zusätzlich mußten etwa 16.000 Erfrierungsfälle von der Halbinsel evakuiert werden. Stationery Office, Defeat at Gallipoli 2000, S. 189-192. 567 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 127f. 568 Travers, Gallipoli 2004, S. 277. 569 Rhodes, Gallipoli 1965, S. 345. 570 Aspinall-Oglander, Gallipoli Volume II, 1932, S. 478. 571 Rhodes, Gallipoli 1965, S. 347. 564 155 Die Kämpfe um die Dardanellen hatten damit ein Ende gefunden. Die Verluste auf beiden Seiten waren horrend, berücksichtigt man den verhältnismäßig kleinen Raum, auf dem gekämpft worden war. Die Zahlen der eingesetzten alliierten Truppen variieren von 489.000 Mann bis zu 549.000 Mann.572 Die Zahl der eingesetzten osmanischen Soldaten ist nicht genau bekannt. Neueste Untersuchungen gehen jedoch davon aus, daß knapp 500.000 Soldaten auf die Halbinsel geschickt wurden.573 Dies entspräche ungefähr der Hälfte der gesamten osmanischen Streitkräfte und etwas mehr als einem Sechstel der Gesamtzahl der während des Krieges mobilisierten Soldaten des Osmanischen Reiches.574 Die gesamten Personalausfälle (Tote, Verwundete, Vermißte und Kranke) umfaßten circa: - 205.000 britische Soldaten - 47.000 französische Soldaten - 250.000 osmanische Soldaten575 Die Zahl der Toten und Vermißten, wobei der Terminus „vermißt“ häufig gleichbedeutend mit „tot“ war, betrugen auf Seiten der Entente zwischen 47.000 und 50.000 Mann.576 Die Gefallenen der türkischen Verteidiger werden heute auf etwa 68.000 Mann geschätzt, zu denen möglicherweise noch eine große Zahl von Todesfällen in den Lazaretten hinzutritt.577 Exakte Zahlen für die Verluste werden sich kaum jemals ermitteln lassen, jedoch erscheint dies auch als unnötig, zeigen 572 Erstere Zahl bei Erickson, Ordered to Die 2001, S. 94. Maurice Larcher gibt hingegen 469.000 Briten und 80.000 Franzosen für die Dardanellenkämpfe an. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 236. 573 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 94. 574 Die Gesamtzahl der mobilgemachten Soldaten wird mit etwa 2,8 Millionen angegeben. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 540. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 243. Emin spricht sogar von knapp 3 Millionen Soldaten. Die Heeresstärke hätte jedoch zu keinem Zeitpunkt mehr als 1,2 Millionen Mann betragen. Emin, Turkey 1930, S. 252. 575 Travers, Gallipoli 2004, S. 311. Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 184. 576 Das „Dardanellen-Komitee“ der britischen Regierung gab die eigenen Verluste mit 31.389 getöteten und 9.708 vermißten Militärpersonen an, was einer Zahl von 41.097 Gefallenen auf der britischen Seite entspräche. Stationery Office, Defeat at Gallipoli 2000, S. 289. Andere Autoren „korrigieren“ diese Zahlen nach unten auf 39.000 oder 37.000 britischen Gefallene, inklusive der australischen und neuseeländischen Toten. Fewster/Başarın, Gallipoli 2003, S. 6. Carver, Turkish Front 2004, S. 101. Zu diesen Verlusten kommen etwa 11.000 französische Armeeangehörige hinzu. Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 1009. 577 Edward Erickson gibt hier wohl die genauesten Werte an, wenn auch eine gewisse Tendenz zugunsten der türkischen Seite nicht zu übersehen ist. Immerhin verweist er darauf, daß türkische Autoren von weiteren 21.000 Verstorbenen in den Lazaretten sprechen, was die Zahl der Toten auf 89.000 erhöhen würde. Gleichzeitig verwirft er die Zahl von Rhodes, der die türkischen Verluste mit 86.692 angibt, als „überschätzt“. Vgl.: Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 1009. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 94 u. 237. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 348. 156 doch die bisherigen Schätzungen bereits deutlich, mit welcher Härte und Entschlossenheit beide Seiten um die Herrschaft über die Schlüsselstellung an den Meerengen kämpften. b) Die Kämpfe im Kaukasus578 Eine unmittelbare Bedrohung der Grenzen des Osmanischen Reiches zu Lande bestand vor dem Ausbruch des Weltkriegs nur durch eine russische Truppenkonzentration im Kaukasus. Russland hatte bereits in den Jahren vor dem Kriege seine militärische Infrastruktur im Kaukasus ausgebaut und verfügte dort über eine beachtliche Truppenpräsenz.579 Die türkische Führung hatte die 3. Armee580 im Kaukasus stationiert. Sie sollte einem russischen Vorstoß in Richtung Erserum (Erzurum) – der größten Stadt der Region und zugleich wichtigem Verkehrsknotenpunkt – entgegentreten. Die Infrastruktur in dem rauhen Gebirgsland war allerdings mehr als dürftig und so scheiterte bereits der Versuch, die vorhandenen Truppenteile auf ihre kriegsmäßige Stärke zu bringen. Eisenbahnverbindungen zur späteren Front waren nicht vorhanden. Die nächstgelegenen Bahnendpunkte lagen von der Stadt Erserum 400 beziehungsweise 700 Kilometer entfernt.581 Daher wurden die Transporte mit Hilfe von Zug- und Lasttieren durchgeführt. Aber auch sie hatten mit dem ungenügenden Wegenetz zu kämpfen. Der Zustand der wenigen ausgebauten Strassen machte die Benutzung für die Zugtiere der Kolonnen meist so gefährlich, daß sie neben den Strassen her geführt werden mußten.582 Außerdem hatte man auf dem Weg zur Front zahlreiche Gebirgspässe zu überqueren. Bei starkem Regen oder andauerndem Schneefall, wie er im kaukasischen Winter die Regel ist, waren sie nur 578 Siehe hierzu Karte 4. Im August 1914 waren dort drei Armeekorps stationiert sowie eine reguläre Kavallerie-Division, einige Grenzschutzverbände und irreguläre Kosaken-Einheiten. Obwohl die russischen A.K. lediglich aus zwei Divisionen bestanden, so waren diese mit je 12.000 bis 16.000 Mann deutlich stärker als die osmanischen Divisionen. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 375f. 580 Sie bestand zunächst aus den IX. und XI. türkischen A.K., die jeweils drei Infanterie-Divisionen umfaßten. Bis zum November 1914 traten noch das X. türkische A.K. und ein Reserve-KavallerieKorps hinzu sowie Formationen der Jandarma und irreguläre Kavallerieformationen aus kurdischen Stammesangehörigen. Vgl. hierzu: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 42ff. und Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 14f. 581 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 32. 582 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 8f. 579 157 selten passierbar und zwangen zu langen Umwegen. Eine halbwegs brauchbare Etappenstrasse vom Bahnhof Ulu Kischla583 über Siwas nach Erserum – eine Strecke von knapp 900 Kilometern – wurde erst im Frühjahr 1915 fertiggestellt.584 Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Kriegführung waren demnach denkbar ungünstig und der osmanische Generalstab konnte zudem nur eine begrenzte Anzahl von Truppen für diese Front zur Verfügung stellen. Erst als „Goeben“ und „Breslau“ die russischen Häfen beschossen hatten und damit der Kriegseintritt der Türkei feststand, wurde der 3. Armee ein weiteres Korps (X. A.K.) unterstellt.585 Damit erreichten die türkischen Truppen im Kaukasus eine Gesamtstärke von fast 120.000 Mann, von denen allerdings nur etwa 75.000 Mann für eine mögliche Offensive zur Verfügung standen.586 Für die jungtürkische Führung war eine hohe Truppenpräsenz im Grenzbereich zu Russland von größter Wichtigkeit. Zum einen wurde das Zarenreich als traditionelle Bedrohung empfunden, denn die Frage der Kontrolle über die Meerengen und damit den Zugang zum Schwarzen Meer hatte in der Vergangenheit oft zu Konflikten geführt. Zum anderen strebten die Jungtürken expansionistische Ziele im Kaukasus an, wo sie hofften, die „turkotartarischen Völkerschaften“ im Sinne des Panturanismus in das Osmanische Reich einzugliedern. Der deutsche Bündnispartner hegte hingegen zu Kriegsbeginn nur sehr begrenztes Interesse an diesen Gebieten. Sein Schwerpunkt lag in Europa und dort in der raschen Niederwerfung Frankreichs. Türkische Offensiven konnten der deutschen Ostfront durch Bindung russischer Verbände jedoch Entlastung bieten. Daß Angriffsoperationen unter den schwierigen Rahmenbedingungen kaum Erfolg versprachen, wurde in Berlin als „vertretbares Risiko“ betrachtet.587 583 Über die genaue Lage des Bahnhofs werden keine Angaben gemacht. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß es sich um den Endbahnof der Strecke Bulgurlu – Ulukişla aus dem Jahre 1911 handelt, die von der Hauptstrecke der Bagdadbahn abzweigte und auch heute noch genutzt wird. Karten zum Weltkriege: Der Orient, Bielefeld/Leipzig 4[1915], Karte II, E 7. Siehe dazu auch die Internetseite der türkischen Eisenbahngesellschaft TCDD: http://www.tcdd.gov.tr/genel/acilistarihleri.htm (Stand: 25.09.2008). 584 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 13. 585 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 27. 586 Erickson gibt die Gesamtstärke der regulären Verbände mit 75.660 Mann an. Allerdings führt er noch die Rubrik „andere Kombattanten“ (37.000 Mann) an ohne zu erklären, wen er damit meint, und zählt noch die „verfügbaren Verstärkungen“ hinzu. Die Zahlen erscheinen daher sehr zu Gunsten der osmanischen Seite ausgelegt. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 57. 587 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, 98f. 158 Die russische Führung hatte ihre Truppen in der Region dadurch geschwächt, daß sie nach dem Ausbruch der Kämpfe in Ostpreußen zwei Armeekorps und einen großen Teil der unabhängigen Verbände aus dem Kaukasus abzog und die erfahrenen Verbände durch frischausgehobene Truppen ersetzte. So blieb die zahlenmäßige Überlegenheit mit insgesamt 160.000 Soldaten zwar erhalten, doch die Offensivkräfte (ca. 80.000 Mann) waren weniger erfahren als die vorherigen Verbände.588 Die russische Offensive, die bereits am 1. November 1914 – also am Tage vor der offiziellen russischen Kriegserklärung – begann, endete nach kleineren Kampfhandlungen schon Mitte des Monats mit einem russischen Rückzug.589 Die türkischen Truppen rückten jedoch nur langsam nach, da mittlerweile Schneefall auf der ganzen Front eingesetzt hatte und die Temperaturen deutlich unter den Gefrierpunkt gefallen waren. Die Befehlshaber zögerten aus Sorge, die ohnehin stark beanspruchte Truppe aufzureiben.590 Von einem glänzenden Sieg der osmanischen Armee konnte demnach kaum die Rede sein. Dennoch gewann der türkische Generalstab in Konstantinopel offenbar den Eindruck, daß im Kaukasus der Zeitpunkt für eine großangelegte Angriffsoperation gegen die augenscheinlich schwachen Russen gekommen sei. Enver Pascha entsandte seinen zweiten stellvertretenden Generalstabschef Oberst Hafiz Hakki Bey591 zur 3. Armee, um dort die Möglichkeiten für einen solchen Angriff zu erkunden. Der Offensivgedanke wurde auch von den wenigen deutschen Offizieren an der Kaukasusfront gestützt. Vor Beginn der Feindseligkeiten befanden sich gerade einmal zwei Deutsche im Bereich der 3. Armee, der preußische Major Guse und der preußische Hauptmann Vonberg, die als Angehörige der deutschen Militärmission einen entsprechend erhöhten türkischen Dienstgrad besaßen. Zudem bekleidete Felix Guse als Chef des Generalstabes der 3. osmanischen Armee einen äußerst wichtigen und einflußreichen Posten an der Front. Kurz vor Ausbruch der Kämpfe im Kaukasus waren noch fünf 588 Auch die russischen Zahlenangaben sind nicht genau. Zwar geben Larcher und Guse die gleiche Gesamtzahl an, aber Larcher spricht von 70.000 und Guse von 90.000 russischen Kombattanten. Vgl. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 375-377 und Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 28. Beide Angaben erscheinen im Kontext jeweils für die eigene Argumentation „angepaßt“ zu sein, weshalb in dieser Arbeit auf den Mittelwert zurückgegriffen wird. 589 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 28-31. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 54. 590 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 31f. 591 Hafiz Hakki Bey wird bei Guse fälschlicherweise als „Ismael Hacki“ bezeichnet. Vgl. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 36 und Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 64 sowie Erickson, Ordered to Die 2001, S. 54. 159 weitere Deutsche nach Erserum versetzt worden. Sie hatten den Auftrag, die Befestigungen der Stadt zu modernisieren, damit sie einem eventuellen russischen Vorstoß standhalten konnten.592 Bis auf einen von ihnen, den preußischen Artilleristen Major Stange, dem ein Detachement aus zwei osmanischen InfanterieBataillonen und zwei Artillerie-Batterien zugeteilt wurde, hatten diese jedoch keinen Einfluß auf die militärischen Operationen der 3. Armee.593 Trotz der grundsätzlichen Zustimmung der Deutschen zu einem Angriff erschien ihnen der Plan zur Durchführung nach den bisherigen Erfahrungen mit der Leistungsfähigkeit der Truppe zu gewagt.594 Doch Enver Pascha – der mittlerweile zum Stab der Armee gereist war – übernahm am 19. Dezember selbst den Oberbefehl über die 3. Armee, nachdem der bisherige Oberbefehlshaber aus Angst vor einem Fehlschlagen der Offensivpläne um seine Ablösung ersucht hatte.595 Enver ersetzte zudem die bisherigen Kommandeure des IX. und X. A.K. durch ihm genehmere Generäle.596 Der deutsche Chef des türkischen Großen Generalstabes Bronsart von Schellendorff übernahm die Aufgaben als Chef des Generalstabes der 3. Armee, während Guse nunmehr der Stellvertreter Bronsarts wurde.597 Insgesamt befanden sich bei Beginn des Feldzuges etwa ein Dutzend deutscher Offiziere im Bereich der 3. Armee, von denen etwa die Hälfte in Stabsverwendungen bei der Armee und den Korps, drei in der Festung Erserum und weitere drei als Regimentskommandeure eingesetzt waren.598 Die türkischen Truppenbewegungen begannen am 22. Dezember 1914. Ohne auf größeren russischen Widerstand zu stoßen, überquerten die osmanischen Verbände die Grenze und stießen in Richtung auf Sarikamisch (Sarikamiş) etwa 20-25 Kilometer jenseits der russischen Grenze vor, das sie in der Nacht vom 25. auf den 592 Kommandant der Festung wurde der preußische Oberst/osmanische Generalmajor Posseldt, dem vier weitere Offiziere (ein Fußartillerist, ein Pionier, ein Zeug- und ein Feuerwehroffizier) zugeteilt wurden. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 26. 593 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 54f. 594 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 64. 595 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 37. 596 So machte er beispielsweise den oben erwähnten Oberst Hafiz Hakki Bey zum Kommandeur des X. Armeekorps. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 55. 597 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 38. 598 Die Angaben zur Verwendung der deutschen Offiziere sind vage und auch die genaue Zahl wird nicht genannt. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 26 u. 55. 160 26. Dezember erreichten.599 Ein Nachtangriff auf die Ortschaft wurde jedoch auf den 27. Dezember verlegt. Die Ausführung des Angriffs machten dann aber heftige Schneefälle und das Absinken der Temperaturen auf –26° C unmöglich. Die türkischen Soldaten, die bei diesen Verhältnissen zum Großteil ohne Zelte und passende Winterbekleidung biwakieren mußten, waren zu irgendeiner Offensivaktion gegen die mittlerweile verstärkten russischen Stellungen nicht mehr in der Lage. Zudem unterbrach der heftige Schneefall die Nachschublinien, weshalb die Truppe und auch das Armee-Oberkommando nur über unzureichende Verpflegung – Brot und getrocknete Oliven – verfügten. Die Zahl der Desertionen stieg sprunghaft an.600 Die Kraft der osmanischen Offensive war gebrochen, auch wenn an der Front noch kleinere Störaktionen gegen russische Truppenbewegungen ausgeführt wurden. Bereits am 27. Dezember meldete der Kommandeur des X. A.K., der nunmehr zum General und Pascha ernannte Hafiz Hakki, daß seine Kampfkraft nur noch etwa der von 2 Bataillonen entspräche, also auf etwa 7% der Nominalstärke gefallen sei.601 Um die Jahreswende wurden die Witterungsbedingungen noch schlechter und die Temperaturen in der 2000 bis 3000 Meter hoch gelegenen Gebirgsregion sanken bis auf –36° C ab.602 Die russische Gegenoffensive, die am 2. Januar 1915 begann, verwandelte die bereits gescheiterte türkische Offensive in ein Desaster. Obwohl auch die russische Seite unter den Bedingungen des Winters sehr schwere Verluste erlitten hatte, war sie zahlenmäßig überlegen und besser versorgt. Um einer drohenden Einkesselung der gesamten 3. Armee zu entgehen, befahl Enver zwei Tage später den Rückzug. Dem osmanischen IX. A.K. gelang es als Nachhut, den russischen Vormarsch eine zeitlang aufzuhalten, bevor es umzingelt und völlig aufgerieben wurde. Die Reste des Korps sowie das Hauptquartier kamen in Gefangenschaft.603 Mitte Januar 1915 verebbten die Kämpfe und an der Kaukasusfront trat weitgehend Waffenruhe ein, während sich beide Seiten von den schweren Verlusten zu erholen suchten. 599 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 58. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 40-42. 601 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 46. Auch wenn diese Angabe nur ein Schätzung darstellt und außerdem keine Aussage über den tatsächlichen Mannschaftsbestand ermöglicht, zeigt sie doch, daß sich die türkischen Führer nicht mehr in der Lage sahen, die vorgegeben Ziele zu erreichen. 602 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 53. 603 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 59. 600 161 Obwohl für keine der Parteien wirklich zuverlässige Zahlen vorliegen, werden die Verluste der russischen Armee niedriger eingeschätzt als die der türkischen. Die russischen Verluste sollen etwa 14.000 Mann (Tote, Verwundete und Kranke) betragen haben, wobei die Ausfälle der ersten gescheiterten Offensive im November hinzugezählt sind. Die Kampfstärke hatte durchschnittlich um 20-30% abgenommen und einige Einheiten waren sogar auf unter 20% der Sollstärke zusammengeschrumpft.604 Die türkische Seite hatte noch weitaus gravierendere Verluste. Die Zahlenangaben gehen recht weit auseinander. Sie reichen von 50.000 Mann bis zu 90.000 Mann Gesamtverlusten, zu denen je nach Autor noch eine Anzahl von Gefangenen gezählt werden muß. Felix Guse gibt an, daß von der 3. Armee nur 30.000 Mann auf die eigenen Linien zurückgebracht werden konnten, während Liman von Sanders davon spricht, daß von den eingesetzten 90.000 Soldaten nur 12.000 den Rückzug überstanden.605 Unabhängig von den genauen Zahlen stellte die Offensive im Raum Sarikamisch das vorläufige Ende der 3. Armee als Kampfverband dar. Das IX. A.K. war vernichtet und die Gefechtsstärke des X. A.K. bei Ende der Kämpfe betrug nur noch etwa 2.500 Gewehre und 16 Geschütze von ursprünglich 28.000 Gewehren und 56 Geschützen.606 Allerdings sollte bei den Verlustzahlen berücksichtigt werden, daß eine beachtliche Anzahl der Soldaten desertiert war und später wieder der Truppe zugeführt werden konnte.607 Die türkische Offensive im Kaukasus hatte einen weiteren wesentlichen Nebeneffekt, denn am 2. Januar 1915 schickte bekanntlich Russland ein Telegramm nach London mit der Bitte um eine Aktion der Westmächte gegen die Türkei, um die russischen Truppen zu entlasten.608 Obwohl dieses Telegramm keineswegs der alleinige Grund 604 Bei der russischen 39. I.D. betrug die Personalstärke nach den Kämpfen noch 700 Mann von ursprünglich 4.000. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 390. 605 Zu den unterschiedlichen Verlustzahlen vergleiche: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 53; Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 54; Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 389; Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 49f; Erickson, Ordered to Die 2001, S. 59f. u. 237. 606 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 57 u. 59. Für das XI. A.K. liegen keine Zahlenangaben vor, unter Berücksichtigung der Gesamtzahl der Überlebenden wird dieses aber im Vergleich zu den anderen Korps die geringsten Verluste erlitten haben. 607 Guse spricht von 12.000 Deserteuren, die wieder zum Dienst eingezogen werden konnten. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 50. Die Gesamtzahl der Deserteure kann unter Umständen noch höher gewesen sein. 608 Siehe oben, S. 144f. 162 für die späteren britisch-französischen Landungen an den Dardanellen war, so floß das Ersuchen doch mit in die Überlegungen zu einem Angriff ein.609 Im Kaukasus hingegen kam es während des Jahres 1915 nicht mehr zu einer vergleichbaren Großoffensive. Russische Verbände versuchten zwar in kleineren Vorstößen Geländegewinne zu erzielen – was ihnen in gewissem Umfange auch gelang –, doch der Vorstoß in Richtung Erserum und damit auf das Zentrum der türkischen Front blieb aus. Die Verstärkung der osmanischen Truppen konnte so vorangehen. Allerdings betrug die Kopfstärke der 3. Armee auch Ende März nur etwa 25.000 Mann, da in den Wintermonaten der Personalersatz nur langsam herangeführt werden konnte und zudem Krankheiten und Seuchen unter den entkräfteten Überlebenden des Winters wüteten.610 Zu allem Überfluß begann Mitte April ein Aufstand der armenischen Bevölkerung in der Stadt Wan, der rasch die Gegend um den Wansee ergriff. Teile der osmanischen Truppen und der Verstärkungen mußten dorthin verlegt werden, um den Aufstand niederzuschlagen.611 Russische Einheiten versuchten die verworrene Situation durch Angriffe auszunutzen, was ihnen jedoch nur bedingt gelang. Mitte Juli hatte die türkische Seite die Situation wieder unter Kontrolle. Sie schlug die Aufstandsbewegungen rücksichtslos nieder und begann mit der Ausweisung der armenischen Bevölkerung aus dem Kaukasus.612 Die zahlenmäßige Stärke der 3. Armee war im Juni auf etwas über 52.000 Mann und im Juli auf etwa 65.000 Mann angewachsen.613 Auf der Gegenseite hatten die russischen Formationen mittlerweile eine Stärke von ungefähr 188.000 Soldaten erreicht.614 Eine größere russische Offensive, die am 10. Juli 1915 in Richtung auf den Wansee zielte, scheiterte nach sechs Tagen ohne größere Geländegewinne. Die türkische Gegenoffensive konnte hingegen den noch unorganisierten Gegner zurückwerfen. Kurze Zeit später mußte aber auch die türkische Führung den Angriff abbrechen, weil die vorderen Truppenteile durch einen Flankenangriff bedroht wurden und nur mit 609 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 65. Travers, Gallipoli 2004, S. 19f. Zu Stärkeangaben siehe: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 64. Zum Krankenstand siehe: Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 58f. 611 Zur Armenierproblematik siehe Exkurs: Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher Soldaten. 612 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 63. 613 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 106. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 68. 614 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 393. 610 163 knapper Not entkommen konnten.615 Die Operationen waren für beide Seiten kostspielig, ohne einen entscheidenden Vorteil zu bringen. Die Verluste auf türkischer Seite waren aber weiterhin schwerer zu ersetzen. Gegen Ende des Jahres 1915 waren auch die deutschen Offiziere nach und nach von der Kaukasusfront abgezogen worden. Einige Generalstabsoffiziere waren bereits gemeinsam mit Enver Pascha im Januar nach Konstantinopel abgereist. Die Offiziere in Erserum folgten im Oktober und Oberstleutnant Stange mußte schwer erkrankt im gleichen Monat die 3. Armee verlassen. Als letzter Deutscher reiste schließlich Oberstleutnant Guse ab, der an Typhus litt und zur Genesung nach Deutschland geschickt wurde.616 Als im Januar 1916 eine russische Winteroffensive gegen Erserum gestartet wurde, war daher kein deutscher Offizier mehr bei der KaukasusArmee.617 Allein die russischen Angriffsverbände verfügten über 75.000 Soldaten, was in etwa der Gesamtstärke der 3. osmanischen Armee entsprach. Diese mußte damit allerdings eine 300 Kilometer breite Front decken.618 Die russische Offensive durchschlug die türkischen Linien und erreichte nach gut einem Monat Erserum, das am 16. Februar fiel.619 Die 3. Armee wurde im Verlauf der Kämpfe erneut stark geschwächt, sie verlor knapp die Hälfte ihrer Soldaten.620 Da jedoch auch die russischen Einheiten gut 17.000 Mann verloren und das Ziel erreicht war, kam die Offensive zum Stillstand.621 Unterdessen hatte Konstantinopel den Generalstabschef der 3. Armee, Felix Guse, aus seinem Genesungsurlaub zurückbeordert, der nach fast dreiwöchiger Reise am 23. Februar wieder im Armee-Hauptquartier eintraf.622 Damit war Deutschland zumindest wieder mit einem Offizier an der Kaukasusfront vertreten, ein Umstand, dem einige Bedeutung beigemessen wurde. Erickson 615 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 107f. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 73f. 617 Der Beginn der Offensive wird bei drei Autoren unterschiedlich terminiert. Erickson nennt den 10. Januar, Larcher den 11. Januar und Guse schließlich den 12. Januar als Beginn der Offensive. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 121. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 399. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 75. 618 Zu den unterschiedlichen Stärkeverhältnissen: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 121. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 75. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 54. 619 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 54. 620 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 238 beziffert die Verluste (inklusive der Gefangenen aber ohne Deserteure) auf etwa 25.000 Mann. 621 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 403. 622 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 77. 616 164 bezeichnet das Fehlen eines deutschen Generalstabsoffiziers sogar als wichtigen Faktor für die türkische Niederlage.623 Aber die Anwesenheit Guses konnte weitere Rückschläge nicht verhindern. Am 2. März 1916 fiel die Stadt Bitlis, westlich des Wansees, und zwei Tage später landeten russische Truppen vom Schwarzen Meer her in der Hafenstadt Rize, von wo sie in Richtung auf Trapezunt (Trabzon) vorstießen.624 Obwohl der Vorstoß kurzfristig aufgehalten werden konnte, fiel der wichtige türkische Hafen in den Tagen vom 16. bis zum 18. April.625 Aufgrund der anhaltenden Offensiven der russischen Armee im Kaukasus hatte die türkische Führung im März beschlossen, ihre 2. Armee aus dem europäischen Teil des Reiches heranzuführen. Sie sollte von Süden über Diarbekr (Diyarbakir) angreifen, während die 3. Armee im Norden vorrücken sollte.626 Die Ereignisse überholten jedoch die Planung. Nach dem Fall von Trapezunt hatte die 3. Armee vergeblich versucht, in begrenzten Aktionen Teile der russischen Spitzen an der Küste abzuschneiden. Als der Gegner am 2. Juli 1916 seine Offensive in Richtung auf Ersingjan (Erzincan) startete, besaß die 3. Armee nicht die Kraft, die Front zu halten. Die Stadt, mehr als 150 Kilometer westlich von Erserum gelegen, fiel am 25. Juli und nur, weil Russland seine Offensive am 28. Juli beendete, gelang es der 3. Armee, wieder ein Verteidigungslinie zu errichten. Bis dahin hatte die 3. Armee erneut 17.000 Mann verloren und weitere 17.000 waren in Gefangenschaft gegangen.627 Am 2. August begann die 2. osmanische Armee mit dem Angriff auf den Südflügel der russischen Kaukasus-Armee. Die Armee hatte lange Zeit gebraucht, um bei unzureichenden Transportverbindungen aufzumarschieren, und zudem kam nach den fortgesetzten Rückschlägen der 3. Armee, die mittlerweile auf eine Stärke von 27.000 Mann geschrumpft war, die geplante gemeinsame Offensive der Armeen nicht mehr in Betracht.628 Für den Angriff konnte die 2. Armee über 100.000 Mann verfügen. Der lange Marsch hatte die Formationen jedoch bereits geschwächt. Zusätzlich verlief der Angriff durch 623 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 122. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 54. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 128. 625 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 406. 626 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 82f. 627 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 131. 628 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 67. 624 165 sehr schwieriges Gelände, das die ohnehin angespannte Versorgungslage zusätzlich verschlechterte. Zudem gelang es den russischen Korps, bis zum 18. August genug Verstärkung heranzuführen, um den Vormarsch der osmanischen Verbände zu verlangsamen und Anfang September schließlich ganz zum Stehen zu bringen. Mit Einsetzen des ersten Schneefalls am 26. September 1916 gab die 2. Armee endgültig die Offensive auf. Bis dahin hatte sie kaum nennenswerte Gebietsgewinne machen und halten können, hatte jedoch mehr als 30.000 Tote und Verwundete zu beklagen, und war außerdem durch Krankheit und Desertion auf eine Stärke von etwa 50.000 Mann zusammengeschmolzen.629 Die türkische Front im Kaukasus drohte zusammenzubrechen. Allein im Gebiet der 3. Armee trieben sich schätzungsweise 50.000 Deserteure herum, deutlich mehr Soldaten, als der Armee noch verbliebenen waren.630 Da Verstärkungstruppen nur noch an die Front „tröpfelten“, war man darauf angewiesen, diese Deserteure wieder einzureihen. Allein im August 1916 wurden 13.000 Deserteure „eingefangen“ und weitere durch Amnestie, die offenbar regelmäßig gewährt wurde, zur Rückkehr bewogen.631 Ab Oktober 1916 kehrte an der Kaukasusfront erneut für lange Zeit Ruhe ein. Die russische Armee hatte ihre Versorgungslinien stark ausgedehnt und mußte sich in den besetzten Gebieten nun auch auf die mangelhafte türkische Infrastruktur stützen.632 Zudem schätzten sie die Stärke der türkischen Armeen auf etwa 344.000 Mann, darunter 110.000 Gewehrträger, 294 Maschinengewehre und 346 Geschütze.633 Ein Umstand, der in Anbetracht der tatsächlichen Lage mehr als glücklich für die osmanische Seite war. Der Winter 1916/17 brachte durch extreme Temperaturabfälle erneut hohe Verluste für beide Seiten. Die Stärke der 2. Armee sank auf 20.000 Mann und die 3. Armee konnte nur mit knapper Not größere Ausfälle verhindern.634 Für die 629 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 133. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 88. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 135. 631 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 95. 632 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 91. 633 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 411. 634 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 92f. 630 166 russische Armee bedeutete der Winter den Verlust von knapp 100.000 Mann durch die Witterung und Krankheiten.635 Für ungefähr 1 ¼ Jahre waren dies aber die letzten größeren Verluste an dieser Front. Die zunehmend angespannte innenpolitische Situation in Russland sorgte dafür, daß von dieser Seite keine Offensiven mehr auf osmanisches Gebiet gestartet wurden. Auf der anderen Seite nutzten die 2. und 3. Armee die Zeit, um die gewaltigen Lücken wenigstens annähernd zu füllen.636 Als Mitte Dezember 1917 der Waffenstillstand von Brest-Litowsk in Kraft trat, verfügte die neugeschaffene türkische Heeresgruppe „Kaukasus“, eine Zusammenlegung der beiden Armeen unter einheitlichem Kommando, dennoch nur über etwa 20.000 Gewehre. Auch die deutsche Beteiligung, die im Laufe der Operationen des Jahres 1916 wieder verstärkt worden war, wurde nun bis zur Mitte des Jahres 1917 auf ein Minimum reduziert. Bei der 3. Armee verblieben nur Guse und ein Ordonnanzoffizier, während zunächst noch der bayerische Major Ludwig Schraudenbach und der preußische Major Hans Guhr als Divisionskommandeure bei der 2. Armee eingesetzt waren.637 Die Divisionen unter dem Befehl der Deutschen wurden aber dann nach Mesopotamien und Palästina verlegt, weshalb an der Kaukasusfront kein türkischer Verband mehr einen deutschen Kommandeur besaß.638 Mit der Auflösung des Stabes der Heeresgruppe im Dezember 1917 wurde auch Guse aus dem Kaukasus abgezogen und für kurze Zeit war kein Deutscher mehr an dieser Front eingesetzt.639 Der Zusammenbruch der russischen Kräfte unter dem Einfluß der Revolutionen im eigenen Land führte keineswegs zu einem Ende der Kämpfe im Kaukasus. Vielmehr begann nun der für das deutsch-türkische Bündnis kritischste Abschnitt des Weltkrieges. Schon zu Anfang der Friedensverhandlungen mit Russland hatte die 635 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 410. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 58. 637 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 102. 638 Im Dezember 1916 wurde Schraudenbach nach nur knapp einem Monat bei seiner Divsion im Kaukasus so krank, daß er erst wieder im April 1917 in Mesopotamien die Einheit übernehmen konnte. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 114f. Die Divsion des osmanischen Oberstleutnants Guhr wurde Ende September 1917 aus der 2. Armee herausgelöst und nach Palästina verlegt. Zu diesem Zeitpunkt kam Guhr gerade von einem vierwöchigen Heimaturlaub zurück und hatte sich seit Juli 1917 nicht mehr im Kaukasus befunden. Guhr, Hans: Als türkischer Divisionskommandeur in Kleinasien und Palästina – Erlebnisse eines deutschen Stabsoffiziers während des Weltkrieges, Berlin 1937, S. 138 u. 157-159. (Im Folgenden: Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937.) 639 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 102. 636 167 Hohe Pforte auch gegenüber Deutschland keinen Zweifel daran gelassen, daß sie erwartete, in den Friedensverhandlungen angemessene Gebiete im Kaukasus zugesprochen zu bekommen. Dabei ging es der Türkei nicht nur um die Wiederherstellung der Grenzen von 1914, sondern auch um die Rückgewinnung der Gebiete, die nach dem Kriege von 1877/78 an Russland abgetreten worden waren.640 Die Verhandlungen gingen nach dem Empfinden Enver Paschas jedoch zu langsam voran, denn es war deutlich, daß die russischen Korps im Kaukasus zerfielen und kein größerer militärischer Widerstand mehr zu erwarten war. Die zurückströmenden Russen und neuformierte „armenische Banden“ durchstreiften das Gebiet, wobei es offenbar zu brutalen Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung kam.641 Die Hohe Pforte appellierte daraufhin an Russland, dem Morden an der mohammedanischen Bevölkerung ein Ende zu bereiten. Allerdings hatte die russische Führung kaum nennenswerte Möglichkeiten, im Kaukasus einzugreifen, 642 Volksgruppen der Region als „Transkaukasische Föderation“ zumal sich die zusammenschlossen, um den absehbaren Ansprüchen der umliegenden Großmächte zu trotzen. Damit lieferten die Ausschreitungen im Kaukasus dem Osmanischen Reich den Grund, den Vormarsch gegen die im Waffenstillstand festgelegten Linien zu beginnen.643 Für die türkische 3. Armee wurde die Quote an Personal- und Materialersatz angehoben, so daß die Armee im Januar 1918 über etwa 46.000 Gewehre verfügte.644 Mit diesen Truppen begann am 12. Februar 1918 der osmanische Vormarsch, der kaum auf nennenswerten Widerstand traf.645 Bis Ende März hatte die 3. Armee die Grenzen von 1914 wiederhergestellt und das mit voller Rückendeckung Deutschlands.646 Unter dem Eindruck des Vormarsches hatte sich Russland am 3. März schließlich zur Abtretung der 1877/78 gewonnen Gebiete bereit erklärt, obwohl diese mittlerweile 640 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 168. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 329f. 642 Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Gebiete der heutigen Staaten Georgien, Armenien und Aserbeidschan (damals als „türkisch Aserbeidschan“ oder „Tartarei“ bezeichnet). Siehe hierzu die Karte bei: Baumgart, Winfried: Das „Kaspi-Unternehmen“ – Größenwahn Ludendorffs oder Routineplanung des deutschen Generalstabs?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge Bd. 18, Wiesbaden 1970, S. 55. (Im Folgenden: Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970.) Zu den zeitgenössischen Bezeichnungen: Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 332. 643 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 194. 644 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 242. 645 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 183. 646 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 194. 641 168 Teil des jungen „Transkaukasiens“ waren.647 Für Enver Pascha war die Eroberung der kaukasischen Gebiete zugleich eine Grundbedingung, um die von ihm favorisierte Idee eines „Panturanismus“ zu verwirklichen.648 Außerdem war die Lage an den Fronten in Palästina und Mesopotamien so kritisch, daß eine Rückeroberung der bereits an Großbritannien verlorenen Gebiete kaum zu erwarten stand. Im Kaukasus hingegen ließen sich leicht größere Eroberungen machen.649 Verhandlungen mit der Transkaukasischen Föderation wurden daher schon bald als „aussichtslos“ abgebrochen und nach einer Kriegserklärung durch das Parlament der Föderation überschritten noch Ende März 1918 Einheiten der 3. Armee die Grenze von 1914, um die zugesicherten Gebiete auch ohne Verhandlungen in Besitz zu nehmen.650 Diesmal stießen die osmanischen Truppen allerdings auf entschlossenere Verteidiger und am 11. Mai wurden in Batum neue Friedensverhandlungen aufgenommen.651 Während der Gespräche rückte die 3. Armee jedoch weiter vor und näherte sich Eriwan. Nun zeigte sich die Uneinigkeit unter den transkaukasischen Völkern, denn die verbliebenen Armenier waren ententefreundlich, während die mohammedanischen und tartarischen Einwohner Aserbeidschans dem Osmanischen Reich zuneigten. Georgien hingegen hoffte auf deutsche Unterstützung, als es am 27. Mai seine Unabhängigkeit erklärte. Damit zerfiel das föderative Gebilde, bevor die Friedensverhandlungen zu irgendwelchen Ergebnissen führen konnten.652 Bereits zwei Tage zuvor hatte General von Seeckt, seit dem 3. Januar Nachfolger des bisherigen stellvertretenden Chefs des türkischen Generalstabes Bronsart von Schellendorff, in deutlichen Worten angemahnt, daß die im Kaukasus verwendeten Truppen besser an die bedrängten Fronten in Palästina und Mesopotamien verlegt werden sollten.653 Damit verlieh Seeckt jedoch hauptsächlich der deutschen Sorge um weitere Expansion der Hohen Pforte im Kaukasus Ausdruck. Die Oberste 647 Die politischen und diplomatischen Ereignisse im Kaukasus sind nicht Gegenstand dieser Arbeit und werden im Folgenden daher nur angerissen. Zur Einführung sei verwiesen auf Baumgart, KaspiUnternehmen 1970, S. 53-73. 648 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 333. 649 Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 71f. 650 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 195. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 176. 651 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 186. 652 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 60. 653 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 182. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 179. 169 Heeresleitung und namentlich der Erste Generalquartiermeister Ludendorff wollten in keinem Falle die reichen Rohstoffvorkommen unter türkischer Kontrolle sehen.654 Außerdem hatte die deutsche Führung ihre Pläne von einer Landbrücke nach Indien immer noch nicht aufgeben und zu guter Letzt waren auch der Ansehensverlust für Deutschland durch eine muslimische Herrschaft im christlich geprägten Georgien oder weitere Massaker an der armenischen Bevölkerung mehr als unerwünscht.655 Sämtliche Versuche der OHL auf den türkischen Bundesgenossen einzuwirken, verliefen jedoch erfolglos. Weder die entsandten Vermittler für die Verhandlungen mit der Föderation und später mit Georgien, noch zunehmend schärfere Schreiben General Ludendorffs an Enver Pascha zeigten die erhoffte Wirkung. In Verbindung mit der Bildung eines deutschen Protektorates in Georgien war die deutsche Intervention eher dazu angetan, beim osmanischen Verbündeten Verärgerung hervorzurufen. Nachdem Deutschland zuvor einen türkischen Vorstoß unterstützt hatte, wollte es nun Gebietsgewinne für die Hohe Pforte verhindern, die bereits weite Teile ihrer arabischen Gebiete verloren hatte. Enver Pascha war der Meinung, daß Deutschland versuche, dem Osmanischen Reich seinen Anspruch vorzuenthalten, und drohte im Juni 1918 gar mit seinem Rücktritt, was mit großer Wahrscheinlichkeit das Ende des deutsch-türkischen Bündnisses bedeutet hätte. In der Folge mäßigte die deutsche Seite ihren Ton gegenüber der Pforte.656 Allerdings war im Verlaufe der Auseinandersetzung deutlich geworden, daß die deutschen Interessen nur mit Hilfe einer ausreichenden Truppenpräsenz gewahrt werden konnten.657 Bereits im Mai waren aus deutschen Kriegsgefangenen, die im Kaukasus interniert gewesen waren, Bahnhofswachen gebildet worden, um Zerstörungen oder Besetzungen der Strecken durch Banden oder türkische Truppen vorbeugen zu können. Insgesamt wurden hierfür etwa 1.000 Soldaten herangezogen, die jedoch nur dürftig ausgerüstet waren. Im Juni verlegte man daher das bayerische Reserve-Jäger-Bataillon 1 (ca. 1.200 Mann) und das preußische Sturmbataillon 10 (ca. 500 Mann) von der Krim nach Georgien.658 Sie sollten zunächst die georgischen Gebiete von marodierenden 654 Vor allem ging es hierbei um Manganerze und Öl-Vorkommen. Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 73f. 656 Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 182-184. 657 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 197f. 658 Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 81f. 655 170 Tartaren-Banden säubern und dann die georgischen Grenzen schützen. Schon bald erkannten die deutschen Formationen, daß die irregulären Tartareneinheiten von türkischen Offizieren geführt wurden, obwohl die türkische Seite jede Beteiligung abstritt.659 Am 13. Juni 1918 kam es zu ersten größeren Kampfhandlungen zwischen den bayerischen Jägern und irregulären Verbänden. Dabei wurde ein türkischer Offizier gefangengenommen, der offenbar als „Militärberater“ für die Tartaren fungierte.660 Von diesem Zeitpunkt an zeichnete sich zunehmend ein deutschtürkischer Konflikt ab. Immer wieder kam es im Laufe des Monats zu Zusammenstößen, bei denen allerdings nicht nur deutsche Soldaten von osmanischen Truppen festgesetzt wurden, wie es etwa Carl Mühlmann behauptet.661 Vielmehr nahmen auch die deutschen Einheiten türkische Soldaten gefangen, die sich aus der Sicht Berlins vertragswidrig in Georgien aufhielten.662 Ebenso kam es zu einigen Schußwechseln zwischen den beiden deutschen Bataillonen und regulären türkischen Verbänden, bei denen aber offenbar keine Verluste zu beklagen waren.663 Dennoch war das gegenseitige Verhältnis angespannt. Mitte Juli gelang es, auf dem Verhandlungswege eine Annäherung zu erzielen, 664 Auseinanderbrechen des Bündnisses verhinderte. die ein drohendes Kurz zuvor hatte Enver Pascha seine Truppen im Kaukasus neu formiert, um ebenfalls das Konfliktpotential zu verringern. Bereits am 7. Juni hatte der osmanische Vizegeneralissimus eine „Heeresgruppe Ost“ gebildet, indem er aus Teilen der 3. Armee die 9. Armee schuf. Beide Verbände wurden mit Nachschub auf eine Stärke von etwa 60.000 Mann gebracht.665 Am 29. Juni ersetzte er aber den bisherigen Oberkommandierenden, den er für die Spannungen mit Deutschland verantwortlich machte, durch Halil Pascha, den bisherigen Befehlshaber der 6. Armee in Mesopotamien.666 Die Tatsache, daß 659 Muggenthaler, Hans/ Pflügel, Hugo Ritter von/ Scheuring, Martin: Das K.B. Reserve-JägerBataillon Nr. 1 (K.B. Jäger-Regiment Nr. 15), München 1935, S. 436. (Im Folgenden: Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935.) 660 Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935, S. 440-444. 661 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 203. 662 Das bayerische Jäger-Bataillon nahm so beispielsweise eine türkische Versorgungskolonne mit einem Offiziere und 30 Mann gefangen und entließ sie kurz darauf wieder zu ihrer Einheit. Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935, S. 449. 663 Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935, S. 456. u. 458. Rabenau, Seeckt 1940, S. 37ff. 664 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 204f. 665 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 242. 666 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 187. 171 Halil in dem bayerischen Major/osmanischen Oberstleutnant Paraquin einen deutschen Generalstabschef hatte, dürfte die Überlegung beeinflußt haben.667 Die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung in Georgien war nunmehr gebannt, aber es tat sich sofort eine weitere Gefahrenquelle auf: Die Stadt Baku. Die Stadt am Kaspischen Meer, die noch viele Jahrzehnte später Synonym für die Erdölförderung im Kaukasus war, besaß auch 1918 eine hohe Anziehungskraft für die kriegführenden Parteien. Eine gewisse Einigkeit bestand darin, daß man die Kontrolle über Baku weder den Sowjets noch irregulären Kräften eines kaukasischen Volksstammes überlassen wollte. Für einen Angriff auf Baku besaß allerdings nur die osmanische Seite die notwendigen Truppen vor Ort. Sie hatten bereits Anfang August versucht, die Stadt zu erobern, waren aber gescheitert und verharrten nun zögerlich vor den Stadtgrenzen.668 Die deutsche Seite verfügte über etwas mehr als 5.250 Mann in Georgien. Nun sollten noch die 7. bayerische Kavalleriebrigade und die 18. Landwehrbrigade aus Russland herangeführt werden, was eine Verstärkung um ungefähr 13.000 Mann bedeutet hätte.669 Die Lage in Baku wurde allerdings am 20./21. August dadurch verschärft, daß britische Expeditionstruppen in der Stadt landeten, um dort zusammen mit den verbliebenen Armeniern und Russen den Widerstand zu organisieren.670 Deutschland drängte daher auf die beschleunigte Verlegung der beiden Brigaden, um einen eigenen Angriff auf Baku zu starten. Weiter erhielt Oberstleutnant Paraquin am 1. September Anweisung, einen erneuten türkischen Angriff auf Baku möglichst hinauszuzögern. Türkische Stellen hielten den Kurier jedoch mehrere Tage auf, so daß die Nachricht Paraquin erst am 16. September erreichte, einen Tag nach der Einnahme Bakus durch die osmanischen Truppen.671 Nach dem Fall der Stadt kam es zu Massakern an der – überwiegend armenischen – Zivilbevölkerung, aber auch an Angehörigen europäischer Staaten. Oberstleutnant Paraquin macht als Augenzeuge hauptsächlich „tartarische Horden“ für die Untaten verantwortlich, doch er fährt fort: 667 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 204. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 207. 669 Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 102f. 670 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 423. 671 Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 106f. 668 172 „Trotzdem damals schon allgemein die Überzeugung herrschte, dass in der Stadt jede Zucht und Ordnung aufgehört und die christliche Bevölkerung geplündert, vergewaltigt und gemordet w[e]rde, wurde die Fahrt auf das Kampffeld fortgesetzt, wo eine stundenlange Parade von 6 Inf.-Regimentern und den übrigen Waffen stattfand. [...] Die neutralen Konsuln, an ihrer Spitze der dänische, erschienen und beschwerten sich in bitteren Worten über die Untätigkeit der Türken, der es allein zu verdanken sei, dass Gemetzel und Plünderung andauerten.“672 In demselben Schreiben berichtet Paraquin auch davon, daß deutsche Staatsbürger in der Stadt erschossen oder verschleppt würden. Der Generalstabsoffizier interveniert daher persönlich und in scharfer Form beim türkischen Befehlshaber vor Ort. Am 17.9. wird Paraquin seines Postens enthoben und nach Konstantinopel geschickt.673 Der Ärger der deutschen Führung über die Ereignisse im Kaukasus währte allerdings nur kurz, denn schon am 29. September mußte Bulgarien ein Waffenstillstandsabkommen mit der Entente unterzeichnen. Die Ereignisse entwickelten sich nun rasant zum Negativen für die Mittelmächte und am 24. Oktober wurde befohlen, daß die deutschen Truppen beschleunigt in die Heimat zurückzukehren hätten.674 Die türkischen Einheiten hingegen setzten ihren Vormarsch noch bis zum 8. November, also mehr als eine Woche nach dem offiziellen Waffenstillstand von Mudros, erfolgreich fort. Dann ruhten auch an dieser Front endgültig die Waffen. c) Der Krieg in Syrien, Palästina und Mesopotamien675 Neben den Dardanellen war Palästina, welches formal Teil der osmanischen Provinz Syrien war, einer der bekanntesten Kriegsschauplätze des Osmanischen Reiches. Dies liegt zum einen daran, daß viele berühmte Orte und Städte wie Jerusalem, Bethlehem 672 Schreiben Paraquins an Seeckt „Vorgänge in Baku nach der Einnahme am 16.und 17.9.1918“, vom 23.9.1918. KA München MKr. 1782/2. 673 Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 107. 674 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 61. 675 Siehe Karte 5 zu Mesopotamien und Karte 6 zu Syrien sowie Palästina. 173 oder Damaskus, die zum Teil von großer religiöser Bedeutung für Christentum, Islam und Judentum waren, an dieser Front lagen und Beachtung fanden. Zum anderen war die Zahl der hier eingesetzten Deutschen höher als beispielsweise im Kaukasus oder in Mesopotamien, so daß die Berichte und Memoiren häufig den Einsatz in den levantinischen Provinzen thematisieren. Dennoch werden in diesem Kapitel sowohl die Kämpfe vom Amanus Gebirge bis zum Suez Kanal wie auch die Kämpfe vom Taurus bis zum Persischen Golf behandelt, denn die Ereignisse in Mesopotamien hatten unmittelbare Rückwirkungen auf die Kämpfe in Palästina und umgekehrt. Auch von den Umweltbedingungen ähnelten sich Mesopotamien und Syrien mit ihrem wüstenartigen Klima, geprägt von trockenen und sehr heißen Sommern, ausgedehnten Regenperioden und relativ milden Wintern. Allerdings waren die Gebiete der „Irak-Front“ infrastrukturell noch weniger entwickelt als die Gebiete zwischen Aleppo und Gaza. Während dort nämlich verschiedene Bahnlinien – mit Unterbrechungen – zumindest die großen Städte und Handelsplätze miteinander verbanden und Schmalspurbahnen sogar bis El Arisch gebaut wurden, verfügte Baghdad, die zentrale Stadt Mesopotamiens, 1914 noch nicht über eine Bahnanbindung. Von Baghdad aus führte zwar ein Gleisabschnitt nach Samarra im Norden, die Strecke aus Richtung Konstantinopel endete jedoch bei Tell Ebiad. Damit mußten Güter und Truppen über einen Marschweg von 600 Kilometern transportiert werden, bis sie in Samarra wieder auf die Bahn verladen werden konnten. Obwohl während des Krieges an der Baghdadbahn weitergebaut wurde, kamen lediglich etwa 220 Kilometer hinzu; Mosul wurde vor Kriegsende nicht mehr erreicht.676 Mesopotamien war daher in hohem Maße abhängig von den Wasserwegen des Euphrat und Tigris, die zugleich für die Bewässerung der wenigen Anbaugebiete genutzt wurden. Außerhalb der bewässerten Zonen beherrschten ausgedehnte Wüstenflächen das Land. Regelmäßige Überschwemmungen der flußnahen Gebiete erschwerten den Ackerbau und im Sommer sorgte das verdunstende Wasser für ein feucht-heißes Klima. Bei den 676 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 31f. 174 allgemein geringen hygienischen Standards im Osmanischen Reich wirkte Mesopotamien daher wie eine „Brutstätte“ für Krankheiten aller Art.677 Die schlechte Infrastruktur und der – für das Osmanische Reich – verhältnismäßig geringe „strategische Wert“ des Zweistromlandes hatte auch dazu geführt, daß der türkische Generalstab einen Großteil der Truppen von dort schon vor Kriegsausbruch abzog und an Fronten verlegte, an denen man offensiv vorgehen wollte. Das XII. Korps wurde nach Syrien und das XIII. Korps in Richtung Kaukasus in Marsch gesetzt. Zurück blieb lediglich der Stab der ehemaligen 6. Armee, der zu einem „Regionalkommando ‚Irak’“ umgewandelt wurde. Diesem Kommando unterstanden die neuaufgestellte 38. I.D., ein Infanterie-Regiment sowie einige Grenzschutz- und Jandarma-Bataillone. Die effektive Gesamtstärke der Truppen betrug allerdings nur wenig mehr als 6.500 Mann, die über gerade einmal drei Maschinengewehre und 33 veraltete Geschütze unterschiedlichen Typs verfügten. Im übrigen bestand die 38. Infanterie-Division hauptsächlich aus arabischen „Ausgehobenen“, deren Ausbildung gering und Loyalität gegenüber dem Sultan nicht gesichert war.678 Im Oktober 1914 nahmen die Spannungen zwischen der Hohen Pforte und der Entente nicht zuletzt durch die Aktivitäten im Schwarzen Meer deutlich zu. Insbesondere die britische Seite hatte in der absehbaren Krise Interessen am Persischen Golf, während das deutsche und türkische Augenmerk sich eher auf andere Fronten richtete. Am Schatt-el-Arab bei Abadan befanden sich eine britisch geführte Ölraffinerie und einige Ölquellen. Diese lagen nominell zwar nicht auf türkischem Gebiet, aber doch so nah an der Grenze, daß die englische Führung die Einnahme durch osmanische Truppen befürchtete.679 Daher wurde in Indien ein Expeditionskorps unter Brigadier Delamain zusammengestellt, das die Raffinerie schützen und zugleich eine „Demonstration der Stärke“ am Schatt-el-Arab sein sollte. Obwohl diese „Force ‚D’“ etwa 5.000 Mann stark war, bestand sie doch zum überwiegenden Teil (ca. 4.000 Mann) aus indischen Truppen, die für den Gebirgskrieg oder für den „Heimatschutz“ des indischen Vizekönigreichs ausgebildet 677 Moberly, F. J.: The Campaign in Mesopotamia 1914-1918, Volume I, London 1923, S. 3-8. (Im Folgenden: Moberly, Mesopotamia Volume I.) 678 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 66. 679 Barker, A.J.: The Neglected War – Mesopotamia 1914-1918, London 1967, S. 37f. (Im Folgenden: Barker, Neglected War 1967.) 175 und ausgerüstet waren.680 Diese Kräfte verließen bereits am 16. Oktober Indien in Richtung Mesopotamien, also gut zwei Wochen vor dem Kriegseintritt der Türkei.681 Für den Fall, daß eine „Demonstration“ nicht ausreichen sollte und das britische Oberkommando eine größere Operation in Mesopotamien beginnen müßte, wurden ebenfalls in Indien Verstärkungseinheiten zusammengestellt, die – unter dem Kommando von Lieutenant General Barret stehend – etwa 10.000 Mann umfaßten.682 Diese Truppen waren jedoch noch auf dem Wege zum Persischen Golf, als die „Force ‚D’“ am 31. Oktober von der Beschießung der russischen Schwarzmeer-Häfen durch die türkische Flotte erfuhr. Daraufhin wurden Vorbereitungen getroffen, zunächst die Ölverarbeitungsanlagen zu besetzen und dann die türkischen Kräfte im Bereich des Schatt-el-Arab auszuschalten, die die Anlagen bedrohten. Nachdem am 5. November die offiziellen Kriegserklärungen Frankreichs und Großbritanniens erfolgt war, landeten bereits einen Tag später die indisch-britischen Verbände auf osmanischem Gebiet.683 Die Landungstruppen wurden dabei von drei verhältnismäßig kleinen Kriegsschiffen, die für das Befahren der Flußmündung geeignet waren, unterstützt. Dennoch war die Bewaffnung der Schiffe allem, was die türkische Seite aufbieten konnte, überlegen. Auch konnten die befestigten Positionen in Ufernähe dem Beschuß der Schiffsgeschütze nicht standhalten.684 Die unerfahrenen osmanischen Truppen scheiterten schnell in ihren Bemühungen, die Landungen zu verhindern, und mußten sich nach kurzen, aber heftigen Gefechten in Richtung Basra zurückziehen, wo sie sich zur Verteidigung einrichteten. Unterdessen warteten die britischen Verbände auf die Verstärkungen unter General Barret, die innerhalb der nächsten Woche folgten und Mitte November für einen Vorstoß auf die irakische Hafenstadt bereit waren. Die türkischen Verteidigungsstellungen vor Basra wurden am 14. November durchbrochen und die Stadt selber fiel etwa eine Woche später.685 Nach diesem Sieg setzten die britischen Einheiten den geschlagenen Türken nach, die bei 680 Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 346. Carver, Turkish Front 2004, S. 10f. Barker, Neglected War 1967, S. 40. 682 Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 347. 683 Barker, Neglected War 1967, S. 41f. 684 Carver, Turkish Front 2004, S. 11. 685 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 67. Erickson datiert den Fall von Basra auf den 20. November, während Carver den 21. (Carver, Turkish Front 2004, S. 12.) und Larcher den 22. November (Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 323.) angeben. 681 176 Qurna686 – etwa 75 Kilometer nordwestlich von Basra – eine neue Verteidigungslinie errichteten. Anfang Dezember entbrannten die Kämpfe auch an dieser Linie und am 9. Dezember fiel Qurna in britische Hände.687 Die Reste der 38. osmanischen I.D. zogen sich weitere gut 100 Kilometer den Tigris entlang nach Amara zurück.688 Die Verluste der Verteidiger in den Kämpfen um Basra und Qurna beliefen sich auf etwa 750 Tote und Verwundete. Jedoch waren mehr als 2.200 Mann in Gefangenschaft gegangen.689 Damit hatte der türkische Befehlshaber in Mesopotamien fast die Hälfte seiner Truppen eingebüßt. Die indisch-britischen Verluste betrugen etwa 670 Tote und Verwundete bei den Bodentruppen sowie 12 Mann bei den Marineinheiten.690 Nach diesen Kämpfen kehrte zunächst Ruhe in Mesopotamien ein, denn die britischen Kräfte waren – zu ihrer eigenen Überraschung – sehr weit in feindliches Gebiet vorgedrungen und mußten nun ihre rückwärtigen Verbindungen sichern und ausbauen, um Verstärkungen und Nachschub heranzuführen, der für einen weiteren Vormarsch in Richtung Baghdad benötigt wurde.691 Türkischerseits wurde durch Enver ein neuer Befehlshaber – Oberstleutnant Süleyman Askeri Bey – für die Mesopotamienfront eingesetzt und die zuvor nach Syrien abgezogene 35. I.D. zurück nach Baghdad beordert.692 Nach deren Eintreffen sollte ein Gegenangriff auf Basra stattfinden. Doch zunächst plante Djemal Pascha in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der Front in Syrien und Palästina einen Vortoß gegen den Suez-Kanal, der realiter die Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem britisch kontrollierten Ägypten darstellte. Ein solcher Angriff auf die wichtige Wasserstraße war wiederholt von deutscher Seite gefordert worden. Enver Pascha unterstützte die Pläne zwar in der vagen Hoffnung, Ägypten und Tripolitanien wiederzugewinnen, doch spielte dieser Kriegsschauplatz für die Jungtürken nach der Verteidigung der Dardanellen und der 686 In zeitgenössischen Kartenwerken auch „Korna“ geschrieben. Karten zum Weltkriege: Der Orient, Bielefeld/Leipzig, o. J. [1915], Namensverzeichnis zu den Karten „Der Orient“, S. 32. 687 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 325f. 688 Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 154. 689 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 237. 690 Carver, Turkish Front 2004, S. 12f. 691 Die Tatsache, daß die türkische Truppenzahl häufig von britischer Seite überschätzt wurde, dürfte nicht unwesentlich zur Vorsicht beigetragen haben. Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 124. 692 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 68. 177 Hauptstadt sowie der Expansion im Kaukasus eine untergeordnete Rolle.693 Zudem reichten die Mittel der osmanischen Streitkräfte kaum aus, um zunächst den Kanal und dann ganz Ägypten zu erobern. Alle britischen Truppen hielten sich hinter dieser Linie auf, denn die Sinai-Wüste trennte die letzten bewohnten und verkehrsmäßig zumindest minimal erschlossenen Gebiete in Palästina von der „Lebensader des Britischen Empires“. Der osmanische Verband hatte demnach eine Strecke von 450 Kilometern durch die Wüste zurückzulegen, bis er den Kanal erreichte. Der Transport von Munition, Geschützen und sämtlicher Ausrüstung mußte durch Kamelkolonnen erfolgen. Außerdem war die Wasserversorgung des Agriffsverbandes nicht gesichert, da die wenigen Brunnen sehr weit auseinander lagen und zu wenig Wasser lieferten.694 Für die Entente erschien die Durchführung eines solchen Unterfangens sehr unwahrscheinlich. Man rechnete eher damit, daß eine osmanische Streitmacht die Karawanenstraßen an der Küste nutzen würde, die von den überlegenen Seestreitkräften Englands und Frankreichs unter Feuer genommen werden konnten. Der türkische Generalstab und auch die deutschen Berater hatten jedoch ein gesteigertes Interesse daran, England durch ein Abschneiden des Handelsweges bei Suez zu schwächen, da so gleichzeitig die Fronten in Europa und auch in Mesopotamien entlastet werden konnten. Offenbar befürwortete vor allem die deutsche Marineführung, die – kaum verwunderlich – ihren Hauptgegner in der Seemacht Großbritanniens erblickte, einen Vorstoß an den Kanal. So schrieb Admiral Tirpitz nach dem Einlaufen der Mittelmeerdivision in Konstantinopel an Admiral Souchon: „Noch Eins [sic] für unsere Marine u. für unsere Weltstellung, um die wir kämpfen, wäre es von außerordentlicher Wichtigkeit, daß eine türkische Armee den Suezkanal bedrohte. Geht es gegen Russen auch ohne Türken gut, so wäre unser ganzes Interesse auf den Suezkanal gerichtet.“695 693 Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 97f. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 63f. 695 Schreiben von Admiral Tirpitz an Admiral Souchon vom 14.8.1914, BAMA Freiburg N 156/ 2, Blatt 1. 694 178 Ein erster Vorstoß osmanischer Einheiten in Richtung Kanal soll laut einem Manuskript des Reichsarchives bereits 1914 erfolgt sein.696 Es finden sich zwar keine weiteren Belege für diese Behauptung, doch schreibt Kreß von Kressenstein über den ihm unterstellten „Kommandeur eines Freikorps von Beduinen“: „Mümtass war zu Beginn des Krieges in das unbesetzte El Arisch eingerückt, hatte dort mit seinen 1300 Beduinen eine englische Patrouille von etwa 30 Mann vernichtet und hatte die verlogenen Berichte über die Eroberung der Sinaihalbinsel nach Konstantinopel geschickt [...].“697 Sollte Kreß hier das genannte „Unternehmen“ ansprechen, so kann von einem früheren türkischen „Vorstoß zum Kanal“ kaum die Rede sein. Eine wüstenerfahrene Truppe aus „Beduinen“ hätte die logistischen Probleme des Sinai-Grenzgebietes zwar insoweit überwinden können, daß ein solcher (sehr) begrenzter Angriff möglich erscheint. Für Kress war dieser „Nadelstich“ jedoch unbedeutend und noch dazu – wie aus den weiteren Ausführungen des bayerischen Offiziers – hervorgeht, von einer Truppe durchgeführt worden, die seiner Meinung nach höchstens den „Wert von plündernden Banditen“ hatte und deren Anführer ein „unfähiger, ungebildeter und undisziplinierter Mensch“ war. Ressentiments gegen solche irregulären AraberVerbände sind keine Seltenheit unter deutschen Offizieren und Kommandeuren, wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit belegt wird. In der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1915 marschierte dann eine „reguläre“ osmanische Streitmacht in Richtung auf den Suez-Kanal. Infolge der Schwierigkeiten, große Einheiten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in der Sinaiwüste ausreichend zu versorgen oder überhaupt zu bewegen, war die ursprünglich auf 5 Divisionen (ca. 50.000 Mann) festgelegte Angriffstärke jedoch auf knapp 3 Divsionen mit lediglich 20.000 Mann, 9 Feldartillerie Batterien und einer 15 cm Haubitzbatterie reduziert worden.698 Daher war die zahlenmäßige Stärke des 696 Die Beurteilung der Lage der Türkei seitens der Obersten Heeresleitung Anfang Dezember 1914 (2.XII.) (Manuskript aus dem Reichsarchiv), ohne Verfasser und ohne Datum, BAMA Freiburg W 10/ 51298, S. 17. 697 Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 6. 698 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 70. Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 12. Bei den Geschützen der Feldartillerie wird es sich vermutlich um 7,5 cm Kanonen gehandelt haben, die 179 Verbandes zwar beachtlich, jedoch keinesfalls ausreichend, um den Kanal einzunehmen oder gar Folgeoperationen zur Eroberung Ägyptens durchzuführen. Das Material zum Übersetzen über den Kanal war unzureichend, die Versorgungslinien bis Palästina waren lang und die vorhandene logistische Struktur nicht geeignet, der türkischen Truppe am Kanal rasch Nachschub zuzuführen. Sollten britische Kriegsschiffe im Kanal ankern, mußte sich zudem die osmanische Feldartillerie als unzureichend zu deren Bekämpfung erweisen. Der entscheidende Faktor für einen Erfolg wäre demnach die Ausnutzung des Überraschungseffektes gewesen und selbst dann lagen der osmanischen Seite keine verläßlichen Zahlen über die gesamte britische Truppenpräsenz in Ägypten vor, die zu einem Gegenangriff eingesetzt werden könnten. Neben Oberst Kreß von Kressenstein als Generalstabschef des VIII. Armeekorps, das die 1. Staffel der Truppen führte, waren noch mindestens ein halbes Dutzend andere deutsche Offiziere an der Durchführung und Planung beteiligt. Ob weitere Deutsche bei diesem Unternehmen eingesetzt waren, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.699 In Nachtmärschen und unter strengster Rationierung von Lebensmitteln und Wasser legten die Einheiten den anstrengenden Marsch durch die Wüste zum Kanal in knapp zwei Wochen zurück. Neben den fast 3.000 Reit- und Tragtieren der Kampftruppen waren 7.500 Kamele eingesetzt, die hauptsächlich Wasser und Übersetzmaterial für die Kanalüberquerung transportierten. Die persönliche Ausrüstung war auf ein Minimum reduziert worden, um die Belastung beim Marschieren so gering wie möglich zu halten. So gelang es den Angriffs-Kolonnen, vom Feinde unbemerkt, möglicherweise – wie so häufig in der osmanischen Armee – von verschiedenen Herstellern stammten. Handbook of the Turkish Army 1996, S. 68 u. 74. 699 Bekannt sind (mit türkischen Dienstgraden): Oberst von Frankenberg und Proschlitz als Chef des Stabes der IV. Armee unter Marineminister Djemal Pascha, Oberst Frommer als Kommandeur der 2. Staffel des „Expeditionskorps“, Hauptmann Gerlach als Kommandeur des Pionierbataillons 8. Außerdem noch Major Welsch und Hauptmann Fischer, die jeweils Offiziere eines InfanterieRegiments waren und während des Kampfes de facto die Führung der Einheiten übernahmen, obwohl diese nominell bei türkischen Offizieren lag, die jedoch entweder die Führung freiwillig den Deutschen überließen oder durch „Abwesenheit“ auf die Ausübung der Befehlsgewalt verzichteten. Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, Beilagen 5-7 und graphische Darstellungen der Gliederung des Verbandes [ohne Paginierung]. Zudem wird ein gewisser Hauptmann von dem Hagen erwähnt, der bei dem Angriff fiel, über dessen Dienststellung aber nichts gesagt wird. Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 17. 180 durch die Wüste vorzustoßen und Ausgangsstellungen am Kanal bei Ismailie zu beziehen. Der eigentliche Übergangsversuch in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar scheiterte jedoch, da britische Wachposten die Übersetzenden bemerkten und die Moral der türkischen Verbände im einsetzenden Feuer offenbar zusammenbrach.700 Die deutschen Offiziere der Kolonnen waren von dem Versagen der türkischen Führer im Ernstfall unangenehm überrascht worden und sahen in ihnen die Hauptschuldigen für den Fehlschlag. Zugleich stellten sie fest, daß bestimmte Truppenteile nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Disziplin vermissen ließen, die für solch anspruchsvolle Unternehmungen nötig war. In diesem Zusammenhang wurden erstmalig harte Urteile über die militärische Eignung von Verbänden aus arabischen Untertanen des Sultans gefällt. Auf einige Eindrücke dieses Angriffs wird an späterer Stelle noch genauer eingegangen.701 Die Verluste auf türkischer Seite betrugen 14 tote, 15 verwundete und 15 vermißte Offiziere sowie 178 tote, 366 verwundete und 712 vermißte Mannschaftsdienstgrade.702 Die britischen Verluste beliefen sich auf 32 Tote und 130 Verwundete.703 Das osmanische Expeditionskorps zog sich anschließend mehrheitlich aus der Wüste in Richtung Palästina zurück. Oberst Kreß behielt einige Truppen (3 Infanterie-Bataillone, 2 leichte ArtillerieBatterien und einige Kamelreiter) und wurde von Djemal Pascha als „Kommandant der Wüste“ mit Sitz in Ibni704 beauftragt, weitere „Störaktionen“ gegen den SuezKanal durchzuführen.705 Mit ihm blieben nur wenig mehr als 30 Deutsche im Sinai.706 Obwohl das unmittelbare Ziel, die Sperrung des Kanals, nicht erreicht wurde, so konnte die türkische Seite doch einen Erfolg für sich verbuchen, denn zumindest eine Kräftebindung war gelungen. Großbritannien erhöhte seine Truppenpräsenz am Kanal 700 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 86-93. Siehe zum Beispiel unten, S. 258f. u. 268f. 702 Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 17. Der Verbleib der Vermißten blieb unklar. Die britische Seite bezeugt jedoch, daß nur etwa eine halb so große Zahl an Gefangenen gemacht wurde. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß trotz der umliegenden Wüstenlandschaft etwa 300 Soldaten desertiert sind. MacMunn, George/Falls, Cyril: Military Operations: Egypt & Palestine – From the outbreak of war with Germany to June 1917, London 1928, S. 46-50. (Im Folgenden: MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928.) 703 MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 49f. 704 Sehr kleine Ortschaft, die etwa 50 Kilometer südlich der Hafenstadt El Arisch mitten im felsigen Teil der Sinai-Halbinsel liegt. 705 Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 18. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 100f. 706 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 90. 701 181 (wenngleich die Mehrzahl der besser ausgebildeten Truppen schon wenig später für die Kämpfe auf der Gallipoli-Halbinsel wieder abgezogen wurde). Ende 1914 unterhielt Großbritannien Truppen in einer Stärke von etwa 150.000 Mann in Ägypten, wobei auch die Versorgungstruppenteile eingerechnet sind. Darunter waren etwa 30.000 Soldaten aus den indischen Besitzungen und ein nicht näher bezifferter Anteil von Verbänden, die aus Einheimischen zusammengestellt worden waren. Viele der Einheiten befanden sich allerdings noch in der Ausbildung oder waren eher für den Garnisonsdienst geeignet als für den Kriegseinsatz. Für die Verteidigung des Kanals waren etwa 35.000 Mann überwiegend indischer Truppenteile abgestellt, die jedoch über dessen gesamte Länge verteilt waren.707 Da die türkischen Truppen auch nach ihrem Rückzug kleinere, handstreichartige Aktionen gegen den Kanal durchführten und Ägypten zudem als Ausbildungslager und Durchgangsstation für zahlreiche britische Verbände, besonders aus Indien, Australien und Neuseeland diente, stieg die Anzahl der Soldaten dort bis zur Jahreswende 1915/16 auf knapp 300.000 Mann. Die Hälfte davon war allerdings entweder in der Etappe eingesetzt, in der Ausbildung begriffen oder bestand aus rekrutierten Einheimischen, deren Ausbildung, Ausrüstung, Motivation und damit Kampfkraft bestenfalls „zweifelhaft“ war.708 Doch bis zur Jahresmitte 1916 sollte es in Ägypten nicht mehr zu größeren Kampfhandlungen kommen. In Mesopotamien hingegen verlief das Jahr 1915 ereignisreich für das Osmanische Reich, und zwar im negativen Sinne. Seit dem Fall der Stadt Qurna hatte dort, abgesehen von kleineren Gefechten, weitgehende Waffenruhe geherrscht. Beide Seiten brauchten Zeit, um ihre Verbände zu reorganisieren und Verstärkungen heranzuführen. Die osmanische Seite entschied sich im April 1915 für einen Angriff auf Basra. Der Operationsplan sah vor, die britischen Tigris-Stellungen bei Qurna weiträumig im Westen entlang des Euphrat zu umgehen, um dann auf die Hafenstadt vorzustoßen. Das türkische Oberkommando in Baghdad verfügte zu diesem Zweck über etwa 6.000 Mann regulärer Infanterie und eine ständig variierende Anzahl von 707 708 Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 249. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 259. 182 10.000 bis 20.000 arabischen „Stammeskriegern“.709 Die arabischen Aufgebote waren jedoch kaum für einen Kampf gegen die überwiegend indischen Truppen des Commonwealth ausgerüstet und zur Unterstützung der gesamten Front standen gerade einmal 21 Geschütze älteren Typs zur Verfügung.710 Das Deutsche Reich hatte zu diesem Zeitpunkt kaum Unterstützung auf den entlegenen Schauplatz geschickt. Die Entsendung vollständiger Truppenkörper stand in Berlin offenbar gar nicht zur Debatte, so daß lediglich eine „Expedition“ von 16 deutschen Soldaten unter einem Hauptmann Klein entsandt wurde.711 Das Umgehungsmanöver verlief zunächst erfolgreich und die türkischen Einheiten erreichten bei Shaiba – knapp 15 Kilometer südwestlich von Basra – die britischen Verteidigungsstellungen, wo etwa 7.000 Mann verschanzt waren.712 Die Angriffe mit knapp 4.000 Mann am 12. und 13. April scheiterten jedoch und ein Gegenangriff britischer Kavallerie führte zum Abbruch der gesamten Operation. Die osmanische Armee verlor bei dem Unternehmen etwa 1.000 Tote und Verwundete sowie 400 Mann, die in Kriegsgefangenschaft kamen.713 Die britische Seite verlor 132 Mann.714 Diese ging nunmehr zu einem größeren Gegenangriff über und drängte die geschlagenen osmanischen Verbände zurück, wobei die verbliebenen Einheiten praktisch zerschlagen wurden. Die Reste zogen sich auf Stellungen etwa 120 Kilometer euphrataufwärts zurück. Der Oberkommandierende Süleyman Askeri Bey nahm sich nach dieser katastrophalen Niederlage das Leben.715 Nach diesen Kämpfen erforderte der glühend heiße Sommer Mesopotamiens eine Ruhepause für die Truppen. Beide Seiten planten unterdessen die Wiederaufnahme der Operationen im Herbst/Winter 1915. Eine britische Streitmacht unter General Townshend, der noch im Mai die Stadt Amara besetzten konnte, sollte den Tigris entlang in Richtung auf Baghdad vorrücken. Für die türkische Seite kam eine Offensive hingegen zunächst nicht mehr in Frage. Aus den übriggebliebenen 709 Barker, Neglected War 1967, S. 67. Carver, Turkish Front 2004, S. 105. 711 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 68. Nähere Informationen über diese Expedition liegen nicht vor, es wird aber gesagt, daß die Mehrzahl der Angehörigen Offiziere gewesen seien. 712 Barker, Neglected War 1967, S. 67f. 713 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 110. 714 Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 208. 715 Auf dem Rückzug hatten die Osmanen weitere 6.000 Mann verloren (davon 2.000 arabische Kämpfer). 700 Mann waren in Gefangenschaft geraten. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 110. 710 183 Verbänden in Mesopotamien war die osmanische 6. Armee formiert worden, die anfangs jedoch kaum über einsatzbereite Einheiten verfügte. Der neue ArmeeOberbefehlshaber Nurettin Pascha erwartete zwar Verstärkung von anderen Schauplätzen, doch diese traf nur sehr langsam in Baghdad ein, und zwar nicht nur aufgrund der schlechten Nachschublinien, sondern weil das türkische Oberkommando während der Kämpfe um die Meerengen kaum Truppen entbehren konnte. So behalf sich die 6. Armee mit Neuaufstellungen aus arabischen Wehrpflichtigen, JandarmaAngehörigen und Grenztruppen. Daß die Kampfkraft dieser Einheiten kaum der einer regulären türkischen Infanterie-Division entsprach, deren Effektivität in Mesopotamien ohnehin nicht mit der einer türkischen Division im Raum Konstantinopel mithalten konnte, muß nicht besonders betont werden. Alles in Allem standen der kaum im Ansatz formierten 6. Armee nur etwa 7.000 Mann zur Verfügung, als am 1. September 1915 General Townshend den britischen Angriff mit gut 10.000 Soldaten von Amara aus begann. Die Garnisonen der Ortschaften entlang des Tigris konnten den Vorstoß nur minimal verzögern und am 26. September erreichten die britisch-indischen Truppen die Hafenstadt Kut-el-Amara, etwa 120 Kilometer flußaufwärts der Ausgangspositionen. Hier trafen sie erstmals auf größeren Widerstand, der jedoch rasch gebrochen wurde. Nach dem überraschend schnellen Erfolg Townshends beschloß dieser, die abziehenden Türken weiter zu verfolgen, und am 5. Oktober hatten die britischen Truppen noch einmal 100 Kilometer zurückgelegt und waren bis zur Ortschaft Aziziyah vorgerückt.716 Am gleichen Tag erhielt Feldmarschall Freiherr von der Goltz den Auftrag, den Oberbefehl über die 6. Armee und damit über die Mesopotamienfront zu übernehmen.717 Er reiste allerdings erst Mitte November aus Konstantinopel ab.718 Neben den Truppen der 6. Armee wurde ihm die Befehlsgewalt über die Expeditionen nach Persien und Afghanistan, die Militärattachés in Persien und über die von den Konsulaten eingesetzten 716 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 111f. Ob von der Goltz über die tatsächlichen Zustände in Mesopotamien informiert war, ist fraglich. Es steht auch zu vermuten, daß seine Versetzung nicht zuletzt deshalb erfolgte, um die Spannungen zwischen ihm und Liman von Sanders auszuräumen. 718 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 71f. Das deutsch-türkische Engagement in Persien ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Einführende Bemerkungen finden sich bei Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 73-79. Siehe hierzu auch oben, S. 143. 717 184 Etappenoffiziere in seinem Befehlsbereich erteilt.719 Goltz gehörte aber weiterhin nicht der Militärmission an und behielt daher sein Immediatrecht beim Deutschen Kaiser. Während der Feldmarschall noch auf dem Weg nach Baghdad war, kam es am 22. November zur entscheidenden Schlacht in Mesopotamien in diesem Jahr. Die britischen Verbände waren unaufhaltsam vorgerückt, bis sie schließlich bei Selman Pak720 auf starke türkische Verteidigungsstellungen trafen. Der folgende Kampf wird von deutscher und türkischer Seite „Schlacht bei Selman Pak“ und von britischer Seite „Battle of Ctesiphon“ – nach der antiken Stadt, auf deren Ruinen Selman Pak errichtet worden war – genannt und fand nur etwa 20 Kilometer südöstlich von Baghdad statt. Der türkische Befehlshaber hatte alle verfügbaren Truppen zusammengezogen und kurz vorher sogar 721 Verstärkungsdivisionen (51. I.D.) erhalten. 722 21.000 osmanische Verteidiger. eine der dringend benötigten So trafen etwa 14.000 Briten auf Die Kampfhandlungen dauerten bis zum Morgen des 25. November an und wurden von beiden Seiten mit Verbissenheit geführt. Obwohl die Angreifer den türkischen Truppen hohe Verluste zufügten machten sich die ständigen Märsche auf schlechten Wegen und die sehr langen Versorgungslinien der Briten bemerkbar, denen nunmehr die Kraft für einen Durchbruch fehlte. Am Ende mußte General Townshend seinen Angriff aufgeben und sich nach Kut-elAmara zurückziehen. Er hatte knapp 4.600 Mann verloren, wovon allerdings der größte Teil (3.674 Mann) Verwundete waren.723 Die osmanischen Verlustzahlen werden mit knapp 6.200 Toten und Verwundeten angegeben. Die höchsten Verluste hatte dabei die überwiegend aus arabisch- und kurdischstämmigen Ausgehobenen bestehende 45. I.D. hinnehmen müssen, die beinahe 65% ihrer effektiven Stärke 719 Kiesling, Hans von [d. i. Hans Edler von Kiesling auf Kieslingstein]: Mit Feldmarschall von der Goltz Pascha in Mesopotamien und Persien, Leipzig 1922, S. 19. (Im Folgenden: Kiesling, Mit Feldmarschall von der Goltz 1922.) 720 Auf zeitgenössischen Karten findet sich auch der Name „Süleiman Pak“. Im heutigen Irak heißt der Ort „Sal Man Pak“. 721 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 112. 722 Barker, Neglected War 1967, S. 479-481. 723 Moberly, F. J.: The Campaign in Mesopotamia 1914-1918, Volume II, London 1924, S. 485-487. (Im Folgenden: Moberly, Mesopotamia Volume II.) 185 einbüßte, während die kampferprobten Einheiten zwischen 12% und 25% Ausfälle zu beklagen hatten.724 Entscheidend war jedoch, daß der britische Vormarsch auf Baghdad aufgehalten worden war. Als Goltz am 12. Dezember im Hauptquartier der 6. Armee eintraf, um Nurettin Pascha abzulösen, hatten die inzwischen vorgestoßenen türkischen Truppen rund 10.000 britische Soldaten und über 4.000 Nicht-Kombattanten in Kut-el-Amara eingeschlossen.725 Der Feldmarschall mußte sich zunächst ein Bild von der Lage machen und zudem auch die Geschäfte der „Persienmission“ überwachen. Diese benötigte im Verlaufe der Kämpfe um Kut immer wieder Verstärkung, die eine Schwächung des Ringes um die belagerten Briten bedeutete, aber keinen großen Erfolge für die Unternehmungen in Persien brachten. Von der Goltz hielt daher auch etwas gereizt in einer kurzen Denkschrift über die Lage im Januar 1916 fest, daß er infolge seiner zahlreichen Aufgaben in Mesopotamien und Persien die Belagerung nicht ständig habe persönlich führen könne. Dies führte dazu, daß Nurettin noch um Weihnachten 1915 einige Sturmangriffe auf die Stadt durchführen ließ, die sämtlich unter Verlusten von knapp 1.600 Mann scheiterten, obwohl für Goltz klar ersichtlich war, daß die befestigten Stellungen mit den Mitteln der Türken nicht zu überwinden waren.726 Das Jahr 1915 ging zu Ende, ohne daß eine Entscheidung in Kut fiel, und das Jahr 1916 begann mit Entsatzversuchen der Briten. Den Januar über versuchten britische Verbände, die türkischen Linien südlich der Stadt zu durchbrechen, brachen die teils überhasteten und schlecht geplanten Angriffe aber unter dem Eindruck hoher Verluste ab, ohne einen entscheidenden Vorteil gewonnen zu haben. Allein in den 724 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 114. Frühere Schätzungen von bis zu 14.000 Toten, Verwundeten und Vermißten sind nach Ericksons Meinung zu hoch angesetzt. Siehe dazu auch seine Angaben bei Erickson, Ordered to Die 2001, S. 238. 725 Wie so oft sind die Zahlen hier widersprüchlich. Trotz der hohen Verluste bei Selman Pak/Ctesiphon müssen von den knapp 14.000 Mann Townshends etwa 12.000-13.000 Mann (inkl. der Verwundeten) die Stadt erreicht haben. Mit Sicherheit waren dort bereits kleinere Versorgungstruppenteile und Sanitätseinrichtungen untergebracht. Die offizielle britische Kriegsgeschichte gibt zwar eine Auflistung der eingeschlossenen Formationen wieder, nennt aber keine genauen Zahlen. Moberly spricht von 8.500 Gewehren und 34 Geschützen, während er die Zahl der Belagerten auf 17.000 Kombattanten und (!) Nicht-Kombattanten schätzt. Erickson hingegen spricht von 11.600 Soldaten und 3.350 Nicht-Kombattanten. Zu diesen müssen ungefähr 6.000 Einwohner Kut-el-Amaras addiert werden. Vergleiche Moberly, Mesopotamia Volume II, S. 498; Barker, Neglected War 1967, S. 482 und Erickson, Ordered to Die 2001, S. 114. 726 „Kurze Denkschrift über die Belagerung von Kut el Amara“ des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz Pascha vom 20. Januar 1916, BAMA Freiburg N 131/2, Blatt 7f. 186 Kämpfen vom 6. bis zum 9. Januar verloren die Angreifer fast 4.000 Mann.727 Mitte Januar wurde Nurettin von Enver Pascha durch Oberst Halil Bey, den Onkel des Kriegsministers, ersetzt.728 Weitere Entsatzversuche der Briten im Januar konnten abgewehrt werden und als im Februar die Regenzeit einsetzte, ruhten die Operationen praktisch den ganzen Monat, da Überschwemmungen und Schlamm größere Truppenbewegungen nahezu unmöglich machten.729 Vom 8. bis 10. März 1916 versuchten die britisch-indischen Einheiten erneut einen Durchbruch durch die Verteidigungsstellungen. Hierzu waren etwa 14.000 Mann vorgesehen, die durch 11.000 Mann verstärkt werden sollten, jedoch den Aufstellungsraum noch nicht erreicht hatten.730 Wie Marschall von der Goltz berichtet, wurde Kut-el-Amara zu diesem Zeitpunkt von insgesamt (!) etwa 15-16.000 Mann belagert, von denen etwas mehr als die Hälfte im Süden stand, um einen feindlichen Entsetzungsversuch aufzuhalten. Dies gelang Anfang März auch unter Verlust von etwa 1.300 Mann.731 Die britischen Truppen verloren bei ihrem Angriff etwa 3.500 Mann.732 Auch die britischen Versuche im April 1916, zu General Townshend durchzudringen, scheiterten, obwohl von der Goltz die Lage der „Irak-Armee“ als bedrohlich einschätzte, da die Kräfte nur einen schwachen Einschließungsring bildeten und deshalb ein Ausbruch der Belagerten nicht ausgeschlossen werden konnte, zumal die Briten über eine zahlenmäßige Überlegenheit verfügten. Zudem stockte der Nachschub auf der fast 2000 Kilometer langen Etappenlinie von Konstantinopel. Verstärkungen brauchten daher trotz des Endes der Kämpfe an den Dardanellen sehr lange, um Mesopotamien zu erreichen. Truppen vor Ort zu rekrutieren, schloß Goltz indes aus, denn der „arabische Ersatz, der an Ort und Stelle aufgeboten werden könnte, taugt nichts und ist eher eine Gefahr als eine Verstärkung“.733 727 Carver, Turkish Front 2004, S. 134-136. Von der Goltz konnte das Kommando der 6. Armee in der Praxis kaum führen, da seine zahlreichen Aufgaben in zu ständigen Dienstreisen auf den unzulänglichen Wegen Mesopotamiens zwangen; er mußte sich deshalb in erster Linie auf grundlegende Entscheidungen beschränken. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 150. 729 Carver, Turkish Front 2004, S. 143. 730 Barker, Neglected War 1967, S. 229. 731 „Bericht über die Lage der 6. osmanischen Armee bei Kut el Amara“ des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz Pascha vom 23. März 1916, BAMA Freiburg N 131/3, Blatt 82-84. 732 Moberly, Mesopotamia Volume II, S. 523-525. 733 „Bericht über die Lage der 6. osmanischen Armee bei Kut el Amara“ des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz Pascha vom 23. März 1916, BAMA Freiburg N 131/3, Blatt 85. 728 187 Der Kampf um Kut endete am 29. April 1916, als sich die erschöpften und von jedem Nachschub abgeschnittenen Belagerten angesichts fehlender Aussicht auf Entsatz den osmanischen Truppen ergaben. Etwas mehr als 13.000 Mann – darunter über 3.000 indische Non-Kombattanten – gingen in Gefangenschaft.734 Freiherr von der Goltz war jedoch schon 10 Tage vor dem Fall der Stadt an einer Krankheit gestorben, die er sich während seiner zahlreichen Dienstreisen zugezogen hatte.735 Die eigentliche Kapitulation nahm daher Halil Pascha als Oberbefehlshaber der 6. Armee entgegen und feierte damit den zweiten großen Erfolg des Osmanischen Reiches nach dem Fehlschlag der britischen Truppen an den Dardanellen. Wie erwähnt erwuchs der türkischen Seite aus diesen Siegen ein stärkeres Selbstvertrauen in militärischen Fragen, denn die Erfolge – erfochten mit osmanischen Einheiten – waren nicht von der Hand zu weisen. Die Deutschen hingegen sahen ihre Hilfestellung als ausschlaggebend für die Siege an, obwohl diese vom Verbündeten immer häufiger als Bevormundung kritisiert wurde. In Deutschland und Konstantinopel lobten deutsche Zeitungen die „Siegesserie“ als türkische Meisterleistung und schmeichelten der Hohen Pforte in besonderem Maße. Goltz hatte die Problematik solcher Propaganda bereits vor dem Sieg bei Kut-el-Amara erkannt: „Der Dienst, der dem Zentralbunde durch die Behauptung der Dardanellen geleistet worden ist, wird weit überschätzt, und man sieht uns mehr als lästige Eindringlinge, wie als hilfsbereite Freunde an.“736 Die deutschen Offiziere mußten sich nunmehr noch stärker anstrengen, um ihre Vorstellungen von moderner Kriegführung durchzusetzen, was jedoch nicht mit einer erhöhten Kompromißbereitschaft einherging. Während in Mesopotamien der zweite defensive Erfolg gegen die britischen Truppen erreicht wurde, waren die türkischen Truppen unter dem Freiherrn Kreß von Kressenstein auf der Sinai-Halbinsel offensiv vorgegangen. Nach und nach trafen in Südpalästina und El Arisch am Rande der Sinai-Wüste die sogenannten „Pascha I“ Formationen aus Deutschland ein sowie österreichisch-ungarische Artillerie, die nach 734 Carver, Turkish Front 2004, S. 153-155. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 220. 736 „Denkschrift über die Lage in Mesopotamien und Persien“ des Feldmarschall Freiherrn von der Goltz Pascha ohne Datum, BAMA Freiburg N 131/2, Blatt 49. 735 188 Syrien entsandt worden war. Zu den ersten Einheiten, die im April die Front erreichten, gehörten die deutsche Flieger-Abteilung 300 und die „k. u. k. Gebirgshaubitzdivision Marno“.737 Am 22./23. April 1916 unternahm Kreß einen begrenzten Kavallerievorstoß – unterstützt von den neuen Einheiten – auf Katia.738 Unter geringen eigenen Verlusten konnte er ein britisches Kavallerie-Regiment überraschen und 280 Gefangene machen.739 Der eigentliche „Zweite Vorstoß“ zum Kanal sollte allerdings erst im Sommer des Jahres erfolgen. Hierfür erhielt Kreß den Befehl über ein Expeditionskorps von 16.000 Mann (davon knapp 12.000 Soldaten740), dem auch die deutschen „Pascha“-Formationen angehörten.741 Anfang Juli stieß das Korps von El Arisch aus nördlich auf den Kanal vor, wobei es eine Strecke von gut 150 Kilometern überwinden mußte. Der Vorstoß verlief zunächst erfolgreich, doch am 4. August trafen die deutsch-türkischen Einheiten in Romani (etwa 10 km nordwestlich von Katia) auf erheblichen britischen Widerstand. Nach dem Scheitern der Kämpfe um die Meerengen und dem Fall von Kut hatte sich die britische Führung entschlossen, eine Offensive von Ägypten aus in Richtung Palästina zu starten. Die Ereignisse bei Katia im April hatten die britische Seite darin bestärkt, daß eine erhöhte Truppenpräsenz in der Wüste von nöten war, um eine Ausgangsbasis für solche Operationen zu sichern. Daher waren im Sommer 1916 14.000 Mann in und um Romani stationiert worden.742 Der türkische Angriff wurde zurückgeschlagen und 737 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 155. Zur Fliegertruppe siehe auch Kapitel III.2.e. Die k.u.k. Formation war zahlenmäßig besonders stark (22 Offiziere und 813 Mannschaften) und mit 10 cm Gebirgshaubitzen ausgerüstet, die sich in der Folgezeit aufgrund der verhälnismäßig leichten Verlastbarkeit als geeignete Waffe für den Krieg in Syrien erwies. Der Begriff „Division“ meint hier – ähnlich der „Mittelmeer-Divsion“ der Marine – einen zu einem bestimmten Zwecke zusammen- und abgestellten Truppenverband und ist nicht mit der Verbandsbezeichnung des Heeres zu verwechseln. Jung, Der Wüstenkrieg 1992, S. 52-58. 738 Der Ort wurde auch El Katie genannt und liegt etwa 40 km östlich des Suez-Kanals und nur 10 km südlich der Mittelmeerküste. 739 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 158-163. 740 Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 155. 741 Zu den „Pascha I“-Verbänden, die an dem Vorstoß teilnehmen konnten, gehörten die FliegerAbteilung (FA) 300, acht M.G. Kompanien, sechs Geschütze im Kaliber von 10-15 cm, zwei Mörser, vier Flakzüge, zwei Feldalazarette und einige Kraftwagenkolonnen. Die übrigen Einheiten (eine Nachrichtenabteilungen und zwei Minenwerfer-Kompanien) trafen nicht mehr rechtzeitig ein. Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 21. 742 MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 180. Die Erhöhung der britischen Truppenpräsenz wird auf deutscher Seite nicht unbemerkt geblieben sein, zumal die deutschen Flieger zu diesem Zeitpunkt noch den Luftraum dominierten und – sofern die Witterung es zuließ – Aufklärungergebnisse lieferten. Ob die Auswertung eine solch hohe Gegnerzahl erkennen ließ, muß 189 Kreß befahl unter dem Eindruck schwerer Verluste den Abbruch des Angriffs. Die britischen Einheiten verfolgten die geschlagenen Verbände und schließlich mußten diese sich am 14. August wieder auf ihre Ausgangsstellung El Arisch zurückziehen. Die türkischen Verluste betrugen zwischen 4.000 und 6.000 Mann.743 Die britische Seite hatte hingegen „nur“ 1.130 Mann verloren.744 Mit diesem Rückschlag wurden die türkischen Offensivbestrebungen im Sinai zunichte gemacht. Die langen Versorgungslinien, Hungersnöte im Hinterland (allein im Libanon verhungerten bis Oktober 1916 60.000 Menschen) und die materielle und personelle Überlegenheit Großbritanniens in Ägypten wirkten sich immer schwerer aus.745 Die britischen Planungen für einen Angriff aus Ägypten auf das Territorium des Osmanischen Reiches sahen vor, daß parallel zum Vormarsch der Truppen eine Eisenbahnlinie zu deren Versorgung gebaut werden sollte. Mitte Dezember 1916 reichte diese Linie bis etwa 20 km vor El Arisch und den türkischen Verteidigern war rasch bewußt, daß sie sich aufgrund des Abstandes zur eigenen Nachschublinie (ca. 75 km) im Nachteil befanden.746 Kreß von Kressenstein war gezwungen, seine eigenen Stellungen immer weiter zurückzunehmen, doch feindliche Vorstöße hinderten ihn daran, diese Positionen ausreichend zu befestigen. Daher mußte er sich im März 1917 auf die Linie Gaza – Birseba (heute Be`er Sheva) zurückziehen, die zwar leichter zu verteidigen war, aber bereits auf osmanischem Territorium lag. Alle Gebietsgewinne im Sinai wurden damit aufgegeben und auch an dieser Front geriet man endgültig in die Defensive.747 Zur gleichen Zeit fiel die Vorentscheidung über das Schicksal der MesopotamienFront, denn am 11. März 1917 nahm der neue britische Befehlshaber, General Maude, die alte Kalifenstadt Baghdad ein. Im Dezember 1916 hatte die britische mangels Quellen jedoch fraglich bleiben. Wollte Kreß aber die Initiative behalten, so boten sich ihm kaum Alternativen zu einem Vorstoß. 743 Kreß von Kressenstein spricht von 4.000 Mann, während das britische Generalstabswerk von 5.500 Mann ausgeht, von denen allerdings 4.000 in Gefangenschaft gerieten. Dies entspräche den 1.000 Toten und Verwundeten, die Erickson anhand offizieller türkischer Quellen angibt. Vgl.: Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 191. MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 377. Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 238. 744 MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 199. 745 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 75. 746 Bruce, Anthony: The Last Crusade – The Palestine Campaign in the First World War, London 2003, S. 81. (Im Folgenden: Bruce, The Last Crusade 2003.) 747 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 76. 190 Offensive zunächst gegen Kut-el-Amara begonnen, das im Frühjahr desselben Jahres noch so hart umkämpft war. General Maude hatte zahlreiche Verstärkungen erhalten und hatte nunmehr gut 150.000 Mann unter seinem Kommando. Von diesen nahmen jedoch nur 72.000 Mann an den eigentlichen Operationen teil, da der größte Teil entweder während eines Angriffs nicht versorgt werden konnte oder aber selbst für die Versorgung zuständig war.748 Die türkische 6. Armee – geschwächt durch Krankheiten, Desertion und Abgaben von Truppen nach Persien – konnte im Unterschied dazu für die Verteidigung Kuts nur etwa 12.000 – 16.000 Mann aufbieten.749 Die deutsche „Irakgruppe“ bestand sogar nur aus 34 Offizieren und 280 Mann.750 Der einsetzende Regen der Winterzeit verwandelte die Vormarschwege der Angreifer jedoch in Schlammpfade und verlangsamte die Operation Maudes deutlich. Erst am 22./23. Februar 1917 wurde Kut-el-Amara geräumt und der Rückzug auf eine Verteidigungslinie 15 Kilometer südlich von Baghdad befohlen. Nach harten Kämpfen konnten die osmanischen Truppen aber auch diese Linie nicht halten und zogen sich etwa 60 Kilometer tigrisaufwärts zurück. Halil Pascha verlegte nach dem Fall Baghdads sein Hauptquartier nach Mosul. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er in seiner gesamten Armee noch über rund 30.000 Mann, die allerdings eine Frontlinie von mehr als 300 Kilometern Länge gegen Briten und Russen (in Persien) decken mußten.751 Bis April 1917 schob General Maude seine Linien bis Samarra vor, was ihn zusätzliche 2.000 Mann Verluste kostete, während die türkischen Verteidiger 500 Tote zu beklagen hatten und 260 Soldaten in Gefangenschaft gingen.752 Danach stellten die Briten ihren Vormarsch ein, wodurch der endgültige Zusammenbruch der osmanischen Front, die nunmehr 150 Kilometer nördlich von Bagdhad verlief, abgewendet werden konnte. Die zunehmende Hitze sowie die schwachen und stark belasteten Versorgungslinien von Basra nach Norden machten weitere Kampfhandlungen unmöglich. Angeblich mußten 37.000 britische Soldaten zwischen 748 Barker, Neglected War 1967, S. 322. Die Zahlenagaben schwanken hier deutlich. Mühlmann gibt 12.000 Mann an, während Larcher von 16.550 spricht. Die britischen Schätzungen beliefen sich dagegen auf 20.000 Soldaten. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 136; Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 340. Barker, Neglected War 1967, S. 490. 750 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 136. 751 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 166. 752 Carver, Turkish Front 2004, S. 181. 749 191 Mitte März und Mitte April wegen der Hitze oder Krankheiten in Lazaretten behandelt werden. Das war mehr als das Doppelte der Verluste während der eigentlichen Kampfhandlungen, die auf 18.000 Mann beziffert werden.753 Die Anzahl der türkischen Toten und Verwundeten gibt Erickson mit 6.000 Mann an.754 Vermutlich ist diese – auch von ihm geschätzte – Zahl zu gering angesetzt, obwohl die Verteidiger in deutlicher Unterzahl waren. Genauere Angaben liegen aber nicht vor. In jedem Fall war die Lage für die Mittelmächte auf diesem Kriegsschauplatz mehr als Ernst. Einem neuen Angriff der Briten würden die dünnen Linien kaum standhalten können, wenn nicht ausreichende Verstärkungen herangeführt würden. Außerdem hatte nicht nur die Hohe Pforte einen beachtlichen Teil ihres Herrschaftsbereiches verloren, sondern auch das Deutsche Reich hatte einen empfindlichen Prestigeverlust hinnehmen müssen, denn alle Aussichten – so vage sie vorher auch gewesen sein mögen – auf eine Fertigstellung der Baghdad-Bahn waren vorerst zunichte gemacht worden.755 Aufgrund dieser Rückschläge entschloß sich Deutschland zu einer Ausweitung seines Engagements im Orient. Es stellte das Heeresgruppenkommando „F“ (Falke) und die Truppen des „Deutschen Asienkorps“ unter dem Decknamen „Pascha II“ auf und entsandte sie zur Unterstützung der bröckelnden osmanischen Fronten.756 Die „Pascha II“-Formationen umfaßten nach Plan drei Infanteriebataillone, sechs Maschinengewehrkompanien (je 6 M.G.), vier Flieger-Abteilungen, zwei leichte Haubitz- und eine Feldkanonenbatterie, eine Sanitätskompanie, zwei Feldlazarette und eine Flugabwehrkanonenbatterie sowie weitere Unterstützungstruppenteile wie Kraftfahrkolonnen, Fernsprecher- und Nachrichtenabteilungen und Pioniere (mit Flammenwerfern und Brückenbaugerät). Die Kopfstärke dieser Einheiten sollte 4.500 Mann betragen, war jedoch aufgrund des höheren Bedarfs an logistischem und technischem Personal bis zum September 1917 auf 11.000 Köpfe angestiegen.757 753 Barker, Neglected War 1967, S. 411f. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 238. 755 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 221. Auf das deutsch-türkische Bündnis hatte dieser Rückschlag jedoch keine gravierenden Auswirkungen, da beide Parteien in anbetracht der Gesamtlage ihr Hauptaugenmerk auf andere Kriegsschauplätze richteten. 756 Afflerbach, Holger: Falkenhayn – Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994, S. 471. (Im Folgenden: Afflerbach, Falkenhayn 1994.) 757 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 150 u. S. 320f. Die deutsche Seite hatte parallel zur türkischen, eine eigene Etappe aufgebaut, um den wiederholten Reibungen und Konflikten im Nachschubbereich 754 192 Aufgabe des Heeresgruppenkommandos „F“ war es, aus den deutschen „Pascha I“und „Pascha II“-Formationen, der 6. osmanischen Armee und der neuaufgestellten (und de facto noch bei Aleppo im Aufbau befindlichen) 7. osmanischen Armee eine Heeresgruppe zu bilden, die Baghdad zurückerobern sollte. Der türkische Deckname der Operation war „Yildirim“ (Blitz).758 Im Laufe des Sommers wurden die Einheiten für die Operation und die neue Heeresgruppe heran- und zusammengeführt. Doch bevor das Unternehmen „Yildirim“ auf dem mesopotamischen Kriegsschauplatz beginnen konnte, fiel im August 1917 die Entscheidung, den Schwerpunkt der Operation kurzfristig nach Palästina zu verlegen.759 Hier hatten britische Offensiven zu einer starken Beanspruchung der osmanischen Kräfte geführt. Am 26. und 27. März 1917 stießen etwa 20.000 Briten auf die Verteidigungslinien bei Gaza vor.760 Kreß von Kressenstein verfügte hier über eine Besatzung in der Stadt von 2.600 Mann und insgesamt über knapp 13.000 Mann in seinem gesamten Kommandobereich.761 Die harten Kämpfen endeten mit einem Verteidigungserfolg für die türkischen Truppen, die 1.427 Mann (davon 286 Tote) verloren, dem Gegner aber empfindliche Verluste in Höhe von 3.967 Mann (davon 523 Tote) beibrachten.762 Vom 17. April an versuchte die „Egyptian Expeditonary Force“ erneut Gaza zu nehmen. Nach dreitägigen, schwersten Kämpfen konnten die Verteidiger noch einmal ihre Stellungen behaupten. Die Verluste des Angreifers waren mit 6.444 Mann deutlich schwerer als in der ersten Schlacht, wenngleich die Zahl von 509 Toten unwesentlich geringer war.763 Die osmanische Seite hatte 1.969 Mann verloren und zu entgehen. Allein diese Maßnahme benötigte schon eine entsprechende Erhöhung des Personalansatzes. 758 Neben dieser Schreibweise finden sich in der Literatur noch „Jilderim“, „Jildirim“ oder „Yilderim“. Die häufigste Schreibweise (und die, die der heutigen türkischen Schreibweise „yıldırım“ am nächsten kommt) ist jedoch „Yildirim“ und diese wird daher auch weiterhin verwendet. 759 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 228. 760 Die Zahlen schwanken zwischen 19.000 und 25.000 Mann, von denen ein unterschiedlich großer Teil als Reserve zurückgehalten worden sein soll. Vgl. Bruce, The Last Crusade 2003, S. 93 und MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 379. 761 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 224. 762 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 232. MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 315. Die deutschen und österreichisch-ungarischen Verlusten betrugen 57 Mann. Falls, Cyril: Armageddon, 1918 – The Final Palestinien Campaign of World War I, Philadelphia 102003, S. 10. (Im Folgenden: Falls, Armageddon 2003.) 763 MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 348. 193 dabei 391 Tote zu beklagen.764 Bei der zweiten Schlacht um Gaza hatten die Briten angeblich einige Gasgranaten verschossen und sogar 8 Tanks eingesetzt, von denen nach türkischen Berichten 3 abgeschossen worden sein sollen und die übrigen Fahrzeuge entweder aufgrund technischer Defekte ausfielen oder durch Artilleriefeuer zum Rückzug gezwungen wurden.765 Obwohl die türkischen Soldaten keine Schutzausrüstung gegen Gas besaßen, nicht für solche Angriffe ausgebildete waren und noch nie einen Tank gesehen hatten, nutzten die „modernen Waffen der Westfront“ auf dem nahöstlichen Kriegsschauplatz offenbar nur wenig. Zum wiederholten Male wird hier die Andersartigkeit der Kriegführung mit modernen Mitteln unter den Verhältnissen des Nahen Ostens deutlich, in der sämtliche europäischen Mächte noch sehr unerfahren erschienen.766 Nach dem Scheitern der Offensiven im Süden Palästinas ersetzte London den bisherigen Oberkommandierenden General Murray durch General Sir Edmund Allenby.767 Es war abzusehen, daß der Neuernannte unter dem Druck der eigenen Regierung eine abermalige Operation gegen Gaza anstreben würde, wenn auch das Britische Empire seine Truppen vordringlich an der Westfront brauchte und kaum Verstärkungen von dort nach Ägypten senden konnte.768 Sowohl Djemal Pascha, der Oberbefehlshaber der 4. Armee in Syrien (und zugleich Gouverneur der südlichen Provinz des Osmanischen Reiches), als auch General von Falkenhayn – Befehlshaber der deutschen Heeresgruppe – waren zu der Überzeugung gelangt, daß die türkischen Linien einem neuen Angriff schwerlich standhalten würden. Die Heeresgruppe „F“ sollte daher zunächst einen Schlag gegen die Briten in Palästina führen und diese am 764 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 244. Fuller, John F.C.: Tanks In The Great War 1914-1918, (Neudruck der Ausgabe o.O. 1920) Nashville o.J., S. 98ff. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 241. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 163. Carver, Turkish Front 2004, S. 201. 766 Ebenfalls nicht übersehen werden darf die technische und taktische Unausgereiftheit der neuen Waffen. Der Erfolg von Tankeinsätzen an der Westfront wird in der neueren Forschung ebenfalls relativiert. Hier besaßen die kämpfenden Parteien allerdings die Mittel, um auf solche neuen Bedrohungen zu reagieren, während die osmanischen Streitkräfte auch ohne solche Mittel zumindest einen punktuellen Einsatz dieser Waffen abwehren konnten. Der Tankeinsatz vor Gaza sollte auch der einzige Einsatz im Orient bis Kriegsende bleiben. Siehe hierzu: Fasse, Alexander: Im Zeichen des „Tankdrachen“ – Die Kriegführung an der Westfront 1916-1918 im Spannungsverhältnis zwischen Einsatz eines neuartigen Kriegsmittels der Alliierten und deutschen Bemühungen um seine Bekämpfung, Berlin 2007, S. 164f. 767 Falls, Armageddon 2003, S. 11. 768 MacMunn, George/Falls, Cyril: Military Operations: Egypt & Palestine – From June 1917 to the End of the War, Part I, London 1930, S. 14. (Im Folgenden: MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to the End of the War, Part I, 1930.) 765 194 besten bis zum Kanal zurückdrängen, um ausreichende Handlungsfreiheit für die Rückeroberung Baghdads zu erhalten.769 Daß solche Erwartungen als zu hoch – sogar als „illusorisch“ – bezeichnet werden können, muß hier nur am Rande erwähnt werden. Die türkischen Einheiten in Syrien litten an Versorgungsengpässen in den Bereichen Munition und Verpflegung, die sich bei einer steigenen Truppenpräsenz dort noch stärker bemerkbar machen mußten, und die deutschen Soldaten litten unter dem Klima, das besonders in den Sommermonaten ungewöhnlich heiß war. Der Krankenstand erreichte in einigen Einheiten 28% und kaum ein deutscher Soldat hatte Ende 1917 noch keinen Krankenhausaufenthalt trotz der geforderten „Tropendiensttauglichkeit“ hinter sich, deren Kriterien offenbar ebenfalls nicht den realen Anforderungen entsprachen.770 Die osmanischen Truppenteile und insbesondere diejenigen Einheiten, die vom Balkan oder von Konstantinopel aus nach Palästina verlegt wurden, hatten horrende Marschverluste hinnehmen müssen. Von den 10.000 Mann der 24. I.D., die im Oktober aus Konstantinopel an der Front angelangte, waren nur 4.635 Mann übriggeblieben. Krankheiten, Desertion von etwa einem Viertel der Männer und eigenmächtig verlängerte Urlaube hatten zu diesen Ausfällen geführt. So kam es, daß die Truppe am 15. Oktober um 552 Offiziere und 47.181 Mann unter der Sollstärke lag.771 Als General Allenby am 31. Oktober 1917 mit knapp 80.000 Soldaten die dritte Schlacht um die Stadt Gaza einleitete, konnten die Verteidiger der Stadt gerade einmal 25.000 – 30.000 Mann aufbieten.772 Kreß von Kressenstein – nunmehr als Befehlshaber der neuen 8. Armee zum türkischen Generalmajor befördert – und Mustafa Kemal (der spätere Atatürk) als Befehlshaber der wesentlich schwächeren 7. Armee, die als Flankenschutz bei Birseba eingesetzt war, erhielten nach zähen Kämpfen in der Defensive kaum eine Woche später von Falkenhayn den Rückzugsbefehl und am 9. November 1917 war die Frontlinie bei 769 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 168. Falkenhayn handelte die offensiven Planungen allerdings mit Enver Pascha aus und überging so absichtlich die deutschen und türkischen Führer vor Ort, die zu einem defensiven Verhalten rieten. Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 475. 770 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 254f. 771 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 258f. u. 266. 772 MacMunn, George/Falls, Cyril: Military Operations: Egypt & Palestine – From June 1917 to the End of the War, Part II, London 1930, S. 651. (Im Folgenden: MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to the End of the War, Part II, 1930.) Kreß gibt die Stärke seiner Truppen mit 23.000 Infanteristen, 1.400 Kavalleristen und 191 Geschützen an, während britische Quellen von 27.000 – 45.000 Mann sprechen. Aufgrund der generellen Unzuverlässigkeit der Zahlenangaben wird der Mittelwert als wahrscheinlich angenommen. Vgl.: Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 270 und MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to the End of the War, Part I, 1930, S. 42 sowie Bruce, The Last Crusade 2003, S. 125. 195 Gaza gefallen; die Truppen waren weitere 20 Kilometer zurückgedrängt worden.773 Der britische Vormarsch wurde fortgesetzt und trotz hinhaltender Rückzugsgefechte gelang es den Türken nicht, den Angriff zu stoppen. Am 8. Dezember marschierten Allenbys Truppen in Jerusalem ein, nachdem die Stadt von den Verteidigern geräumt worden war, bevor sie durch die Kämpfe beschädigt werden konnte.774 Zum Jahreswechsel 1917/18 wurden die Kampfhandlungen eingestellt. Beide Seiten waren völlig erschöpft. Die deutsch-türkischen Verbände hatten mehr als 12.500 Tote und Verwundete sowie 9.000 Vermißte zu beklagen. Außerdem waren 6.400 Mann in Gefangenschaft geraten, womit die Gesamtzahl der Verluste kapp 28.000 Mann erreichte. Die 7. und 8. Armee hatten schwerste Verluste erlitten. Es gelang jedoch, die Front zwischen El Haram (15 Kilometer nördlich von Jaffa) und Jericho am Nordrand des Toten Meeres zu stabilisieren.775 Und noch zwei weitere Veränderungen trafen die türkische Kommandostruktur hart. Bereits am 7. November – also noch während des Rückzuges aus Gaza – wurde Mustafa Kemal von der Front abgelöst und in den Generalstab versetzt. Am 1. Dezember wurde dann auch noch Kreß von Kressenstein durch General von Falkenhayn, der den Bayern zuvor schon als „vertürkt“ gescholten hatte, von seinem Kommando entbunden.776 Mit diesen beiden Generalen verlor die Palästinafront die beiden erfahrensten Befehlshaber. Obwohl die britischen Verbände ihre Verluste von knapp 19.000 Mann leichter ersetzen konnten als die osmanische Seite, war der Blutzoll doch außergewöhnlich hoch gewesen.777 Allenby wurde daher erst Mitte Februar 1918 in Palästina wieder aktiv. Am 19. Februar stieß er auf Jericho vor, eroberte die Stadt schon am 21. Februar und richtete neue Stellungen am Ostufer des Jordans ein, während das 773 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 172f. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 244f. 775 Siehe hierzu: Pirie-Gordon, H. (Bearb.): A Brief Record of the Advance of the Egyptian Expeditionary Force under the command of General Sir Edmund H. H. Allenby – July 1917 to October 1918, Kairo 1919, Karte 30. 776 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 174. Kreß selbst deutet die Vorgänge nur an, die zu seiner Ablösung geführt haben, während Mühlmann eindeutig die Verstimmungen zwischen ihm und Falkenhayn über die Eigenheiten der türkischen Kriegführung dafür verantwortlich macht. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 302ff. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 176f. Ähnlich wie Mühlmann sieht es Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 474f. u. 478. 777 Bruce, The Last Crusade 2003, S. 165. 774 196 Westufer von deutsch-türkischen Verbänden gehalten wurde.778 Dieser erneute Rückschlag gab Enver Pascha – und vor allem seinem Parteifreund Djemal Pascha – die Gelegenheit, General Erich von Falkenhayn abzulösen. Der Deutsche hatte sich weniger durch militärisches Geschick ausgezeichnet als vielmehr durch ein sicheres Gespür dafür, möglichst viele türkische und auch deutsche Offiziere durch sein starrsinniges und aufbrausendes Verhalten gegen sich aufzubringen.779 Am 24. Februar wurde die Ablösung beschlossen und am 1. März 1918 übernahm Liman von Sanders das Kommando der „Yildirim“-Verbände sowie der Front in Syrien und Palästina.780 Daß mit der Person Marschall Liman von Sanders Pascha ebenfalls ein beachtliches Konfliktpotenzial verbunden war, ist bereits angedeutet worden und wird im Folgenden noch deutlicher werden.781 Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich Enver hier seines persönlichen Rivalen „entledigte“, indem er ihn aus Konstantinopel – dem Zentrum der Macht des Osmanischen Reiches – entfernte und ihm damit zugleich die Wahrnehmung seiner Aufgaben als Chef der Militärmission auf das Äußerste erschwerte. Schon kurz nach seiner Ankunft in Palästina mußte Liman von Sanders zwei größere Schlachten schlagen. Vom 21. März bis zum 30. März 1918 griffen britische Verbände über den Jordan in Richtung Amman an und konnten die türkischen Verteidiger sogar bis in die Stadt zurückdrängen. Am 31. März zogen sich die Angreifer jedoch überraschend wieder hinter den Jordan zurück.782 Am 30. April versuchten die Briten einen erneuten Angriff über den Jordan, wurden aber durch Gegenangriffe türkischer Verstärkungen am 2. und endgültig am 4. Mai zur Aufgabe des Unternehmens gezwungen.783 Damit konnten die osmanischen Einheiten die Front für die Sommermonate weitgehend festigen. Zwar kam es noch zu vereinzelten Kämpfen, aber ein britischer Durchbruch gelang nicht, da Allenby durch die deutsche Frühjahrsoffensive etwa 60.000 Mann aus Ägypten an die 778 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 246f. Falkenhayn machte von dem Schimpfwort der „Vertürkung“ ausgiebig Gebrauch und hatte schon früh Djemal Pascha verärgert. Siehe hierzu unten, S. 370-374. 780 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 193. 781 Siehe hierzu unten, S. 365-369. 782 Offenbar sah der englische Befehlshaber seine Mission als gescheitert an und wollte seine erschöpften Truppen vor einem möglichen Gegenstoß bewahren, dem er nicht standhalten zu können glaubte. MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to the End of the War, Part I, 1930, S. 343-347. 783 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 195. 779 197 Westfront abgeben mußte und seine Vorgesetzten in London ihn ausdrücklich ermahnten, in Palästina eine defensive Haltung einzunehmen.784 Dies hinderte den General allerdings nicht daran, die nächste – und entscheidende – Offensive vorzubereiten. Im September 1918 standen knapp 70.000 Mann (davon 11.000 Berittene) für den Angriff bereit, während die türkischen Truppen über 40.600 Mann verfügten, die sogar fast 1.000 Maschinengewehre besaßen. Allerdings hatten die Verteidiger eine über 90 Kilometer lange Front zu halten, geboten nur über unzureichende Nahrungs-, Munitions- und vor allem Wasservorräte, waren an Artillerie- und Fliegerunterstützung unterlegen und sahen sich zudem einer zunehmend feindseligeren arabischen Bevölkerung gegenüber.785 Als die britische Offensive am 18./19. September 1918 losbrach, fegte sie die geschwächten und durch die Rückschläge des letzten Jahres demoralisierten türkischen Soldaten praktisch fort. Auch den immerhin 7.000 deutschen Soldaten – von denen jedoch viele logistische Aufgaben wahrnahmen – fehlte es an Kampfkraft, denn ihnen hatte der allgegenwärtige Mangel des letzten Kriegsjahres ebenfalls schwer zugesetzt. Eine „Schreckensmeldung“ des türkischen Generalstabes nach der nächsten erreichte die Oberste Heeresleitung. Schon am 21. September meldete General von Seeckt, der im Januar 1918 Bronsart von Schellendorf als stellvertretenden türkischen Generalstabschef abgelöst hatte786, den Durchbruch feindlicher Kräfte nach Nazareth, wobei fast Liman von Sanders in Gefangenschaft geraten wäre.787 Zwei Tage später meldete Seeckt gar, daß die 8. Armee praktisch aufgerieben sei. Die Armeen zerfielen trotz vereinzelter tapferer Versuche, den gegnerischen Vormarsch zu verzögern. Am 23. September fiel die Stadt Haifa und alle Hoffnungen, eine neue Verteidigungslinie bei Damaskus zu errichten, waren zunichte gemacht, nachdem die Stadt am 30. September dem Feind übergeben worden war.788 Gleichzeitig mit diesen Niederlagen begannen auch erneute Angriffe östlich des Jordans. Sie wurden nicht unwesentlich durch Formationen arabischer „Aufständischer“ unter dem britischen Oberst Lawrence unterstützt. Offenbar waren diese Verbände für eine beträchtliche Anzahl 784 Bruce, The Last Crusade 2003, S. 203f. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 196. 786 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 180. 787 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 199. 788 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 226. 785 198 von Greueltaten gegen die geschlagenen Türken verantwortlich.789 Am 6. Oktober war die Kampfstärke des deutschen Asienkorps auf 500 und die des I.R. 146 (zuvor über 2.000 Mann) auf 600 Mann gesunken. Die 7. osmanische Armee zählte noch etwa 7.000 Mann, nachdem am 12. Oktober Verstärkungen von Norden eingetroffen waren. Die 2. Armee, von der Kaukasusfront der Heeresgruppe unterstellt, besaß noch etwa 1.000 Mann, stand aber, ebenso wie 2.000 deutsche Soldaten bei Adana, um eventuellen Landungen der Briten im Rücken der Palästinafront begegnen zu können. Die 4. Armee und die 8. Armee waren zerschlagen und bestanden nicht mehr als Kampfverbände.790 Die Reste der Heeresgrupp „F“ standen bei Aleppo, mußten die Stadt jedoch am 26. Oktober räumen und bezogen 30 Kilometer nördlich neue Stellungen, während das Hauptquartier in Adana – also auf anatolischem Boden – eingerichtet wurde.791 Dort erreichte am 30. Oktober 1918 die Nachricht vom Waffenstillstand Liman von Sanders. In Mesopotamien hatte sich seit den Kämpfen des Jahres 1917 wenig verändert. General Maude, der britische Oberbefehlshaber, sah sich aufgrund der schlechten Versorgungswege und der geringen Priorität, die man „seiner“ Front in London beimaß, außerstande, eine neue Offensive zu wagen. Am 18. November 1917 starb der General plötzlich an einer Krankheit (Cholera), wie schon Freiherr von der Goltz. Sein Nachfolger wurde General Marshall, der jedoch ebenfalls andere Operationen – zum Beispiel gegen Baku und in Persien – unterstützte und nicht im unwirtlichen Mesopotamien vorrückte.792 Das Zweistromland selbst blieb im Jahre 1918 eher eine ruhige Front, die allerdings durch das Klima härteste Anforderungen an die Soldaten beider Seiten stellte. Erst als Allenby in Palästina und Syrien zum finalen Schlag gegen die türkische Front ausholte, wagten sich auch hier die Briten vorwärts. Am 2. Oktober 1918 erhielt Marshall die Aufforderung, bevor es zu einem Waffenstillstand käme, soviel türkischen Boden wie möglich zu besetzen.793 Daher rückten seine Truppen am 18./19. Oktober gegen die türkischen Stellungen vor. Der türkische 789 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 256ff. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 226f. 791 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 201. 792 Barker, Neglected War 1967, S. 431f. u. 447-454. 793 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 203. 790 199 Oberkommandierende, Ismail Hakki Bey, verfügte nur über wenige erschöpfte oder kranke Truppen und erfuhr zudem bald von den Ereignissen in Palästina und den türkischen Bemühungen um Waffenstillstandsverhandlungen durch Vermittlung der Vereinigten Staaten (13. Oktober). Der Widerstand blieb daher beschränkt, aber auch die britischen Truppen zeigten wenig Interesse an einer hartnäckigen Auseinandersetzung. Am 29. Oktober stoppte Hakki Bey den Rückzug und verschanzte sich, bevor er sich am 30. Oktober den Briten ergab und mit ihm 11.300 Soldaten.794 Obwohl noch einige osmanische Einheiten auch an dieser Front bestehen blieben, endete damit der Krieg auf diesem Schauplatz. d) Der Krieg zur See Im Unterschied zum Kriegsgeschehen zu Lande spielte der Seekrieg nur eine untergeordnete Rolle für das Osmanische Reich. Struktur, Anzahl und Zustand der vorhandenen Einheiten waren nicht geeignet, die übermächtigen Seestreitkräfte der britisch-französischen Flotte im Mittelmeer oder die trotz der Übernahme von „Goeben“ und „Breslau“ weiterhin überlegene Schwarzmeer-Flotte des russischen Zarenreiches herauszufordern.795 Dennoch war es die türkische Marine, die durch einen Überraschungsangriff auf die russischen Häfen am Schwarzen Meer für den Kriegseintritt der Hohen Pforte auf Seiten der Mittelmächte sorgte. Für die Operation wurden sämtliche irgendwie verfügbaren und geeigneten Schiffe verwendet. Mehrere Flottendetachements beschossen die russischen Stützpunkte Sewastopol, Odessa, Novorossisk und Feodosia am frühen Morgen des 29. Oktober 1914, einige Hafenanlagen wurden in Brand geschossen, mehrere Dampfer und ein russisches Kanonenboot versenkt, weitere beschädigt. Obwohl die unmittelbare Feuerwirkung beeindruckend schien, blieben dem Angriff entscheidende Erfolge versagt, denn kein Hafen wurde unbrauchbar, keine Schiffe wurden getroffen, die entscheidend für die Kampfkraft der russischen Flotte gewesen wären.796 794 Barker, Neglected War 1967, S. 455f. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 203f. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 108. 796 Vgl. hierzu: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 37 und Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 109. 795 200 Die Marine hatte den Vorteil der Überraschung verspielt, dafür jedoch die Kriegserklärungen der Entente und Russlands erreicht. Die Aktionsmöglichkeiten blieben beschränkt, umgeben von stärkeren Seestreitkräften der Gegner. Mehr noch, nach den Angriffen auf die russischen Häfen hatte sich Admiral Souchon, der Befehlshaber der osmanischen Flotte, ein genaueres Bild von den Fähigkeiten und Schwächen der Verbände machen können. Sofort nach dem Einlaufen des Flaggschiffs „Yavuz Sultan Selim“ („Goeben“) am 7. November überreichte Souchon seinen Erfahrungsbericht Enver Pascha. Die Hauptaufgabe der Flotte sollte nun die Verteidigung der Meerengen sein. Daneben hatte sie Materialtransporte – besonders Kohlelieferungen – entlang der osmanischen Schwarzmeerküste zu sichern. Offensive Aufgaben gegen die Marineverbände der Gegner oder auch erneute Angriffe auf deren Häfen wurden ausgeschlossen. Aufgrund der materiellen und ausbildungstechnischen Unterlegenheit der türkischen Schiffe hätte ein direkter Kampf gegen die Kriegsschiffe unter dem Andreaskreuz „die sichere Vernichtung der türkischen Flotte ohne nennenswerte Schädigung des Feindes“ bedeutet.797 Diese „Selbstbeschränkung“ der osmanischen Marine blieb weitgehend während des gesamten Krieges bestehen und so kam es auch nicht zu bedeutsamen Seeschlachten zwischen großen Flottenverbänden.798 Die Tätigkeiten in den verbleibenden Wochen des Jahres 1914 bestanden im erwähnten Geleitschutz für die Kohlentransporte aus Sunguldak799, Bewachung des Bosporus gegen mögliche russische Angriffe sowie Schutz und Verminung der Dardanellen gegen britische Durchbruchsversuche. Eher zufällig kam es am 18. November 1914 zu einem kurzen Schußwechsel zwischen den beiden deutsch-türkischen Schiffen und der russischen Flotte.800 Aufgrund schlechter Sichtverhältnisse wurden die Kampfhandlungen zwar nach wenigen Minuten wieder 797 Lorey, Krieg I, 1928, S. 62. Ähnliches läßt sich allerdings auch für die übrigen kriegführenden Parteien konstatieren, denn – mit Ausnahme der Skagerrakschlacht (1916) – vermieden auch diese eine entscheidende Seeschlacht. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 170. 799 Ort an der türkischen Schwarzmeer-Küste, ca. 200 Kilometer östlich von Konstantinopel gelegen. 800 Die Zahl der russischen Schiffe wird nicht genannt. In der deutschen Literatur wird von einem Treffen mit der „gesamten russischen Flotte“ gesprochen. Larcher hingegen spricht nur vom aufeinandertreffen der beiden Flaggschiffe. Vgl. Lorey, Krieg I, 1928, S. 65, Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 41 und Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 183. 798 201 eingestellt, jedoch erhielt die „Yavuz-Goeben“ einen Treffer.801 Dieser Treffer, der eigentlich keinen kritischen Schaden verursachte, sollte sich in Verbindung mit den Beschädigungen, die das Schiff durch einen Minentreffer noch am 26.12. vor dem Bosporus erlitt, als verhängnisvoll erweisen. Da keine Werftanlagen vorhanden waren, die den 186 Meter langen Panzerkreuzer aufnehmen konnten, mußten die Techniker Verfahren improvisieren, um das Schiff wieder instand zu setzen. Dadurch war das Flaggschiff der türkischen Flotte – mit einer kurzen Unterbrechung – bis Ende April 1915 nicht einsatzbereit.802 Ebenfalls Ende des Jahres 1914 hatte die osmanische Marineleitung die ersten Totalverluste an Kampffahrzeugen zu beklagen. So ging nach einem Kanonenboot und zwei Minenlegern am 13.12.1914 auch das 1874 in London vom Stapel gelaufenen Zentralbatteriepanzerschiff Torpedotreffer verloren. 803 „Messudieh“ durch einen britischen Da das altersschwache Schiff als schwimmende Geschützbatterie den Küstenschutz unterstützte, war es im seichten Gewässer an einem Kai festgemacht, so daß die Verluste „nur“ 37 Mann betrugen.804 Die Verluste der Marine waren trotz des eingeschränkten Aufgabenspektrums hoch. Bis Ende des Jahres hatte sie das Linienschiff „Haireddin Barbarossa“ (vormals „S.M.S. Kurfürst Friedrich Wilhelm“), den Geschützten Kreuzer „Medschidie“, zwei Zerstörer, zwei Torpedoboote und mehr als ein halbes Dutzend kleinerer Boote verloren.805 Die Totalverluste machten somit 40% vom Gesamtbestand vor Kriegsausbruch aus. Der überwiegende Teil der Verluste wurde durch Minen und UBoote verursacht. Besonders während der Kämpfe um die Dardanellen gelang es britischen Booten, in das Marmarameer einzudringen und dort die Transporte für die 801 Die Personalverluste auf russischer Seite sollen 33 Tote und 35 Verwundete, auf deutscher Seite 12 Mann und eine nicht genannte Zahl an Rauchvergiftung gestorbener Seeleute betragen haben. Lorey, Krieg I, 1928, S. 65. 802 Mitte März machte es die Lage erforderlich, das Schiff noch vor dem Abschluß der Reparaturarbeiten für einen Einsatz ins Schwarze Meer auslaufen zu lassen. Danach wurden die Arbeiten fortgesetzt. Eine detaillierte Schilderung der aufwendigen Arbeiten bietet Lorey, Krieg I, 1928, S. 408-413. 803 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 280f. Römer, Militärhilfe 2007, S. 380. 804 Lorey, Krieg I, 1928, S. 69f. Zu den technischen Daten dieses und der weiteren größeren Schiffe der türkischen Seestreitkräfte: Ebd., S. 33f. 805 Allein beim Untergang der Haireddin Barbarossa kamen 253 Mann ums Leben. Dabei handelte es sich ausschließlich um türkische Besatzungsmitglieder, während der deutsche Teil der Besatzung gerettet werden konnte. Lorey, Krieg I, 1928, S. 185. Eine Liste der Schiffsverluste bei: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 280ff. 202 türkischen Verteidiger und die zu ihrer Bedeckung abgestellten Marineeinheiten zu torpedieren. Obwohl die Erfolge dieser Angriffe überraschend gering blieben, reichte doch das bloße Erscheinen der U-Boote aus, um auf den türkischen Transportschiffen Panik zu verursachen, zumal die Begleitfahrzeuge kaum über geeignete Abwehrmaßnahmen verfügten und lediglich ihre Geschütze einsetzen konnten.806 Außer für Geleitschutzaufgaben wurden auch Schiffe zur Feuerunterstützung der türkischen Infanterie während der Abwehrkämpfe um Gallipoli herangezogen. Die älteren Linienschiffe versuchten durch indirektes Feuer auf die Stellungen der Briten und Franzosen zu wirken, erzielten jedoch keine nennenswerten Erfolge, da die gegnerische Schiffsartillerie qualitativ und quantitativ überlegen war.807 Größere Erfolge konnten hingegen die türkischen Torpedoboote aufweisen. So gelang es, einige U-Boot der Entente aufzubringen oder zu versenken.808 Das Torpedoboot „Muavenet-i-Millije” erzielte den wohl bedeutendsten militärischen Erfolg der osmanischen Seestreitkräfte, als es in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 1915 durch Torpedobeschuß das englische Linienschiff „Goliath“ versenkte.809 Der türkische Kommandant des Bootes Kapitänleutnant Achmed und der deutsche Halbflottillenchef Kapitänleutnant Firle, der sich mit an Bord befand und de facto das Kommando führte, wurden von der türkischen Öffentlichkeit als Helden gefeiert.810 Bereits ab dem Sommer 1915 machte sich der Mangel an Kohle im Osmanischen Reich bemerkbar. Die einzigen umfangreich erschlossenen Kohlenminen lagen im Gebiet um Sunguldak. Die Kohle mußte von dort auf dem Seewege nach Konstantinopel gebracht werden.811 Kohle trieb zu jener Zeit die Eisenbahnen an und war, obwohl es bereits mit Öl betriebene Schiffe gab, der wichtigste Treibstoff für die osmanische Flotte. Während die Eisenbahnen vielerorts und besonders an den entfernten Fronten in Palästina bald notdürftig mit Brennholz betrieben wurden, 806 Zum U-Bootkrieg im Marmarameer siehe: Lorey, Krieg I, 1928, S. 113-118. Ebd., S. 119f. 808 Besonderes Aufsehen erregte beispielsweise die Erbeutung des französischen U-Bootes „Turquoise“, da bei der Gefangennahme der Besatzung wichtige Geheimunterlagen über englische UBoot-Treffpunkte im Marmarameer gefunden wurden, mit deren Hilfe schließlich das U-Boot „E 20“ versenkt werden konnte. Lorey, Krieg I, 1928, S. 198-201. 809 Die „Goliath“ war ein älteres Schiff (Stapellauf 1898), das zu der Flotte gehörte, die Feuerunterstützung für die Invasionstruppen auf der Gallipoli-Halbinsel lieferte. Von den 700 Mann Besatzung gingen 570 Mann mitsamt dem Schiff unter. Lorey, Krieg I, 1928, S. 144. 810 Zu Kapitänleutnant Firle und der „Muavenet“ siehe auch unten, S. 290. 811 Lorey, Krieg I, 1928, S. 134. 807 203 bestand eine solche Möglichkeit für die Schiffe nicht. Der Verbrauch der Schiffe war zudem sehr hoch und die wenigen Vorräte gingen schon bald zur Neige. Zu allem Überfluß verbrauchten ja auch die Transportdampfer, die die Kohle über das Schwarze Meer anlieferten, den kostbaren Brennstoff. Dazu kamen Verluste durch russische Überfälle auf die Versorgungslinien, die neben der Kohle auch wertvolle, weil nur beschränkt verfügbare Frachtkapazitäten vernichteten.812 Die „YavuzGoeben“ konnte Mitte 1915 aufgrund des akuten Brennstoffmangels zeitweilig überhaupt keine Einsätze fahren.813 Die vordringliche Aufgabe für die türkischen Kriegsschiffe wurde daher der Geleitschutz für die Kohlentransporte, für den sie allerdings ebenfalls einen nicht unwesentlichen Teil des knappen Rohstoffes verbrauchten. Zudem setzten sich die Schiffe stets der Gefahr eines Angriff überlegener russischer Verbände aus.814 Erst mit dem Kriegseintritt Bulgariens und der Öffnung des Landweges an den Bosporus konnten deutsche Kohlentransporte auf dem Schienenwege die angespannte Versorgungslage in begrenztem Maße entschärfen. Monatlich wurden etwa 12.000 bis 14.000 Tonnen Kohle nach Konstantinopel geliefert. Allerdings konnten sie den Bedarf nicht decken, da der Verbrauch der Flotte mehr als das Doppelte betrug. Die Lieferungen aus Sunguldak und die damit verbundenen Geleitschutzaufgaben für die Marine blieben daher weiter wichtige Aufgabe.815 Bis zum Waffenstillstand mit Russland am 15./16. Dezember 1917 änderte sich wenig. Vereinzelte Begegnungen mit russischen Schiffen oder erfolglose Vorstöße gegen russische Häfen waren Ausnahmen. Einige Monate zuvor, im September 1917, war Admiral Souchon nach Deutschland abberufen worden, wo er das Kommando über das vierte Geschwader der deutschen Hochseeflotte übernahm. Sein Nachfolger wurde Vizeadmiral von RebeurPaschwitz.816 812 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 110. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 43. 814 Ebd., S. 43f. 815 Vgl. zu den Lieferungen: Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 111 und Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 44. 816 Groß, Gerhard Paul: Die Seekriegführung der kaiserlichen Marine im Jahre 1918, Frankfurt am Main (u.a.) 1989, S. 23. (Im Folgenden: Groß, Seekriegführung 1989.) 813 204 Im Januar 1918 beschloß die Marineführung, offenbar auf Initiative des deutschen Vizeadmirals von Rebeur-Paschwitz, einen Angriff auf die von den Briten als Basis genutzte Mittelmeerinsel Imbros (heute Gökçeada) durchzuführen, die kaum 20 km westlich der Gallipoli-Halbinsel liegt.817 Für diese Unternehmung war ein Verband aus den beiden deutsch-türkischen Schiffen „Yavuz-Goeben“ und „Midilli-Breslau“, 4 Torpedobooten sowie einem deutschen U-Boot vorgesehen, der am 20. Januar 1918 aus den Dardanellen auslief.818 Das Unternehmen endete jedoch in einem Fiasko. Schon vor Erreichen des Ziels wurde die „Yavuz-Goeben“ von einer Mine getroffen, die aber noch keinen größeren Schaden anrichtete. Vor Imbros angekommen, versenkte der Flottenverband nach kurzem Feuergefecht zwei ankernde britische Monitore und zerstörte einige Hafenanlagen durch Beschuß. Auf der Rückfahrt lief die „Midilli-Breslau“ auf eine Mine, wodurch das Schiff manövrierunfähig wurde. Gefangen in einem britischen Minenfeld, führten Versuche, das Schiff durch Rückwärtsfahren zu befreien lediglich zu insgesamt drei weiteren Minentreffern, die schließlich im Untergang des Geschützten Kreuzers mündeten. Die anderen Fahrzeuge des Verbandes konnten den Schiffbrüchigen nicht helfen, da britische Zerstörer, Flieger und nicht zuletzt das Minenfeld selbst eine Rettung zu riskant machten. Die „Yavuz-Goeben“ wurde bei einem Rettungsversuch durch einen weiteren Minentreffer stark beschädigt. Erst anderthalb Stunden später wurden 162 Mann der ursprünglich 323 Mann starken Besatzung durch britische Zerstörer gerettet.819 Unterdessen fuhren die verbliebenen Schiffe des türkischen Verbandes in Richtung Dardanellen, wo die „Yavuz-Goeben“ in der Nähe des ersten Minentreffers mit einer weiteren Mine kollidierte. Schwer angeschlagen schleppte sich das Schiff in die Meerengen und zwischen den eigenen Minensperren durch, wo es kurz vor dem Einlaufen in das Marmarameer auf eine Sandbank lief, von der es sich aus eigener 817 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 234. Lorey, Krieg I, 1928, S. 333. 819 Neulen gibt eine Verlustzahl von 330 Mann an. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 49. Laut Lorey und Hüner betrug die Besatzung des Schiffes 1914 jedoch nur knapp über 320 Mann. Die angespannte Personallage und die Tatsache, daß es sich nicht um ein Landungsunternehmen handelte, das eine erhöhte Truppenpräsenz an Bord gefordert hätte, machen diese Zahl wahrscheinlicher. Vgl. Lorey, Krieg I, 1928, S. 2 u. S. 338 und Hüner, Hans: Unter zwei Flaggen – Die Lebens und Kampfgeschichte der S.M.S. „Breslau-Midilli”. Selbsterlebtes an Bord des Kreuzers nach Tagebuchblättern und Ergänzungen, Potsdam 1930, S. 265-268. (Im Folgenden: Hüner, unter zwei Flaggen 1930.) 818 205 Kraft nicht mehr zu befreien vermochte. Erst sechs Tage später konnte der Panzerkreuzer mit Hilfe des Linienschiffes „Torgut Reis“ freigeschleppt werden.820 Nach dem Untergang der „Midilli-Breslau“ besaßen die osmanischen Seestreitkräfte nur noch ein verhältnismäßig modernes und kriegstaugliches Schiff, das allerdings durch die drei Minentreffer erheblich beschädigt war. Das gefährdete die Einsatzfähigkeit der gesamten Flotte. Zum Glück für die osmanische Seite stellte das beschriebene Unternehmen jedoch den letzten Kampfeinsatz der Kriegsmarine dar. Im Schwarzen Meer waren die russischen Schiffe nach dem Friedensvertrag keine Bedrohung mehr und die Westmächte unternahmen keine weiteren Versuche, die Meerengen zu forcieren. Die Tätigkeiten der türkischen Marine beschränkten sich jedoch nicht nur auf Operationen mit großen Überwasserstreitkräften. Marineeinheiten und damit auch deutsche Soldaten waren noch in weiteren wichtigen „Nebenbereichen“ tätig. Als im Mai 1915 britische und französische Truppen an den Dardanellen landeten, trafen sie nicht nur auf Verteidiger des türkischen Heeres, sondern auch auf Einheiten des sogenannten „Sonderkommandos Meerengen“. Bereits kurz nach dem Einlaufen der beiden deutschen Schiffe im Jahre 1914 hatte Admiral Souchon die Entsendung deutscher Marinesoldaten und Experten für die Küstenverteidigung beantragt. Sie sollten die Verteidigungsanlagen und Minensperren der Dardanellen ausbauen. Zum Befehlshaber dieses „Sonderkommandos“, das bereits Ende August 1914 seinen Dienst antrat, wurde der deutsche Admiral à la suite Guido von Usedom ernannt.821 Der Admiral verfügte zunächst über etwa 500 deutsche Soldaten. Bis zum Jahre 1918 stieg ihre Zahl auf 948 Mann an.822 Auch wenn ein Ausbau der Festungen zu modernen Anlagen illusorisch war, so hat dieses „Sonderkommando Meerengen“ doch für die effektive Verminung der Meerengen gesorgt, die dem britischfranzösischen Durchbruchversuch im März 1915 zum Verhängnis werden sollte. Ebenso wurde die artilleristische Ausbildung der türkischen Festungstruppen 820 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 49. Zu einem detaillierten Bericht über diese Unternehmung siehe: Lorey, Krieg I, 1928, S. 330-342. 821 Lorey, Hermann: Der Krieg in den türkischen Gewässern, Zweiter Band: Der Kampf um die Meerengen, Berlin 1938, S. 4. (Im Folgenden: Lorey Krieg II, 1938.) 822 Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 991. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 236. 206 verbessert, auch wenn das überwiegend veraltete Material kaum größere Waffenerfolge erlaubte. Neben unmittelbaren militärischen Auswirkungen hatte der neue Kommandobereich aber auch noch viel weitreichendere Folgen. Admiral von Usedom besaß als Befehlshaber der Dardanellenfestungen nämlich, ebenso wie Admiral Souchon, das Immediatrecht und konnte sich mit Eingaben und Berichten direkt an den Deutschen Kaiser wenden.823 Auf die Problematik dieses Sonderrechtes wird an späterer Stelle noch einmal einzugehen sein.824 Weiter stellten die Marineverbände im Zuge der Dardanellenverteidigung unmittelbar nach der alliierten Landung 1915 hauptsächlich mit Maschinengewehren ausgestattetes Personal zur Unterstützung der Landstreitkräfte ab. Auf Anfrage des Marschalls Liman von Sanders Pascha wurden am 2. Mai 44 deutsche Marinesoldaten und 8 Maschinengewehre (M.G.) von den beiden deutsch-türkischen Schiffen entsandt. Dieses Detachement kam mit den Beobachtern für das indirekt Schießen der Marineartillerie zur „Landungsabteilung der Flotte“ unter dem Befehl des Korvettenkapitäns Rohde.825 Durch verschiedene Widrigkeiten hatte die „Maschinengewehr-Abteilung“ allerdings hohe Verluste an Personal und Material zu beklagen und nach nur einer Woche waren von den ursprünglich 44 Soldaten nur noch 7 Mann einsatzbereit.826 Ersatzmannschaften konnten die Lücken notdürftig füllen, aber die harten Kämpfe machten in absehbarer Zeit eine Verstärkung notwendig, zumal nur 2 Maschinengewehre funktionstüchtig geblieben waren. So wurde am 27. Juli 1915 eine neue Abteilung mit 3 Offizieren, 150 Mannschaften und 12 M.G. an die Dardanellenfront geschickt. Diese Truppen kamen rechtzeitig, um bei den neuen Landungen in der Suvla-Bucht und den damit verbundenen Offensiven an den anderen Fronten in die Kämpfe einzugreifen. Die Einheiten wurden auf die Fronten verteilt und erlitten während der Kämpfe zum Teil erhebliche Verluste, die einer Zerschlagung gleichkamen. So wurden im Bereich der Suvla-Bucht 4 M.G. und 16 Mann eingesetzt, von denen bereits in der ersten Nacht der Landung (7./8. August) 2 M.G. ausgefallen und 11 Mann getötet, verwundet oder vemißt waren. An anderen 823 Lorey Krieg II, 1938, S. 10. Siehe unten, S. 374f. 825 Lorey, Krieg I, 1928, S. 123. 826 Ebd., S. 125. 824 207 Frontabschnitten zeigte der Einsatz der M.G.-Abteilung der Marine hingegen einige Erfolge für die Verteidiger, etwa im Bereich von Ari Burnu.827 Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Verteidigung der Dardanellen leistete Kapitän zur See Pieper, der mit der Steigerung der Munitionsproduktion im Raum Konstantinopel beauftragt war. Zu diesem Zwecke erhielt der Kapitän aufgrund der Mängel beim türkischen Material und Personal im Laufe der Kämpfe insgesamt fast 800 Mann deutsches Personal, darunter 74 Fachoffiziere, Ingenieure, Beamte und Chemiker.828 Die Qualität der Munition, die in den neuen Fabriken produziert wurde, bot jedoch Anlaß zur Kritik. Liman von Sanders bekam zahlreiche Rückmeldungen über die schlechte Munitionsqualität und errechnete daraus, daß von 20 Geschossen durchschnittlich nur eines kein „Blindgänger“ gewesen sei.829 Außer an den Meerengen und im Schwarzen Meer wurden Marinesoldaten auch noch in den weiter entfernten Provinzen Syrien und Mesopotamien eingesetzt. Aufgrund der klaren Überlegenheit der britischen und französischen Mittelmeerverbände beschränkte sich die Tätigkeit in Syrien allerdings auf die Errichtung und den Betrieb von Funk-Telegraphen-Stationen (FT-Stationen) und einer U-Boot-Station in Beirut.830 Von größerer Bedeutung war die Bildung der „Euphrat-Flußabteilung“ der Marine im Januar 1916. Hauptaufgabe dieser Abteilung war die Sicherstellung der Versorgung der 6. Armee an der Mesopotamienfront. Aufgrund der schlechten Bahnverbindungen und der großen Entfernungen im Südosten des Osmanischen Reiches bildeten die Flüsse Euphrat und Tigris die einzigen verhältnismäßig sicheren und raschen Transportwege.831 Die Abteilung sollte die vorhandenen simplen 827 Zu den Kämpfen im August 1915 siehe: Ebd. S. 127f. Lorey, Krieg I, 1928, S. 387. 829 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 99. Die Vorwürfe Limans führten zu scharfen Protesten des Kapitäns Pieper, der die Schuld für die mangelnde Qualität der Munition allein in den unzureichenden Ressourcen und mangelhaft ausgebildeten türkischen Personal sah: „Türkische Fachoffiziere – Feuerwerks- und Zeugoffiziere – gab es leider nicht. Es ist dem Kapitän zur See wiederholt schriftlich und mündlich mitgeteilt worden, daß die ungeschulten Offiziere in der Hauptetappe trotz klarster Bezeichnung der Kisten sehr häufig falsche Zünder an die Batterien geleitet hätten.“ Bericht des türkischen Generalmajors Pieper Pascha über seine Erfarhungen beim Osmanischen Waffenamt, BAMA Freiburg, MSg 1/ 1932, [o. S.]. 830 Groß, Seekriegführung 1989, S. 24. 831 Lorey, Krieg I, 1928, S. 254f. 828 208 Flußboote, sogenannte „Scharture“832, erfassen und einen regelmäßigen Versorgungsbetrieb organisieren sowie eine Werft errichten. Diese Werft wurde im Februar/März 1916 in Djerabulus (heute Dscharabulus/Carablus), etwa 100 Kilometer nordöstlich von Aleppo, errichtet und produzierte später 7 bis 8 Boote pro Tag, wenn das notwendige Material zeitgerecht herangeschafft werden konnte.833 Bereits Ende März wurden aus Konstantinopel drei Motorboote nachgeschickt, die einen wesentlich zügigeren Transport erlaubten, aber unter Brennstoffmangel litten, da Betriebsstoffe auf dem ohnehin überlasteten Schienenwege nur unzureichend herangeführt werden konnten.834 Im Sommer 1916 wurde der Großteil der Deutschen vom Euphrat abberufen, nachdem sich die Transporte stabilisiert hatten. Ein Jahr später verstärkte man die Euphrat-Flußabteilung jedoch wieder und stellte ein weiteres Detachement für den Tigris bereit, da General von Falkenhayn als Führer der Heeresgruppe F die Nachschubwege für das Unternehmen „Yildirim“ gesichert wissen wollte.835 Die Boote wurden nun mit 6cm Bootskanonen oder 10,5cm Schnellfeuerkanonen sowie mit M.G. ausgerüstet, um die Transporte gegen Übergriffe von Räubern schützen oder Feuerunterstützung bei Kämpfen in Flußnähe leisten zu können.836 Die Sollstärke der Euphrat-Flußabteilung betrug jetzt 430-500 Mann, wobei die tatsächliche Stärke aber nicht bekannt ist.837 Taktisch unterstand die Euphratgruppe dem Heeresgruppenkommando, blieb ansonsten aber in allen Belangen dem Marinehauptquartier in Konstantinopel unterstellt, während die wesentlich kleinere Tigrisgruppe der 6. osmanischen Armee taktisch und disziplinarrechtlich der Euphrat-Flußabteilung zugeordnet war.838 Diese Regelung 832 Dabei handelte es sich um etwa 7m lange und 2m breite Holzkähne, die aus groben Brettern und Pappelstäben zusammengenagelt wurden. Lorey, Krieg I, 1928, S. 418. Zuweilen werden dies Boote auch als „Schachture“ bezeichnet. Sie konnten Güter bis zu einem Gewicht von 12 Tonnen befördern. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 214. 833 Lorey, Krieg I, 1928, S. 256. 834 Lorey, Krieg I, 1928, S. 258. 835 Groß, Seekriegführung 1989, S. 26. 836 Lorey, Krieg I, 1928, S. 351ff. 837 Groß, Seekriegführung 1989, S. 445, Anm. 7. 838 Lorey, Krieg I, 1928, S. 351. Groß, Seekriegführung 1989, S. 28. Die Tigrisgruppe besaß nur ein einziges bewaffnetes Motorboot, während die Euphratgruppe über 3-4 Motorboote und 8 bewaffnete Scharture verfügen konnte. Zudem dienten auf dem Tigris nicht Scharture als Transportmittel, sondern hauptsächlich Keleks, also kleine Flöße, die aus Ziegenblasen und Tierhäuten zusammengenäht wurden. Groß, Seekriegführung 1989, S. 445. Anm. 8, Anm. 13 u. Anm. 14. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 534f. Je nach Größe konnten Keleks bis zu 10 Tonnen Nutzlast transportieren. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 214. 209 war für einen reibungslosen Befehlsweg wenig geeignet, obwohl ernstere Friktionen nicht bekannt sind. Ihren Wert bewiesen diese Flußabteilungen hauptsächlich beim Transport von Personal und Material und weniger bei der Kampfunterstützung. Besonders die Tigrisgruppe wurde infolge des britischen Vormarsches und der schlechter werdenden Etappenlinien zu Lande zu einem wichtigen Faktor bei der Versorgung der 6. Armee.839 Als im März 1918 britische Truppen in Mesopotamien immer weiter nach Norden vorstießen, mußte auch die Euphratgruppe ernste Verluste hinnehmen. In der Folge bemühte man sich, die Abteilung an türkisches Personal zu übergeben, das zuvor notdürftig von den Deutschen am Gerät ausgebildet wurde. Am 20. Juni 1918 berief man den Großteil der Euphrat-Flußabteilung zurück nach Konstantinopel und am 20. September wurden die Reste der Abteilung in Djerabulus endgültig aufgelöst.840 Schließlich müssen an dieser Stelle noch die im Verbund mit der osmanischen Marine eingesetzten U-Boote kurz angesprochen werden. Während des Ersten Weltkrieges operierten 15 deutsche U-Boote in diesem Gebiet mit unterschiedlichen Erfolgen. Das wohl bekannteste von ihnen war „U 21“ unter dem damaligen Kapitänleutnant Otto Hersing, das Ende Mai 1915 die beiden britischen Linienschiffe „Triumph“ und „Majestic“ vor den Dardanellen versenken konnte.841 Obwohl die UBoote demnach eine recht bedeutende Rolle für die Seekriegführung in türkischen Gewässern spielten, hatten sie kaum eine praktische Auswirkung auf die deutschtürkische Zusammenarbeit. Die Boote unterstanden nämlich deutschem Kommando und eine Durchmischung mit türkischen Marineangehörigen, wie etwa an Bord der Kreuzer, fand nicht statt. Dies hatte vor allem praktische Gründe, denn die osmanische Marine verfügte über keine nennenswerte Erfahrung im Einsatz von UBooten. Da jedes U-Boot dringend für den Kampf benötigt wurde, konnte in der Enge der Boote eine Ausbildung im Gefechtsdienst nicht stattfinden. Das einzige modernere Tauchboot, das in türkischen Besitz gelangte, war das französische Unterseeboot „Turquoise“, das im November 1915 aufgebracht wurde. Es befand sich 839 Lorey, Krieg I, 1928, S. 354. Lorey, Krieg I, 1928, S. 356f. Groß, Seekriegführung 1989, S. 35. 841 Lorey, Krieg I, 1928, S. 151-155. 840 210 allerdings in einem extrem kläglichen Zustand und die vorhandenen Mittel in Konstantinopel erlaubten es nicht, das Boot wieder gefechtsklar zu machen. Stattdessen wurde die „Turquoise“ in „Müstedschib Onbaschi“842 umbenannt und als Batterie-Ladestation für die deutschen Boote genutzt. Von deutscher Seite lassen sich keinerlei Bemühungen nachweisen, osmanische Seeleute zumindest in der Handhabung dieses U-Bootes zu unterweisen. Ob die Kriegsumstände keine Ausbildung erlaubten oder ob die deutsche Marine kein Interesse daran hatte, dem Verbündeten das nötige Wissen zu vermitteln, läßt sich nicht mit Gewißheit beurteilen. Fest steht aber, daß die türkische Marine versuchte, sich das fehlende Wissen selbst anzueignen. Hermann Lorey faßt diesen Versuch lapidar zusammen: „Nach dem Kriege haben die Türken das Boot auf eigene Faust instand gesetzt, und es ist dann auf der ersten Fahrt mit der ganzen Besatzung untergegangen.“ 843 e) Die Fliegertruppe844 Bereits in den Balkankriegen hatte die osmanische Armee Erfahrungen mit Flugzeugen sammeln können. Sogar zwei deutsche Flieger fanden dort kurzfristig Verwendung, mußten jedoch bald auf Einsätze verzichten, da die Maschinen aufgrund der fehlenden Ersatzteile unbrauchbar wurden.845 Nach dem Ende der Balkankriege bemühte sich Enver Pascha um den Aufbau einer modernen Fliegertruppe und stellte hierfür im Juli 1914 einen französischen Instruktionsoffizier an. Ohne verständlicherweise in kürzester Zeit Erfolge erzielen zu können, mußte 842 Angeblich soll das der Name des türkischen Gefreiten sein, der die französische Besatzung mit einem Artillerietreffer zur Aufgabe veranlaßt hatte. Lorey, Krieg I, 1928, S. 415. 843 Lorey, Krieg I, 1928, S. 416. 844 Die zeitgenössische, offizielle Bezeichnung lautet „Fliegertruppe“. Ebenso wird das Personal als „Angehörige der Fliegertruppe“ und werden die Piloten schlicht als „Flieger“ bezeichnet. Der Begriff „Luftwaffe“ impliziert eine eigene Teilstreitkraft und entstand daher erst nach dem Kriege. Siehe hierzu auch: Kriegswissenschaftliche Abteilung der Luftwaffe [Bearb.]: Die Militärluftfahrt bis zum Beginn des Weltkrieges 1914 – Textband, Berlin 1941, S. 181-183. (Im Folgenden: Kriegswiss. Abt. Lw., Militärluftfahrt - Textband 1941.) 845 Außer den Nachnamen Jahnow und Rentzell liegen keine Informationen über diese Piloten vor. Kriegswiss. Abt. Lw., Militärluftfahrt - Textband 1941, S. 575. 211 dieser, ähnlich der britischen Marinemission, kurz nach dem Kriegseintritt der Türkei das Land verlassen.846 Die Fliegerei steckte sozusagen „noch in den Kinderschuhen“ und der türkische Generalstab hatte sich über Einsatzgrundsätze oder Gliederung kaum Gedanken gemacht, besaß aber auch gar nicht die finanziellen Mittel, um den Aufbau der Fliegertruppe vorantreiben zu können. Mit diesem Problem stand das Osmanische Reich jedoch keinesfalls allein, denn auch in Deutschland war die Bedeutung des Flugzeuges verhältnismäßig spät entdeckt worden, und erst ab 1910 hatte dort eine stärkere Förderung der Militärluftfahrt begonnen.847 Mehr noch als die Marine war die Fliegertruppe eine in höchstem Maße technische Waffengattung, die moderne Werkstätten, Betriebsstoffe, Ersatzteile und speziell ausgebildetes Flug- und Bodenpersonal benötigte. Samt und sonders Vorraussetzungen, die das Osmanische Reich 1914 nicht erfüllen konnte. Die wenigen vorhandenen Maschinen waren – ähnlich den Fliegerkräften in den europäischen Staaten – nicht in einer eigenständigen Luftwaffe organisiert, sondern unterstanden der jeweiligen Armee in ihrem Stationierungsraum, die sie mit Aufklärungsergebnissen zu unterstützen hatten. Für die Logistik war hingegen der türkische Generalstab in Konstantinopel zuständig.848 Die osmanische Militär- Fliegerei war zu Kriegsbeginn demnach nicht als eigenständige Waffengattung organisiert. Auch hier bestand Ähnlichkeit mit den europäischen Verhältnissen, während dort jedoch das erkannte Potential ausgebaut werden konnte, verfügte das 846 Kriegswiss. Abt. Lw., Militärluftfahrt - Textband 1941, S. 576. Berücksichtigt man die besonderen Umstände im Osmanischen Reich, sind die Schuldzuweisungen von deutscher Seite, Frankreich wäre für den schlechten Zustand der osmanischen Fliegertruppe verantwortlich, schon aufgrund des kurzen Aufenthaltes des französischen Instrukteurs mehr als unbegründet. Hierzu: Neumann, Georg Paul [Hrsg.]: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, Berlin 1920, S. 517. (Im Folgenden: Neumann, Lutstreitkräfte im Weltkriege 1920.) Erickson, Ordered to Die 2001, S. 227. 847 Auch im Deutschen Reich spielten die hohen Kosten für Flugzeuge eine wichtige Rolle bei den Überlegungen zum Aufbau einer Militärluftfahrt. Daneben fehlten aber auch die Personalreserven, namentlich die Offiziere, um die notwendigen Stellen besetzen zu können. Hoeppner, Ernst von: Deutschlands Krieg in der Luft – Ein Rückblick auf die Entwicklung und die Leistungen unserer Heeres-Luftstreitkräfte im Weltkriege, Leipzig 1921, S. 2f. (Im Folgenden: Hoeppner, Krieg in der Luft 1921.) Braun, Hans-Joachim: Krieg der Ingenieure? Technik und Luftkrieg 1914 bis 1945, in: Thoß, Bruno/Volkmann, Hans-Erich (Hgg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn (u.a.) 2002, S. 195f. Erst als sich ein deutlicher Vorsprung des potentiellen Gegners Frankreich abzeichnete, wurden die Bemühungen um ein militärisches Flugwesen deutlich erhöht. Storz, Kriegsbild 1992, S. 348. Neitzel, Sönke: Zum strategischen Mißerfolg verdammt? Die deutschen Luftstreitkräfte in beiden Weltkriegen, in: Thoß, Bruno/Volkmann, Hans-Erich (Hgg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn (u.a.) 2002, S. 168ff. 848 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 227. 212 Osmanische Reich über kein eigenes Personal oder Material zum Ausbau. Auf eine Anfrage von Enver Pascha Ende 1914 wurde daher der deutsche Oberleutnant Erich Serno von Berlin mit der Organisation einer türkischen Fliegertruppe beauftragt. Er sollte zusammen mit 12 deutschen Zivilpiloten, 32 Mann zivilem Bodenpersonal und 24 Albatros Beobachtungsflugzeugen – von denen zunächst nur die Hälfte zur Verfügung gestellt werden konnte – die Keimzelle der neuzubildenden Luftstreitkräfte bilden. Bereits der Transport nach Konstantinopel bereitete größere Schwierigkeiten, da die Bahnlinien durch die noch neutralen Balkanstaaten führten. Um eine Beschlagnahme durch die Behörden zu verhindern, wurden die Maschinen in Einzeltransporten, jeweils in Begleitung eines Piloten und eines Mechanikers, deklariert als „Zirkusgerät“ oder „Rote-Kreuz-Sendung“ an den Bosporus geschmuggelt.849 Als erste Basis diente das 25 Kilometer westlich von Konstantinopel gelegene Flugfeld bei San Stefano, das bereits in den Balkankriegen Verwendung gefunden hatte.850 Im Januar 1915 wurde Serno als türkischer Hauptmann eingestellt. Es dauerte allerdings bis Mitte März, die ersten drei deutschen Flugzeuge in das Osmanische Reich zu transportieren.851 Drei weitere Maschinen wurden während des Transportes durch Bulgarien und Rumänien beschlagnahmt.852 Auch der Transport von Fliegerbomben gestaltete sich schwierig. Sie wurden in mit Wasser gefüllte Bierfässer gelegt und dann als „Sanitätsgut“ verschickt. Als sich allerdings ein rumänischer Bahnbeamter ein Bier zapfen wollte, flog der Schwindel auf und dieser Transportweg wurde ebenfalls versperrt.853 Nach diesen Rückschlägen ging man dazu über, die Maschinen von österreichischungarischem Territorium über die feindlichen beziehungsweise neutralen Gebiete hinweg nach Konstantinopel zu fliegen. Trotz der damit verbundenen Gefahren und Belastungen gelang es so, bis Mitte Oktober 1915 fast 30 Flugzeuge in die Türkei zu überführen. „Nur ein einziges Flugzeug wurde am Schipka-Pass zu einer Notlandung gezwungen, konnte aber mit Hilfe einiger Goldstücke, die jedem Flugzeugführer für derartige 849 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 1f. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 152. 851 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 2 u. S. 5f. 852 Allerdings gelang es auf diplomatischem Wege, die beiden Flugzeuge, die in Bulgarien beschlagnahmt wurden, wieder frei zu bekommen. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 152. 853 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S.7f. 850 213 Vorkommnisse mitgegeben worden waren, wieder freikommen und Adrianopel [Edirne] d.h. türkischen Boden erreichen.“854 Bis zum Herbst 1915 konnten so 7 Fliegerstaffeln aufgestellt werden, die jedoch nur mit wenig Personal und noch weniger Material, in der Regel etwa 2-4 Maschinen, ausgestattet waren. Im Ganzen standen nur 13 türkische Piloten und 11 türkische Beobachter855 zur Verfügung. 23 weitere Soldaten befanden sich im Osmanischen Reich in Ausbildung. Der Mangel an türkischen Piloten und an geeigneten Technikern führte zu einem vermehrten Einsatz von deutschem Personal, so daß komplette türkische Staffeln nur mit deutschen Piloten ausgestattet waren. Sie trugen im Dienst vorschriftsmäßig die osmanische Uniform.856 Dadurch gelangte der britische Nachrichtendienst im Februar 1916 zu dem Urteil: „The majority of the machines used by the Turks in the present war are German machines flown by German pilots. The latter are much more efficient than the Turkish naval and military officers who have qualified as pilots, though the latter […] do not lack courage.”857 Ende Oktober 1915 verbesserte sich die Materialsituation der osmanischen Fliegertruppe deutlich, da der Eisenbahntransport durch die Besetzung Serbiens nun regelmäßig zwischen Deutschland und der Türkei laufen konnte. Nachdem sich auch die Lage an den Dardanellen zu entspannen begann, wurden vordringlich Fliegerformationen für die entlegeneren Gebiete in Syrien, Palästina, Mesopotamien und im Kaukasus und sogar für den Schutz der Gebiete im Hedschas aufgestellt.858 Zudem sollten nun auch Jagdflugzeuge aus Deutschland geliefert werden. Neben reinen Beobachtungsaufgaben konnten die Flieger damit die Bekämpfung 854 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 10. Fliegendes Personal, das vom hinteren Sitz der Maschine aus Aufnahmen machte, aber auch für Bombenabwürfe oder die Bedienung eines eventuell vorhandenen hinteren Maschinengewehrs zuständig war. 856 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 228. Bereits seit Ende 1914 waren 12 osmanische Offiziere nach Berlin geschickt worden, um dort als Piloten ausgebildet zu werden. Da später die Ausbildung im Osmanischen Reich stattfinden konnte und kein weiterer Austausch erwähnt wird, muß davon ausgegangen werden, daß diese 12 Piloten bereits in der Zahl von 13 Piloten enthalten sind. MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 2. 857 Handbook of the Turkish Army 1996, S. 86. 858 Einige Fliegerabteilungen im Hedschas bestanden nur aus Türken, weil Christen der Zugang zu Städten wie Medina und Mekka, den Stationierungsorten, verboten war. MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 22f. Ein Verbot, an das sich Serno allerdings trotz gegenteiliger Beteuerung nicht gehalten hat. Siehe hierzu unten, S. 321. 855 214 gegnerischer Beobachter oder Geleitschutzaufgaben wahrnehmen. Die bisherigen Flugzeugtypen waren für solche Aufgaben nicht geeignet, da die Bewaffnung – Handfeuerwaffen des Beobachters oder ein nach hinten ausgerichtetes M.G. – nur zur Verteidigung dienten. Allerdings schickte man zunächst nur 3 moderne FokkerJagdflugzeuge nach Konstantinopel und auch hier wurde die Besatzung „mitgeliefert“, da man den Türken anspruchsvolle Jagdeinsätze nicht zutraute.859 Tatsächlich vertraute der mittlerweile zum preußischen Hauptmann und osmanischen Major beförderte Serno nur einem einzigen türkischen Piloten während des gesamten Krieges ein Jagdflugzeug an.860 Das Jahr 1916 bedeutete für die Luftstreitkräfte einen raschen Ausbau in materieller, personeller und organisatorischer Hinsicht. Die vorherige „Dezentralisierung“ der Truppenführung und -verwaltung wurde durch die Schaffung entsprechender Kommandobehörden beim türkischen Kriegsministerium relativiert. Major Serno wurde als Chef der Luftstreitkräfte gleichzeitig Chef der neuen Abteilung 13 (Inspektion der Flieger) des türkischen Großen Generalstabes. Von hier leitete er Ausbildung und Logistik, während die einzelnen Formationen taktisch weiterhin auf Zusammenarbeit mit den Armeeoberkommandos vor Ort angewiesen waren und ihre Einsatzbefehle von dort erhielten. Das fliegende Personal war Anfang des Jahres bis auf 81 Piloten und Beobachter angewachsen. Sie verfügten über etwa 90 Flugzeuge verschiedenster Typen.861 Neben den rein fliegerischen Aufgaben oblagen den Luftstreitkräften auch das Sammeln und Auswerten von Wetterdaten sowie der Einsatz von Beobachtungsballons. Allerdings verfügte das Osmanische Reich kaum über Einsatzmöglichkeiten für Ballons und besaß daher selbst 1918 nur sehr wenige Exemplare.862 Hinzu kam die Aufgabe der bodengestützten Flugabwehr im Bereich 859 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 12 Erinnerungen eines „Alten Adlers“ - Persönliche Erinnerungen in Form eines Tagebuches des Majors a.D. Erich Serno, BAMA Freiburg, MSg 1/228, S. 133. (Im Folgenden: MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“.) 861 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 228f. 862 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Organisation u. Stand d. Türkischen Luftstreitkräfte am 1.7.1918“, o. Seitenzahl. 860 215 der osmanischen Hauptstadt und der Meerengen, zu deren Zweck Anfang 1916 zwei Flakbatterien aus Deutschland geschickt wurden.863 Als weiteres wesentliches Ereignis für die Militärluftfahrt im Osmanischen Reich muß das Eintreffen der ersten Teile der Fliegerabteilung (FA) 300 in Konstantinopel im Frühjahr 1916 angesehen werden. Diese Abteilung bestand nur aus deutschem Personal, zehn Flugzeugführern und sechs Beobachtern und verfügte über 14 Aufklärungs-Flugzeuge.864 Damit war unter dem Decknamen „Pascha“ die erste geschlossene deutsche Kampftruppe in der Türkei eingetroffen, sieht man einmal von den beiden Schiffen „Goeben“ und „Breslau“ ab. Die deutschen Flieger wurden dem bayerischen Oberstleutnant und osmanischen Oberst Friedrich Freiherr Kreß Von Kressenstein unterstellt, um Aufklärungergebnisse für ein weiteres Unternehmen gegen den Suez-Kanal zu erlangen.865 Die deutschen Flieger sorgten zugleich für die vorübergehende Luftüberlegenheit der Mittelmächte an der Sinaifront, die sie bis zum Sommer 1917 innehatten.866 Mit dem Beginn des britischen Vormarsches in Richtung Palästina nahm auch die Zahl alliierter Flugzeuge zu, so daß die deutschen und türkischen Flieger zunehmend in Bedrängnis gerieten. Ersatzteile mußten aus Deutschland beschafft werden und auch die Versorgung mit Betriebsstoff stellte eine ständige Herausforderung dar. Außerdem litten die Maschinen unter den extremen Klimabedingungen der Sinaiwüste. Der Flieger Oberleutnant Richard Euringer und sein Beobachter wären mehrmals beinahe abgestürzt, weil das Material zu schnell verschliß: „Da vernahm ich [...] ein Geknister überm Kopf .. Tatsächlich wieder der Auspufftopf, der verflixte Spinnenstutzen! Feuersternchen kristallisierten durch das zerglühende Blech hindurch. [...] Und nun schmolzen diese Dinger! Nun zerbröckelte das Blech auch der nagelneuen Spinne!“867 Trotz aller Widrigkeiten verfügte die osmanische „Luftwaffe“ im April 1917 über 43 einsatzbereite Maschinen, zu denen mittlerweile 16 Maschinen der Fliegerabteilung 300 kamen. Die meisten Maschinen befanden sich im Bereich der 4. Armee 863 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 12. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 156. 865 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 12. 866 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 157f. 867 Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 287. Bei einem anderen Flug platzten kurz vor der Landung erneut ein Auspuffteil ab, das wie ein Granatsplitter ein Kamel im Lager verletzte. Ebd., S. 304f. 864 216 (Palästina: 5 osmanische Maschinen und die FA 300), der 6. Armee (Mesopotamien: 13 osmanische Maschinen) und zum Schutze der Meerengen im Bereich der 5. Armee (Gallipoli: 9 osmanische Maschinen).868 Einen weiteren Schwerpunkt für die osmanische Fliegertruppe bildete das Gebiet um Konstantinopel, den Bosporus und die Dardanellen. Anfang 1916 hatte ein Angriff britischer Flieger auf die Hauptstadt – dessen „psychologische Wirkung“ größer war, als der materielle Schaden – für die dringende Forderung nach Schutz des Luftraumes gesorgt. So wurden Flakgeschütze, Flugabwehrmaschinengewehre und Jagdflugzeuge zum Schutz der Stadt, der Fabriken und der Hafenanlagen abgestellt. Nach dem Abzug der Truppen von der Gallipoli-Halbinsel wurde der Fliegertruppe, die zu diesem Zwecke mit weiteren Maschinen aufgestockt wurde, zudem die Überwachung der türkischen Mittelmeerküste anvertraut. Dieser vergleichsweise starke Luftschutz für die Meerengen sollte bis zum Kriegsende bestehen bleiben.869 Im Jahre 1917 wurden in Deutschland 5 weitere Fliegerabteilungen aufgestellt, die im Rahmen des Unternehmens „Yildirim“ zum Einsatz kommen sollten. Die preußischen FA 301-303 und 305 sowie die bayerische FA 304b erhielten den Decknamen „Pascha II“ und trafen – mit Ausnahme der FA 305, die erst im Frühjahr 1918 ankam – im November 1917 in Palästina ein.870 Diese neuen Formationen verfügten über eine Mischung aus neuen Jagdmaschinen und Aufklärungsflugzeugen und einen umfangreichen Personalbestand. Alleine die bayerische FA 304b umfaßte 277 Mann und 300 Tonnen an Material, da die Eigenständigkeit der Truppe fernab eigener Versorgungslinien zu gewährleisten war.871 Trotzdem kamen die deutschen Flieger zu spät, um die Lage in Palästina noch entscheidend zu beeinflussen. Die britische Armee befand sich im Vormarsch und verfügte in allen Belangen über größere Ressourcen als die türkisch-deutschen Verbände. Auch in der Luft besaßen die Maschinen des Royal Flying Corps und des Australian Flying Corps mittlerweile die Überlegenheit, weshalb die Einsätze für die Piloten der Mittelmächte besonders 868 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 229. MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 18f. 870 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 229. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 159. 871 Deutsches Museum [Hrsg.]: Flugwerft Schleißheim – Museum für Luft- und Raumfahrt. Ein Führer durch die Geschichte und die Sammlungen der Flugwerft Schleißheim, München 2005, S. 13. 869 217 gefährlich und verlustreich wurden.872 Der britische Vormarsch nach der dritten Schlacht um Gaza ging so rasch voran, daß die neueingetroffenen Fliegerformationen ihre eben bezogenen Flugfelder in großer Hektik wieder aufgeben mußten, um nicht mit sämtlichem Gerät in britische Gefangenschaft zu geraten.873 Die Lage wurde im Laufe des Jahre 1918 immer bedrohlicher für die deutschen und türkischen Piloten: „Ihre Kampfkraft schwand jäh dahin, da der Flugzeugnachschub aus der Heimat seit Mai vollständig ausgeblieben war. Im August mußten in Ermangelung von einsatzfähigen Maschinen 3 Abteilungen den Flugbetrieb einstellen. Die Engländer besaßen jetzt rein zahlenmäßig eine 7-8 fache Überlegenheit.“874 An den übrigen Fronten, abgesehen von dem Gebiet um die zunächst weitgehend ruhigen Meerengen, mußten die Fliegerverbände des Osmanischen Reiches ebenfalls herbe Rückschläge hinnehmen. Die türkischen Staffeln in Mesopotamien befanden sich 1918 noch im Aufbau, obwohl sie bereits Einsätze flogen. Jedoch waren hier weniger die britischen Gegner als vielmehr die äußerst schwierigen Bedingungen des Landes gefürchtet. Viele Flugzeugführer kämpften mit klimabedingten Erkrankungen oder litten an Mangelernährung, da die Versorgungswege nach Mesopotamien nicht die nötigen Kapazitäten zu Sicherung des Unterhalts der Truppe nach akzeptablen Standards besaßen. Auch das Material wurde bis an seine Grenzen und darüber hinaus durch die mesopotamische Witterung beansprucht. So berichte Major Serno von einem Aufklärungsflug, bei dem zwei deutsch-türkische Maschinen verloren gingen. Das erste Flugzeug mußte bald nach dem Start in der Wüste notlanden, da der Motor bei einer Schattentemperatur von 50° Celsius versagte. Die zweite Besatzung versuchte die Notgelandeten in ihrem Flugzeug auszufliegen, doch auch dieser Motor versagte bald durch die hohe Belastung und die Maschine mußte notlanden. Die Besatzungen versuchten sich zu Fuß zu bewohntem Gebiet durchzu- schlagen. Von den gestarteten 4 Soldaten erreichten nur 2 Mann völlig erschöpft die britischen 872 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 159f. Holzhausen, Rudolf: Der Einsatz der deutschen Truppen im Gebiet der heutigen Staaten Israel, Jordanien und Syrien während des Ersten Weltkrieges, o.J. [1958], BAMA Freiburg, PH 5 I/20, S. 4. (Im Folgenden: PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten.) Zu Rudolf Holzhausen: Gröschel, Dieter/Gavish, Dov: Rudolf Holzhausen – Weltkriegsflieger, Diplomat und Historiker. Das Schicksal eines deutschen Offizieres im 20. Jahrhundert, in: Das Propellerblatt – Mitteilungsblatt der Interessengemeinschaft Luftfahrt 1900-1920, Nr. 9/2004, S. II/325-II/335. 874 PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 17. 873 218 Linien, wo sie in Gefangenschaft kamen.875 Solche Verluste ohne Feindeinwirkung und nach „nur“ etwa 24 Stunden Marsch durch die mesopotamische Wüste waren bei der angespannten Versorgungslage sehr schwer zu ersetzen. Im Kaukasus verfügten die den Armeen unterstellten Fliegerformationen im Mai 1918 über keine einzige einsatzfähige Maschine mehr. Während die türkischen Heeresverbände sich nach dem offiziellen Ausscheiden Russlands aus dem Kriege hier auf dem Vormarsch befanden, hatten die Flieger mit dem Gelände zu kämpfen. Das Gebirge bot keine ausgebauten Wege, um die großen Flugzeuge und die gesamte Ausrüstung von den Endbahnhöfen zu den weit entfernten Flugfeldern zu transportieren, zudem fehlten geeignete Transportmittel.876 So hatten die Fliegerformationen den Großteil der Maschinen auf dem Vormarsch verloren und der Rest war entweder durch Schäden oder mangelnden Ersatzteil-Nachschub nicht einsatzfähig. Zwar wurden neue Maschinen an diese Front verlegt, jedoch trafen sie nicht mehr rechtzeitig vor Kriegsende ein.877 Dadurch verloren die osmanischen Kaukasusverbände eine Aufklärungskomponente, die gegenüber – meist irregulären – armenischen oder georgischen Einheiten einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bedeutet hätte. Ende September 1918, als sich der Zusammenbruch der osmanischen Fronten abzeichnete, war das Ende des fliegerischen Engagements Deutschlands im Orient absehbar. Durch den erfolgreichen Ausbruch der Entente-Truppen aus dem Brückenkopf nahe der griechischen Stadt Saloniki am 15.9. wurde Bulgarien bald zur Kapitulation gezwungen (30.9.).878 Die osmanische Führung konzentrierte daher sämtliche Reserven aus dem Raum Konstantinopel, darunter auch die Fliegerverbände und die Flak-Formationen, an der europäischen Grenze des Reiches, um einen eventuellen Vorstoß gegen die Hauptstadt abwehren zu können.879 Unterdessen eroberten britische Truppen am 1. Oktober Damaskus, am 16. Oktober Homs, wobei der gesamte Stab der 4. Armee in Gefangenschaft geriet, und am 25. 875 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 34. Der Bahntransport zum Stationierungsort war aus Gründen der Materialschonung und des Sparens von knappen Betriebsstoffen für die Flieger üblich. Zudem besaßen die Maschinen nur eine eingeschränkte Flugreichweite, die bei den großen Entfernungen im Osmanischen Reich eine Verlegung „im Fluge“ nur selten erlaubte. 877 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 32f. 878 Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 92f. u. S. 493 879 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 36. 876 219 Oktober Aleppo. Die verbliebenen Verbände des Unternehmens „Yildirim“ mußten ihr Hauptquartier bereits im anatolischen Adana aufschlagen.880 In Mesopotamien gingen die britischen Truppen am 23. Oktober zum Angriff über und die türkischen Truppen mußten zurückweichen.881 Die Zerfallserscheinungen machten sich bei den Fliegern schmerzhaft bemerkbar: „Ein am Morgen des 20. September auf dem Flugplatz El Afuleh in der Jesraelebene zu einem Aufklärungsflug gestarteter Flieger-Hauptmann landete zwei Stunden später wieder auf seinem Flugplatz inmitten der Engländer.“882 Der Herbst des Jahres 1918 bedeutete für die deutschen Flieger in Syrien und Mesopotamien ständige Rückzüge, auf denen sie ihre Maschinen nicht mitnehmen konnten. Auf dem Flugfeld von Rajak, nördlich von Damaskus fanden die Briten auf ihrem Vormarsch 32 verbrannte Flugzeuge, die von ihren Besatzungen zerstört zurückgelassen worden waren. Die deutschen Fliegerabteilungen verfügten noch über 6 einsatzbereite Maschinen, als am 30. Oktober 1918 der Waffenstillstand von Mudros den Krieg für das Osmanische Reich beendete.883 Damit endete der Einsatz für etwa 600 Deutsche, darunter 150 Angehörige des fliegenden Personals, die seit 1915 Dienst in den osmanischen Luftstreitkräften getan hatten.884 460 Flugzeuge unterschiedlicher Typen lieferte Deutschland während des Krieges an die Türkei. Von diesen waren am Kriegsende ungefähr 200 Maschinen übrig geblieben, die meisten dürften jedoch nur noch Schrottwert gehabt haben.885 Major Serno gibt die Verluste des deutschen Personals in der osmanischen Fliegertruppe mit 34 Mann an, zu denen noch die Verluste der deutschen Fliegerabteilungen kommen, die Rudolf Holzhausen mit 45 Fliegern errechnet.886 Über die Verluste an türkischem Personal liegen keine zuverlässigen Angaben vor. 880 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 201. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 203. 882 PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 25. 883 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 162. 884 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 38. 885 Vgl. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 163 und Erickson, Ordered to Die 2001, S. 230. Erickson gibt diese hohe Zahl verbliebener Flugzeuge an, spricht aber von „varying conditions of oparability“. Die Berichte der Flieger und die Begleitumstände des türkischen Zusammenbruchs lassen jedoch kaum Zweifel über die technischen Zustände der meisten Maschinen zu. 886 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Den Heldentod starben in Pflichterfüllung im Dienste der türkischen Fliegertruppe 1915-1918“, o. Seitenzahl. PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 28f. Die Zahl erscheint recht hoch und ungenau. Zieht man jedoch die Verlustzahlen der gesamten deutschen Fliegertruppe heran, die 881 220 IV. Die Eindrücke vom „Verbündeten im Orient“ IV.1. „Wege zum Ruhm“? – Motivation und Orientbild deutscher Soldaten Viele Akten und Unterlagen der Militärmission gingen beim Rückzug aus dem zerfallenden Osmanischen Reich verloren und im Zweiten Weltkrieg wurden die Bestände des Heeresarchivs in Berlin zum größten Teil vernichtet.887 Die folgenden Ausführungen fußen daher auf den wenigen erhaltenen Berichten von Soldaten aus dem Kriege und der recht zahlreichen Memoirenliteratur aus späterer Zeit. Da im militärischen Schriftverkehr zwar durchaus über Erfahrungen, aber nicht über persönliche Antriebe berichtet wurde, müssen diese indirekt aus Andeutungen und Anspielungen erschlossen werden. Auch die Darstellungen in den veröffentlichten Erinnerungen sind mehr oder weniger von der Intention des Verfassers beeinflußt. Zunächst fällt auf, daß sich ein großer Teil der deutschen Offiziere – zumindest in den Jahren bis 1917 – freiwillig zum Dienst im Osmanischen Reich meldete, eine Tatsache, die sich schon bei den Offizieren der Militärmission vor Beginn des Weltkrieges feststellen läßt. Dabei wird sicher der finanzielle Anreiz durch die Eingliederung in das Vertragsverhältnis der Militärmission eine Rolle gespielt haben, auch wenn kein Offizier diese wirtschaftlichen Erwägungen offen zugab. Die Hoffnung auf eine Beschleunigung der eigenen Karriere wird hingegen während des Krieges ganz offen angesprochen. Der bayerische Major Ludwig Schraudenbach etwa berichtet in seinen Aufzeichnungen, daß seine Verwendung als Generalstabsoffizier an der Westfront seit November 1914 „wenig anregend“ gewesen sei: „Und keine Aussicht auf Änderung dieser Verhältnisse in absehbarer Zeit, keine Rede von einem Flüssigwerden der erstarrten Fronten in Flandern und im Artois, und nach meinem Dienstalter keine Hoffnung auf baldiges Erreichen einer Chefstelle, des ersehnten Abschlusses jeder Generalstabslaufbahn.“888 durchweg als sehr groß anzusetzen sind, muß man eine gewissen Plausibilität einräumen. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 585-588. 887 Petter, Wolfgang: Zur deutsch-türkischen Zusammenarbeit im Ersten Weltkrieg, Manuskript o. Ort und o. Dat. (Archiv des Verfassers), S. 7 u. S. 10. 888 Schraudenbach, Ludwig: Muharebe – Der erlebte Roman eines deutschen Führers im osmanischen Heere 1916/17, München 1925, S. 16. (Im Folgenden: Schraudenbach, Muharebe 1925.) 221 Auf die Nachricht hin, daß ein deutscher Offizier zur Verwendung als türkischer Divisionskommandeur gesucht werde, meldete er sich sofort, ohne Näheres über die fremde Armee oder das mögliche Einsatzgebiet zu wissen.889 Auch der preußische Major Hans Guhr, im Frühjahr 1916 noch Regimentskommandeur in Flandern, meldete sich in die Türkei, um „dort einen größeren Wirkungskreis als im eigenen Heere“890 zu finden, und ebenso war für den württembergischen Oberst Gerold von Gleich, der als Chef des Stabes einer Etappeninspektion eingesetzt war, die Meldung in die Türkei „letzter Ausweg aus der unkriegerischen Tätigkeit“891 an der Westfront. Vordergründig sollten die Hoffnungen dieser Offiziere nicht enttäuscht werden, denn durch die Unterstellung unter die Militärmission erhielten sie einen höheren Dienstgrad und auch ein Truppenkommando.892 Allerdings zeigte sich bald, daß der neue Wirkungskreis auf dem „Nebenkriegsschauplatz Orient“ militärisch weniger zufriedenstellend war, als sich die „Freiwilligen“ erhofft hatten. Der bekannteste Wortführer der „freiwilligen Meldung, um einer unangenehmen Verwendung zu entgehen“, war Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz. Im Jahre 1914 war von der Goltz als Generalgouverneur von Belgien eingesetzt, eine Stellung, die den alternden Feldmarschall keineswegs erfreute, wie er in einem Brief an seinen Freund Pertev Pascha schrieb.893 Die Freude war daher groß, als Goltz Ende November 1914 gefragt wurde, ob er erneut in die Türkei gehen würde. Dort sollte er für eine sachdienliche Zusammenarbeit aller deutschen Kräfte in der Türkei sorgen, da Liman von Sanders diese Aufgabe offenbar nur unzureichend erfüllte.894 Diese 889 Er konnte lediglich auf einen Türkeiurlaub im Jahre 1896 zurückblicken; nach der Absetzung des Sultans und der „jungtürkischen Revolution“ in Konstantinopel können diese „Vorerfahrungen“ durchaus als wertlos für seine künftige Stellung bezeichnet werden. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 15-17. 890 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 15. 891 Gleich, Gerold von: Vom Balkan nach Bagdad – Militärisch-politische Erinnerungen an den Orient, Berlin 1921, S. 67. (Im Folgenden: Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921.) 892 MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der Türkei, Blatt 28 u. Blatt 30. Für aktive Kommandeure war mit dem erhöhten Dienstgrad das Kommando über größere Formationen verbunden. Allerdings konnten auch Stabsoffiziere, die zuvor kein Truppenkommando innehatten, in gleiche Verwendungen (etwa als Divisionskommandeur) gelangen. Der Dienstgrad reichte den Entscheidungsträgern auf deutscher wie türkischer Seite als Befähigungsnachweis offenbar aus. Nicht alle Offiziere kamen jedoch in den Genuß dieses Vorzugs. Oberst von Gleich etwa wurde zwar Chef des Stabes der 6. osmanischen Armee, aber (zunächst) nicht der Militärmission unterstellt. Solche Fälle waren jedoch eher Ausnahmen. Siehe hierzu Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 67. 893 Brief von Goltz Pascha an Pertev Pascha aus Brüssel vom 17.10.1914, BAMA Freiburg, N 737/ 11, Blatt 30. 894 Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 377. 222 koordinierende Funktion wurde Goltz in Wirklichkeit zwar nie zugebilligt, doch die Verwendung als Berater Enver Paschas und später auch Armeeführer war ihm begehrenswerter als die Tätigkeit hinter der Westfront in Europa. In einem Brief an seine Frau vom April 1915 schreibt er: „So bin ich denn nunmehr wohlbestallter Oberbefehlshaber [einer Armee]. Was das Vaterland mir hartnäckig verweigert, hat mir am Ende die Fremde gewährt.“895 Aber nicht nur Offiziere versprachen sich Vorteile von einer Verwendung im Orient. Zahlreiche Eingaben beim bayerischen Kriegsministerium belegen, daß sich auch Mannschaftsdienstgrade und Unteroffiziere um den Dienst in der Fremde bewarben. Diese Dienstgradgruppen besaßen jedoch nur eingeschränkte Karrieremöglichkeiten und zudem waren viele der Antragssteller Angehörige der Reserve, die nach dem Kriege wieder aus der Armee ausschieden. Die Schreiben lassen somit kaum das Streben nach einem höheren Posten oder nach „ereignisreicherer Frontverwendung“ erkennen.896 In der Mehrzahl der Anträge sind die Aussichten auf lukrative Beschäftigungen nach Kriegsende als Beweggründe genannt. So möchte der Jäger Rapold als Sanitäter in die Türkei versetzt werden, um mit den dort erworbenen Landeskenntnissen nach dem Kriege nicht näher genannte „Geschäftsbeziehungen“ aufbauen zu können.897 Ebenso richtet Hans Weinberger vom bayerischen ReserveInfanterie-Regiment Nr. 15 die Bitte an das Münchner Ministerium, in die Türkei versetzt zu werden, weil er vor dem Kriege als Kaufmann in Triest tätig gewesen sei und später „zum Nutzen des Vaterlandes“ wieder im Adria- und Mittelmeerraum Handel treiben wolle.898 Die Reihe solcher Anträge läßt sich noch um weitere Berufsgruppen erweitern, denn neben Kaufleuten ersuchten beispielsweise auch 895 Brief von Goltz an seine Frau aus Konstantinopel vom 19.4.1915. Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 405. 896 Eine augenfällige Ausnahme ist der bayerische Unteroffizier Berger, der wiederholt um Verwendung „in Vorderfront“ auf dem Balkan oder in der Türkei ersucht und schließlich sogar dem bayerischen König schreibt. Ihm wird schließlich erlaubt, in eine fremde Armee einzutreten, da er mit 48 Jahren in Deutschland nicht mehr wehrpflichtig sei. Ob er dies wirklich tat, geht aus den Akten nicht hervor. Schriftwechsel Unteroffizier Berger mit Bayerischem Kriegsministerium im Februar 1916 und August 1917, KA München, MKr. 571. 897 Schreiben von Richard Rapold an das Bayerische Kriegsministerium vom 27.3.1917, KA München, MKr. 13841. 898 Schreiben der Mutter von Hans Weinberger an das Preußische Kriegsministerium vom 22.3.1916, KA München, MKr. 224. 223 Archäologen oder Geologen um eine Versetzung nach Kleinasien, wo sie sich aufgrund der zahlreichen antiken Stätten ein reizvolleres Betätigungsfeld erhofften als an europäischen Fronten.899 Sogar deutsche Zivilpersonen versuchten im Osmanischen Reich Anstellung zu finden, wobei sie sich sowohl an das deutsche Generalkonsulat als auch an die Offiziere der Militärmission, die in den türkischen Ministerien tätig waren, wandten. Die deutschen Stellen wurden Anfang 1916 offenbar von einer Flut derartiger Anträge bedrängt, daß sich das Konsulat in Konstantinopel gezwungen sah, direkt an den Reichskanzler zu schreiben: „Wie ich von deutschen Offizieren und Beamten höre, die in türkischen Diensten stehen, werden auch die hiesigen Ministerien mit Stellungsgesuchen in unglaublicher Weise belästigt [...]. Diese Stellenjägerei, die oft geradezu würdelose Formen annehmen soll, ist nichts weniger als geeignet, das deutsche Ansehen in türkischen Kreisen zu heben. [...] Bei den vielen Gesuchen [...] scheinen die Antragssteller durchweg an der Einbildung zu leiden, daß die Türkei ein Land ist, in dem Milch und Honig fließt und in dem fabelhafte Gehälter gezahlt werden. Tatsächlich liegen die Verhältnisse so, daß die Türkei nach nahezu vierjähriger fast ununterbrochener Kriegführung wirtschaftlich in besorgniserregender Weise geschwächt ist, daß keine Requisitionen gezahlt werden, daß die Löhnung der Truppen meist im Rückstand ist und daß auch die Beamten in steter Sorge leben, ob sie am nächsten Fälligkeitstag ihr Gehalt ganz oder wenigstens teilweise erhalten werden.“900 Die priviligierten Dienstbedingungen der Angehörigen der Militärmission und des technischen Personals, das etwa zum Aufbau einer türkischen Rüstungsindustrie eingesetzt wurde, blieben den zivilen Bittstellern bis 1916 offenbar nicht verborgen. Allerdings waren die Rahmenbedingungen des militärischen Dienstes – zu dem auch die dem osmanischen Kriegsministerium unterstehenden Rüstungsbetriebe und die Militärbeamten der Eisenbahn gehörten – nicht mit denen einer zivilberuflichen Stellung im Osmanischen Reich zu vergleichen. Daher verwundert es nicht, daß die meisten Anträge abgelehnt wurden, zumal bereits im April 1915 ein Ministerialerlaß vorschrieb, daß Versetzungen in die Türkei nur 899 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, 149f. Schreiben des Kaiserlich Deutschen Generalkonsulats Konstantinopel an Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 17.2.1916, KA München, MKr. 224. 900 224 noch auf ausdrückliche Anfrage der Stellen vor Ort genehmigt werden dürften.901 Es wird jedoch ebenso deutlich, daß größere Teile der deutschen Bevölkerung die Hoffnung auf ein „besseres“ Leben im Osmanischen Reich hatten, wobei dies für Militärangehörige und Zivilbevölkerung gleichermaßen zutraf. Der Umstand, daß die Realität im Orient anders aussah und besonders das militärische Betätigungsfeld den Erwartungen in puncto Prestige- und Ehrgewinn kaum entsprach, war offenbar nur sehr wenigen Deutschen bekannt. Vordergündig sollten sich einige Erwartungen allerdings erfüllen, denn durch die vertraglich gesicherte Beförderungspolitik der Militärmission kamen zahlreiche Offiziere sehr einfach zu einem höheren Dienstgrad, den sie oft – wenngleich nicht immer – beim Übertritt in die deutschen Streitkräfte behielten. Zudem lohnte sich der Dienst in der Militärmission finanziell durchaus für die deutschen Offiziere. Hingegen sind überindividuelle Motive für ein Engagement im Orient in keinem Schreiben zu finden. Auch Freiherr von der Goltz läßt – trotz aller Sympathie für das Orientalische – nicht erkennen, daß sein Einsatz einer ideellen Verpflichtung gegenüber dem Osmanischen Reich entspringen könnte. Möglicherweise schrieben die Bewerber einem solchen Argumentationsgang nur sehr geringe Erfolgsaussichten bei den deutschen Kriegsministerien zu und verzichteten deshalb darauf. Ebenso wahrscheinlich ist jedoch, daß zumindest den Offizieren aus ihrem Selbstverständnis heraus eine solch enge Verbindung zu einem anderen als dem eigenen Kriegsherrn undenkbar erschien. In vielen Anschreiben taucht daher der Hinweis darauf auf, wie gewinnbringend der Einsatz des Bewerbers im Orient letztlich für das Deutsche Reich seien. Bei der Durchsicht einiger Gesuche drängt sich aber auch der Verdacht auf, daß eine Versetzung in das Land, „in dem Milch und Honig fließt“, gleichzeitig einen angenehmeren Dienst versprach als auf dem europäischen Kriegsschauplatz. Als Beispiel sei hier der Gefreite Karl Merker genannt, der um eine Versetzung in die Türkei ersucht, da er nach dem Kriege als Kapitulant im osmanischen Heer dienen wolle. Als dieses Ersuchen abgelehnt wird, bringt er eine ärztliche Bescheinigung bei, nach der er aufgrund eines Lungenleidens nicht mehr für die „Alpenfront“ geeignet 901 Es handelt sich um den Erlaß No. 35915/15, der ebenfalls der deutschen Militärmission (Aktenzeichen: 169-IIIaXVII 5b) zugegangen sein soll. Schreiben des Gefreiten Karl Merker an das Bayerische Kriegsministerium vom 21.8.1915, KA München, MKr. 571. Aufgrund des Aktenverlustes läßt sich dies allerdings nicht verifizieren. 225 sei.902 Da es nach der Einreichung des Attests in keinem Schreiben mehr um eine Versetzung in den Orient geht, liegt der Verdacht nahe, daß es sich hierbei um einen Vorwand handelte. Nicht alle deutschen Soldaten vertraten die Auffassung, man könne im Osmanischen Reich schnell zu Prestige oder Reichtum gelangen, manche fürchteten auch, an eine „ruhige Front“ versetzt zu werden. General Erich von Falkenhayn, der 1917 die Heeresgruppe F im Osmanischen Reich übernehmen sollte, war wohl der prominenteste Vertreter dieser Gruppe.903 Oberst Hermann Ritter Mertz von Quirnheim904 traf den General als Abgesandter der deutschen OHL auf dem Bahnhof in Sofia: „Zunächst fragte er mich, ob man denn keine noch entlegenere Gegend als Mesopotamien wüßte, um ihn aus Mitteleuropa zu entfernen.. Ich stellte einen solchen Hintergedanken der O.H.L. in schroffste Abrede [...]. Wenn ich geglaubt hatte, General von Falkenhayn beruhigt zu haben, so war das eine Täuschung. Nicht nur mir, sondern auch General von Lossow gegenüber kam v. F. immer wieder darauf zurück, dass man ihn von Mitteleuropa abschieben wolle.“905 Der deutsche General stand mit seiner Meinung, daß es sich beim Osmanischen Reich um einen „minderwertigen“ Kriegsschauplatz handele, keineswegs alleine da. Im gleichen Jahr hatten bereits zwei deutsche Offiziere ein Büchlein über ihre Erlebnisse in Palästina veröffentlicht und „eingestanden“, daß ihre Erlebnisse kaum mit den 902 Merkers Antrag wird schließlich dennoch abgelehnt und er wird als „nicht gebirgstauglich“ einem anderen Infanterie-Regiment zugeteilt. Schriftwechsel des Gefreiten Karl Merker mit dem Bayerischen Kriegsministerium im August 1915, KA München, MKr. 571. 903 Falkenhayn war als Chef der deutschen OHL sehr jung gewesen, was für seinen Ruf spricht und gleichzeitig erklärt, warum ihm von (dienst-)älteren Offizieren durchaus Neid entgegengebracht wurde. Seine Leistungen in Rumänien wurden anerkannt, standen aber stets im Schatten der Schlacht(en) um Verdun. Der k.u.k. Militärbevollmächtigte in Konstantinopel berichtete, daß Falkenhayns militärischen Fähigkeiten im Osmanischen Reich stark angezweifelt wurden. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 280. Zu Falkenhayns militärischer Laufbahn siehe: Afflerbach, Falkenhayn 1994, hier besonders S. 103-145, S. 437-456 und S. 465-470. 904 Hermann Ritter Mertz von Quirnheim war seit dem 10.8.1916 Chef der neuen Generalstabsabteilung B, die für den mazedonischen und türkischen Kriegsschauplatz zuständig war. Heyl, Gerhard: Hermann Mertz von Quirnheim, in: Neue deutsche Biographie, Band 17, Berlin 1994, S. 189f. 905 Mertz von Quirnheim, Hermann: Bemerkungen zu: „Die Ursachen für den Zusammenbruch der Palästina-Front“ bearbeitet von Generalmajor a.D. von Frankenberg und Proschlitz, Potsdam, Mai/Juni1930. BAMA Freiburg, W 10/ 50592, S. 7. Falkenhayn strebte offenbar eine Versetzungan die Westfront an und sah jede andere Front als „Abstellgleis“ an. Siehe hierzu: Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 471. 226 großen Ereignissen der Westfront mithalten könnten.906 Insbesondere die subalternen Fliegeroffiziere machen in ihren Veröffentlichungen keinen Hehl aus der Tatsache, daß sie sich „mit dem begnügen mußten, was die Westfront übrig ließ.“907 Oberleutnant Euringer schrieb verbittert: „Der „blaue Max“ [preußischer Orden „pour le mérite“] zum Hals heraus wuchs in dieser Wüste nicht.“908 In vielen Memoiren sind meist im Vorwort Andeutungen zu finden, daß sich der Verfasser geradezu „genötigt“ sah, seine Aufzeichnungen zu veröffentlichen, um die Erlebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit das „Andenken an die Kameraden“ oder den „harten Kampf“ zu ehren.909 Ludwig Schraudenbach geht sogar soweit zu behaupten, daß sich nicht einmal der deutsche Frontkämpfer vorzustellen vermag, was der türkische Soldat zu ertragen hatte.910 Diese Einschätzung diente mit Sicherheit dazu, die eigenen Leistungen unter den Verhältnissen des Orients noch über die Grabenkämpfe an der Westfront zu stellen. Sie erhält allerdings einen „schalen Beigeschmack“, wenn man bedenkt, daß Schraudenbach den größten Teil seiner Dienstzeit mit Reisen durch Kleinasien zu seinen Dienstorten sowie der Besichtigung zahlreicher antiker Stätten, die „auf seinem Weg lagen“, verbrachte und nur wenige Wochen seine eigentlichen Aufgaben wahrnahm, was beinahe ein Kriegsgerichtsverfahren wegen Pflichtvernachlässigung nach sich gezogen hätte.911 Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß ein Gefühl der „Minderwertigkeit“ oder der „Nichtachtung“ der eigenen Tätigkeit keine gute Grundlage für eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem türkischen Bundesgenossen bildete. Zu diesem Umstand konnte noch beitragen, daß der betreffende Deutsche gegen seinen Willen ins Osmanische Reich versetzt worden war, wie es offenbar Falkenhayn erging, oder daß er plötzlich und überraschend aus dem vertrauten Umfeld in das ihm unbekannte 906 Römer, Heinrich/ Ande, Wilhelm: Mit deutschen Maschinengewehren durch die Wüste Sinai, Berlin 1917, S. 9. (Im Folgenden: Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917.) 907 Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 545. 908 Euringer, Richard: Der Zug durch die Wüste – Roman der ersten Expedition deutscher Flieger durch die Wüste, Hamburg 1938, S. 370. (Im Folgenden: Euringer, Zug durch die Wüste 1938.) 909 Zum Beispiel: Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr von: Mit den Türken zum Suezkanal, Berlin 1938, S. 7. (Im Folgenden: Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938.) Kannengießer, Gallipoli 1927, S. 9. 910 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 11. 911 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 115-117. 227 Land entsandt wurde. Der bayerische Major Hans Edler von Kiesling auf Kieslingstein wurde von seiner Versetzung in die Türkei ebenso überrascht wie Josef Drexler, der als Angehöriger des Landsturms im Oktober 1917 nach Palästina beordert wurde.912 Beide verweisen zwar darauf, daß sie sich zuvor freiwillig zum Dienst im Osmanischen Reich gemeldet hatten, aber diese Meldungen waren offenbar längst in Vergessenheit geraten und bei Major von Kiesling lag sie sogar mehr als 8 Jahre zurück.913 Ganz anders war die Situation für den damaligen preußischen Major und späteren Reichskanzler Franz von Papen im Juni 1917, als ihn die Nachricht von der Versetzung zur Heeresgruppe F während einer Inspektion der Schützengräben seines Infanterie-Bataillons an der Westfront erreichte.914 Aus militärischer Sicht kann die „unfreiwillige“ Versetzung kaum verwundern, denn als Soldaten hatten die Angesprochenen mit solchen Entscheidungen zu rechnen und Befehle zu befolgen. Außerdem wurden 1917 die Verbände für das Unternehmen „Yildirim“ zusammengestellt, die neben Infanterieeinheiten zahlreiche Unterstützungs- formationen umfassen sollten. Der Personalbedarf war deswegen bedeutend größer als noch in den Jahren zuvor und Rücksicht auf freiwillige Meldungen konnte nicht genommen werden. Solche Rücksicht war auch kaum notwendig, denn im Gegensatz zu dem größten Teil der deutschen Heeresangehörigen, die sich im Osmanischen Reich aufhielten, waren die „Pascha II“-Formationen nicht der Militärmission zugeteilt und erhielten daher keine der bekannten Privilegien. Dadurch interferierten sie aber auch nicht mit der osmanischen Kommando- und Sozialhierarchie, was eigentlich eine wesentliche Erleichterung darstellte. Daß diese Konstellation sich jedoch kaum positiv auswirkte, wird später noch zu behandeln sein.915 912 Kiesling auf Kieslingstein, Hans Edler von: Soldat in drei Weltteilen, Leipzig 1935, S. 146. (Im Folgenden: Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935.) Über Josef Drexler liegen keine weiteren Informationen vor. Aus seinen Aufzeichnungen läßt sich allerdings entnehmen, daß er offenbar als Unteroffiziersdienstgrad dem Landsturm angehörte. Drexler, Josef: Mit Jildirim ins Heilige Land – Erinnerungen und Glossen zum Palästina-Feldzug 1917-1918, Selbstverlag des Verfassers 1919, S. 3. (Im Folgenden: Drexler, Jildirim 1919.) 913 Drexler, Jildirim 1919, S. 3. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 119f. 914 Papen, Franz von: Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 87. (Im Folgenden: Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952. 915 Siehe hierzu beispielsweise unten, S. 334-337. 228 Die quantitative Erhöhung der Truppenpräsenz in den letzten Kriegsjahren führte offenbar zu einer noch oberflächlicheren Vorbereitung des Personals für den Dienst im Orient. Aus der Regimentsgeschichte des Infanterie-Regiments Nr. 146, der einzigen größeren Einheit des Asienkorps, geht hervor, daß zwar zahlreiche organisatorische und technische Änderungen vorgenommen wurden, doch eine spezielle Vorausbildung für den Einsatz an der Seite des Osmanischen Reiches unterblieb. So besaß das Regiment nach der Reorganisation mehr als genug Tropenausrüstung für die Soldaten und alle Angehörigen der Formation mußten aus medizinischer Sicht „tropendiensttauglich“ sein. Der Stärke des Regiments wurde auf etwa 2.800 Mann aufgestockt, wobei besonders die Zahl der Offiziere auf 96 erhöht wurde. Damit besaß das I.R. 146 mehr Offiziere als im Soll eines InfanterieRegiments 1914 vorgesehen waren, was bei den 916 Führungspersonal während des Krieges beachtlich ist. hohen Verlusten an Möglicherweise flossen hier die Erfahrungen aus der Türkei ein, die zeigten, daß manche Widerstände oder Probleme nur durch Eingreifen von Offizieren gelöst werden konnten. Vielleicht lagen auch taktische Erwägungen vor, nach denen die Teile des Regiments als „Korsettstangen“ zwischen den osmanischen Einheiten an der Front eingesetzt werden sollten, wie es später auch wirklich geschah. Über die Hintergründe für die Maßnahmen liegen jedoch keine genauen Angaben vor. In jedem Fall erhielt die Einheit trotz aller Sonderbehandlung keine speziellen Einweisungen in das künftige Einsatzgebiet.917 „Man freute sich, nach zwei Jahren endlich aus dem eintönigen Stellungskriege in Mazedonien heraus zu kommen und in einem fremden, geschichtlich denkwürdigen Lande vor etwas Neues gestellt zu werden. [...] Nur bei den Erfahrenen mischten sich mit diesem [Stolz] leise Zweifel darüber, 916 ob man dort auf einem Ende 1916 waren sogar die Gefechtsstärken der Bataillone im deutschen Westheer auf 650 Mann (etwa 60% der vorherigen Personalstärke) gesenkt worden. Bei 3 Bataillonen pro Regiment sind das 1950 Mann pro Regiment. Selbstverständlich schwanken diese Zahlen durch etwaige Gefechtsverluste. Ebenso muß zwischen Gefechtsstärke und Verpflegungsstärke (d.h. Zahl inklusive rückwärtiger Formationen) unterschieden werden. Cron, Hermann: Geschichte des Deutschen Heeres im Weltkriege 1914-1918, Berlin 1937 (ND 1990),S. 116f. Zu den Offizierverlusten: Altrock, Constantin von: Vom Sterben des deutschen Offizierkorps – Die Gesamtverluste unserer Wehrmacht im Weltkrieg, Berlin 2 1922, S. 53-75. 917 Das 1. Masurische Infanterie-Regiment Nr. 146 – 1897-1919, herausgegeben von der Vereinigung ehemaliger Offiziere des Regiments, Berlin 1929, S. 209. (Im Folgenden: Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929.) 229 Nebenkriegsschauplatz, militärisch dankbare Aufgaben vorfände. Man hatte über den Kampfwert des türkischen Bundesgenossen allzu ungünstige Urteile gehört.“918 Wie bereits gezeigt, standen die Soldaten des Regiments mit ihrer Unwissenheit nicht allein da. Weder Franz von Papen noch General Falkenhayn oder der immerhin lange Jahre in Chile tätige Hans von Kiesling verfügten über ausreichende Kenntnisse des orientalischen Kriegsgebietes und der verbündeten Truppen. Dieser Mißstand galt jedoch nicht nur für die Angehörigen des „Yildirim“ Unternehmens, sondern gleichzeitig für fast alle Soldaten, die seit 1914 nach Kleinasien versetzt oder kommandiert wurden. Obwohl von der Goltz versucht hatte, den nachfolgenden Offizieren einen Leitfaden für die Tätigkeit und das Verhalten in der Türkei zu geben, waren seine Bemühungen weitgehend folgenlos geblieben. Selbst wenn diese Winke an das gesamte deutsche Führungspersonal ausgegeben worden wären, so behandelten sie doch das Verhalten von Instruktionsoffizieren im Frieden und konnten nur bedingt auf den Krieg angewendet werden. Da sich aber alle Offiziere, die aufgrund freiwilliger Meldung zur Militärmission versetzt wurden, zunächst in Berlin zu melden hatten, wäre hier eine Möglichkeit gewesen, die Betreffenden in die Lage am Bosporus einzuweisen oder zumindest einige Richtlinien auszugeben. Nichts dergleichen geschah. Auch die sich auf die Türkei beziehenden dienstlichen Einweisungen wurden als unzureichend empfunden. Ludwig Schraudenbach beklagte sich: „Aber wenn ich geglaubt hatte eine sachgemäße Anweisung, sei es über die Stellung, die Befugnisse, die Gebühren der deutschen Offiziere im türkischen Heere, sei es über Ausrüstung und deren Bezugsquellen und dergleichen zu erhalten, so sah ich mich enttäuscht. Man mußte allerdings einen Folianten von Verfügungen und Bestimmungen (Lektüre für drei Tage!) so im Vorbeigehen als gelesen unterzeichnen.“919 Auch Major von Kiesling konnte lediglich von „nichtssagenden Instruktionen“ berichten, die ihm in Berlin gegeben wurden, und Hans Guhr erfuhr nur durch seinen Besuch in der türkischen Botschaft, welche Aufgabe ihm zugeteilt werden würde.920 918 Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 212. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 19. 920 Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935, S. 146. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 16. Wie unzureichend die Vorbereitung in Deutschland war, zeigt auch, daß General Hans von Seeckt 919 230 Angesichts dieser Aussagen erstaunt es nicht, daß weitergehende Fragen nach Land und Leuten offenbar erst gar nicht gestellt wurden, zumal sogar höchste Stellen keine befriedigenden Auskünfte erteilen konnten. So sollte der preußische Oberst Oskar Gressmann unter Beförderung zum preußischen Generalmajor im Juni 1916 zum „deutschen Bevollmächtigten in Mesopotamien“ ernannt werden: „Was ich dort solle? Ordnung schaffen im Verhältnis der Deutschen untereinander und zu den Bundesgenossen. Wie es dort aussähe? Das wisse man selbst nicht. [...] Auch er [Falkenhayn] konnte mir nur auf meine Frage antworten: ‚Ich sehe in den Verhältnissen auch nicht klar, weiß nur, daß vieles nicht stimmt. Sie müssen sehen, was Sie aus Ihrer Stellung machen.` “921 Zum Glück für Gressmann war er bereits seit 1915 am Bosporus gewesen und hatte als Artillerieführer bei der 5. osmanischen Armee die Kämpfe an den Dardanellen mitgemacht, so daß ihm zumindest Teile der Landessitten bekannt gewesen sein dürften.922 Die Tatsache, daß man in Berlin die Erfahrungen eigener „Orientkämpfer“ nicht ausgewertet hat, aber auch auf die Erkenntnisse anderer, so etwa des 1915 krankheitsbedingt ausgeschiedenen bayerischen Hauptmanns Carl Endres, nicht einbezog, erwies sich als ernstzunehmde Erschwernis.923 Im Vergleich zu den europäischen Fronten wurde dem orientalischen Kriegsschauplatz von der deutschen Führung nur eine untergeordnete Rolle zugeschrieben, weshalb der Vorbereitung der „Orientkämpfer“ nur ein begrenztes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Man war auch nicht in der Lage, den deutschen Offizieren nützliche Unterlagen oder Handbücher mitzugeben. Karten für die Fronten des Osmanischen Reiches waren rar und, wenn überhaupt vorhanden, im Maßstab für den militärischen Gebrauch ungenügend.924 Büchlein wie etwa die „Kurze militärgeographische Beschreibung im Dezember 1917 (!) nach mehrmaligen Besprechungen in Berlin und Lageeinweisung im kaiserlichen Großen Hauptquartier in Kreuznach lediglich vermerken konnte: „Von den Türken verstehe ich noch nichts.“ Rabenau, Seeckt 1940, S. 15 u. 54. 921 Aus den Erinnerungen von Oskar Gressmann, Exc., General und Pascha, KA München, M 68, S. 1. 922 MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der Türkei, Blatt 27. 923 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 46. 924 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 44. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 20. Oberst von Gleich schrieb: „Das geradezu jammervolle Kartenmaterial, es waren rohe, durch die Umdruckpresse der Türken hergestellte Skizzen, erlaubte nicht einmal, die Ortschaften ganz einwandfrei festzulegen.“ Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 128. 231 von Mesopotamien“, herausgegeben von der kartographischen Abteilung des Generalstabes, waren laut eigener Aussage nur bedingt zuverlässig: „Vorbemerkung: Bei der militärgeographischen Beschreibung eines Landes, das wie Mesopotamien, in vielen Einzelheiten noch wenig erforscht ist, müssen oft Vermutungen geäußert werden, statt sichere Nachrichten zu geben. Ergänzungen und Berichtigungen an die Adresse der kartographischen Abteilung des stellvertretenden Generalstabes der Armee in Berlin sind erwünscht.“925 Die wenigen Druckschriften oder Merkblätter, die in Berlin ausgeteilt wurden, stammten von Autoren, deren Sachkenntnis von den Offizieren schon in Zweifel gezogen wurde, bevor sie überhaupt einen Fuß in die Türkei gesetzt hatten.926 Wenn sich die Freiwilligen oder Versetzten demnach informieren wollten, so mußten sie sich selbst entsprechende Materialien besorgen. Doch auch hier stießen sie auf Schwierigkeiten. Wichtige Hilfsmittel wie etwa osmanisch-türkische Wörterbücher waren bereits in den ersten beiden Kriegsjahren kaum noch zu bekommen. Georg Jacob, Professor an der Universität Kiel und Herausgeber eines „Hilfsbuches“ für diese schwierige Fremdsprache, kritisiert in seinem Vorwort 1915, daß es das Orientalische Seminar in Berlin in 25 Jahren nicht geschafft habe, auch nur ein brauchbares Türkisch-Deutsches Wörterbuch herauszugeben. Daher müßten sich Deutsche im Orient immer mit Übersetzungshilfen französischen oder englischen Ursprungs behelfen.927 Vokabulare mit den – auch für die osmanische Bevölkerung – neuen Begriffen aus der Marine- oder Flugzeugtechnik kamen erst im Jahre 1916 auf.928 In Deutschland bekamen also die Offiziere und später auch die zahlreichen Mannschaften, die zur Heeresgruppe F versetzt wurden, keine verläßlichen Instruktionen, geschweige denn eine spezielle Ausbildung, und generell nur sehr mangelhafte Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig läßt sich nicht 925 Kartographische Abteilung des stellvertretenden Generalstabes der Armee: Kurze militärgeographische Beschreibung von Mesopotamien, [Berlin] 1915. Enthalten in Schenkung Fritz Berthold, KA München HS 2558. 926 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 19f. 927 Jacob, Georg: Hilfsbuch für Vorlesungen über das Osmanisch-Türkische, I. Teil, Berlin 21915, S. III-IV. Bei den Büchern Georg Jacobs handelt es sich nicht um reine Wörterbücher, sondern um Hilfen zur Erlernung der Sprache. 928 Jacob, Georg: Hilfsbuch über das Osmanisch-Türkische, II. Teil , Berlin 21916, S. 74-77. 232 nachweisen, daß die deutschen Freiwilligen irgendwelche Vorbildung mitbringen mußten. Sprachkenntnisse waren höchstens im Französischen gefordert.929 Diese unzureichende Vorbereitung im Deutschen Reich wirkte sich auf die Offiziere der Militärmission gravierender aus als auf die später geschlossen eingesetzten Formationen des deutschen Heeres. Da die deutschen Missionsangehörigen oftmals alleine oder nur in sehr kleinen Gruppen als Kommandeure oder Generalstabsoffiziere im osmanischen Heer eingesetzt wurden, waren für sie umfangreiche Vorkenntnisse für einen reibungsfreien Dienstablauf unabdingbar. An solch exponierten Stellen wurden selbst kleine Fehltritte penibel registriert und konnten die Zusammenarbeit der Verbündeten beeinträchtigen. Für den deutschen Soldaten, der als Teil der „Pascha II“-Formationen in den Orient versetzt wurde, spielten Landes- und Mentalitätskenntnisse zunächst keine entscheidende Rolle. Der Kampfauftrag unterschied sich grundsätzlich – abgesehen von der stärkeren Koalitonskomponente – kaum von den vorherigen Verwendungen. Konfliktpotentiale versuchte man durch die Schaffung rein deutscher Versorgungslinien von vornherein auszuschalten. Dennoch sorgte gerade dieses Verhalten für eine Verschärfung der Spannungen. Obgleich man auf Zusammenarbeit mit dem türkischen Verbänden angewiesen war, verhielten sich die deutschen Formationen beinahe demonstrativ wie „Fremdkörper“. Die bessere Versorgung für deutsche Heeresangehörige, die ohnehin bereits bessere Ausrüstung mitbrachten als den osmanischen Truppen zur Verfügung stand, war gegenüber den türkischen Befehlshabern nur schwer zu rechtfertigen. Hier rächten sich zugleich die Versäumnisse bei der Vorausbildung der Missionsoffiziere, denn diese konnten trotz ihrer Einbindung in die osmanischen Heeresstrukturen kaum zur Entschärfung der Situation beitragen, wenn sie nicht zuvor über entsprechendes Ansehen innerhalb der türkischen Armee verfügten. Solches Ansehen zu erlangen dauerte jedoch häufig sehr lange und erforderte eine nicht unbedeutende Anpassungsbereitschaft und Erfahrung im Umgang mit dem Verbündeten. Erfahrungen im Osmanischen Reich waren allerdings nicht ausschlaggebend für die Annahme einer freiwilligen Meldung zur Militärmission. Viel wichtiger erschien den personalbearbeitenden Stellen die fachliche Eignung der Kandidaten nach Maßstäben 929 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 15. 233 für den mitteleuropäischen Kriegsschauplatz. Viele Offiziere, wie Ludwig Schraudenbach oder Hans Guhr, waren erfahrene Generalstabsoffiziere oder Truppenführer in den deutschen Armeen.930 Auch die später versetzten Offiziere, wie etwa Hans von Seeckt und Erich von Falkenhayn konnten auf eine beachtliche militärische Laufbahn zurückblicken. Damit setzte das Deutsche Reich jedoch auf die gleichen mangelhaften Rekrutierungskriterien, die bereits vor Kriegsbeginn bei den Militärberatern zu beobachten waren. Auch hier war – wenn überhaupt – auf die fachliche Eignung geachtet worden, während bekannte „charakterliche Mängel“ ignoriert wurden. Obwohl diese Vorgehensweise Erfolg nicht ausschloß, wie etwa das Beispiel des Freiherrn Kreß von Kressenstein zeigt, mußte bei einer steigenden Quote deutscher Offiziere im Orient auch die Anzahl der „schwierigen Persönlichkeiten“ zunehmen und dem türkischen Verbündeten damit stärker ins Auge fallen. Von dem drohenden Kriegsgerichtsverfahren gegen Ludwig Schraudenbach war bereits die Rede. Zudem erschwerte dem bayerischen Major sein „heftiges Temperament“ den Dienst in der osmanischen Armee, das ihm einen Ruf als „Choleriker“ einbrachte.931 Eigentlich hätte eine derartige charakterliche Beurteilung die Versetzung in die Türkei ausschließen müssen, was beim bayerischen Kriegsministerium allerdings keine Beachtung fand.932 Ebenfalls eine schwierige Persönlichkeit besaß General von Falkenhayn. Der Chef der Operationsabteilung des Stabes der Heeresgruppe „F“, Franz von Papen, schreibt dazu: „So sehr ich den offenen und hellen Geist dieses klugen Mannes bewundert habe, [...] so sehr empfand ich diesen Ehrgeiz als die Quelle seiner Mißerfolge und den Anlaß zu unzähligen Streitereien mit dem Verbündeten, der die menschliche Größe Moltkes und der Goltz´ so sehr bewundert hatte, an Falkenhayn nun aber Anlaß zur Kritik fand.“933 930 Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 112f. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 15. 931 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 29. 932 Offenbar war Schraudenbach zudem körperlich nur eingeschränkt tauglich, was die Vermutung nahelegt, daß er als Schwiegersohn eines ehemaligen bayerischen Kriegsministers auch durch persönliche Beziehungen das Kommando in der Türkei erwirkt hatte. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 112f. 933 Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 93f. 234 Ein klares Anforderungprofil für die deutschen Offiziere im Osmanischen Reich ist nicht zu erkennen, doch fällt auf, daß eine Anzahl Deutscher offenbar nicht die notwendigen charakterlichen Voraussetzungen für eine sachdienliche und letztlich effektive Zusammenarbeit mitbrachte. Bei ihnen dominierten eine Sozialisation und ein Selbstverständnis, die aus vermeintlicher Überlegenheit und Überheblichkeit gespeist wurden sowie aus einem Anspruch, der schon in Deutschland zunehmend fraglich wurde und nun eher forcierte Züge erhielt. Diese Problematik war zwar bekannt, sie wurde in ihrer Bedeutung aber nicht erkannt, weil bei entsprechender Einbindung in ein hierarchisches System die Folgen geringer waren, hingegen bei weitgehender Selbständigkeit gravierender wurden. Ein weiterer Punkt, der für die deutschen „Orientkämpfer“ kaum mit hinlänglicher Klarheit erfaßt werden kann, ist die Verschiedenheit der Vorstellungen über das Osmanische Reich. Neben den allgemeinen Überlegungen zu den deutschen Offizierkorps934 wurde zumindest für die bayerische Seite nachgewiesen, daß mehr als die Hälfte dieser Inhaber höherer Stellen in der türkischen Armee Offiziere mit humanistischer Bildung waren.935 Dies mag in ähnlicher Weise für die Gesamtheit der deutschen Offiziere im Orient zutreffen, denn zahlreiche Veröffentlichungen enthalten Hinweise auf antike Literatur, wobei die Ilias des Homer und die Anabasis Xenophons, also Werke, die in der Regel von Abiturienten in der Schule behandelt worden waren, am häufigsten genannt werden.936 Bei vielen Soldaten, die in Palästina eingesetzt waren, trat noch das Wissen über „das Heilige Land“ und Städte wie Jerusalem, Bethlehem oder Nazareth hinzu.937 Eine dritte nachweisbare Quelle für das unreflektierte Orientbild der Deutschen waren in Deutschland populäre Fiktionen, wie Karl Mays Romane oder die „Märchen aus tausendundeiner Nacht“ sowie ältere Reiseliteratur.938 Besonders hervor stach die 934 Siehe oben, S. 116-122. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 145. 936 Zum Beispiel: Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917, S. 16. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 126-129. Lawetzky, Otto: Krieg im Heiligen Land – Erlebnisse eines Truppenarztes in Vorderasien, Berlin 1938, S. 50. (Im Folgenden: Lawetzky, Krieg 1938.) Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 63. 937 Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 91. Drexler, Jildirim 1919, S. 40f. 938 Lawetzky, Krieg 1938, S. 9. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 15. Zur Reiseliterartur des ausgehenden 19. Jahrhunderts findet sich eine gute und übersichtliche Arbeit bei: 935 235 umfangreiche Berichterstattung anlässlich der Besuche Wilhelms II. im Osmanischen Reich.939 Nicht zu unterschätzen ist auch die Nachwirkung des im 19. Jahrhundert verbreiteten „Orientalismus“. Die Begeisterung bürgerlicher Kreise für den „bunten Orient“ hatte in vielen, alltäglichen Bereichen ihren Niederschlag gefunden. Hotels wurden „im orientalischen Stil“ eingerichtet, Literatur beinhaltete Sujets, die als „typisch orientalisch“ bezeichnet wurden, und in der Malerei kam die „Faszination Orient“ ebenfalls zum Ausdruck.940 In Ermangelung neuerer militärischer Literatur über das künftige Einsatzgebiet griffen die deutschen Offiziere auf die Aufzeichnungen Moltkes aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die populären Schriften des Freiherrn von der Goltz zurück.941 Da sich das Osmanische Reich in den letzten fünf Jahren vor Kriegsausbruch gravierend verändert hatte, werden die Offiziere allerdings nur begrenzten Nutzen aus diesen Studien gezogen haben. Generell läßt sich kaum sagen, wie viele der Schilderungen auf Vorbildungen hinweisen, die bereits vor Kriegsantritt bestanden haben oder auf solche, die im Nachhinein in die Aufzeichnungen eingeflossen sind. Selbst „farbenfrohe“ Äußerungen, wie sie Felix Guse benutzt, lassen nur vage auf die Quellen schließen: Erker-Sonnabend, Ulrich (Hrsg.): Orientalische Fremde – Berichte deutscher Türkeireisender des späten 19. Jahrhunderts, Bochum 1987. 939 Die Berichterstattung zum Kaiserbesuch wird thematisiert bei: Honold, Alexander: Der letzte Kreuzritter – 29./31. Oktober 1898: Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem, in: Honold, Alexander/Scherpe, Klaus R.: Mit Deutschland um die Welt – Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart/Weimar 2004. 940 Grundlegende Angaben und Definition zur Entwicklung des deutschen Orientalismus im (frühen) 19. Jahrhundert bei: Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus – Regeln deutschmorgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005 (siehe hier besonders die räumlichen und ethnischen Einrenzungen auf S. 96-101 u. S. 126-142.). Zur Malerei siehe einführend (aber ebenfalls mit Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert): Günther, Erika: Die Faszination des Fremden – Der Malerische Orientalismus in Deutschland, Münster 1990. Aufsätze mit größerer zeitlicher Nähe zum Untersuchungszeitraum: Innerhofer, Roland: „Mir ist so orientalisch zu Muth“ – 1897: Paul Scheerbart publiziert arabische Romane; Bopp, Petra: Orientalismus im Bild – 1903: Rudolf Lehnerts erste Photoexkursion nach Tunesien und die Tradition reisender Orientmaler; Scherpe,Klaus R.: Der Orient im Interieur – Mai 1905: Die Zeitschrift Innen-Dekoration feiert die Exotik des Wiesbadener Palast-Hotels; alle Aufsätze in: Honold, Alexander/Scherpe, Klaus R.: Mit Deutschland um die Welt – Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart/Weimar 2004. 941 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 166. Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 94. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 147. 236 „Von klein auf war uns die Türkei, schon aus zahlreichen Kadigeschichten, bekannt als das Land der krummen Urteilssprüche, der Intriganten, der Korruption, der grausamsten Despotie.“942 Genausowenig lassen sich verläßlich darüber Aussagen treffen, ob das Orientbild des Betreffenden größeren Einfluß auf seine freiwillige Meldung in türkische Dienste besaß. Daß in den Köpfen der Soldaten aber mindestens ein Klischee von „dem Orient“ mitschwang, geht schon aus der Enttäuschung hervor, die sich der Deutschen bemächtigte, wenn sie die Grenze zum Osmanischen Reich überschritten. Major Guhr schreibt: „Am Morgen des dritten Tages erreichten wir die türkische Grenze. Die bebaute Landschaft mit den zahlreichen Ortschaften verschwand, öde Steppen, mit spärlichen braunen Gräsern bewachsen, traten an ihre Stelle.“943 Solche und ähnliche Schilderungen sind zahlreich in den Memoiren. Mal wird die Gegend mit einem deutschen Truppenübungsplatz ohne Vegetation, mal mit einer fremden Ödnis verglichen.944 Die Schilderungen der Wüste, der Gebirge oder Steinwüsten entsprechen zumeist diesen Empfindungen der leeren, trostlosen und harten Umwelt, während die Städte sehr häufig als dreckig und abstoßend beschrieben werden.945 Darunter mischten sich aber immer wieder auch Schilderungen von der Faszination der Fremdartigkeit und „Buntheit“ des Morgenlandes, seiner historischen Stätten und Bauten.946 Die deutschen Soldaten besaßen offenbar ein eigentümlich zwiespältiges Verhältnis zum neuen Einsatzgebiet: „Eigenartig berührten überall die Gegensätze zwischen europäischer Kultur und grenzenlosem Schmutz, zwischen den glänzenden Bauwerken und ihrer Verwahrlosung. Aber alles vergoldeten die Strahlen der Sonne und verliehen ihm den Zauber des Orients.“947 Diese Zwiespältigkeit äußerte sich jedoch nicht nur in der Wahrnehmung des fremden Landes und seiner Kultur, sondern auch im dienstlichen Umgang mit dem türkischen 942 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 103. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 21. 944 Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917, S. 14. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 23. 945 Lawetzky, Krieg 1938, S. 24. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 150. 946 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 127f. Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917, S. 15. Drexler, Jildirim 1919, S. 25-28. 947 Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 213. 943 237 Bundesgenossen. Die größte Auffälligkeit hierbei ist die Unterteilung der türkischen Streitkräfte in zwei „Blöcke“: Die Mannschaften und die Offiziere. IV.2. „Tapfere Askers“ und „Feige Araber“ – Die Mannschaften der osmanischen Streitkräfte In den Augen vieler deutscher Offiziere genoß der türkische Soldat (türk. Asker) – gemeint ist hier der ethnisch türkische Soldat – ein weitaus höheres Ansehen als ein Armeeangehöriger anderer Volksgruppen im Osmanischen Reich. Obwohl es strenge Rekrutierungsbeschränkungen im osmanischen Staat gab, diente eine Vielzahl verschiedener Völkerschaften in der Armee. Höheres „Ansehen“ bedeutet allerdings nicht unbedingt, daß die Verantwortung oder Fürsorgepflicht, die so mancher deutsche Offizier gegenüber seinen deutschen Mannschaften empfunden haben mag, sich in vollem Maße ebenso auf die türkischen Untergebenen erstreckte, sondern bezieht sich auf die positive Abfassung zahlreicher Urteile über türkische Mannschaftsdienstgrade angesichts der großen Anzahl negativer Bemerkungen über die allgemeinen Verhältnisse im Orient. Die positive Beurteilung ging meist einher mit einer – wie auch immer begründeten – Beurteilung des „Volkscharakters“ der jeweiligen Mannschaften: „Der Türke ist im allgemeinen ein ganz vortrefflicher Soldat. Ich spreche hier nur vom Anatolier. Er besitzt zwar nicht das Draufgängertum, wie es in unserer alten glorreichen kaiserlichen Armee herrschte, wohl aber eine bewundernswerte Zähigkeit, die sich namentlich in der Verteidigung geltend macht.“948 „Der Anatolier ist [...] ein starker Volksschlag geblieben. [...] Er ist körperlich widerstandsfähig, ehrlich und von anständiger Denkungsart. Er ist diszipliniert; in ihm wohnt eine vorbildliche Treue.“949 Solche Äußerungen sind zahlreich und betonen stets die „Brauchbarkeit des Soldatenmaterials“.950 Dieser Eindruck „grundsätzlicher Brauchbarkeit“ scheint sich 948 Schreiben des Generalmajors a.D. Albert Heuck an das Reichsarchiv vom 15.12.1920, BAMA Freiburg W 10/ 51677, [S. 4]. (Im Folgenden: W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv.) 949 Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935, S. 157f. 238 auch während des Krieges nicht geändert zu haben, denn noch im Dezember 1917 attestiert Marschall Liman von Sanders in einer Denkschrift dem türkischen Soldaten „vortreffliche Brauchbarkeit“.951 Es ist müßig an dieser Stelle über die (Un-) Wissenschaftlichkeit solcher Urteile zu diskutieren, da es sich offensichtlich um stereotype und damit undifferenzierte Vorstellungen handelt. Dennoch ermöglichen die hier gezeichneten Bilder Rückschlüsse auf ein verbreitetes Allgemeinbild der Deutschen vom türkischen Verbündeten.952 Die Forschung geht davon aus, daß Stereotype unter anderem durch die Erfahrung mit einem Gegenüber entstehen, das als „Prototyp“ für ein Volk oder eine Gruppe wahrgenommen wird. Dabei spielt der Informationsstand des Beurteilenden eine Rolle, denn je geringer dieser ist, desto eher ist die urteilende Person bereit, ihre begrenzten Erfahrungen auf eine große Gruppe zu projizieren. Dabei werden häufig (ob absichtlich oder unabsichtlich) Umstände ignoriert, die das eigene Vorurteil revidieren könnten.953 In der speziellen Situation, in der sich die Militärberater befanden, spielte zusätzlich die eingangs erwähnte Apperzeptionshaltung eine gewichtige Rolle. Die Strukturen und Ereignisse mit denen die deutschen Soldaten konfrontiert wurden, verglichen sie offenbar mit den ihnen „bekannten“ Verhältnissen im Deutschen Reich. Die „Bekanntheit“ muß an dieser Stelle relativiert werden, handelte es sich doch augenscheinlich um ein Autostereotyp, das die realen Verhältnisse in der (fernen) Heimat idealisierte. Zugleich flossen im Rahmen der Einordnung in Bekanntes auch die bereits vorhandenen Orientbilder – etwa aus populärer Literatur – in die Beurteilung ein. Aus den rudimentären Informationen über Fakten, unbelegten Vorurteilen über die Türkei und dem eigenen Idealbild ließen sich verhältnismäßig einfach Bewertungsmaßstäbe erstellen, die zudem problemlos mit den deutschen Kameraden ausgetauscht werden konnten. Da die deutschen „Orientkämpfer“ nur unzureichend auf den Dienst im Osmanischen Reich vorbereitet worden waren, liegt die Vermutung nahe, daß die 950 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 39. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 60. 951 Denkschrift Marschall Liman von Sanders „Der heutige Zustand der tuerkischen Armee“ vom 13.12.1917, BAMA Freiburg N 247/ 40, [S. 4]. 952 Dabei liegt die Arbeitshypothese zugrunde, „daß mit großer Häufigkeit genannte Eigenschaften auch große Wahrscheinlichkeit haben, im Urteil eines einzelnen vorzukommen“. Bergius, Rudolf: Sozialpsychologie, Hamburg 1976, S. 157. 953 Hort, Rüdiger: Vorurteile und Stereotype – Soziale und dynamische Konstrukte, Saarbrücken 2007, S. 26-29. 239 Meinungsbildung aufgrund solcher stereotypen Vorstellungen geschah. Dieser Eindruck wird insbesondere dadurch verstärkt, daß die Urteile häufig von verallgemeinernden kulturellen und ethnischen – an manchen Stellen auch „rassischen“ – Ausführungen begleitet wurden. Hans Kannengießer Pascha gibt in seinem Buch über Gallipoli solche Einschätzungen der verschiedenen Völkerschaften und offenbar verbreitete Vorurteile wieder: „Armenier, Griechen, Juden und Levantiner bilden das Hauptkontingent der Nichtmuhamedaner. Sie beherrschen Handel und Wandel, ohne sie kein Geschäft. [...] Ein Mischvolk aus diesen Rassen [Armenier, Griechen und Juden], mit gelegentlichem Einschlag französischem und italienischen Blutes, sind die an den Ufern der Levante großgewordenen Levantiner. Sie vereinigen alle schlechten Eigenschaften ihrer Stammväter in sich. [...] Diesen Schmarotzern gegenüber, und sie an Zahl bei weitem übertreffend, standen die Muhamedaner, aber auch sie einheitlich nur im Glauben, nicht nach der Rasse. Es war der immer vorhandene Unterschied zwischen Türken und Arabern, von denen die letzteren im national türkischen Sinne nicht zuverlässig waren. Außerdem gab es noch Albaner (Arnauten), Bosniaken, Kurden, Tscherkessen, Lasen, Georgier [...]. Endlich unterschied man noch zwischen dem europäischen Türken, dem Thrazier, und dem asiatischen, dem Anatolier, der Perle des Ganzen.“954 Ähnlich „rassentheoretisch“ geprägte, wenngleich nicht ganz so scharfe Äußerungen, finden sich bei anderen Deutschen.955 Doch nicht immer sind die anatolischen Türken „die Perle“. Prof. Mayer entwickelt in seinem „Geheimbericht“ über Land und Leute in der Türkei ein gegenteiliges Bild. Für ihn sind die christlichen Völker des Osmanischen Reiches die produktiven Mitglieder der Gesellschaft, während die Türken als „barbarische“ Unterdrücker dargestellt werden.956 Diese Einstellung erwuchs aus seinen Erfahrungen im osmanischen Sanitätswesen, über die später noch gesprochen werden wird. Eine derart differierende und religiös beeinflußte Beurteilung des osmanischen Bündnispartners ist unter den deutschen Soldaten sehr selten. Allerdings sind die Beurteilungen über die Leistungsfähigkeit der türkischen 954 Kannengießer, Gallipoli 1927, S. 33f. Endres, Die Türkei 1916, S. XIII – XVI. RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 21-24. 956 Prof. Dr. Georg Mayer, „Geheimbericht: Land und Leute in der Türkei“, o. Dat. [vermutlich März 1916], S. 1-3. 955 240 Soldaten durchaus unterschiedlich. Felix Guse etwa berichtet in einem ausführlichen Kapitel über die Zusammenarbeit und kommt dabei zu einem durchaus ambivalenten Urteil. Auf der einen Seite beurteilt er „die Türken“ als lernfähig, begabt, liebenswürdig und gehorsam. Andererseits bezeichnet er sie als faul, kleinmütig, gerissen und zuweilen überheblich.957 Was an seinen Ausführungen jedoch überrascht, ist das gewisse Maß an Verständnis, das er für die negativen Eigenschaften aufbringt, indem er darauf verweist, daß es sich in Wahrheit eben nicht um Bösartigkeit handele, sondern lediglich um anderes Verhalten durch unterschiedliche Sozialisation, die von vielen Deutschen falsch interpretiert worden sei. Als Beispiele hierfür fügt er die verschiedenen Sitten im täglichen Umgang miteinander an. So wurde das Bestätigen durch Kopfnicken im Orient als Ablehnung verstanden und das „Abwinken“ mit der Hand galt als Aufforderung näher zu treten. Ebenso sei in Europa die Einstellung „Zeit ist Geld“ verbreitet, während im Osmanischen Reich gelte „Alle Eile ist vom Teufel“.958 Was hier als nebensächliche Beobachtung betrachten werden könnte, konnte in der Tat fühlbare Auswirkungen haben. Ein Nichbeachtung der Umgangsformen konnte rasch als Unhöflichkeit oder – je nach schwere des deutschen „Fauxpas“ – Beleidigung ausgelegt werden. Hauptmann Merkel, im Rahmen des „Yildirim“-Unternehmens 1917/18 als Chef der deutschen Etappen-Inspektion in Damaskus eingesetzt, bestätigt, daß solchermaßen entstandene Reibungen die Effektivität der Zusammenarbeit spürbar mindern konnte. Hingegen habe „[g]eschickte persönliche Behandlung [...] oft Wunder gewirkt“.959 In der Tat wurde der höfliche Umgang miteinander offenbar für so wichtig erachtet, daß Guse die „orientalische Höflichkeit“ als größtes Hindernis im dienstlichen Umgang ansieht. Guse führt dafür folgendes Beispiel an: „Auf heftiges Drängen eines Deutschen verspricht ein Etappenkommandant ihm etwas für morgen. Am nächsten Tag ist nichts geschehen. Der Deutsche wird heftig, der Orientale weist ihm sehr freundlich und sehr breit nach, daß es wirklich nicht 957 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 103-119. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 104f. 959 Merkel, [o. Vorname]: Die deutsche Jildirim-Etappe, in: Zwischen Kaukasus und Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 1, Berlin 1921, S. 110. 958 241 möglich sei. Nun der Deutsche: ‚Warum versprachen Sie es mir denn?’ – ‚Aber Sie legten doch so großen Wert darauf.’ “960 Einem Vorgesetzten sagte man nichts Negatives direkt ins Gesicht, was nach deutscher Dienstauffassung als „unwahre dienstliche Meldung“ ausgelegt werden konnte.961 Guse beschreibt einige Möglichkeiten, mit deratigen Mißverständnissen umzugehen oder sie gleich ganz zu verhindern. Ein Kompromiß war für ihn auf lange Sicht jedoch inakzeptabel: „Das Endziel konnte nicht sein, daß wir die orientalische Bequemlichkeit annahmen, sondern daß wir sie den Türken abgewöhnten.“962 Das Beharren auf Wahrung der Form nach außen auf der einen Seite und die Durchsetzung dienstlicher Interessen auf der anderen Seite bildeten so allerdings unversöhnliche Gegenpositionen. Besonders auffällig ist hierbei die mangelnde Bereitschaft deutscherseits (!), sich den Rahmenbedingungen im Osmanischen Reich – die kurzfristig unmöglich zu ändern waren – bis zu einem gewissen Grade anzupassen, wie es Freiherr von der Goltz schon 1909/10 in seinen Winken nachdrücklich eingefordert hatte.963 Die harten Töne gegen „den orientalischen Geist“ basieren offenbar vielfach auf den Erfahrungen der Deutschen mit den verbündeten oder unterstellten Soldaten. In vielen Fällen wird davon berichtet, daß türkische Einheiten ohne – aus deutscher Sicht – erkennbaren Grund vor dem Feind geflohen seien oder sich zurückgezogen hätten, obwohl kaum Gefechtshandlungen stattgefunden hätten. Durch diese Art „eigenmächtigen Rückzuges“ kam es dann zu gefährlichen Situationen für andere Truppenteile, da der Gegner durch die entstandenen Lücken in der Frontlinie ungehindert vorrücken konnte, wie Hans Guhr bei den ihm unterstellten türkischen Regimentern feststellen mußte.964 Diese Schwäche der osmanischen Armee in grundlegendem taktischen Verhalten konnten deutsche Offiziere häufig beobachten. 960 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 107. Langensiepen, Bernd/Nottelmann, Dirk/Krüsmann, Jochen: Halbmond und Kaiseradler – Goeben und Breslau am Bosporus 1914-1918, Hamburg [u.a.] 1999, S. 131. (Im Folgenden: Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999.) 962 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 112. 963 Siehe hierzu die Ausführungen oben, S. 107ff. und ANHANG A. 964 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 69. 961 242 Für die Mängel wurden aber die türkischen Truppenführer und weniger die Mannschaften verantwortlich gemacht. Wenn aber deutsche Soldaten in Mitleidenschaft gezogen wurden, fiel die Beurteilung der verbündeten Truppen – dann ohne derartige Unterscheidungen – wesentlich härter aus. In Palästina brachen bei einem deutsch-türkischen Angriff im Sommer 1918 die türkischen Flügeleinheiten frühzeitig zusammen, wodurch die englischen Verbände einen erfolgreichen Gegenangriff durchführen konnten. Der deutsche Regimentskommandeur warf in seinen Aufzeichnungen der osmanischen Seite völliges Versagen vor und sah die Türken direkt verantwortlich für den Tod seiner Soldaten.965 Ähnlich erzürnt meldete schon 1915 Oberleutnant zur See Boltz ein „türkisches Versagen“ an den Stab von Liman. Der Führer des M.G. Detachements der Marine hatte am 7. August mehrere Maschinengewehre und 17 Mann in die vorderen Linien des 25. osmanischen Infanterie-Regiments an der Suvla-Bucht geschickt, wo sie in vorbereitete Stellungen einfließen sollten. Entgegen der Absprache hätten die türkischen Truppen allerdings keine Stellungen ausgehoben und die Deutschen verloren in dieser Nacht 14 Mann.966 „Orientalische Nachlässigkeit“ oder gar „Feigheit“ wurde in beiden Fällen als ausschlaggebend für Gefallene auf deutscher Seite angeprangert. Ebenso schlimm war es auch, wenn die „Dummheit des Orientalen“ als verantwortlich für deutsche Verluste „erkannt“ wurde. Major Mühlmann schreibt in einem Brief an seine Eltern, daß er in seiner Eigenschaft als Adjutant des Marschalls Liman von Sanders am Morgen des 4. Mai 1915 die vorderen Linien der Verteidigung an den Dardanellen inspizieren wollte: „Oben auf die [sic] Höhe [...] wurde ich von türkischen Infanteristen angehalten, die mir aufgeregt mitteilten, sie hätten englische Masch. Gew. gefangen. Wer beschreibt mein Erstaunen und meinen Ärger, als ich in den sogenannten Engländern unsere deutschen 6 Masch. Gew., die von Breslau abgegeben worden waren, erkannte. Schon im Laufe der Nacht waren sie wegen der Unbekanntheit ihrer Uniformen angehalten, verprügelt u. jedenfalls nicht nach vorn gelassen worden.“967 965 Kriegstagebuch des Frithjof Freiherrn. v. Hammerstein, Major und Kommandeur des Inf. Rgts. 146, 1918 (Heft 13), Eintrag vom 14. Juli, BAMA Freiburg, N 309/ 13. 966 Meldung des Oberleutnant z.S. Boltz vom 8.8.1915, BAMA Freiburg, RH 61/ 496, Blatt 186f. 967 Brief von Mühlmann an seine Eltern vom 20.5.1915, BAMA Freiburg, W 10/ 51475, S. IX. 243 Mühlmann konnte die Situation zwar aufklären, jedoch blieb der Großteil des deutschen Materials verschollen und auch der Gesundheitszustand der deutschen Soldaten war nicht mehr der Beste. Solche Verwechselungen konnten aber auch tödliche Folgen haben. So wurde noch im April 1918 ein deutscher Leutnant des I.R. 146 von türkischen Posten erschossen, weil ihn diese wegen seines Tropenhelmes für einen Briten hielten. Da sich solche Fehler häuften und die deutschen „Asienkämpfer“ immer wieder unter türkischem Feuer lagen, wurde schließlich befohlen, anstatt des Helmes die deutsche Tropenmütze zu tragen, wodurch die Situation entschärft werden konnte.968 Ähnliche Erfahrungen mit mangelhafter Freund-Feind-Erkennung mußten auch die deutschen Flieger machen.969 Entsprechend negativ beeinflußte der Beschuß durch verbündete Soldaten die Meinung der Deutschen von den Türken. Leutnant Otto Ungerer, der 1917/18 in Palästina eingesetzt war, kommt in einem Brief an seine Eltern zu folgendem Urteil über den Verbündeten: „Wir haben schon oft geschimpft über das Knallen der Türken, aber Offiziere und Mannschaften sind zu dumm.“970 Diese Beurteilung führte im Sommer 1918 während der Kämpfe am Jordan zu schwerwiegender Verwirrung. So vermutete eine vorgestoßene deutsche Abteilung des Asienkorps, sie würde von ihren türkischen Verstärkungen beschossen, wie dies schon oft vorgekommen war. Erst als ernste Verluste eintraten, wurden Ordonnanzen zurückgeschickt, die feststellten, daß die deutsche Einheit von britischen Truppen eingekreist worden war.971 Zum einen wird hier deutlich, daß auch die türkischen Offiziere nicht besonders hoch geschätzt wurden, worauf später noch ausführlicher einzugehen sein wird. Zum anderen finden sich weder hier noch in den anderen Klagen oder Urteilen über die „Dummheit“ der Soldaten eindeutige Hinweise darauf, daß eine ausführliche Belehrung der osmanischen Truppenteile durch türkische oder deutsche Offiziere 968 Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 226. Siehe unten, S. 319. 970 Brief von Leutnant Ungerer an seine Eltern vom 4. Mai 1918, BAMA Freiburg, MSG 2/ 2888, S. 7. 971 Es handelte sich um Teile der Infanterie-Bataillone 702 und 703. Nach der Einkreisung hielten diese noch einige Stunden aus, mußten aber angesichts schwerer Ausfälle und sommerlicher Hitze (46o C im Schatten und 68o C in der Sonne) aufgeben. Genaue Verlustziffern werden nicht genannt, aber etwa ein Drittel der Deutschen galt als gefallen. Simon-Eberhard, Max: Mit dem Asienkorps zur Palästinafront, (Selbstverlag) Berlin 1927, S. 97-102. 969 244 stattgefunden hätte. Die Anspielung darauf, daß „geschimpft“ wurde, kann ebensogut bedeuten, daß lediglich die jeweiligen Schützen „belehrt“ wurden. In den für den einfachen Soldaten meist unübersichtlichen Verhältnissen an den Fronten mußte jeder fremde Soldat zunächst als Gefahr betrachtet werden, auch wenn sicher eine gewisse „Überängstlichkeit“ der türkischen Mannschaften zu erkennen ist. Dieser Umstand kann jedoch kaum verwundern, wenn man den geringen Ausbildungsstand der osmanischen Soldaten berücksichtigt. Durch die hohen Personalverluste im Verlauf der Kämpfe und sogar bei Märschen mußte zudem immer schneller Nachschub beschafft werden, der weitere Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten mit sich brachte: „Welche Schwierigkeiten dabei entstehen, dafür als Beispiel, daß ein großer Teil der Ersatzmannschaften völlig unausgebildet war, nicht mal das Gewehr laden konnte [...].“972 Die Klagen über den geringen Ausbildungsstand der türkischen Truppen und der Ersatzmannschaften sind in zahlreichen Berichten und Memoiren zu finden. Der bayerische Rittmeister/osmanische Major Welsch beklagt in seinem Bericht über den Vorstoß zum Suez-Kanal 1915, daß die Mannschaften und Geschützbesatzungen keinerlei Erfahrung im scharfen Schießen aufzuweisen hätten.973 Als Kommandeur der 29. osmanischen Infanterie-Division mußte Oberstleutnant Guhr bei den Kämpfen im Kaukasus feststellen, daß seine Artillerie auf einem Ausbildungsstand der 1880er Jahre war.974 Oberstleutnant Reuß, der ebenfalls im Kaukasus eingesetzt war, bezeichnet die Leistungen seiner Batterien als „ungenügend infolge der mangelhaften Übung u. der Nachlässigkeit u. Ungenauigkeit der Unteroff. u. Mannschaften“.975 Liman von Sanders sieht 1917 die Schuld für die ständigen Rückschläge in Palästina bei der türkischen Heeresleitung, die den Truppen seit Jahren keinerlei Ausbildung habe zukommen lassen.976 Die Liste der Klagen über die Ausbildung ließe sich noch viel weiter fortsetzen, denn offenbar sah jeder deutsche Ausbilder oder Truppenführer 972 Brief von Mühlmann an seine Eltern vom 20.5.1915, BAMA Freiburg, W 10/ 51475, S. XIV. Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 1. 974 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 70. 975 Abschrift von Bemerkungen des Oberstleutnant Reuß zu Übungen mit den 6 Gebirgs-Batterien. des 2. Artillerie-Regiments am 3.3.18, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. 976 Denkschrift Marschall Liman von Sanders „Der heutige Zustand der tuerkischen Armee“ vom 13.12.1917, BAMA Freiburg N 247/ 40, [S. 4]. 973 245 gravierende Ausbildungsmängel bei den osmanischen Truppen. Wohlgemerkt handelte es sich hier nicht nur um die Diskrepanz zwischen deutscher und türkischer Ausbildung, sondern um den Mangel an grundlegenden Fertigkeiten eines Soldaten, zu denen wohl in jeder Armee die Handhabung der eigenen Waffe gehörte. Infolge des ständigen Personalmangels wurde die Mehrzahl des osmanischen Mannschaftsersatzes sofort an die Front gebracht, wo sie meist minimale Einweisungen erhielten und ansonsten vollständig auf „learning by doing“ angewiesen waren.977 Die Schuld für diese Mängel wurde aber nur selten dem türkischen Soldaten gegeben, den viele Deutsche ja als „grundsätzlich brauchbar“ einstuften. Es konnte auch kaum jemand erwarten, daß die Mannschaften sich selber ausbildeten. Doch fiel den deutschen Beobachtern eine „Tugend“ des einfachen Mannes auf, die zugleich ein „militärischer Fluch“ sein konnte: Der orientalische Fatalismus oder Kismetglaube.978 Damit meinten die Europäer die Schicksalsergebenheit der Truppen, die dafür sorgte, daß sie trotz widrigster Umstände selbst die größten Strapazen ertrugen, wenn sie an der Front und damit unter Aufsicht waren. „Still duldet er alles, still stirbt er, jeden unnötigen Lärm vermeidet er. [...] Der türkische Soldat klagt aber nicht, er nimmt alles so hin, wie es ihm gegeben wird, wenn sein Vorgesetzter es für richtig hält oder ihm nicht eine andere Meinung beibringt.“979 Auch hier gilt, daß sich dem Leser von Aufzeichnungen deutscher „Orientkämpfer“ bei fast allen Beschreibungen des türkischen Soldaten dieser Fatalismus – oft als „blindes Gottvertrauen“ geschmäht – zeigt. Der Glaube an das vorherbestimmte, unabänderliche Schicksal war im Osmanischen Reich in der Tat während des Weltkrieges noch weit verbreitet.980 Soziale und religiöse Prägung hingen individuell zusammen und beeinflußten damit unter anderem kollektiv die militärische 977 Ausnahmen waren eingereihte Deserteure, die bereits über ein gewisses Maß solcher Erfahrung verfügten. Siehe etwa oben, S.162. 978 Kismet ist das türkische Wort für „Schicksal“. 979 RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 20f. 980 Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 696. 246 Leistungsfähigkeit der Soldaten. Dies konnte eher positive Eindrücke hinterlassen, wie bei dem bayerischen Hauptmann Endres: „Der türkische Soldat ist, sofern er anatolischer Bauer ist, sehr gut, namentlich im Ertragen von Strapazen und im Erdulden von Hunger, Durst und Entbehrungen jeder Art. Sein Temperament ist nicht groß, seine Selbständigkeit noch geringer. [...] Aber er vertraut auf Gott.“981 Ebenso konnte aber das „simple“ Erdulden als negative Eigenschaft gedeutet werden, wie aus dem Bericht des Majors Fischer über den Vorstoß zum Suez-Kanal hervorgeht: „Den Soldaten fehlte der Wille zum Sieg. Ohne Freude am Handwerk, ohne Liebe zum Vaterland, ohne Sinn für die Größe der Aufgabe liefen sie mit mattem Herzen einer gleichgiltigen [sic] Zukunft entgegen, die vom Willen Allahs längst vorherbestimmt war und an der sie doch nichts mehr ändern konnten.“982 Aus dieser recht vordergründigen Erklärung für eine militärische Niederlage spricht zugleich eine deutsche Erwartungshaltung, die wirklichkeitsfremd war. Nationalistische Tendenzen keimten erst seit der „jungtürkischen Revolution“ auf und hatten seither nur in einem kleinen – überwiegend in Konstantinopel beheimateten – Bevölkerungskreis Wiederhall gefunden. Für die Masse der osmanischen Mannschaften und insbesondere die arabischen Soldaten, die von dem jungtürkischen Nationalismus noch stärker diskriminert wurden, konnte „Liebe zum Vaterland“ keine Motivation sein. Im Selbstverständnis der Mehrheit deutscher Offiziere war der Militärdienst ohne ein solches „Nationalgefühl“ sowie das bloße „Ertragen“ des Dienstes jedoch undenkbar. Besonders übel wurde daher die „Geduldigkeit“ der Mannschaften gerügt, wenn sie in den Augen der Vorgesetzten offensichtlich zur Vernachlässigung militärischer Pflichten führte und eine Gefahr für den erfolgreichen Verlauf von Kämpfen darstellte. Nachdem Major Mühlmann am Morgen des 4. Mai 1915 bereits die deutschen Matrosen aus „türkischer Gefangenschaft“ befreit hatte, inspizierte er die vorderen Linien der osmanischen Verteidiger. Dort bot sich ihm ein schreckliches Bild. Die 981 Endres, Franz Carl: Der Weltkrieg der Türkei, Berlin 1919, S. 8f. (Im Folgenden: Endres, Der Weltkrieg 1927.) 982 Bericht des Majors Fischer an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 17.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 4f. 247 Grabenbesatzungen hatten solch schwere Verluste erlitten, daß die Stellungen voller Leichen lagen. Da sich niemand die Mühe machte, diese wegzuschaffen, lagen sie zwischen den Ersatzmannschaften und verwesten. Die Stellungen selber waren nur unzureichend angelegt und nicht tief genug, um auch nur einem knienden Schützen Deckung zu bieten. Die viel zu flachen Annäherungsgräben boten nachrückenden Verstärkungen ebenfalls kaum Deckung und waren zudem mit den Körpern Gefallener angefüllt. Ein Vorgehen in die Linie war nur über ungedecktes Gelände möglich, was zu neuerlichen Verlusten führte. Da Latrinen nicht vorhanden waren, verrichteten die Soldaten ihre Notdurft in den Stellungen, was den Geruch und die Seuchengefahr noch verschlimmerte. Diese Zustände wurden von den Mannschaften hingenommen: „Sie schossen nur wenig, sassen aber unnötig da, statt ihren Spaten in die Hand zu nehmen u. ihre Stellung zu verbessern.“983 So entsteht der Eindruck, daß der türkische Mannschaftssoldat nicht unschuldig an seiner Misere war, da er selbst keine Initiative zeigte, Mängel abzustellen. Allerdings greift dieser Eindruck zu kurz, denn die türkischen Soldaten waren absichtlich so erzogen, daß sie auf Befehl handelten und keine Eigeninitiative zeigten. Daß es nach deutscher Ausbildung grundlegende Aufgaben gab, für die der Soldat selbständig Sorge tragen mußte (z. B. der Ausbau und die Instandhaltung der eigenen Stellungen), hatten die türkischen Mannschaften nicht gelernt. Auch nach dem Ende der Herrschaft des „paranoiden“ Sultans Abdul Hamid II. hatte die Armee offenbar an der ständigen Überwachung ihrer Soldaten festgehalten. Generalmajor Kannengießer berichtet, daß die Vorgesetzten immer im Dienst sein mußten und daß in einigen Fällen sogar durch einen bewaffneten Posten vor der Tür sichergestellt wurde, daß der Vorgesetzte sein Dienstzimmer nicht unerlaubt verlassen konnte. Da somit ständig ein Vorgesetzter anwesend war, mußten und konnten die jeweiligen Untergebenen keine Eigenverantwortung übernehmen.984 Jede Form des Ungehorsams konnte drastisch sanktioniert werden, wobei Stockschläge ein häufiges Mittel waren, dessen sich durchaus auch deutsche Offiziere bedienten, wie Oberstleutnant Heuck schreibt: 983 984 Brief von Mühlmann an seine Eltern vom 20.5.1915, BAMA Freiburg, W 10/ 51475, S. XIII. Kannengießer, Gallipoli 1927, S. 72f. 248 „Gegen Trägheit und Ungehorsam erwies sich den Mannschaften gegenüber als bestes Mittel die körperliche Züchtigung. Jeder Vorgesetzte konnte eine Anzahl Stockschläge verhängen. [...] die türkischen Offiziere erklärten mir, ohne Stockschläge könne man nicht auskommen. Die Strafe war gesetzlich. Arreststrafen machten fast gar keinen Eindruck. Der Türke ist zu phlegmatisch, als daß er die Freiheitsentziehung als harte Strafe empfinden könnte.“985 Die Prügelstrafe durfte allerdings nicht durch Offiziere und schon gar nicht durch deutsche Offiziere vollstreckt werden. Ein Umstand, den einige Deutsche nicht beachteten und damit für ernste Verstimmung beim Bundesgenossen sorgten.986 Damit wird deutlich, daß die von deutscher Seite häufig monierte mangelnde Eigeninitiative der Soldaten, wie auch der Offiziere, strukturell bedingt war und eine Besserung, die schon von den zahlreichen Militärberatern der Vorkriegsjahre nicht erreicht worden war, unter den Verhältnissen des Krieges – die eine gründlichere Ausbildung erst recht nicht zuließen – kaum zu erzwingen war. Und ein weiterer Umstand wird bereits offensichtlich: Der Militärdienst im Osmanischen Reich bot für den einfachen „Asker“ keinerlei Anreize. Der Dienstherr konnte schon aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit bestenfalls mehr schlecht als recht dafür sorgen, daß seine Soldaten mit dem Nötigsten ausgestattet waren. Diese Zustände hatten sich bereits vor dem Kriege abgezeichnet, als die Militärmission unter Liman von Sanders auf ein buntes Gemisch von Waffensystemen und Ausrüstungsgegenständen traf. Unter den Bedingungen des Krieges, der höchste Anforderungen an Mensch und Material stellte, war die Logistik im Osmanischen Reich weitgehend zusammengebrochen. Vor allem in den entlegeneren Reichsteilen, die infrastrukturell kaum erschlossen waren, machte sich bald Mangel bemerkbar. Hans Guhr berichtet über die ihm unterstellten Truppen im Kaukasus: „Die Bekleidung und Ausrüstung war jammervoll. Stiefel und Leibwäsche besaßen die Offiziere nur noch vereinzelt, die Mannschaft durchweg nicht mehr. Sie trug selbstgefertigte Fellsandalen, die an Riemen, Stricken oder Bindfaden an den 985 986 W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv, [S. 13f]. Siehe hierzu unten, S. 349f. 249 Unterschenkeln festgebunden wurden. Höchstens jeder dritte oder vierte Mann verfügte über einen Mantel, eine wollene Decke oder Zeltbahn. Durch den Mangel an Flickstoffen waren die Anzüge völlig zerrissen. Ein Knopf ließ sich schwer auftreiben. Bindfaden, Binsenhalme oder Stecknadeln dienten daher zum Zusammenhalten der Kleidungsstücke, die teils aus Tuch, teils aus Khaki und anderen verschiedenen Stoffen bestanden. Die Bezeichnung ‚Uniform’ war nicht mehr am Platze. Tornister oder Rucksäcke hatten die meisten Soldaten verloren. Sie wurden auch von ihnen bei dem gänzlichen Fehlen von Gepäcksachen kaum vermißt.“987 Dem Freiherrn Kreß von Kressenstein bot sich während der Vorbereitungen zum Vorstoß gegen den Suez-Kanal ein niederschmetterndes Bild: „Wir begegneten einer Anzahl militärischer Kamelkolonnen [...]. Der Anblick dieser mangelhaft ausgerüsteten Formationen ohne Disziplin und Ordnung, mit halbverhungerten Tieren und mit den in Lumpen gehüllten, wie die übelsten Landstreicher aussehenden Kameltreibern unter Führung energieloser, unbrauchbarer Offiziere deprimierte mich in hohem Grade und erfüllt mich mit ernsten Zweifeln über die Durchführbarkeit des geplanten Unternehmens.“988 Zu den Mängeln an Ausrüstung gesellte sich meist noch ein eklatanter Mangel an Verpflegung. Die Soldaten mußten häufig von geringsten Rationen leben, die häufig nur aus getrockneten Oliven oder Früchten und etwas Brot, allerdings auch bei „Vollverpflegung“ aus nicht viel mehr als Büchsenfleisch, getrocknetem Gemüse und Reis bestanden.989 Vorräte in den Etappenorten, wie etwa Gerste oder Hafer für die Pferde, konnten nicht rechtzeitig an die Fronten geliefert werden und verdarben in den Magazinen. Feldküchen oder Feldbacköfen waren in der osmanischen Armee zu selten, um wirklich von Nutzen sein zu können.990 Da außerdem der ohnehin sehr dürftige Wehrsold nur sporadisch oder gar nicht ausgezahlt wurde, waren die 987 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 62f. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 59. 989 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 10 u. S. 42. 990 Abschrift des Berichts von Oberst Hassan, Kdr. der 2. türk. I.D., über den Marsch seiner Regimenter an die Irakfront 8.2.1916, BAMA Freiburg, N 131/ 2. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 86. 988 250 türkischen Soldaten nicht in der Lage, ihre dürftigen Rationen durch Einkäufe bei der Zivilbevölkerung aufzubessern, wie es etwa die deutschen Soldaten konnten.991 In Verbindung mit schlechten Witterungsverhältnissen mußte die mangelhafte Ernährung und die fehlende Bekleidung verheerende Wirkung zeigen. Der bayerische Leutnant/ osmanische Oberleutnant Max Winkler, Offizier einer schweren FeldHaubitzbatterie im Kaukasus, beschreibt den Winter 1916/17 im Gebirge: „Schon mit den ersten Regentagen im November wurde die einzige Zufahrtsstraße grundlos, die Etappe brach zusammen; die Truppen waren dem Hunger preisgegeben. Bei der Infanterie ging die Katastrophe an. Die Tiere hatten Baumrinde zu fressen oder nichts und gingen ein. Die Menschen bekamen, wenn es gut ging, täglich eine handvoll Gerste, fingen an, Tierkadaver anzunagen, scharrten aus dem Pferdekot, der noch aus besseren Zeiten stammte, die spärlichen Körner heraus – schließlich verfielen sie dem Hungertyphus und siechten hin.“992 Von ähnlichen Zuständen weiß auch Oberstleutnant Paraquin aus Mossul im Bereich der 6. Armee in Mesopotamien zu berichten: „Allmählich griff der Hungertod auf Militärkrankenhäuser und die Front über. [...] Die seit langen Monaten unterernährten Mannschaften siechten rettungslos dahin. [...] Der Rest der Mannschaften war nur zum geringsten Teile dienstfähig. Die Leute brachen bei der kleinsten körperlichen Anstrengung zusammen und starben.“993 Als wären diese Versorgungsmängel noch nicht furchtbar genug für den einzelnen Soldaten, versagte offenkundig auch das osmanische Sanitätswesen völlig. Professor Dr. Mayer schreibt in einem Bericht über die Sanitätsverhältnisse 1915: „Im ganzen [sic] ging der Dienst des Sanitätswesens bei der 5. Armee allmählich recht ordentlich. Dagegen ging es desto wüster in Konstantinopel zu und bei der 3.Armee sowie in Syrien. [...] In Konstantinopel waren die Lazarette allmählich so 991 Lawetzky, Krieg 1938, S. 173f. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 152. Aufzeichnungen des bayerischen Hauptmanns Franz Gürtner „Aus den Kämpfen an der PalästinaFront im September und Oktober 1918“ (hier Eintrag vom 24.9.1918), KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 8]. 992 Winkler, Max: Eine bayerische schwere Haubitzbatterie in Wild-Kurdistan (Kaukasusfront) 1916/17, in: Die Gebirgstruppe, Bd. 15, München 1966, S. 35f. (Im Folgenden: Winkler, Haubitzbatterie in Wild-Kurdistan 1966.) 993 Bericht Oberstleutnant Paraquin „Aufgeben des Jildirim-Unternehmens auf Bagdad. Entwicklung der Lage zwischen August 1917 bis Mai 1918“, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 28f.]. 251 verlaust, daß auch die frische Wäsche voll Läuse war. [...] Dazu herrschte unter den Verwundeten, auch den Leichtverwundeten, eine enorme Sterblichkeit. Als ich endlich Ende Juni 1915 nach Konstantinopel kommen konnte, fand ich dort unglaubliche Zustände. Einige Monate hatten genügt, um den alten türkischen Schlendrian wieder voll entstehen zu lassen; die Lazarette waren wahre Schmutzhöhlen, die Verwundetenversorgung eine Pfuscherei übelster Art. [...] Die Sterbenden wurden noch als „Genesende“ oder zum „Lazarettwechsel“ auf die Bahn verladen, starben dort, wurden aus den Zügen herausgeworfen und blieben neben den Geleisen oder neben den Haltestellen liegen, aus dem Lazarett Haidar Pascha wurden die Sterbenden nach dem ägyptischen Spital in Skutari (Deutsches Rotes Kreuz) verlegt, um keine Todesfälle zu haben. Überall keine Sichtung der Verwundeten, sie lagen in den Zimmern und Gängen, von Läusen bedeckt [...]. Auf alle meine Vorstellungen geschah nichts, das sei Kismet. – Und dasselbe Kismet waltete dann auch im Winter 1915 mit dem Fleckfieber, wieder ganze Haufen von Leichen längs der Bahnhöfe, niemand, der sie wegschaffen wollte, Streit hiewegen [sic] zwischen Eisenbahnverwaltung, Kriegsministerium und Ministerium des Inneren, die Leichen blieben liegen!“994 Noch für die Jahre 1917 und 1918 berichtet der Sanitätsunteroffizier Otto Lawetzky, der als Truppenarzt in Palästina eingesetzt war, daß die Lazarette über zu wenig Medikamente, Verbandmaterial und Instrumente verfügten. Außerdem waren nur sehr wenige, meist jüngere Ärzte überhaupt hinlänglich medizinisch ausgebildet. Zudem ließen sie den Kranken und Verwundeten gegenüber jegliches Mitgefühl vermissen.995 Liman von Sanders erhielt Berichte und Klagen von deutschen Ärzten über die hohe Sterblichkeitsrate unter den türkischen Soldaten, die selbst bei kleinsten Eingriffen ihren Verletzungen erlagen: „Operiert man nicht, so sterben sie, operiert man, so sterben sie auch.“996 Auch Mittel zur Prophylaxe fehlten. So konnten 60.000 türkische Soldaten an den Dardanellen noch Ende 1916 nur über 8 kg Chinin zur Malariaprophylaxe verfügen. Die notwendige Menge für einen ausreichenden Schutz betrug allerdings 3840 kg.997 994 Bericht Professor Mayers über die Sanitätsverhältnisse in der Türkei, BAMA Freiburg, W 10/ 50823, S. 144f. 995 Lawetzky, Krieg 1938, S. 174. 996 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 200. 252 Hier ist nicht der Ort, die Geschichte des Sanitätsdienstes im Osmanischen Reich während des Weltkrieges en detail wiederzugeben, zumal Helmut Becker dies bereits in seinem sehr ausführlichen Werk anschaulich getan hat.998 Die bisherigen Schilderungen dürften jedoch ausreichen, um zu zeigen unter welchen Umständen der türkische Mannschaftssoldat nicht selten seinen Dienst verrichten mußte. Für viele Krankheiten und Seuchen machten die Deutschen allerdings nicht nur die schlechte Versorgungslage, sondern auch die mangelnde Hygiene der einheimischen Bevölkerung verantwortlich.999 Außerdem wurden religiöse Vorschriften des Korans als „unhygienisch“ und „krankheitsfördernd“ betrachtet. So beklagt sich Oberstleutnant Guse darüber, daß die Mannschaften ihre Notdurft meist direkt an den Wasserquellen verrichteten, die auch das Trinkwasser für die Truppen lieferten, weil ihnen ihre Religion danach rituelle Waschungen vorschreibe.1000 Otto Lawetzky kritisiert die Weigerung des „Durchschnittssoldaten“, aus religiösen Erwägungen keine Tiere (mit Ausnahme von Schlachtvieh) zu töten, was die Entlausung praktisch unmöglich gemacht habe.1001 Es verwundert nicht, daß sich unter diesen Voraussetzungen auch deutsche Soldaten ansteckten und an Seuchen verstarben.1002 In Verbindung mit dem Unverständnis für die religiösen und zivilisatorischen Unterschiede litt das Ansehen des türkischen Soldaten, der als „Krankheitsüberträger“ ausgemacht wurde. Die Folge war eine strikte Trennung der Deutschen von den Türken aus Angst vor Ansteckung und ein deutlicher Unterschied in der medizinischen Behandlung durch die de facto getrennte Sanitätsversorgung.1003 Zwar waren deutsche Lazarette offiziell auch zur Aufnahme von türkischen Soldaten vorgesehen, in der Praxis erhielten die deutschen Soldaten jedoch eine bessere medizinische Versorgung, da den türkischen Formationen 997 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 118. Becker, Helmut: Äskulap zwischen Reichsadler und Halbmond – Sanitätswesen und Seuchenbekämpfung im türkischen Reich während des Ersten Weltkrieges, Herzogenrath 1990. (Im Folgenden: Becker, Äskulap 1990.) 999 Teichmann, F.: Die Vorbedingungen der ansteckenden Krankheiten (Klimatologie, allgemeine hygienische Verhältnisse, Lebensgewohnheiten und – bedingungen), in: Lewy, F.H. (Hrsg.): Arbeiten aus dem deutschen Ortslazarett Haidar Pascha, Leipzig 1919, S. 13f. Lawetzky, Krieg 1938, S. 24 u. S. 52f. 1000 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 19f. 1001 Lawetzky, Krieg 1938, S. 169. 1002 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 120f. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 188. 1003 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 120. Becker, Äskulap 1990, S. 310f. 998 253 zumeist jedwede Möglichkeit zum Kranken- und Verwundetentransport fehlte und die deutschen Lazarette weit hinter der Front lagen.1004 Bei diesen Rahmenbedingungen im Dienst konnte das Osmanische Reich kaum auf freiwillige Meldungen aus der Bevölkerung zählen. Die Rekrutierung der Mannschaften war im Kriege jedoch notwendiger denn je. Für die deutschen Beobachter bot sich dabei das Bild, daß die türkischen Wehrpflichtigen üblicherweise zum Dienst gezwungen wurden. Major Schraudenbach berichtet über die Vorgänge: „Wenn die Gendarmen des Nachts irgend ein Bergdorf umstellten und dann in dasselbe einbrachen, um frischen Ersatz für das Heer herauszuholen, so fragten sie wenig nach dem Alter oder Geburtsschein. Wer kein genügendes Lösegeld bieten konnte, der ging mit. Zu zweien zusammengebunden trieb man die ‚Ausgehobenen’ unter dem Wehklagen ihrer Frauen und Mütter davon, Hunderte von Kilometern weit zur Eisenbahn. Dann vierzig und mehr Mann in einen geschlossenen Güterwagen gepfropft – und fort, dem harten Los des türkischen Soldaten entgegen. Nicht selten sprang ein Rudel während der Fahrt aus dem Zug und rannte in voller Flucht davon. [...] Begann das Verfahren Schule zu machen, so ließ der Transportführer die Wagen von außen verriegeln und kein Mann durfte sie – zu welchem Zweck auch immer – bis zum Reiseziel verlassen. Man warf zuweilen ein paar Melonen, einige Brote in den Wagen, sonst blieb er unerbittlich geschlossen. Ich bin später auf Stationen der Bagdadbahn solchen Transporten begegnet. Stinkende Brühe, Urin und Fäkalien von drei bis vier Dutzend Menschen troff [sic] aus den Fugen der Waggons und verpestete die Strecke. Das Land der einfachen Methoden!“1005 Auch der Unteroffizier Ernst Riester, der vor dem Kriege bei der Anatolischen Bahn in Haidar Pascha beschäftigt war und sich bei Kriegsausbruch zu seiner Einheit nach Deutschland begab, berichtet von ähnlichen Erlebnissen: „[I]ch habe selbst gesehen, wie die Polizei, die jungen Leute auf der Straße anhielt, dieselben nach ihren militärischen Verhältnissen befragte, sie hierauf [...] mitnahm und der Militärbehörde zuführte. Im Innern mußten die Wehrpflichtigen sehr oft von 1004 1005 Becker, Äskulap 1990, S. 234-239. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 122f. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 57. 254 der Polizei von ihren Familien weggeholt werden. Es ist unter solchen Umständen sehr wohl begreiflich, wenn ich von verschiedenen Türken ganz verwundert gefragt wurde, weshalb ich denn in den Krieg ginge, Meine Militärbehörde könnte mich ja hier nicht holen und mein Leben wäre hier am wenigsten gefährdet.“1006 Viele Deutsche sahen in den äußerst harten Lebens- und Dienstbedingungen – wohl zu Recht – die Hauptursache für die hohen Desertionszahlen.1007 Liest man ihre Schilderungen, so verurteilen sie die Desertion zwar scharf, bringen dem anatolischen Soldaten aber durchaus Verständnis entgegen. Der bayerische Hauptmann und osmanische Major Hartmann bringt diese Einstellung auf den Punkt: „Auch stehe ich nicht an, voll anzuerkennen, dass die Truppe unter so schwierigen Verhältnissen noch das zuwege bringt, was sie tatsächlich leistet. Einer deutschen Truppe könnten solche Zustände und Entbehrungen unter keinen Umständen zugemutet werden.“1008 Im Ganzen wird die zwiespältige Haltung der deutschen Heeresangehörigen zum türkischen Soldaten deutlich. Auf der einen Seite mißbilligte, ja „verachtete“ man die türkischen Soldaten wegen der fehlenden Bildung, des Beharrens auf „antiquierten“ Religionsvorschriften, der Prägung durch „die orientalische Mentalität“ (die mit Faulheit, Lüge und Intrige gleichgesetzt wurde) und der damit verbundenen negativen Einflüsse auf einen geregelten, modernen Dienstablauf. Andererseits bewunderte man den „Asker“ für seine Leidensfähigkeit, seine Ausdauer und „tapfere Pflichterfüllung“ im Kampf unter den erschreckenden Bedingungen der osmanischen Fronten. Ein ausschließlich negatives oder auch ausschließlich positives Bild vom türkischen Soldaten zeichnet keiner der Deutschen. Diese Erkenntnis läßt sich jedoch nur auf den „türkischen“, also aus deutscher Sicht „anatolischen“ Soldaten anwenden. Die osmanischen Mannschaftsdienstgrade 1006 Bericht von Unteroffizier Ernst Riester über seine Rückkehr nach Deutschland anläßlich der Mobilmachung 1914 vom 16.10.1914, KA München, HS 1970. 1007 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 136. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 57. Steuber, Werner: „Jildirim“ – Deutsche Streiter auf heiligem Boden, Berlin 21928, S. 68f. (Im Folgenden: Steuber, Jildirim 1928.) 1008 Bericht des Majors Hartmann an den Chef des Stabes der Militärmission in Konstantinopel vom 20.5.1918, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 13f.]. 255 anderer Ethnien, wie Araber oder Kurden wurden vollkommen anders beurteilt. Als Beispiel sollen hier die arabischstämmigen Soldaten dienen, mit denen deutsche Soldaten häufiger in Kontakt kamen. Im Unterschied zu „dem türkischen Soldaten“, der immerhin als Stereotyp des leidens- und durchhaltefähigen Befehlsempfängers gelobt wird, werden die Soldaten aus den arabischen Provinzen ausschließlich negativ beurteilt. Erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit arabischen Verbänden konnten deutsche Offiziere bereits im Jahre 1915 sammeln, als Oberst Freiherr Kreß von Kressenstein den ersten deutschtürkischen Vorstoß gegen den Suez-Kanal durchführte. Besonders bemerkenswert ist dabei der Umstand, daß an diesem Gefecht reguläre und irreguläre arabische Einheiten teilnahmen. Den deutschen Berichten nach wurden diese Einheiten aus zwei verschiedenen „Typen“ von Arabern gebildet: Dem „Stadtaraber“ und dem „Nomaden“ oder „Beduinen“. Die Unterschiede zwischen beiden werden auf kultureller und politischer Ebene gesehen. Die in Städten ansässige Bevölkerung pflegte verständlicherweise umherziehenden, meist im einen gänzlich anderen „Stammesverbund“ Lebensstil lebenden als die nomadischen und seminomadischen Bevölkerungsteile. Politisch gesehen waren die Stadtbewohner direkt der türkischen Verwaltung unterworfen, das bedeutet, sie waren abgabenpflichtig, wehrpflichtig und unterstanden der Rechtsprechung des türkischen Provinzgouverneurs. Amtssprache in den überwiegend von Arabern bewohnten südlichen Provinzen war die türkische Sprache. Die „Beduinen“ hingegen unterwarfen sich nicht der türkischen Militär- oder auch Zivilbürokratie. Im Gegensatz zu der übrigen Bevölkerung konnten aus ihnen demnach keine InfanterieEinheiten gebildet werden und ebenso schieden sie für die Belange des Personalersatzes aus. Diese Verhältnisse waren den deutschen Soldaten in Palästina deutlich gemacht worden, sei es durch die wenigen offiziellen Druckschriften,1009 sei es durch Buchveröffentlichungen über das Osmanische Reich1010 oder auch durch 1009 Kartographische Abteilung des stellvertretenden Generalstabes der Armee: Kurze militärgeographische Beschreibung von Mesopotamien, [Berlin] 1915. Enthalten in Schenkung Fritz Berthold, KA München HS 2558. Hier besonders S. 21ff. 1010 Endres, Die Türkei 1916, S. XIIf. 256 Berichte des türkischen Verbündeten selbst.1011 Dennoch hatte der Generalstab in Konstantinopel in Anbetracht des ständigen Truppenmangels keine andere Wahl, als auch die arabischen Bevölkerung zum Wehrdienst heranzuziehen. Allerdings wurden diese Einheiten – auch aus logistischen Gründen – überwiegend „heimatnah“ (also in den südlichen Provinzen) eingesetzt, während der Schutz der Meerengen den als „zuverlässig“ eingeschätzten türkischen Einheiten übertragen wurde.1012 Erfahrungen auf dem Gebiet der militärischen Leistungsfähigkeit „der Araber“ mußten die Deutschen 1915 allerdings erst noch sammeln und in der Beurteilung waren die Unterschiede offenbar eher nebensächlich, denn beide „Typen“ wurden gleichermaßen als „unbrauchbar“ charakterisiert. Oberst von Kreß1013 gibt in seinem Bericht über die Kämpfe am Suez-Kanal die Leistungen der regulären arabischen Soldaten wie folgt wieder: „Schon war es gelungen, eine Anzahl von Pontons in Wasser zu setzen und zu bemannen, 4 Pontons mit 4 Offizieren und 80 Mannschaften hatten sogar das jenseitige Ufer erreicht, als die feindlichen Posten, die am jenseitigen Ufer etwa alle 50 Meter aufgestellt waren, die ersten Schüsse abgaben. Obwohl die Schüsse alle zu hoch gingen, riefen sie bei den feigen Arabern doch sofort eine Panik hervor. Mannschaften, die bereits die Pontons bestiegen hatten, sprangen aus ihnen wieder hinaus; die Offiziere, die sie daran hindern wollten, wurden über den Haufen gerannt.“1014 Hauptmann Gerlach, der unmittelbar Zeuge dieser Panik wurde – als einer der Offiziere, die „über den Haufen gerannt“ wurden –, berichtet, daß selbst seine 1011 Bericht des osmanischen Generalmajors Mustafa Kemal an das Heeresgruppen-Kommando „Yildirim“ vom 1.9.1917, BAMA Freiburg, N 131/ 5, Blatt 1-7. Bericht des osmanischen Majors Mehmed Ehmin an das Heeresgruppen-Kommando „Yildirim“ ohne Datum, Ebd. Blatt 8-14. 1012 Während der Kämpfe um die Dardanellen waren die osmanischen Verluste jedoch so hoch, daß arabischstämmige Verbände eingesetzt werden mußten. Allerdings wird dies von den dort eingesetzten Deutschen nicht besonders hervorgehoben. Was diese „Zurückhaltung“ bedingt, bleibt jedoch unklar. Möglicherweise waren die Leistungen der arabischstämmigen Soldaten unter den Bedingungen des Stellungskrieges auf der Gallipoli-Halbinsel andere als etwa in der Sinai-Wüste. 1013 Zeitgenössische Abkürzung des Namens Kreß von Kressenstein. 1014 Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 15. 257 Drohung mit vorgehaltenem Revolver die Soldaten nicht veranlassen konnte, die Deckung wieder zu verlassen oder auch nur das Feuer zu erwidern.1015 Rittmeister Welsch fällt über die arabischen Mannschaften ein düsteres Urteil: „Daß die Araber im modernen Gefecht nicht zu verwenden sind, ist eine alte Sache, die sich neuerdings wieder bestätigt hat. Sie gehorchen nur, wenn sie wollen oder wenn sie Gold sehen und machen kein [sic] Hehl daraus, daß sie sich vor Inf.- und Art. Feuer fürchten. Und als ich einmal vor einem Erkundungsritt, bei dem sie mich zuerst angeschossen hatten, eine Postenlinie derselben passierte und im Trab zurückreiten wollte, legte man mir nahe, lieber Schritt zu reiten, weil das die Araber falsch auslegen und davon laufen könnten.“1016 Das Urteil Kreß von Kressensteins über das „Freikorps von Beduinen“ und seinen Kommandeur lautet kaum anders: „Am Tage vor dem Gefecht von Ismailieh sind seine Beduinen bis auf wenige hundert geflüchtet. Kenner des Landes waren über das Versagen der Beduinen nicht überrascht. Enwer [sic] Pascha [...] übersah wohl, welch großer Unterschied zwischen den Beduinen in Tripolis [...] und den völlig degenerierten Beduinen von Südpalästina besteht.“1017 Und um das vernichtende Urteil über die arabischen Leistungen abzurunden, fügt er noch eine „charakterliche Beurteilung“ an: „Der Stadtaraber und auch der Beduine [...] scheint religiös vollständig gleichgiltig [sic] zu sein. Ebenso wie der Ägypter dient er demjenigen, der ihm das meiste Geld bietet und auch diesem nur solange, als ihm nicht ein anderer mehr Geld bietet. Seiner Habsucht sind lediglich Grenzen gesetzt durch seine Feigheit; sein Leben setzt er auch für hohe Summen nicht aufs Spiel.“1018 1015 Kampfbericht des Pionierbataillons 8 (Hauptmann Gerlach) an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein ohne Datum, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 2. 1016 Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 3. 1017 Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 6. 1018 Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 12f. 258 Eine noch schlechtere Beurteilung des militärischen Wertes einer Truppe ist wohl kaum vorstellbar. Im Gegensatz zu den ambivalenten Schilderungen der türkischen Truppen finden sich keinerlei positiven Aussagen zu den arabischen Soldaten. „Habgier und Feigheit“ blieben die Hauptmerkmale „des Arabers“.1019 Auch der oft als „zu türkeifreundlich“ gescholtene Freiherr von der Goltz beurteilte die arabischen „Hilfstruppen“ äußerst kritisch. Über das Fehlschlagen der türkischen Gegenoffensive 1915 in Richtung Basra berichtet er: „Die Schuld daran sollen die begleitenden Araberstämme getragen haben, die wie gewöhnlich, als das Gefecht eine ungünstige Wendung zu nehmen begann, das Korps im Stich und seinem Schicksal überließen.“1020 Das Stigma der Feigheit betraf sämtliche arabischen Kämpfer gleichermaßen. Die Habgier wurde jedoch hauptsächlich auf „die Beduinen“ projiziert. Da die schlecht organisierte osmanische Verwaltung der arabischen Provinzen nicht in der Lage war, die nomadischen Stämme zu kontrollieren, konnten diese nicht zur Hilfeleistung verpflichtet oder gezwungen werden. So mußten sich die Mittelmächte durch Verhandlungen und Bezahlung deren Unterstützung sichern. Dabei versuchten die Stammesführer ihren größtmöglichen Vorteil zu erlangen, was von deutscher Seite stets als „Habgier illoyaler Untertanen“ angesehen wurde. Hier übertrug man erneut europäische Verhältnisse auf den Orient. Die deutschen Offiziere besaßen ein anderes Bild vom „richtigen“ Verhältnis staatlicher Obrigkeit zu den Untertanen. Dies war allerdings für die arabische Halbinsel und insbesondere für „die Beduinen“ nicht anwendbar. Das problematische Verhältnis zwischen der herrschenden türkischen Oberschicht und der arabischen Bevölkerung wurde den Deutschen jedoch bald deutlich. Kreß von Kressenstein schreibt in seinem Bericht vom Februar 1915 dazu: „Die türkischen Offiziere waren ohne Zweifel in einer großen Täuschung hinsichtlich der Zuverlässigkeit der arabischen Offiziere und Mannschaften befangen. Die Araber vergessen nicht, was jahrzehnte lang [sic] von den Türken gegen sie gesündigt wurde und werden stets ein Fremdkörper im ottomanischen Reiche bleiben.“1021 1019 Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 6. Lawetzky, Krieg 1938, S. 175. Abschrift des Berichtes Nr. 6 des Freiherrn von der Goltz Pascha an das Große Hauptquartier vom 2. Mai 1915, BAMA Freiburg, N 737/ 29. 1021 Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 20. 1020 259 Meldungen vom Anfang des Jahres 1916 an die 6. Armee in Mesopotamien bestätigen, daß diese Situation während des Krieges nicht nur anhielt, sondern sich noch verschlimmerte.1022 Deutscherseits wurde dafür die harte Regierung Djemal Paschas in Syrien und Palästina sowie die generell unterdrückende Haltung türkischer Offiziere und Beamter gegenüber der arabischstämmigen Bevölkerung verantwortlich gemacht: „Diese Weigerung [mit den Deutschen zusammenzuarbeiten] geht auf die türk. örtl. Behörden zurück, die jede Gelegenheit benutzen um die Araber vor den Kopf zu stossen. Das Ausschalten des deutschen Elements in der Behandlung der Araberangelegenheiten wird zur Folge haben [,] daß auch die letzten Stämme, die bisher mit den Türken gearbeitet haben zum Gegner übergehen – angesichts der Gesamtlage rechtbedenklich [sic].“1023 In den Einschätzungen deutet sich bereits an, daß sämtliche arabischen Bevölkerungsteile, sowohl die im Dienste des Militärs befindlichen als auch die Zivilbevölkerung zum Mindesten als „unzuverlässig“ angesehen wurden. Das Deutsche Reich versuchte dieser Entwicklung durch Bezahlung entgegenzuwirken. So wurden den örtlichen „Beduinen-Scheichs“ bei Antrittsbesuchen stets Geldgeschenke gemacht und später ein Kamelreiterregiment mit deutscher Finanzhilfe aufgestellt, das aus „Freiwilligen“ der Region zwischen Mekka und Medina bestand.1024 Der Kampfwert dieser Einheit blieb jedoch minimal. Es wurde aber bereits als Erfolg gewertet, wenn diese Kämpfer nicht als „Banden“ im Rahmen der Insurrektionsbewegung unter dem britischen Obersten T.E. Lawrence hinter den türkischen Linien kämpften.1025 Mit dem Vorrücken der britischen Truppen und 1022 „Im Irak steht die Sache ganz anders. Im Irak ist die Bevölkerung degeneriert. Sie hat keinen festen Halt an der Religion, die Liebe zum Herrscher istvgering [sic] und die Befehle der Regierung werden widerwillig ausgeführt. Ausserdem ist die Wirkung des fremden Einflusses auch sehr gross. Die Bevölkerung und die S tämme [sic], die es nicht gewohnt sind die Staatsgesetze zu achten, ziehen es vor sich vor den Gesetzen zu drücken, die sie als Last empfinden statt dieselben zu befolgen. Besonders in Kriegszeiten suchen dann diese Völker die ihnen lästigen Gesetze zu umgehen indem sie sich dem Feinde unterwerfen, der ohnen [sic] freiheiten [sic] gewährt.“ Schreiben des stellvertretenden Kommandeurs des XIII. A.K. an den Stab der 6. Armee vom 15.11.1331 (= 22.1.1916), BAMA Freiburg, N 131/ 2, Blatt 4. Ergänzend die Aussagen bei Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 6 und Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 263f. 1023 Kriegstagebuch Euphrat-Syrien (Februar 1918 – August 1918), Eintrag vom 27.3.1918 (Ganz Geheim!). BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 26. 1024 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 108 u. S. 147f. 1025 Zu der arabischen Aufstands-Bewegung und dem Wirken von Lawrence siehe einführend: Morsey, Konrad: T.E. Lawrence und der arabische Aufstand 1916/18, Osnabrück 1976. 260 türkischen Rückzügen nahm die Zahl der „arabischen Freiwilligen“ auf osmanischer Seite allerdings zusehends ab, da die Entente bereit war – zumindest theoretisch –, die Gründung eines unabhängigen arabischen Staates zu unterstützen.1026 Die Machthaber in Konstantinopel behandelten die arabischen Reichsteile hingegen mit noch größerer Verachtung als vor der „jungtürkischen Revolution“, denn die Ideen des Panturanismus, wie sie von Enver Pascha favorisiert wurden, schätzten eher die Turkstämme im Kaukasus als „Volksgenossen“, nicht aber die Araber. Besonders die Herrschaft Djemal Paschas in den südlichen Provinzen, der auch bei kleineren Vergehen Todesstrafen gegen die arabischen Einwohner verhängte, führte zum Unmut über die „türkischen Herren“ und zur Unterstützung des „arabischen Aufstandes“.1027 Eine „disziplinierende“ Gegenmaßnahme der osmanischen Führung war die Unterstellung der arabischen Einheiten unter türkische Offiziere.1028 Dadurch wurde jedoch ein neues Problem geschaffen, denn nur wenige türkische Offiziere waren der arabischen Sprache mächtig.1029 Außerdem mußten die Deutschen feststellen, daß der jeweilige türkische Vorgesetzte „durch allzuhäufige [sic] Prügel und Hungerkuren seine Beliebtheit gewiss nicht zu erhöhen“ pflegte und der Einsatz von arabischen Unteroffizieren generell abgelehnt wurde.1030 Unter solchen Umständen verbesserte sich die Meinung deutscher Offiziere über die ihnen unterstellten arabischen Verbände im Laufe des Krieges nicht. Kreß forderte 1917 nach der zweiten Schlacht um Gaza trotz angespannter Personallage die Auflösung einer kompletten arabischen Division, da sich diese als politisch unzuverlässig und militärisch völlig unbrauchbar erwiesen habe.1031 1026 Die Versprechungen der britischen Regierung an die Führer des „Arabischen Aufstandes“ im Rahmen der Entsendung von Oberst Lawrence wurden teilweise durch die Balfour Deklaration und praktisch gänzlich durch das Sykes-Picot-Abkommen konterkariert. Siehe hierzu der Überblick bei: Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 29-31, S. 54f. u. S. 459f. 1027 Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr: Achmed Djemal Pascha, in: Zwischen Kaukasus und Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 3, Sangerhausen 1923, S. 15f. (Im Folgenden: Kreß von Kressenstein, Achmed Djemal Pascha 1923.) 1028 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 121. 1029 Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 2. 1030 Bericht von Hellmuth Ritter (Übersetzungsstelle 6. Armee) „Zur Frage des militärischen Wertes der Araberstämme.“ Ohne Datum. BAMA Freiburg, N 131/ 4, Blatt 4f. 1031 Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr: Überblick über die Ereignisse an der Sinaifront von Kriegsbeginn, bis zur Besetzung Jerusalems durch die Engländer Ende 1917, in: Zwischen Kaukasus 261 Auch außerhalb Syriens und Palästinas war das Ansehen arabischer Truppen sehr gering. Als Beispiel sei an dieser Stelle der Bericht von Oberstleutnant Paraquin über die Kämpfe um Baku angeführt: „Das Vorgehen des Inf.-Regts. 107 (15. I.D.) nahm ein klägliches Ende. Es setzte sich wie das I.R.106 aus Arabern zusammen.[...] Kaum hatte es die Höhen erstiegen, als es in regelloser Flucht zurückflutete. Hang und Tal waren mit einzelnen Flüchtlingen bedeckt. [... Zuvor] hatten Teile des Regts. am linken Flügel schwaches Feuer von feindl. Infanterie erhalten, die aus Richtung Baladschari gegen die Stadt flüchtete. Auf dieses Feuer hin rannte das Regt. in sinnloser Panik davon. Später hiess es, das Regt. melde, die ‚Armenier’ hätten mit weissen Taschentüchern gewunken und als sich die Araber genähert, trotzdem gefeuert. Ich habe von den zahlreichen armseligen Armeniern, die ich vor Baku sah, nicht den Eindruck, dass sie im Besitze weisser Taschentücher sind. [...] Ich bin fest überzeugt, dass alles Märchen ist. [...] Dabei muss ich bemerken, dass Halil Pascha mir unumwunden zugab, diese beiden arabischen Regter. aus persönlicher Erfahrung als feige und völlig unzuverlässig zu kennen. Die Truppenleistung der anatolischen Regimenter ist sehr anerkennenswert. Die anatolische Infanterie ( 5. kauk. und 36. I.D.) griff unerschrocken und mit grossem Schwung an. Vor allem haben sich die I.R. 38 und 56 ausgezeichnet.“1032 Die Geringschätzung der arabischen Truppen im Vergleich zu anatolischen Einheiten kommt an dieser Stelle klar zum Ausdruck. Neben den vorher genannten Gründen für deren Unzuverlässigkeit wird hier auch die 1918 sehr zu Ungunsten der Türken veränderte Kriegslage eine Rolle gespielt haben. Auf der arabischen Halbinsel hatte der Aufstand seinen Höhepunkt erreicht und spätestens nach dem Fall von Jerusalem war die Haltung der arabischen Zivilbevölkerung in den südlichen Provinzen gegenüber den türkischen und deutschen Truppen feindselig zu nennen. Es bildeten sich mehr und mehr „Räuberbanden“,1033 und diese fielen über türkische Nachzügler und Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 1, Berlin 1921, S. 36. (Im Folgenden: Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921.) 1032 Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant von Seeckt vom 21.9.1918. KA München, MKr. 1782/ 2, S. 9f. 1033 Diese Gruppenbezeichnung und Bewertung faßte arabische Zivilisten, Deserteure und Angehörige der irregulären Truppen des Prinzen Feisal und des Obersten Lawrence zusammen. Offenbar war es im Chaos des Zusammenbruchs kaum möglich, die einzelnen Täter zu unterscheiden. 262 oder versprengte deutsche Soldaten her, um sie auszuplündern. Der Kommandeur des Infanterie-Regiments 146 schreibt in sein Kriegstagebuch, daß seine Truppen sich den Weg durch die Stadt Damaskus „frei schießen“ mußten aus Angst, von aufgebrachten Einwohnern gelyncht zu werden.1034 Auch Oberstleutnant Guhr berichtet von solchen Straßenkämpfen in der Stadt.1035 Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung des damaligen Leutnants im ersten Bataillon des I.R. 146, Adolf Treitz. Er berichtet in seinem Buch „Die Vergessenen“ ausführlich von seinen Erlebnissen als Führer einer kleinen Gruppe Deutscher inmitten des Zusammenbruchs der Palästinafront und von der „Jagd“ der arabischen Bevölkerung auf die Deutschen.1036 Schon bald wurde die arabische Bevölkerung von den deutschen Soldaten allgemein als „Feind“ angesehen. Das I.R. 146 sandte Patrouillen aus, die als Vergeltungsmaßnahme „Beduinen fangen“ sollten: „Man konnte es ihnen auch nicht verdenken, wenn sie an diesem feigen heimtückischen und beutegierigen Gesindel ihr Mütchen kühlten.“1037 So führte Gewalt zu Gegengewalt und offenbar konnten sich die Deutschen in einigen Fällen damit durchsetzen. Hans Guhr beschreibt seinen Rückmarsch durch Syrien: „Die Schandtaten dieser Schurken sahen wir bald mit eigenen Augen: Splitternackte Türkenleichen, mit durchschnittenen Fußsohlen oder mit abgeschnittenen Ohren lagen am Wege, ferner ein Mann, noch lebend, mit schweren Wunden an den Beinen und, nicht weit von ihm ein türkischer Offizier mit herausgeschnittenen Kniescheiben. [...] Unterwegs, in der Dunkelheit erhielten wir aus einem 1 ½ km entfernten Araberdorf plötzlich Feuer. Mehrere Salven krachten über unsere Köpfe hinweg. [...] Das Infanteriefeuer hörte bald auf, zwei Geschütze aber schossen noch längere Zeit hinter uns her. Der Korpskommandeur überholte uns und riet, falls wir wieder aus einem Ort Feuer bekämen, diesen dafür hart zu strafen. ‚Sie werden sehen, die arabische Botenpost funktioniert schneller, als jede drahtlose Telegraphie. Strafen Sie ein Dorf, spricht 1034 Kriegstagebuch des Frithjof Freiherrn v. Hammerstein, Major und Kommandeur des Inf. Rgts. 146, 1918 (Heft 13), Eintrag vom 20. September, BAMA Freiburg, N 309/ 13. 1035 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 271ff. 1036 Treitz, Adolf: Die Vergessenen, München 1933. 1037 Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 267. 263 sich dies in der ganzen Gegend herum, und Sie werden dann überall in Ruhe gelassen’, lauteten im Weiterreiten seine Worte. [...] Um Mitternacht durchquerten wir abermals eine arabische Ansiedlung, aus der wir hinterrücks Feuer erhielten. Nun befahl ich einem Offizier und 40 Reitern, kehrtzumachen, und die Einwohner zur Rechenschaft zu ziehen. Bald hörte man vom Dorf her Schüsse fallen, mächtige Feuersäulen loderten aus den elenden Lehmhütten und beleuchteten den dunklen Tropenhimmel. Unser Weitermarsch wurde niemals wieder gehindert [...].“1038 In Syrien drehte sich jedoch gegen Kriegsende eine Gewaltspirale, die sowohl unter der Zivilbevölkerung als auch unter den zurückgehenden Soldaten für blutige Verluste sorgte und das „arabische Element“ in der osmanischen Armee endgültig in Mißkredit brachte. Man kann nur vermuten, welche Auswirkungen die Vorgänge in Aleppo oder Damaskus auf die Behandlung arabischer Soldaten durch die türkischen Vorgesetzten hatte und wie diese wiederum auf die Einsatzbereitschaft der Einheiten wirken mußte. Zum Schluß dieser Ausführungen sei kurz darauf verwiesen, daß die Deutschen im Osmanischen Reich neben „Arabern und Türken“ auch noch verschiedene andere Ethnien unterschieden. Ob kurdische Reiterformationen im Kaukasus oder irreguläre Verbände aus Freiwilligen, die aus den Balkanländern stammten, sie alle fielen den europäischen Beobachtern höchstens durch Disziplinlosigkeit oder „schändliches Verhalten“ als Gefahr für die eigenen Truppe auf.1039 Eine besonders anschauliche und zugleich zynische Einschätzung über die Freiwilligen gibt der preußische Major Hans-Joachim von Loeschebrand-Horn, der 1916 in Kurdistan eingesetzt war: „Der Vorteil, sie auf unserer Seite zu haben, bestand darin, daß sie beim Vormarsch unsere Bewegungen verschleierten, durch ihre Anwesenheit an bestimmten Punkten 1038 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 265. Zu den kurdischen Kavallerieformationen siehe: Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 15 u. S. 33. Oberst von Kreß berichtet über einen solchen Freiwilligenverband, der angeblich in der Mehrzahl aus entlassenen Häftlingen bestanden habe, daß dessen einzige Leistung war, die Disziplin der türkischen Truppen zu gefährden und einen deutschen Offizier „versehentlich“ am Arm zu verletzen. Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 7. 1039 264 den Nachweis erbrachten, daß der Feind dort nicht gleichzeitig sein konnte, und im Gefecht durch sorgloses Herumreiten auf den Höhen das Feuer der feindlichen Artillerie von der Infanterie ablenkten und auf sich und den Regimentsstab zogen, bei dem sie sich stets in besonders dichten Haufen aufhielten, angeblich um ‚Befehle’ einzuholen. Ihre Stärke wechselte, je nachdem die Plünderung eines Gefechtsfeldes oder ein Rückzuge bevorstand. In ersterem Falle waren es einige Tausend, in letzterem einige Dutzend.“1040 Allgemein kann für die Beurteilung der Mannschaften im Osmanischen Heer durch die deutschen Militärberater jedoch festgehalten werden: 1. Die deutschen Soldaten waren sich sehr wohl der unterschiedlichen Völkerschaften bewußt. Ebenso beobachteten sie die verschiedenen Sitten und Bräuche, wenn sie diese im persönlichen Umgang auch nicht immer respektierten. 2. Die „Typisierung“ der osmanischen Soldaten war eng mit der „Typisierung“ des jeweiligen kulturellen und ethnischen Umfeldes verbunden. 3. Der „anatolische Soldat“ wurde grundsätzlich als der beste Soldat des Osmanischen Reiches angesehen, wenn er auch militärisch keinem Vergleich mit europäischen Soldaten standhielt. Da sich diese Auffassung auch aus dem Schriftverkehr im Kriege ergibt, handelte es sich dabei offenbar nicht nur um eine nachträgliche „Schönfärbung“ gegenüber der neuentstandenen türkischen Republik.1041 4. Die türkischen Mannschaften standen dem aufkommenden jungtürkischen Nationalismus mehrheitlich fern, so daß diese Art der in Europa verbreiteten Motivation zum Dienst hier kaum Bedeutung besaß. Gegenüber den osmanischen Soldaten anderer Ethnien forcierte die Ideologie der türkischen 1040 Loeschebrand-Horn, Hans-Joachim von: Der Feldzug der Suleimanije-Gruppe in Kurdistan im Sommer 1916 – Persönliche Erinnerungen, in: Zwischen Kaukasus und Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 2, Berlin 1922, S. 120f. (Im Folgenden: Loeschebrand-Horn, SuleimanijeGruppe 1922.) 1041 Die Türkei wurde vom „Dritten Reich“ als möglicher Bündnispartner im Zweiten Weltkrieg umworben. Siehe hierzu: Krecker, Lothar: Deutschland und die Türkei im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1964 (hier besonders: S. 153-204). Zu den Beziehungen zwischen den arabischen Staaten und dem „Dritten Reich“ siehe: Mallmann, Klaus-Michael/Cüppers, Martin: Halbmond und Hakenkreuz – Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 22007. 265 Führung gleichzeitig Ausgrenzung und Entfremdung, was sich negativ auf deren Truppenmoral auswirkte. Ideelle Motive, die den Dienst begünstigten, gab es für die meisten Soldaten nicht. 5. Der osmanische Mannschaftssoldat war „Opfer“ der Gegebenheiten in der Armee, wie schlechter Ausrüstung, unzureichender Verpflegung und mangelnder Fürsorge. Hierfür machten die deutschen Offiziere jedoch nicht nur „das System“, sondern vor allem eine bestimmte Gruppe verantwortlich: Die türkischen Offiziere. IV.3. „Keine Kameraden“? – Die Offiziere des osmanischen Heeres Der Beurteilung der türkischen Offiziere durch ihre deutschen Verbündeten beruhten zunächst auf den gleichen Grundlagen wie die Beurteilung der türkischen Mannschaften. Generalmajor Back schreibt über seine Zeit als Leiter eines türkischen Offizierausbildungslagers: „Der türkische Offizier war im Durchschnitt, wie alle Orientalen, faul. Es fehlte ihm meist das Pflichtgefühl und die Verantwortungsfreudigkeit. Es bedurfte dauernd der Anregung und Kontrolle und die Türken wussten, dass sie uns, die deutschen Offiziere, nötig hatten, um alles in Schwung zu bringen.“1042 Da in der osmanischen Armee die überwiegende Mehrheit der Offiziere – abgesehen von vereinzelten arabischen oder kurdischen Anführern oder aus den früheren Balkanprovinzen entstammenden Führern – Türken waren oder zumindest die türkischen Gepflogenheiten während ihres Dienstes für den Sultan angenommen hatten, kann es nicht verwundern, daß ihnen von deutscher Seite die gleichen „kulturellen Grundübel“ vorgeworfen wurden wie den Mannschaften. Es ist müßig an dieser Stelle, diese Vorwürfe im Einzelnen zu wiederholen, ähneln sie doch zu sehr den oben genannten. Wichtiger ist hingegen, daß die deutschen Offiziere einen anderen Maßstab an das Verhalten der türkischen Offiziere anlegten. Im Gegensatz zum türkischen Soldaten, der zumeist auch unter widrigsten Umständen seinen Dienst tat, galten für die 1042 RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 15. 266 türkischen Offiziere keine „mildernden Umstände“, denn sie waren eines der Übel, das dem „tapferen Asker“ solch ein schweres Los bereitete. Bereits vor dem Kriege hatte Freiherr von der Goltz in einem Bericht sowohl nach Berlin als auch an das osmanische Kriegsministerium die deutsche Erwartungshaltung an die Offiziere sehr deutlich gemacht. Ein Offizier habe durch Vorbild zu motivieren, doch der türkische Offizier führe „lässig, langsam, gleichgültig und in unmilitärischer Haltung“.1043 Goltz greift hier die im deutschen Militär weitverbreitete Ansicht auf, daß ein funktionierendes Offizierkorps Grundlage jeder Armee sei. Und gerade hier schien die osmanische Armee gravierende Probleme aufzuweisen. Bis zum Kriegseintritt der Hohen Pforte konnten diese Mängel nicht abgestellt werde. Nach den Balkankriegen und der großangelegten Entlassung älterer Offiziere durch Enver Pascha war das Offizierkorps erheblich geschwächt. Außerdem mußten nach der Mobilmachung zahlreiche neuaufgestellte Formationen mit Offizieren versehen werden, wobei – anders als im Deutschen Reich – aufgrund der osmanischen Wehrverfassung nicht auf ein größeres Reservoir ausgebildeter Reserveoffiziere zurückgegriffen werden konnte.1044 Die Folge war eine verkürzte Ausbildung von Offizieranwärtern innerhalb eines Systems, das schon zu Friedenszeiten mit dieser Aufgabe überfordert war und dem auch die deutsche Militärmission in der Kürze der Zeit noch keine übermäßige Besserung hatte bringen können. Die ersten Eindrücke vom türkischen Offizierkorps waren dementsprechend verheerend. Schon die Berichte über den Angriff auf den Suez-Kanal künden von dem schlechten Abschneiden der türkischen Offiziere. Major Welsch schreibt, daß der Kommandeur des I.R. 80 (Major Rufad Bey) zwar „ehrenwerter Gesinnung“ sei, aber völlig energielos und von seinem Handwerk nichts verstehe, wie man daran ersehen könne, daß er in 8 Wochen Ruhephase keinerlei Ausbildung vorgenommen 1043 Bericht des Freiherr von der Goltz Pascha „Bemerkungen über die während der Herbst- und Winter-Uebungen beim 1., 2. und 3. Kaiserlich Ottomanischen Ordu gemachten Wahrnehmungen“ von Dezember 1909, BAMA Freiburg, N 737/ 31, S. 3-6. 1044 Bericht des Generalmajors Bronsart von Schellendorff „Kurze Darstellung der Grundzüge der türk. Kriegführung im Weltkrieg 1914/18“ vom 15.12.1917, BAMA Freiburg, W 10/ 50325, S. 1. 267 oder überhaupt irgendwelche Vorbereitungen getroffen habe.1045 Über den „Kriegsrat“ unmittelbar vor dem Angriff schreibt er dann: „Aber dieser Kriegsrat war das deprimierendste, was ich je erlebt habe. Nur 2 von 9 [türk. Offz.] zeigten sich so ziemlich bereit, bei den übrigen stieß ich auf türkisches Unverständnis, Unentschlossenheit und offenkundige Angst, die sich nur mühsam hinter nichtssagenden Gründen versteckten.“1046 Auch Hauptmann Gerlach weiß zu berichten, daß die Mehrheit der Offiziere, mit denen er zusammenarbeiten sollte, sich durch Feigheit vor dem Feinde „auszeichneten“ und keine Anstalten machten, die eigenen Soldaten unter Feuer zu führen.1047 Den wohl bittersten, aber auch bizarrsten Abschlußbericht liefert jedoch Major Fischer. Dieser war einem türkischen Regiment unter Führung eines gewissen Kemal Bey zugeteilt. Dieser habe jedoch rasch die Führung an den Deutschen abgetreten, da er sich selbst überfordert sah: „Sein Verhalten [Kemal Bey] löste die gleiche Teilnahmslosigkeit seiner Offiziere aus. [...] Ich ging auf Suche nach Kemal Bey und sagte, als ich ihn schließlich fand: „Ich schäme mich vor einer so feigen und elenden Truppe zu stehen“. Er antwortete mit der Frage: „Bin ich auch feige und elend?“ Ich hatte als Antwort nichts als ein Achselzucken. Er versprach mir nunmehr das zu tun, was ich verlangen würde. [...] Da der Artilleriekommandeur vom ersten Schuß ab unsichtbar war und trotz wiederholten Befehls Kemal Beys, sich zur Beobachtung einzufinden, unsichtbar blieb, war die Feuerleitung den Batteriechefs überlassen. [...] Urteil: Die Schuld am Mißerfolg der Abteilung Kemal Bey sehe ich zum Teil in der (falschen) Befehlsübermittlung Ekrem Beys. Der an sich geringe Offensivgeist Kemal Beys hatte nunmehr die willkommene Gelegenheit, hinter dem Schutze einiger Worte vollends zu verflüchten. Aber auch ohne dieses Mißverständnis winkte der Abteilung kein Sieg. 1045 Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 1. 1046 Ebd., S. 6. 1047 Kampfbericht des Pionierbataillons 8 (Hauptmann Gerlach) an ohne Datum, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 2. 268 Der Führer und seine Offiziere waren unfähig, unwissend und eingebildet. Das stumpfsinnige Erlernen starrer Formen erstickte das Verständnis für zielsicheres Handeln. [...] Ich halte es für unwahrscheinlich, mit dem 68. Inf.Regt. jemals wieder an den Feind zu kommen. Ich empfehle es im Etappendienst einzusetzen. Ein wenig besser hielt sich die Pionierkompagnie des Hauptmanns Muglis Effendi und die Maschinen Gewehr Kompagnie des Oberleutnants Hikmet Effendi. Die Verständigung zwischen Kemal Bey und mir litt dadurch, daß seine Kenntnisse der deutschen und französischen Sprache während des Gefechtes plötzlich versagten.“1048 Oberst Kreß von Kressenstein schließt seinen Bericht zu den Kampfhandlungen im Februar 1915 mit der Feststellung, daß dieses Unternehmen ein Fiasko gewesen sei, „aber eine gründliche Zerstörung des Kanals wäre uns möglich gewesen, wenn sich unsere Soldaten und auch ein großer Teil der türkischen Offiziere nicht so erbärmlich feige benommen hätte[n]“.1049 Angesichts der britischen Truppenpräsenz am SuezKanal und der begrenzten Ressourcen türkischerseits scheint die Einschätzung von Kreß nur zur Verdeutlichung des „türkischen Versagens“ zu dienen, nicht aber realistische Erfolgsaussicht wiederzugeben. Es wird jedoch deutlich, daß die türkischen Truppenführer demnach direkt durch ihr nachlässiges oder auch feiges Verhalten die Leistungsfähigkeit des „zähen Aksers“ behinderten, wenn nicht systematisch untergruben. Für den türkischen Soldaten war auch nach Ansicht von Leutnant Ungerer ein vorbildlicher Offizier ausschlaggebend für die Moral, denn es „fehlt den Türken eben nicht an Mut, aber sie sind der Panik zu sehr zugängig und wo ein gutes Beispiel ist, da bleiben sie unbedingt liegen“.1050 Doch statt vorbildlichen Verhaltens zeigten die Offiziere häufig nur Sorge um ihr eigenes Leben. In einem Bericht der bayerischen Fliegerabteilung 304 wird geschildert, wie plötzlich eine panikartige Flucht der türkischen Truppen in der Nähe des Flugfeldes einsetzte. Auf die Frage nach der Ursache erhalten sie keine Erklärung von den zurückgehenden Verbänden, lediglich ein türkischer Offizier habe 1048 Bericht des Majors Fischer an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 17.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 2-5. 1049 Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 20. 1050 Brief von Leutnant Ungerer an seine Eltern vom 4. Mai 1918, BAMA Freiburg, MSg 2/ 2888, S. 6. 269 geantwortet, daß er es auch nicht wisse. Wie sich herausstellte, war die Panik unbegründet.1051 Die Offiziere ließen sich also von den flüchtenden Truppen mitreißen, ohne zu versuchen, die Truppen aufzuhalten oder zu sammeln. Diese Schwäche der Führung muß in der osmanischen Armee sehr wohl bekannt gewesen sein, denn Felix Guse als Generalstabschef der 3. Armee im Kaukasus berichtet davon, daß Enver Pascha und sämtliche Generäle in ihren Planungen stets berücksichtigten, wie schwer es war, „orientalische Truppen, die einmal im Zurückgehen waren, wieder zum Halten zu bringen und vor der Auflösung zu bewahren“.1052 Die Mehrzahl der türkischen Offiziere erschien den Deutschen wenig bis überhaupt nicht geeignet, eine Truppe so zu führen, daß Moral und Kampfkraft gefördert würden. Ausnahmen bestätigten jedoch wie so häufig die Regel, auch wenn die „guten Offiziere“ ihre Anerkennung oft nicht mehr entgegennehmen konnten. So berichtet etwa Generalmajor Heuck über die ihm unterstellten Türken an den Dardanellen: „Ich habe jedoch auch Offiziere unter meinem Befehl gehabt, die es an allen militärischen sowie Charaktereigenschaften durchaus mit dem deutschen Offizier aufnahmen. Wenn der türkische Offizier gut war, war er gleich vortrefflich. Ich habe manche Freunde unter dieser Kategorie gehabt und würde mich freuen sie wiederzusehen. Der größte Teil ist allerdings gefallen.“1053 Solche Wahrnehmung von „Ausnahmeoffizieren“, die eher auf persönlicher Sympathie beruhten, können bei einigen Deutschen beobachtet werden. Meist handelt es sich bei den „guten Offizieren“ um untergebene Stabsoffiziere oder den persönlichen Adjutanten.1054 Die allgemein kritische Haltung gegenüber dem türkischen Offizierkorps blieb trotz weniger „positiver Überraschungen“ bestehen. Mangelnde Ausbildung der türkischen Offizieranwärter sei ein Mißstand, der seit den Zeiten Abdul Hamids II. anhalte und 1051 Bericht der Fliegerabteilung 304 b über die Räumung des Flugplatzes Arak el Manchije vom 27.11.1917, KA München, Flieger u. Luftschiffer 54. 1052 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 57. Siehe hierzu auch: Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 51. 1053 W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv, [S. 3]. 1054 Kriegstagebuch des Oberstleutnant Stange, Eintrag vom 17.12.1914, BAMA Freiburg, MSg 2/ 3739. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 28. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 54. 270 die „Unfähigkeit“ der vorhandenen Befehlshaber könne nur durch ergänzende Ausbildung durch deutsche Offiziere ausgeräumt werden.1055 Zudem seien sogar viele Generalstabsoffiziere nicht des Lesens und Schreibens mächtig, was die ohnehin schwierige Kommunikation weiter komplizierte und die dienstliche Eignung der Betreffenden deutlich reduzierte.1056 Neben der unzulänglichen Ausbildung wurde noch der deutliche „Standesdünkel“ der Türken kritisiert, der den Offizier in eine von den Mannschaften vollkommen abgehobene Position setzte: „Hier sah ich einmal ein für uns ganz unmögliches Bild: Ein türkischer Major, der mit seiner Mannschaft exerzierte, saß in Pantoffeln auf seinem Pferde, einen Schirm gegen die heiße Sonne aufgespannt. Schakir1057 [...] entschuldigte das mit den Worten, daß das noch ein Alttürke sei. “1058 Für den türkischen Vorgesetzten schien Fürsorge für die ihm unterstellte Truppe völlig fremd zu sein. Stattdessen wurde ihm vorgehalten, von den Gebührnissen, die ihm für seine Soldaten überwiesen wurden, stets einen ansehnlichen Teil in „die eigene Tasche“ abzuzweigen.1059 Angesichts des Leidens der einfachen Soldaten unter den schlechten Versorgungsverhältnissen und der darausfolgenden hohen Krankheits- und Sterblichkeitsrate war dieses Versäumnis der türkischen Seite besonders schockierend für die Deutschen. Die Kritik betraf dienstgradübergeifend sämtliche Führungsebenen der osmanischen Streitmacht. So wurde neben den oben bereits erwähnten Regimentskommandeuren durchaus auch höhere Generäle des Versagens beschuldigt. In welcher Anzahl solche „Vergehen“ auftraten, geben anschaulich einige Bemerkungen Felix Guses wieder, die er vermutlich für das Reichsarchiv verfaßte.1060 An dieser Stelle seien nur einige Auszüge wiedergegeben: 1055 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 20f. Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935, S. 158. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 182. 1056 Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 8. 1057 Der Adjutant Major Sernos. 1058 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 37. 1059 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 60f. Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 8. Bericht des Majors Hartmann an den Chef des Stabes der Militärmission in Konstantinopel vom 20.5.1918, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 1f.]. 1060 Der Bestand des Bundesarchivs deutet darauf hin, daß es sich um Unterlagen des ehemaligen Reichsarchivs handelt. Doch kann dem Dokument selbst kein Adressat entnommen werden. 271 „Im ersten Kriegsjahre versagten Führer häufig in einer Form, die bei uns das Ehrengericht gilt. Ende 1915 hörte das auf. Nachstehend die stärksten Fälle, die es sich wohl empfiehlt bei den Akten aufzubewahren: a. Führer der 33. I.D. verabschiedet, weil er folgendermassen focht, er hielt immer eine Reserve 6 km hinter der Front, blieb persönlich bei dieser und war durch keinen Befehl dazu zu bringen, diese einzusetzen. [...] d. Der Armeearzt tat 14 Tage nichts, antwortet auf mein Befragen, er wisse nicht, was er zu tun habe. Nachdem ich ihm einen Vortrag über dieses Thema gehalten hatte, bedankt er sich, ging sofort zum Armeeführer und bat aus Gesundheitsrücksichten seinen Abschied. e. Führer der 17. I.D. Er bat nach dem ersten Gefecht seinen Abschied, weil seine Nerven das nicht vertrügen. [...] g. Führer IX. A.K. Remsi Pascha versammelt in einer schwierigen Lage im August 15 zwei Div. Kommandeure und sagte er wisse jetzt keine Ausweg mehr, deshalb werde er das Corps verlassen, der eine Div. Kommandeur solle das Corps übernehmen, der andere sein Chef sein. Die beiden Kommandeure hielten ihn jedoch zurück.“1061 Dies Aufzählung ließe sich noch erweitern, etwa um das Beispiel von Offizieren – vom Führer eines Armeekorps bis zum Kompaniechef –, die „hinter der Front Maniküre“ trieben, während vorne gekämpft wurde, oder das Verhalten eines Divisionskommandeurs, der bei Wintereinbruch aus Gesundheitsgründen seinen Abschied nahm und etwa eine Woche später bei gutem Wetter sein Kommando wieder übernehmen wollte. Guse spart zudem nicht mit Kritik am Kommandierenden General der 3. Armee selbst, den er als unfähig und feige darstellt. Sogar der sonst sehr türkeifreundliche Feldmarschall von der Goltz kann sich kritischer Äußerungen über einige Offiziere nicht enthalten. So schrieb er seiner Freu im Sommer 1915 über seinen Stabschef in der 1. Armee (Konstantinopel): „Mein Stabschef Schükri Bey ist ein ganz tüchtiger Mann, der mich durch seine guten Kenntnisse der inneren Verhältnisse recht unterstützt, auch an viele Dinge denkt, die ich vergessen würde. [...] Aber er ist dabei auch eine echt türkische, passive Natur. Einen wenig unternehmenslustigen Oberbefehlshaber würde er nicht vorwärts 1061 Bemerkungen Oberstleutnant Guses zu seinem Aufsatz „Die türkischen Operationen im Kaukasus 1914/17“ ohne Datum, BAMA Freiburg, W 10/ 51296. 272 bringen. [...] Willenskraft vermag viel, sie bildet leider keinen hervorstechenden Zug im türkischen Charakter.“1062 Besonders „problematisch“ werden die kritischen Bemerkungen auch, wenn sie sich indirekt oder gar direkt gegen die oberste türkische Führung richten. So beklagt sich Oberstleutnant Paraquin während der Kämpfe um Baku über den Führer der osmanischen Heeresgruppe „Ost“, Nuri Pascha, dieser erfinde immer neue Meldungen über gegnerische Verstärkungen oder armenische Giftgasvorräte, um sich vor entscheidenden Kampfhandlungen zu drücken: „Wenn Nuri Pascha den geheimen Auftrag hätte, die Wegnahme von Baku zu verzögern, so könnte er nicht meisterhafter handeln.“1063 Sein Brief enthält zwei brisante Details, denn zum Einen handelte es sich bei Nuri Pascha um den Bruder des Kriegsministers Enver Pascha1064, und zum Anderen war es eigentlich Paraquin, der den geheimen Auftrag hatte, die Einnahme von Baku zu verzögern. Dieser wußte zu diesem Zeitpunkt nur noch nichts von seinem Auftrag, da die Nachricht von türkischer Seite aufgehalten wurde.1065 Nach der Meinung Paraquins wäre eine Ablösung Nuri Paschas angebracht gewesen, die aufgrund seiner engen Beziehung zu Enver Pascha jedoch unmöglich durchgesetzt werden konnte. Ähnliche Beobachtungen „persönlicher Protektion“ von Offizieren durch höhere und vor allem politisch einflußreiche Kreise machte auch Ludwig Schraudenbach, dem ein 17jähriger Leutnant als Divisionsadjutant zugeteilt wurde, obwohl er für die Stelle völlig ungeeignet war. Allerdings stand er in enger Beziehung zum Befehlshaber der 2. Armee und Mitglied der regierenden „jungtürkischen Partei“, Marschall Achmed Izzet Pascha, der ihm durch persönliches Dekret diese Stellung zugedacht hatte.1066 1062 Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 414. Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant Seeckt über die Lage bei Baku vom 6.9.1918, KA München, MKr. 1782/ 2. 1064 Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 241. 1065 Siehe oben, S. 172. 1066 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 186. Izzet Pascha löste am 13. Oktober 1918 Enver Pascha als Kriegsminister ab, dessen Amtsvorgänger er für eine kurze Periode nach den Balkankriegen gewesen war. Die Stellung als Kriegsminister gab er jedoch nach einigen Tagen auf und wurde Großwesir und damit Regierungschef des Osmanischen Reiches. Er muß demnach zu einem Personenkreis in der Türkei gezählt werden, der zwar keine große Nähe zum Parteiflügel um Enver Pascha, aber dennoch über signifikaten persönlichen Einfluß verfügte. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 38 u. 386 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 219f. 1063 273 Auch Colmar Freiherr von der Goltz geriet in Mesopotamien mit einem Offizier aneinander, der politischen Schutz genoß und offenbar versuchte, seine Stellung gegenüber dem neuversetzten Feldmarschall zu behaupten. Seinen Unmut über das politische Ränkespiel drückt Goltz deutlich aus und bezeichnet den Türken als „verwirrten Jungtürken“.1067 Damit ist auch ein wesentlicher Faktor genannt, der deutschen Offizieren immer wieder Anlaß zur Kritik bot: Die Besetzung von militärischen Stellen allein aufgrund politischer oder persönlicher Rücksichtnahme. Nach dem in den deutschen Heeren geltenden Idealbild erfolgte eine Beförderung entweder aufgrund des Dienstalters, mit dem zugleich eine entsprechend große Erfahrung und lange Ausbildung einher gehen sollte, oder wegen besonderer Leistungen auf militärischem Gebiet. Daß ein „Idealbild“ nicht zwangsläufig der Wirklichkeit entsprach und durchaus auch andere Beispiele in Deutschland zu finden waren, soll an dieser Stelle nur am Rande erwähnt werden. Für die im Orient dienenden Deutschen war der Eindruck entscheidend, daß die türkische Führung und zugleich die herrschende Partei keinen Hehl daraus machten, daß ihre Günstlinge in hohe und anspruchvolle Ämter gehoben wurden. Für die jungtürkische Partei war diese Art der Stellenbesetzung ein wichtiges Mittel zur Herrschaftssicherung. Im politisch instabilen Umfeld am Bosporus war Loyalität ein sehr wertvolles aber auch höchst zerbrechliches Gut. Da das Militär das wichtigste Machtinstrument im Osmanischen Reich war und zudem maßgeblich an dem Regierungsumsturz beteiligt gewesen war, der die jungtürkische Partei in die Führungsverantwortung gebracht hatte, kann es kaum verwundern, daß die Regierenden bemüht waren Gefolgsleute in der Armee zu platzieren, die sich – oftmals ausschließlich – durch eine hohe Loyalität auszeichneten. Dieses Verfahren widersprach nicht nur dem Leistungsprinzip und den Vorstellungen sachlicher Angemessenheit, sondern hatte tatsächlich zur Folge, daß offenkundig ungeeignete Personen in Verantwortlichkeiten kamen, für die sie nicht befähigt waren. Als deutlichstes Anzeichen für eine solche „politisch-militärische“ Karriere galt die Verwandtschaft zu einer höhergestellten Persönlichkeit im Osmanischen Reich und zugleich das (nach deutschen Maßstäben) häufig jugendliche Alter der Armeeführer oder Kommandeure. Der obenerwähnte Nuri Pascha als Führer 1067 Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 436. 274 einer osmanischen Heeresgruppe war 26 Jahre alt, was für Paraquin ein Grund für seine „Unfähigkeit“ war: „Nuri Pascha wurde von allen Zweifelsqualen geschüttelt, die einen 26 jährigen jungen Mann befallen müssen, der sich ohne jede Erfahrung und Schulung vor einem [sic] grossen Entschluss gestellt sieht, dessen Ausgang über sein künftiges Prestige entscheidet.“1068 Auch Oberst von Kreß, der im Sommer 1918 in den Kaukasus kommandiert wurde, formuliert ein solch „typisches“ Urteil über die höheren Offiziere des Osmanischen Reiches: „Am 4. August traf Halil Pascha, der Oberbefehlshaber der türkischen Heeresgruppe, [...] zu einem Staatsbesuch bei der georgischen Regierung in Tiflis ein. [...] Halil, etwa 35 Jahre alt, ein selten gutaussehender und liebenswürdiger Türke, ist ein Onkel Enver Paschas. Klug und gewandt, grosszügig und nicht ausgesprochen deutschfeindlich, aber – weil er wie die meisten jungtürkischen Offiziere viel zu rasch avanciert war – ohne gründliches Können und Wissen schien er den besten Willen zu haben, sich mit uns und den Georgiern zu verständigen. Sein Stabschef, der sehr tüchtige [...] Paraquin genoss offenbar sein Vertrauen und übte günstigen Einfluss auf ihn aus.“1069 Vor einer abschätzigen Beurteilung deutscherseits war im Übrigen auch Enver Pascha selbst nicht gefeit. Immer wieder wurde dem jungen Kriegsminister und Vizegeneralissmus (geboren 1881) vorgehalten, daß er seine Stellung nur durch den „jungtürkischen Putsch“ erlangt habe und auf keine weitergehende Ausbildung oder gar Erfahrung als Heerführer zurückblicken konnte. Hans Guhr bezeichnete ihn als „fähigen Diplomaten“, was sein Aufstieg vom einfachen Offizier zum „Diktator des türkischen Reiches“ beweise. Militärisch sei er jedoch ungebildet und verwechsle oft „Wollen“ mit „Können“.1070 Einige Urteile klingen zwar zunächst recht milde, enthalten aber dennoch deutliche Kritik an dem militärischen Dilettantismus Envers. So berichtet Felix Guse über des Fiasko im Winter 1914/15 am Kaukasus, daß der 1068 Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant von Seeckt vom 21.9.1918. KA München, MKr. 1782/ 2, S. 2. 1069 Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein „Meine Mission im Kaukasus“, KA München, HS 2227, S. 64. 1070 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 27. 275 Kriegsminister zwar eine beeindruckende Persönlichkeit sei, die für den inneren Zusammenhalt der Armee viel bewirkt habe, aber er ganz alleine für die Katastrophe verantwortlich sei, da er die 3. Armee nicht habe führen können.1071 Auch Freiherr von der Goltz kommt zu einem recht milden, wenngleich kritischen Urteil über den „de-facto Oberbefehlshaber“ der osmanischen Streitkräfte: „Der leitenden Mann in allem ist der jugendliche Kriegsminister Enver Pascha, der fast wie ein Diktator auftreten kann, da er auf türkischer Seite allein Entschluss besitzt und Verantwortung übernimmt. Er ist unzweifelhaft eine ungewöhnliche Persönlichkeit; er ist fest, ohne eigensinnig zu sein, selbstbewusst aber doch bescheiden, intelligent und klar, mit der Gabe, fascinierend auf seine Umgebung zu wirken. [...] Leider fehlt ihm die systematische Vorbildung und gründliche Erfahrung für die Kriegführung im Grossen.“1072 Einer der schärfsten Kritiker Enver Paschas, der zudem in andauerndem, persönlichen Konflikt zu ihm stand, war Marschall Liman von Sanders, der Chef der deutschen Militärmission.1073 Für den deutschen Marschall war der Kriegsminister nicht nur zu unerfahren, er war zugleich das Symbol der Herrschaft der „jungtürkischen Partei“ über den Sultan.1074 Für den preußischen General mußte diese erhöhte Stellung einer politischen Partei über dem Monarchen vollkommen gegen die Ideale und Vorstellungen der deutschen Offizierkorps stehen.1075 Diese beiden Positionen, das deutsche Ideal (und Autostereotyp) des kaiser- oder herrschertreuen sowie professionalisierten Offiziers und die durch politische oder verwandtschaftliche Beziehungen geprägte, osmanische Realität standen sich unversöhnlich gegenüber. Erneut ist es Freiherr Kreß von Kressenstein, der den Konflikt in Worte faßt: „Die bei den türkischen Generalen besonders stark ausgeprägte Neigung, nur an das eigene Interesse und die Belange der unmittelbar unterstellten Truppen zu denken, 1071 Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 52f. Geheimes Schreiben von Feldmarschall von der Goltz an Generaloberst von Moltke vom 28.1.15, BAMA Freiburg, N 78/ 3, Blatt 4. 1073 Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 708f. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 143-145. 1074 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 16f. 1075 Siehe hierzu auch oben, S. 116-122. 1072 276 machte sich hier ebenso nachteilig fühlbar wie der starke Einfluss ihrer politischen Einstellung auf die Leistung und den Gehorsam der Generale.“1076 Die Kritik an „den Mächtigen“ auf dem kleinasiatischen Kriegsschauplatz brachte zwangsläufig neue Konflikte hervor. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden einflußreichsten Militärs, Liman und Enver, litt stark unter den persönlichen Gegensätzen. Mehrmals legte der Chef der Militärmission Beschwerden bei höheren Stellen oder beim Deutschen Kaiser ein, um seine „besseren militärischen Pläne“ gegen die „unausgegorenen“ 1077 Kriegsministers durchzusetzen. Pläne des seiner Ansicht nach unfähigen Auch General von Falkenhayn besaß offenkundig ähnliche Ressentiments gegen einen „politischen Offizier“, bei dem es sich in diesem Fall um Djemal Pascha handelte, der zeitgleich Armeeführer in Syrien, Provinzgouverneur und Marineminister war. Als Falkenhayn im Rahmen des „Yildirim“-Unternehmens nach Palästina kam, geriet er bald mit Djemal Pascha als „Satrap von Syrien“ aneinander, da dieser sich seinen Anordnungen nicht beugen wollte.1078 Der folgende Konflikt endete mit dem Verlust des Oberbefehls für Djemal, erzeugte jedoch den fortdauernden Widerstand der weiterhin unter ihm als Gouverneur stehenden Zivil- und Nachschubverwaltung gegen den deutschen General, was eine erfolgreiche Defensive gegen die britischen Truppen gefährdete.1079 An späterer Stelle wird noch einmal auf solche deutsch-türkischen Konflikte einzugehen sein. Kreß hatte in seiner Einschätzung des türkischen Offizierkorps bereits erkennen lassen, daß die Art der „politischen Stellenbesetzung“ zu Antagonismen und „fehlender Kameradschaft“ unter den Türken selbst führte. In der Tat monieren an 1076 Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein „Meine Mission im Kaukasus“, KA München, HS 2227, S. 66. 1077 Einige Beispiele bei: Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 55-58, S. 67 u. S. 73. 1078 Obergeneralarzt Steuber, Chef des Sanitätswesens der Heeresgruppe F, macht für diesen Gegensatz nicht zuletzt auch einen „scharfen politischen Gegensatz“ zwischen dem deutschfreundlichen Enver und Djemal verantwortlich. Steuber, Werner: Arzt und Soldat in drei Erdteilen, Berlin 1940, S. 294. 1079 Es steht außer Frage, daß Djemal Pascha sich den Verlust des Oberkommandos in Syrien und Palästina an Falkenhayn nicht allein den persönlichen Prestigeverlust fürchtete, sondern als Marineminister und führendes Mitglied der jungtürkischen Partei auch fürchten mußte politisches Gewicht zu verlieren daher zu solchen Maßnahmen griff. In welchem Maße sich diese „Blockadehaltung“ aber tatsächlich auf die deutsch-türkischen Operationen auswirkte, kann nicht eindeutig geklärt werden. Kreß von Kressenstein, Achmed Djemal Pascha 1923, S. 19f. Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 93f. 277 vielen Stellen die Deutschen, daß unter türkischen Offizieren – besonders auf höheren Kommandoebenen – gegenseitige Eifersucht, Intrigen und Ränkespiele an der Tagesordnung seien.1080 Oberstleutnant Paraquin berichtete an General von Seeckt: „Ich kann im einzelnen dieses Chaos der Meinungen und das Intrigenspiel nicht schildern. Ich muss nur darauf hinweisen, da es eine sehr ernste und gefährliche Seite der türkischen Führung enthüllt und nicht vereinzelt dasteht.“1081 Aus der Sicht des deutschen Verbündeten war demnach das Streben nach dem eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Standesgenossen ein verbreitetes Phänomen unter den hohen osmanischen Offizieren. Ein Verhalten, daß als Folge der politischen Einflußnahme auf die militärische Laufbahn, die schnellste Möglichkeit sozialen Aufstiegs außerhalb des „Geburt-Adels“ und der Provinzverwaltung im Osmanischen Reich, angesehen wurde. Bringt man die erwähnten Kritikpunkte zusammen, so war die Mehrheit der verbündeten Offiziere – wenn auch nicht alle – in deutschen Augen in vielerlei Hinsicht kein ebenbürtiger Partner. In Ausbildung und Bildung fühlten sich die Deutschen durchgehend überlegen. Ebenso war man der Ansicht, daß die Erfahrung und der „militärische Geist“ der Türken weit hinter dem der deutschen Offizierkorps zurückstand, nicht zuletzt weil die meisten Türken keine „höheren Beweggründe“, wie etwa Vaterlandsliebe oder die Verehrung für den Herrscher, für den Dienst besäßen, sondern lediglich aus Profitgier oder persönlichem Machtstreben der Armee beigetreten wären. Hinzu traten noch die kulturellen Stereotype des „faulen Orientalen“ und des „fleißigen Deutschen“ und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl. Unter diesen Vorzeichen erscheint ein kameradschaftliches Miteinander von deutschen und türkischen Offizieren weitgehend ausgeschlossen. Die Quellen legen den Schluß nahe, daß es auch kaum zu einem solchen Zusammenhalt gekommen ist. 1080 Prof. Dr. Georg Mayer, „Geheimbericht: Land und Leute in der Türkei“, o. Dat. [vermutlich März 1916], S. 25. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 103. Undatierter Bericht Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant Seeckt über den Zustand der 6. Armee in Mesopotamien, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv, [S. 3]. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 40f. 1081 Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant von Seeckt vom 21.9.1918. KA München, MKr. 1782/ 2, S. 2. 278 Ganz im Gegenteil machten die Deutschen um ihre „Waffenbrüder“ eher einen Bogen, wenn die Situation es erlaubte. Dies lag allerdings nicht nur an dem Gefühl der eigenen Überlegenheit, wie etwa Oberstleutnant Schraudenbach zu berichten weiß: „Die Stimmung gegen die verbündeten Türken war in diesem Kreis nicht günstig. Im Kasino sah man osmanische Offiziere nur ungern, und zwar aus sanitären Gründen. Die Läusegefahr! Die türkischen Offiziere lebten eben noch mehr als die deutschen im Innern in stark verlauster Umgebung, und es war ihnen einfach unmöglich, sich läusefrei zu halten.“1082 Ähnliche Abgrenzungen lassen sich auch bei der Marine und den Fliegern feststellen.1083 Das bedeutet jedoch nicht, daß es im dienstlichen Umgang nicht durchaus auch ein höfliches und respektvolles Miteinander gab. Einige Deutsche waren in der Lage, sich den örtlichen Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grade anzupassen, und konnten sich dadurch ein angenehmeres und konfliktfreieres Arbeitsumfeld schaffen. Der greise Feldmarschall von der Goltz, der von seinem vor dem Kriege bereits erlangten Ruf im Orient zehren konnte, war nur ein Beispiel. Doch auch Oberstleutnant Guhr verstand es, sich den Landessitten anzupassen. Auf dem Weg zu der ihm zugeteilten Einheit wählte er nicht etwa den schnellsten Weg, sondern stattete jedem osmanischen Funktionsträger der Armee zuvor einen Antrittsbesuch ab, bevor er zu seiner Einheit kam. Diese „Zeitverschwendung“ – im preußischen Sinne – brachte ihm die in Kleinasien so wichtigen „persönlichen Kontakte“. Zudem wußte er um die Symbolkraft kleiner Gesten: „Nur für mich allein wurde ein Stuhl bereitgestellt. Es erregte allgemeine Freude, als ich diesen verschmähte und mich gleichfalls in dem Kreise der Kameraden à la turka [d.h. mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden] niederließ. Der Kommandeur rauchte eine Wasserpfeife und schenkte mir ein silbernes Mundstück mit der Aufforderung [...] gleichfalls aus ihr zu rauchen. In allen Tonarten lobte ich den 1082 1083 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 120. Zu einem ähnlichen Beispiel siehe Ebd., S. 133. Siehe Kapitel IV.4. a) und b). 279 kräftigen Tabak, jedoch völlig unehrlich; denn tatsächlich war mir hundeschlecht.“1084 Der Erfolg für Guhr zeigte sich in einem deutlichen Wohlwollen seiner türkischen Vorgesetzten ihm gegenüber.1085 Oberst Freiherr Kreß von Kressenstein besaß offenbar ähnliche „diplomatische Feinfühligkeit“, die er nicht zuletzt einsetzte, um auch die in seinem Befehlsbereich „problematischen“ Araber für sich zu gewinnen.1086 Der deutsche Militärbevollmächtigte in Konstantinopel sah in Kreß die „Seele der Verteidigung in Palästina“ und Ritter Mertz von Quirnheim bescheinigte ihm, daß er „nicht nur von Türken, sondern auch von Arabern geradezu vergöttert“ wurde.1087 Doch ein solch gutes Verhältnis hatte nicht nur Vorteile, denn schnell gerieten deutsche Offiziere, die sich „zu gut“ mit ihren türkischen Verbündeten verstanden, in den Ruf „vertürkt“ zu sein. Dieses „Unwort“ sollte Synonym werden für den Überlegenheitsdünkel viele Deutscher gegenüber dem Orient und er sollte den militärischen Auftrag weiter erschweren, wie später noch zu zeigen sein wird.1088 IV.4. Sonderfälle Marine und Fliegertruppe? Obwohl das deutsche Heer die meisten Soldaten für den Orienteinsatz stellte, wurde auch eine beachtliche Anzahl Angehöriger der Marine und der Luftstreitkräfte eingesetzt. Die Differenzierung zwischen Heer und „Luftwaffe“ entspricht eher einer modernen Einteilung, da die Fliegertruppe im Ersten Weltkrieg noch nicht als eigene Teilstreitkraft etabliert war.1089 Doch entwickelte sich durch die von Heeresaufträgen unabhängigen Jagdeinsätze, eigene Uniformen, das „technisierte Umfeld“ und 1084 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 57. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 74f. 1086 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 107f. 1087 Mertz von Quirnheim, Hermann: Bemerkungen zu: „Die Ursachen für den Zusammenbruch der Palästina-Front“ bearbeitet von Generalmajor a.D. von Frankenberg und Proschlitz, Potsdam, Mai/Juni1930. BAMA Freiburg, W 10/ 50592, S. 14 u. S. 21. 1088 Siehe unten, S. 370-374. 1089 Die Flieger wurden in der Vielzahl der Fälle als „Augen der Bodentruppen“ eingesetzt und unterstanden anfangs auch dem Befehl der Armeen. Major Erich Serno als „Organisator“ der osmanischen Luftstreitkräfte macht in seinen Memoiren auch keinen Hehl daraus, daß er die Fliegertruppe als Teil des Heeres versteht. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 76. 1085 280 schließlich auch durch die Einführung einer – zumindest im Osmanischen Reich – eigenen Kommandostruktur im Laufe des Krieges eine wenigstens in Teilen von einer Einflußnahme des Heeres unabhängige Waffengattung und ein eigenes „Erfahrungsumfeld“ für die dort eingesetzten Deutschen.1090 Die folgenden Betrachtungen gelten demnach den deutschen Angehörigen der Seeund Luftstreitkräfte in osmanischen Diensten. In einigen Punkten ähneln die Wahrnehmungen und Meinungen denen der Soldaten der Landstreitkräfte, doch in einer Reihe von Aspekten gibt es auch unterschiedliche oder anders nuancierte Äußerungen über den türkischen Verbündeten; diese gilt es im Folgenden zu behandeln. a) Die Marine Die deutschen Marineeinheiten waren ohne Zweifel Teil einer zweiten Teilstreitkraft im Osmanischen Reich. Das Personal unterstand in keiner Weise der deutschen Militärmission, ein Umstand, der das Nebeneinander von Heer und Marine im Deutschen Reich spiegelte. So war es nicht an die Befehle des Marschalls Liman von Sanders gebunden, kam aber zunächst auch nicht in den Genuß der Vorteile wie Erhöhung des Dienstgrades oder außerordentliche Bezahlung. Die Situation änderte sich jedoch, als Wilhelm Souchon im Oktober 1914 von Enver Pascha zum türkischen Admiral und Flottenchef ernannt wurde. Mit dieser Ernennung verknüpfte der Befehlshaber der Mittelmeerdivision nämlich eine Reihe von Bedingungen, die in einigen Punkten den Vertragsbedingungen der Militärmission sehr ähnlich waren: - Als Flottenchef sollte Souchon direkt und ausschließlich dem osmanischen „Großen Generalstab“ unterstellt sein. - Höhere Offiziere würden allein durch ihn berufen oder abberufen. Kommandierungen innerhalb der Flotte unterlägen seiner Zuständigkeit und er müsse das Marineministerium lediglich informieren. 1090 Zur Kommandostruktur siehe: MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Organisation u. Stand d. Türkischen Luftstreitkräfte am 1.7.1918“, o. Seitenzahl. 281 - Deutsche Offiziere und Mannschaften sollten in keinem Falle Untergebene türkischer Offiziere sein. Deutsche Offiziere, die als „KommandantenStellvertreter“ auf türkischen Schiffen eingesetzt wurden, sollten hingegen jederzeit in den Dienstbetrieb eingreifen – also das Kommando übernehmen – dürfen, um sicherzustellen, daß „der Dienst auch dem Willen des Oberkommandierenden“ entspräche. - Und schließlich forderte der neue Admiral die rechtliche Gleichstellung der Schiffsbesatzungen mit den Angehörigen der Militärmission, wobei hier besonders die Möglichkeit der Rückkehr in deutsche Dienste unter Anrechnung des Dienstes am Bosporus gemeint war. Die Besoldung sollte hingegen durch das Deutsche Reich erfolgen.1091 Diese Bedingungen wurden von Enver Pascha akzeptiert und der Deutsche damit praktisch zum „Admiralissimus“ der osmanischen Seestreitkräfte ernannt.1092 Durch diesen forschen Vorstoß hatte es Admiral Souchon nicht nur geschafft, die Ausgangssituation der deutschen Marineangehörigen eindeutig zu klären, sondern auch entschieden zu verbessern. Das „notgedrungene“ Einlaufen der beiden deutschen Schiffe in die Dardanellen hatte keinen Raum für vertragliche Feinheiten gelassen. So waren die Schiffe mitsamt Besatzung zwar in türkische Dienste übergetreten, allerdings nur, um einen Neutralitätsbruch der Hohen Pforte zu kaschieren. Die Bemerkungen Souchons hatten früh erkennen lassen, daß er sich kaum vorbehaltlos der osmanischen Befehlsgewalt fügen würde.1093 Von einer „freiwilligen Dienstnahme“ am Bosporus kann demnach bei den Angehörigen der Mittelmeerdivision keine Rede sein. Zudem waren die sturkturellen Rahmenbedingungen für Seeleute im Orient andere als für Heeresangehörige. So gab es am Bosporus keine „Marinemission“, die ähnlich lohnenswerte Perspektiven wie die Militärmission garantieren konnte. Außerdem boten Umfang, Zustand, Ruf und nicht zuletzt die strategische Ausgangssituation der osmanischen Seestreitkräfte kaum Aussicht auf militärisch reizvolle – also „ruhmreiche“ – Tätigkeit, wie sie etwa bei der deutschen Hochseeflotte erwartet wurde. Es kann daher kaum verwundern, daß sich aus den Aufzeichnungen und Memoiren der Marinesoldaten keine freiwilligen 1091 RM 40/ 184, KTB der Mittelmeerdivision, Eintrag vom 7.10.1914, Blatt 194. RM 40/ 184, KTB der Mittelmeerdivision, Eintrag vom 26.10.1914, Blatt 225. 1093 Siehe oben, S. 97. 1092 282 Meldungen zum Dienst erkennen lassen. Der deutsche Konteradmiral Albert Hopman, der 1916 als Organisator einer Marinereform zum osmanischen Marineministerium kommandiert wurde, schreibt am 22.12.1915 in seinem Tagebuch, die „Entscheidung darüber läge bei andern Immediatstellen“.1094 Im gleichen Eintrag berichtet Hopman auch von den Anreizen, die ihm nach Souchons Vorstoß geboten werden (36.000 RM Gehalt und die Möglichkeit der Rückkehr in deutsche Dienste). Offenbar sind die Anreize aber nicht groß genug, um den Konteradmiral sofort zur Dienstnahme in Konstantinopel zu bewegen, denn unter dem Verweis, er sei noch 3 Wochen krank geschrieben, bat er sich „Bedenkzeit“ aus.1095 Lediglich der Kommandant des deutschen U-Bootes „U 21“, Kapitänleutnant Otto Hersing, schildert, daß die Verlegung seines Bootes nach Konstantinopel auf seine Initiative zurückgehe.1096 Da die deutschen U-Boote allerdings nicht Teil der osmanischen Marine waren, geschah die freiwillige Meldung Hersings unter anderen Rahmenbedingungen und war keine Meldung in türkische Dienste. Ein weiterer, auffälliger Unterschied in den Schilderungen der Marinesoldaten zu den Berichten und Veröffentlichungen anderer deutscher Kriegsteilnehmer ist das Fehlen von schwärmerischen Orient-Bildern oder der Erwartungshaltung, in Konstantinopel ein „Märchenland aus tausendundeiner Nacht“ vorzufinden. Genauer gesagt lassen sich keine Anhaltspunkte für das Türkei-Bild der deutschen Marineangehörigen vor ihrer Ankunft im Osmanischen Reich belegen. Es ist jedoch kaum davon auszugehen, daß die Soldaten der kaiserlichen Marine als Einzige „unvoreingenommen“ ihren Dienst am Bosporus antraten. Vielmehr geht aus den Schilderungen hervor, daß anfangs die vage Hoffnung bestand, moderne europäische Verhältnisse in der Türkei anzutreffen. Umso entsetzter klingen daher die ersten Berichte über den Zustand der türkischen Schiffe. Der damalige Obermatrose auf der „Breslau-Midilli“ Hans Hüner beschreibt seine ersten Eindrücke: 1094 Epkenhans, Michael [Hrsg.]: Das ereignisreiche Leben eines „Wilhelminers“ – Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen 1901 bis 1920 von Albert Hopman, München 2004, S. 757f. (Im Folgenden: Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004.) 1095 Ebd., S. 757. Aus den Tagebucheinträgen Hopmans geht hervor, daß er sich nicht ernsthaft gegen eine Kommandierung von höherer Stelle gewehrt hatte. Seine „Verzögerungstaktik“ läßt aber darauf schließen, wie ungern er den Dienst am Bosporus antreten wollte. 1096 Hersing, Otto: U 21 rettet die Dardanellen, Zürich/Leipzig/Wien 1932, S. 36. (Im Folgenden: Hersing, U 21 1932.) 283 „Das Personal ist so gut wie gar nicht ausgebildet. Die Besatzungen sind nicht seefest, von technischen und praktischen Kenntnissen, wie Torpedoschießen, Lecksicherungsdienst und Geschützexerzieren haben sie keine Ahnung. [...] Die Flotte ist nicht einmal fahrbereit, geschweige den kriegsverwendungsfähig.“1097 Auch der Flottenchef muß ähnliche Beobachtungen bei der Inspektion der türkischen Schiffe gemacht haben. In einem Brief an seine Frau vom 24. September 1914 schreibt er, „daß mit der verrotteten türkischen Flotte doch nichts zu machen ist und es sehr zweifelhaft ist, ob sie mir im Gefecht nicht davon läuft“.1098 Dennoch stand der deutsche Offizier unter dem Druck, den Kriegseintritt der Türkei beschleunigen zu müssen, was – seiner Meinung nach – nur durch einen Angriff gegen Russland von See her gelingen konnte. Dafür brauchte er jedoch die Unterstützung der übrigen Schiffe. Für eine gründliche Ausbildung der osmanischen Besatzungen blieb keine Zeit und so wurden lediglich deutsche „Kommandanten-Stellvertreter“ auf die türkischen Schiffe gegeben, die über Befugnisse gemäß dem Vertrag mit Enver Pascha verfügten. Die Berichte dieser Offiziere mußten unter solchen Vorraussetzungen verheerend sein. Der deutsche Oberleutnant zur See von Mellenthin befand sich an Bord des Kleinen Kreuzers „Berk-i Satvet“, als die türkische Flotte am 27.10.1914 auslief, um die russischen Schwarzmeerhäfen zu beschießen.1099 Er mußte mit ansehen, wie die osmanischen Besatzungsmitglieder, die zum großen Teil noch nie mit ihrem Schiff auf See hinaus gefahren waren, dem Seegang „zum Opfer fielen“: „Die Bewegungen des Schiffes waren noch sehr angenehm zu nennen, und trotzdem lagen die Türken wie Leichen in allen Ecken zusammengepfercht, durchaus regungslos. Nicht nur der Mann, auch der Offizier versagte bereits und das Schiff wurde gefahren [...] von den beiden jüngsten Offizieren, von denen der eine seekrank war. Die anderen haben sich von der Wache gedrückt, da sie entweder 1097 Hüner, Unter zwei Flaggen 1930, S. 106. Brief von Souchon an seine Frau vom 24.9.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 3, Blatt 6. 1099 Lorey, Krieg I, 1928, S. 46. Zur türkischen Benennung der Schiffe siehe auch: Darr, Karl Wilhelm August: The Ottoman Navy 1900-1918 – A study of the material and professional development of the Ottoman Navy from 1900 through the Italian, Balkan and First World Wars, Ann Arbor 1998, Appendix 10. 1098 284 Torpedooffizier, Artillerieoffizier oder Signaloffizier zu sein glaubten und beschäftigt waren nach ihrer Meinung.“1100 Von Mellenthin teilte daraufhin allen Funktionsträgern des Schiffes „in wenig freundlichem Tone“ mit, welche Erwartungshaltung er an die Disziplin der Offiziere und Mannschaften habe. Sein Ausbruch zeigte jedoch nicht die erhoffte Wirkung, da die unerfahrenen Türken Angst vor einer Begegnung mit der russischen Flotte hatten und er sie ständig unter Aufsicht halten mußte.1101 Es verwundert daher auch nicht, daß der eigentliche Angriff des Kreuzers auf Noworossisk nach deutschen Maßstäben schlecht verläuft: „Infolge der seelischen Erregung der Türken, gegen einen bewaffneten Feind zu fechten, schossen die Geschützführer sehr schlecht, das Abkommen war schändlich und trotzdem war der Erfolg glänzend. [Panik unter den russischen Verteidigern.] [...] Einen solchen Erfolg hatte sich selbst der türkische Kommandant nicht von unserem Angriff versprochen. Begeisternd [sic] und bewundernd sahen die Türken diesem Schauspiel zu.“1102 Der deutsche „Kommandanten-Stellvertreter“ konnte sich den türkischen Bewertungsmaßstäben jedoch nicht anschließen und verteilte erneut „scharfe Verweise“ an die Besatzung. Da der Erfolg allerdings ebenso beschränkt blieb wie zuvor, ließ er die türkischen Geschützführer durch deutsche ersetzen, als die „Breslau“ zur Beschießung des Hafens eintraf. Eine „Strafe“, die von den türkischen Offizieren mit Freude und Erleichterung angenommen worden sei.1103 Diese unfreiwillig komische Episode der deutsch-türkischen Seekriegführung ergab zwei Einsichten: Zum einen war die osmanische Marine offenkundig nicht einsatzbereit, und zum anderen war deutlich geworden, daß eine entscheidende Leistungsverbesserung nicht durch spontane „energische Appelle“ eines deutschen Seeoffiziers erreicht werden konnten. Der deutsche Flottenchef berichtet wenige Tage nach dem Angriff auf Russland an Kaiser Wilhelm II. schonungslos über seine Eindrücke vom Zustand der Marine: 1100 Auszug aus dem Kriegstagebuch des leichten Kreuzers „Berk“, Eintrag vom 28.10.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 4, Blatt 50. 1101 Ebd. Blatt 51f. 1102 Auszug aus dem Kriegstagebuch des leichten Kreuzers „Berk“, Eintrag vom 29.10.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 4, Blatt 56f. 1103 Ebd., Blatt 57. 285 „Wenn auch nicht vergessen werden darf, daß die ganze Unternehmung außerordentlich vom Glück und Wetter begünstigt gewesen ist – bei der Jämmerlichkeit des türkischen Personals und Materials ist kaum auszudenken, was mit den türkischen Schiffen geschehen wäre, wenn Schlechtwetter oder eine Gegenwirkung des Feindes eingesetzt hätte – so ist der volle Erfolg zurückzuführen auf die vortreffliche Haltung und Berufsausbildung des deutschen Personals. [...] Das türkische Personal hat fast ausnahmslos schmachvoll versagt.“1104 Die ersten Versuche, Erfolge durch eine „Steigerung der Leistungsbereitschaft“ der osmanischen Matrosen und Seeoffiziere zu erzielen, waren gescheitert. Auch große Härte im Umgang mit den türkischen Besatzungen konnte keine Kenntnisse „herbeizaubern“. Zudem sorgte das laute Auftreten des deutschen „KommandantenStellvertreters“ nicht für Vertrauen in seine Führungsfähigkeiten, sondern vielmehr für Furcht bei den Türken, die daraufhin Tätigkeit „vortäuschten“, um weiteren Zornesausbrüchen zu entgehen. Ähnlich den deutschen Heereskameraden mußten auch die deutschen Marineangehörigen feststellen, daß ihre Vorstellung von militärischer Disziplin kaum auf orientalische Verhältnisse zu übertragen war. Eine weitere Auffälligkeit der ersten Kampfhandlungen der osmanischen Flotte unter ihrem deutschen Admiral darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Der Flottenchef hatte sich bereits vor dem Auslaufen der Kriegsschiffe keinen Illusionen über deren Zustand hingegeben.1105 Er berichtete jedoch erstmals am 1.11.1914, also nach der Operation, die für die Türkei gleichbedeutend mit dem Kriegseintritt sein sollte, auch Enver Pascha „von dem trostlosen Unwert der türkischen Flotte, von dem Nichtleistenkönnen des Personals“.1106 Ein Zeitpunkt, der nach den Maßstäben der deutschen Marine wohl als „verspätet“ bezeichnet werden kann. Es erscheint auch kaum glaubhaft, daß solche Berichte zuvor „auf dem Dienstwege“ an den Marineminister gegangen sein könnten, denn aus deutscher Sicht war Enver Pascha die treibende Kraft in Konstantinopel, der Garant für eine deutschfreundliche Haltung und der Verhandlungspartner bei der Anstellung Souchons als osmanischer Flottenchef. Admiral Souchon muß sich der Bedeutung eines Zustandsberichtes an Enver voll bewußt gewesen sein, stand jedoch unter enormem Druck aus Berlin, die 1104 Brief Souchons an Wilhelm II., vom 3. November 1914. BAMA Freiburg, N 156/ 3, Blatt 17f. Siehe oben, S. 201. 1106 RM 40/ 184, KTB Mittelmeerdivision, Blatt 234. 1105 286 Hohe Pforte mit allen Mitteln zum Kriegseintritt zu bewegen. Selbst unter Berücksichtigung der äußeren Umstände bleibt der Eindruck bestehen, daß das deutsch-türkische Waffenbündnis bereits unter ungünstigen Vorzeichen zustande gekommen ist. In der Folgezeit bemühte sich der Oberbefehlshaber der osmanischen Flotte vorrangig um Abstellung der deutlich zutage tretenden Mängel in der türkischen Ausbildung. Die türkischen Seeoffiziere und das technische Personal sollten auf den beiden deutschen Schiffen „nachgeschult“ werden, was sich aber als unpraktikabel herausstellte. In Kriegszeiten bildeten die unerfahrenen Türken für die Deutschen eher eine Belastung und die Ausbildung wurde im Frühjahr an eine neue MarineAkademie verlegt.1107 Souchon hatte schon in seinem Brief an den Kaiser geschrieben: „Der Marineminister unterstützt mich zwar energisch in der Ausmerzung der feigsten und unfähigsten Elemente, ausreichende Besserung wird sich aber während des Krieges nicht erreichen lassen. Dazu ist die Fäulnis zu stark. Ich werde mir zu helfen suchen dadurch, daß ich zu Aktionen die türkischen Schiffe von Fall zu Fall mit noch mehr als bisher deutschem Personal besetze, ihnen namentlich Geschützführer und Maschinenpersonal gebe, andernfalls würden die Schiffe wehrlos sein.“1108 Daher wurden deutsche Offiziere und Ingenieure auf einem Großteil der türkischen Schiffe eingesetzt. Sie hatten den Auftrag, eine gewisse Einsatzbereitschaft der Schiffe und Boote zu erhalten oder herzustellen. Die Ausbildung rückte, wenn sie überhaupt praktiziert wurde, in den Hintergrund. Die türkischen Besatzungen sollten ihre Tätigkeiten während des Einsatzes erlernen. Einer dieser deutschen Offiziere war Kapitänleutnant Rudolph Firle, der als Chef einer Torpedoboot-Halbflotille fungierte und zugleich auf dem Torpedoboot „Muavenet-i-Millije“ als „KommandantenStellvertreter“ fungierte. Als Firle seinen Dienst in der osmanischen Marine antrat, berichtete er schon bald von den furchtbarsten Zuständen in der Flotte: 1107 Zugleich sollten türkische Kadetten auch an der Marineschule in Mürwik ausgebildet werden. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt, allerdings sollen 16 osmanische Leutnants und 12 MarineIngenieure an der Skagerrak-Schlacht teilgenommen haben. Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 130. 1108 Brief Souchons an Wilhelm II., vom 3. November 1914. BAMA Freiburg, N 156/ 3, Blatt 18. 287 „September, Oktober, waren mit fleißigem Flottenbetrieb ausgefüllt. Das Seeoffizierkorps ist beruflich schlechter, als jeder N.D.C.-Dampferführer,1109 waffentechnisch überhaupt nicht ausgebildet, im Gegenteil haben die Engländer mit Fleiß noch das wenige vorhandene zunichte gemacht. Die Führung und Verwendung der Waffen und Verbände lag daher von Anfang an in unseren Händen. Ein anfangs wo von einzelnen Stellen noch mit passivem Widerstand, falschem Nationalstolz und vor allem Faulheit gerechnet und gekämpft werden mußte, recht mühendes Unternehmen. Das Material ist besser, als man dachte. Die Schiffe zum Teil gut [...].“1110 Firle kritisiert im Wesentlichen zwar den Ausbildungsstand des Personals, es wird jedoch mehr als deutlich, daß ihm die „Mentalität“ der Verbündeten ebensowenig zusagte. Kurze Zeit später schrieb er in einem Brief an seine Mutter, daß die Osmanen als Verbündete nur wenig von Nutzen wären, wenn nicht die deutschen Truppen zuvor sichtbare Erfolge erzielen. Dann wäre es möglich, daß die Türken „wenigstens ein bißchen“ helfen könnten.1111 Die Frustration über die „Untätigkeit und Faulheit“ des neuen Verbündeten spricht aus einer Vielzahl seiner Briefe an die Familie. Als der junge Kapitänleutnant erstmals mit dem religiös bedeutsamen Fastenmonat der Muslime konfrontiert wird, ist sein einziger Kommentar, daß die Türken nun am Tage schliefen und in der Nacht äßen und noch weniger als sonst arbeiteten.1112 Es verwundert daher nicht, daß er recht froh über seine Kommandierung nach Bulgarien war, wo er als Verbindungsoffizier zwischen den neuerdings verbündeten osmanischen und bulgarischen Seestreitkräften fungieren sollte. Dort eröffnete sich ihm eine „dankbare Tätigkeit, da die Bulgaren im wahrsten Sinne des Wortes, die Preussen des Balkans, famose Kerls und Soldaten sind, ein anderer Schlag von Bundesgenossen, als diese Kümmel Türken, von denen nur der einfache Soldat was taugt.“1113 Sein vernichtendes Urteil über die osmanische Flotte hatte er zu diesem 1109 N.D.C. steht für „Neue Dampfer Compagnie“, eine kleine Dampferlinie, die Personen auf der Kieler Förde beförderte. Siehe hierzu: Brock, Bruno: Grüne, Blaue, Schwarze, Weiße Dampfer – Die Geschichte der Kieler Fördeschiffahrt, Herford 1978. (Hier besonders S. 32-44.) 1110 Abschrift eines Privatbrief Firles vom 4.11.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 4, Blatt 16f. 1111 Brief von Firle an seine Mutter vom 6.2.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 71. 1112 Brief von Firle an seine Mutter vom 27.7.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 87. 1113 Brief von Firle an seine Mutter vom 1.11.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 89. 288 Zeitpunkt bereits in einem „ganz geheimen“ Erfahrungsbericht schriftlich festgehalten. Der Entwurf zu diesem Bericht stammt aus dem September 1915 und beinhaltet neben einigen Erfahrungen Firles vor allem Vorschläge für eine nachhaltige Reform der osmanischen Marine. Dabei spricht der deutsche Seeoffizier schonungslos vom schlechten Zustand der Besatzungen und besonders vom „orientalischen Dünkel“ der türkischen Offiziere, die angeblich nicht zu schätzen wüßten, daß sie einfach alles der deutschen Hilfe zu verdanken hätten: „Nur unter (dem) Zwang (der Verhältnisse) und dauerndem Druck haben die Türken zwar mit(unter) ihrem angeborenen Fatalismus oder besser Stumpfsinn (zwar) mit uns zusammen gearbeitet, gehen wir aber heute weg, ist in kürzester Zeit der alte Schlendrian wieder da und [...] an Deck der Schiffe (lebt) die Zigarette und der Kaffee wieder genau so wie früher auf.“1114 Daher schlägt er vor, auf jedem Schiff einen Stamm aus deutschem Personal einzusetzen, das die Ausbildung überwacht und im Ernstfall auch das Kommando übernehmen könnte. Nur auf einigen wenigen Schiffen sollten „der türkischen Eitelkeit zuliebe“ rein türkische Besatzungen Dienst tun und das „Verkommen“ dieser Schiffe wäre dann gleichgültig.1115 Alle wichtigen Stellen in der Marineverwaltung, im Ministerium und in den Kommandostellen müßten von Deutschen besetzt werden. Die osmanische Marine sollte damit vollständig unter deutschen Einfluß gelangen, ein Entwurf, bei dem Firle das Verhältnis der „Kolonialmarinen Canadas und Australiens zum Mutterland England“ als Muster vorschwebte.1116 Generell hielt er eine militärische Eigenständigkeit der Türkei nur so lange für angebracht, wie sie die Interessen Deutschlands nicht gefährde.1117 Diese äußerst drastischen Ausführungen des Kapitänleutnants über eine mögliche weitere „Zusammenarbeit“ zwischen Berlin und Konstantinopel erinnern stark an die Ausführungen der deutschen Offiziere im Anschluß an die Balkankriege und können 1114 Die Streichungen stehen im Originaltext. Die Formulierungen in „( )“ sind im Original handschriftlich hinzugefügt und hier markiert, um die Änderungen im Inhalt und der Aussage zu unterstreichen. Erfahrungsbericht des Kapitänleutnants Firle vom 15. 9.1915, „Ganz Geheim!“. BAMA Freiburg, N 155/ 24, ohne Paginierung [S. 4]. 1115 Ebd., [S. 4]. 1116 Ebd., [S. 8]. 1117 Ebd., [S. 9]. 289 als ebenso undurchführbar angesehen werden.1118 Über die Gefühlswelt und die Erfahrungen des Autors sagen sie jedoch eine Menge aus. Man könnte meinen, daß hier ein deutscher „Türkenfeind“ schreibt, dem alles an der „türkischen Art“ zuwider ist. Doch das ist merkwürdigerweise nicht der Fall. In seinem Geheimbericht über die Versenkung des britischen Schiffes „HMS Goliath“ äußert sich Firle ganz anders über die türkische Besatzung: „Die Haltung der deutschen Besatzung war so, wie sie bei unserm Torpedobootpersonal als die Frucht jahrelanger kriegsmässiger Uebungen als selbstverständlich anzunehmen war. [...] In gleicher Weise kann ich auch nur über die türkische Besatzung, vom Kommandanten, von den Offizieren und Mannschaften über ihr Verhalten während des Angriffes das Beste sagen. Ruhig und voll Vertrauen folgten sie deutscher Führung – der Kommandant hatte mich vorher ausdrücklich gebeten, diesmal alle Kommandos persönlich zu geben – taten jeder auf seinem Posten ihr Bestes und freuten sich in aufrichtiger, beinahe ungläubiger Begeisterung, ihres Erfolges.“1119 Man mag hier anführen, daß es sich um einen Bericht über einen großen Erfolg handelte und Firle nur keinen „Flecken“ auf dem Ruhmesbild hinterlassen wollte. Die Privatkorrespondenz Rudolph Firles zeigt aber eine tiefergehende Entwicklung im Verhältnis des Seeoffiziers zu den türkischen Verbündeten. Nach gut viermonatiger Tätigkeit in Bulgarien steht er nämlich vor der Entscheidung weiterhin in Varna seinen Dienst zu tun oder nach Konstantinopel zurückzukehren. Er entscheidet sich für das Osmanische Reich: „[...] [W]enn mir auch hier der Dienst wohl für später mehr Zukunftsmöglichkeiten für uns und die Marine zu bieten scheint, ziehen mich nach K´pel die netten Menschen mit ihrer Anhänglichkeit, denen man doch durch all die gemeinschaftlichen Erinnerungen und Erlebnisse sehr nahe gekommen ist.“1120 Eine solche Aussage überrascht den Leser nach den bisherigen Schilderungen der türkischen Marine. Allerdings fügt sie sich mit dem weiteren Lebenslauf zu einem 1118 Siehe oben, Kapitel II.2.a). Bericht Firles „Die Versenkung des englischen Linienschiffes „Goliath“ durch den türkischen Torpedobootzerstörer „Muavenet-i-Millije“ in den Dardanellen am 13.Mai 1915“ vom 15.Mai 1915, „Ganz Geheim!“. BAMA Freiburg, N 155/ 24, Blatt 30. 1120 Brief von Firle an seine Mutter vom 1.11.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 94. 1119 290 schlüssigen Bild zusammen. Nach dem Krieg hielt Firle nämlich noch für lange Zeit engen Kontakt mit dem türkischen Kommandanten des Torpedobootes „Muavenet“, Ahmed Saffet Bey, der später sogar der Patenonkel seiner Tochter wurde, die als zweiten Vornamen den Namen des Bootes trug. Die umfangreiche Korrespondenz zwischen den beiden Offizieren zeigt, daß sie sich auch nach dem Kriege noch mehrmals besuchten und recht engen Kontakt pflegten.1121 Trotz aller Ärgernisse und Differenzen konnte das Zwischenmenschliche offenbar die kulturellen und mentalen Grenzen zwischen Deutschen und Türken durchaus überschreiten. Allerdings muß auch hier wieder einschränkend festgestellt werden, daß Kapitänleutnant Firle unter den deutschen Marineangehörigen einen Einzelfall darstellt. Die Mehrzahl der Berichte und Briefe über den türkischen Verbündeten findet nur wenig freundliche Worte für die „Andersartigkeiten“ im Osmanischen Reich. Besonders rüde resümiert der Chef der osmanischen Torpedobootsflottille, Korvettenkapitän Adolf Pfeiffer1122, seine Meinung in einem Brief an Firle aus dem Jahre 1917: „Die türkische Entwicklung ist materiell durch unser großes Entgegenkommen festgelegt. Personell ist es nach meiner innersten Überzeugung hoffnungslos. Erkenntnis für die Notwendigkeiten fehlt hier ganz u. wie wird das Material in kurzer Zeit aussehen in der Hand dieser Rasse, die ihre 4 Wände nicht in Stand hält.“1123 Die feste Überzeugung, daß die türkische Marine ohne das deutsche Engagement zu völligem Ruin verdammt sei, spiegelt sich in den meisten Aussagen der deutschen Seeleute wieder. Auch Kurt Böcking, 1917-1918 als Kommandant der Marineschule in Halki1124, berichtet, daß die türkischen Seeoffiziere lieber auf den Yachten in der Sonne gelegen hätten, als der Ausbildung zu folgen. Erst der Einsatz deutscher Unteroffiziere sorgte für den „nötigen Ernst“.1125 Ähnlich den Berichten der Heeresangehörigen steht auch bei vielen Marinesoldaten die „türkische Faulheit“ oder „orientalische Pflichtvergessenheit“ im Fokus. Das trifft sowohl für die 1121 Siehe Privatkorrespondenz Firles mit Ahmed Saffet Bey (1930-1934). BAMA Freiburg, N 155/ 8. Zu Dienststellung und –zeit Pfeiffers siehe: Hildebrand, Hans: Die organisatorische Entwicklung der Marine nebst Stellenbesetzung 1848 bis 1945, Band 3, Osnabrück 2000, S. 66. (Im Folgenden: Hildebrand, Entwicklung der Marine, Bd. 3, 2000.) 1123 Brief von Pfeiffer an Firle vom 25.4.1917. BAMA Freiburg, N 155/ 4, Blatt 29f. 1124 Über den Dienstgrad Böckings liegen keine Angaben vor. Wahrscheinlich ist aber, daß er ebenso wie sein Vorgänger (Boltz) den Rang eines Kapitänleutnants innehatte. 1125 Bericht Böckings „Berichte über die Zeit als Kdr. Marineschule Halki“. BAMA Freiburg, N 438/ 7, Blatt 8. 1122 291 Flottenmitglieder als auch für die Offiziere der Euphrat- und Tigris-Gruppen der Marine zu. Im Kriegstagebuch der Euphrat-Fluß-Abteilung schreibt der Kommandeur, Kapitänleutnant von Cappeln, daß die Versorgung durch angeworbene Zivilflöße nur durch einen genügenden Nachschub an Hartgeld1126 zu gewährleisten sei. Andernfalls würden die Schachturenführer nicht zu halten sein: „Dies mit Gewalt zu verhindern ist nicht möglich, denn selbst wenn jedem Schachtur ein türk. Posten mitgegeben wird fliehen die Leute doch und auch der Posten wird häufig die Gelegenheit benutzen und mit den Schachturdschis gemeinsame Sache machen.“1127 Neben der geringen Ausbildung und damit dem geringen „Kampfwert“ der türkischen Verbündeten waren demnach die Zweifel an der Zuverlässigkeit „des Orientalen“ eindeutig. Dies konnte zu ernsthaften Selbstbeschränkungen im Dienstgeschäft führen, denn wie der zuständige Admiralstabsoffizier für die Fluß-Abteilungen, „Asto Syrak“1128, in seinem Kriegstagebuch notierte, zögerten die deutschen Stellen, den türkischen Soldaten überhaupt das eigenständige Feuern mit den „Bootskanonen“ der Flußboote zu erlauben.1129 Auch sind diese Einschränkungen nicht etwa erst für die letzten Kriegsjahre nachzuweisen, sondern bereits beim Ausbau der Dardanellenbefestigungen schildert ein Marine-Bericht die „Unfähigkeit“ der türkischen Festungsbesatzungen: „[...] [T]ürkische A.O. [Artillerie-Offiziere] sind nicht imstande, auch von vorgeschobenem Posten aus Scheinwerfer sachgemäss zu leiten. [...] „Leitung“ erzielte nur unnötiges Leuchten. [...] Gruppen- und Zonenkommandanten treten nicht in Erscheinung; wenn es geschieht, kommt nichts Gutes dabei heraus.“1130 1126 Papiergeld jedweder Provenienz galt im Osmanischen Reich und besonders in den abgelegeneren Regionen nichts. Die Zahlung in Goldmark hingegen zeigte Wirkung. Siehe etwa S. 243 u. S. 361. 1127 Kriegstagebuch Euphrat-Syrien (Februar 1918 – August 1918), Eintrag vom 1.-15.3.1918. BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 13. 1128 Abkürzung für „Bevollmächtigter Admiralstabsoffizier bei der türkischen Obersten Heeresleitung auf dem südöstlichen Kriegsschauplatz (Syrien und Irak)“. Zu den Änderungen in den Kommandostrukturen bei den Flußabteilungen im Zuge des Unternehmens „Jildirim“ siehe: Lorey, Krieg I, 1928, S. 354ff. 1129 Kriegstagebuch des Bevollmächtigten Admiralstabsoffiziers bei der Osmanischen OHL, „Ganz Geheim!“, Eintrag vom 11.7.1918. BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 111. 1130 „Uebersicht ueber die bisherigen Massnahmen zur Verstaerkung der Meerengen= und Kuestenverteidigung“ vom 16.2.1915 (ohne Verfasser). BAMA Freiburg, RM 40/ 104, Blatt 23 und Blatt 25. 292 Als Lösung des Problems wird eine „große Ausbildungsarbeit“ angeführt, doch zwischen den Zeilen wird auch in diesem Bericht die Überzeugung deutlich, daß nur der verstärkte Einsatz deutscher Kräfte einen raschen Erfolg verspräche. Die Überzeugung, daß die osmanische Marine auf die deutsche Hilfe zwingend angewiesen sei, konnten die Seeoffiziere offenbar nicht besonders gut verbergen. Dieser Umstand war nicht nur für die osmanischen Marineangehörigen demotivierend, sondern mußte sich nahezu zwangsläufig auch auf die politische Ebene auswirken, da – wie erwähnt – eine Vielzahl hoher türkischer Offiziere eng mit der jungtürkischen Partei verbunden war. Hinzukam, daß die deutsche Marine verhältnismäßig großen Wert auf die Beobachtung und Beurteilung politischer Sachverhalte im Osmanischen Reich legte, was mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf die Immediatstellung von immerhin zwei Marinestellen1131 in Konstantinopel zurückzuführen ist. Zudem gab es an der deutschen Botschaft in Konstantinopel seit dem Oktober 1915 den Posten eines Marine-Attachés.1132 Der erste Marine-Attaché, Korvettenkapitän Hans Humann, sammelte Briefe von Marineoffizieren, 1133 berichteten. die von Dienstreisen über innenpolitische Verhältnisse Ein solches Schreiben stammt beispielsweise von einem Leutnant zur See der Reserve Schmiedicke, der aus Sivas schrieb, wie sehr ihm zunächst sämtliche Teile der Bevölkerung deutschfreundlich erschienen: „Alle, aber auch alle sehen das Heil der Türkei nur in einem ganz engen Bündnis der Türkei mit Deutschland und möchte man in jeder Stellung nur Deutsche sehen.“1134 Dieses Bild habe sich jedoch schlagartig geändert, nachdem er Kaiserie (heute: Kayseri) in Richtung Sivas verlassen habe. Die Stimmung unter türkischen Offizieren und Beamten sei zunehmend „deutschfeindlicher“ geworden und in Sivas selbst sei 1131 Dies waren Admiral Souchon als Chef der Mittelmeerdivision und der osmanischen Flotte sowie Admiral von Usedom als Leiter des „Sonderkommandos Türkei“ und Oberbefehlshaber der Meerengen. 1132 Hildebrand, Hans: Die organisatorische Entwicklung der Marine nebst Stellenbesetzung 1848 bis 1945, Band 1, Osnabrück 2000, S. 38. (Im Folgenden: Hildebrand, Entwicklung der Marine, Bd. 1, 2000.) 1133 Unter der Archivsignatur BAMA Freiburg, RM 40/ 208 sind unter der Überschrift „Ganz Geheim! Nachrichten über innerpolitische türk. Verhältnisse“ von der Disposition der Truppen über wirtschaftliche Statistiken bis hin zum Schriftverkehr zahlreiche Unterlagen abgelegt. 1134 Brief Schmiedickes an das Flottenkommando in Konstantinopel vom 17.8.1916. BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 45. 293 jedem deutschen Offizier bekannt, daß eine Verschwörung gegen Deutschland bestünde, deren Ziel es sei, einen Separatfrieden mit Russland zu schließen. Er sei zudem ausdrücklich davor gewarnt worden, sich anmerken zu lassen, daß er die „antideutsche“ Stimmung bemerkt habe.1135 Die Formulierung „deutschfeindlich“ mag übertrieben erscheinen, die Beobachtungen des Leutnants sind jedoch sehr plausibel, wenn man das „übermäßige Selbstbewußtsein“ vieler Marineoffiziere berücksichtigt. Selbst wenn man davon ausgeht, daß Leutnant Schmiedicke sich keine Unhöflichkeiten gegenüber den türkischen Offizieren erlaubte, so könnte doch bei dem vorherrschenden Glauben der Marineoffiziere an die totale Abhängigkeit der Türkei von Deutschland bereits „mangelnde Dankbarkeit“ oder Kritik als „Deutschfeindlichkeit“ ausgelegt werden. Es geht aber auch häufig aus den Aufzeichnungen deutscher Marineangehöriger hervor, daß sich die türkische Seite zurückgesetzt fühlte und mit großer Sorge einer möglichen völligen Bevormundung durch die Deutschen entgegensah. Konteradmiral Hopman schreibt in einem Brief an Großadmiral von Tirpitz sehr offen, daß in Konstantinopel ein großes Mißtrauen gegenüber einer deutschen Bevormundung bestehe.1136 Besonders deutlich wurde ihm dieser Umstand im türkischen Marineministerium. Dessen Leiter war – in Abwesenheit von Djemal Pascha – der türkische Kommodore Bassif Bey, der die Kommandierung Hopmans „als den ersten Schritt zur restlosen Vereinnahmung der türkischen Marine durch Deutschland betrachtete“.1137 Zusätzlich wurde Konteradmiral Hopman ein türkischer Marineoffizier „vor die Nase gesetzt“, dessen Aufgabe seiner Meinung nach darin bestand, ihn unter Kontrolle zu halten. Dieser Offizier opponierte in der Folge gegen jeden Vorschlag Hopmans, der den Anschein erweckte, die türkische Marine in eine Abhängigkeit vom Deutschen Reich oder deutschen Firmen zu bringen.1138 Das türkische Mißtrauen ging schließlich soweit, daß im Marineministerium erkennbar bedauert wird, daß die 1135 Ebd., Blatt 47. Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 775. 1137 Hopman, Albert: Das Kriegstagebuch eines deutschen Seeoffiziers, Berlin 1925, S. 145. (Im Folgenden: Hopman, Kriegstagebuch 1925.) 1138 Hopman, Kriegstagebuch 1925, S. 158. 1136 294 Türkei sich „für Deutschland“ gegen England aufreibe, anstatt alle Kräfte gegen „den Erbfeind“ Russland zu bündeln.1139 In der Folge läßt sich zwischen Hopmann und dem osmanischen Marineministerium eher ein Gegeinander statt einer Kooperation beobachten. Aus türkischer Sicht hatte das Deutsche Reich bereits großen oder zu großen Einfluß in den Streitkräften, dem wichtigsten Machtfaktor im Orient, gewinnen können. Die Hohe Pforte geriet in eine wachsende Abhängigkeit von deutschen Rüstungs- und Rohstofflieferungen, die Eisenbahnen – „Lebensadern“ des kleinasiatischen Großreichs – standen zum größten Teil unter Kontrolle deutscher Investoren und die Militärmission hatte unter dem Eindruck des Krieges gravierenden Einfluß auf die Landstreitkräfte gewonnen. Auch die Flotte wurde von einem Deutschen befehligt, eine Vielzahl der älteren Schiffe kam aus Deutschland und ebenso die neuen und kampfkräftigsten Schiffe „Goeben“ und „Breslau“. Zu allem Überfluß machten die deutschen Marineoffiziere keinen Hehl daraus, daß sie ihre Methoden für überlegen hielten und beabsichtigten, sie dem türkischen Verbündeten mit dem Argument der „Kriegsnotwendigkeit“ aufzuzwingen. Die deutsche Seite hatte hingegen schnell bemerkt, daß die Schilderungen der deutschen Militärberater vor Kriegsausbruch über die militärische Leistungsfähigkeit der Türkei sehr „optimistisch“ gewesen waren. Doch auf der verzweifelten Suche nach Verbündeten im „Großen Krieg“ hatte Berlin auf ein Bündnis mit Konstantinopel gedrängt. Nun mußte man dafür Sorge tragen, daß sich dieses Bündnis auch „rentierte“. Das bedeutet, daß die Hohe Pforte auf keinen Fall aus der Allianz ausscheiden durfte, da dies nicht allein die strategische Situation verschlimmern, sondern auch die Stellung Deutschlands gegenüber seinen Gegnern, Verbündeten und potentiellen Verbündeten schwächen sowie die Stimmung im eigenen Land nachhaltig schädigen würde. Die deutschen Offiziere mußten demnach militärische Erfolge vorweisen, um das Bündnis zu sichern. Solche Erfolge konnten sie ihrer Ansicht nach aber nicht mit den osmanischen Mitteln und Methoden erreichen, weshalb sie zum Teil mit Vehemenz auf den deutschen, als „überlegen“ erachteten Ausbildungs- und Führungsverfahren und auf die Befugnisse diese auch durchzusetzen bestanden. Gegenseitiges Mißtrauen und – daraus resultierend – das 1139 Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 779. 295 eifersüchtige Wachen über die eigenen Kompetenzen waren die Folge. Dieses grundlegende Dilemma des deutsch-türkischen „Waffenbündnisses“ wird auch bei der Marine deutlich. In den Augen Hopmans wird das Waffenbündnis mit der Hohen Pforte durch den fortgesetzten Antagonismus zu einen „Fehler der deutschen Politik“. In einem weiteren Schreiben an Tirpitz äußerte der Konteradmiral, „daß es unrichtig ist, wenn wir d.h. nicht nur die Marine, sondern unsere gesamte Kriegführung sich an der türkischen Kriegführung in Asien, besonders im Irak, zu intensiv beteiligen.“1140 Die Zweckmäßigkeit des Bündnisses endete seiner Ansicht nach, sobald deutsche Interessen gefährdet waren. Beispielhaft für die Verbreitung dieser Ansicht ist das Auftreten der deutschen Marine beim Waffenstillstand mit Russland, der die Schiffe der Schwarzmeer-Flotte praktisch in deutsche Hände gab. Der Schriftverkehr der verschiedenen deutschen Marinestellen mit dem Marineberater für die deutsche Delegation in Transkaukasien, Kapitänleutnant von Haas, belegt, wie sehr man sich darum bemühte, der türkischen Marine keine Zusagen zu machen. Der neue deutsche Marine-Attaché1141 schrieb an den Militärbevollmächtigten in Konstantinopel: „Um ungerechtfertigten tuerkischen Hoffnungen und Forderungen von vornherein zu begegnen, erscheint es notwendig, der tuerkischen Regierung [...] den deutschen Standpunkt zu Anspruechen an russischer Kriegsschiffbeute im Schwarzen Meer klar zum Ausdruck zu bringen. [...] Alle uebrigen im Schwarzen Meer von deutschen Streitkräften genommenen russischen Kriegsschiffe und Fahrzeuge sollten unbedingt deutsch bleiben. Nach den seit Ostfrieden im Schwarzen Meer gemachten Erfahrungen ist Staerkung der Mittelmeerdivision unbedingt notwendig sowohl zur Vertretung unserer Interessen im Schwarzen Meer als im Hinblick auf die Aufgaben, die [...] im oestl. Mittelmeer bevorstehen.“1142 1140 Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 781. Am 28. November 1917 war Humann durch Korvettenkapitän Alexander Freiherr von SenarclensGrancy ersetzt worden. Hildebrand, Entwicklung der Marine, Bd. 1, 2000, S. 38. 1142 Telegramm Freiherrn von Senarclens-Grancys an von Lossow vom 9.5.1918 (04:10 Uhr mittags), „Ganz Geheim!“. BAMA Freiburg, RM 40/ 649, Blatt 55. 1141 296 Überhaupt unternahm die deutsche Seite alles, um den osmanischen Marineminister von einem Besuch der russischen Häfen abzuhalten, weil man fürchtete, daß dieser dann „etwas von der Beute fordern“ würde.1143 Die vorstehenden Ausführungen lassen erkennen, daß in der Marine kaum Nährboden für eine „deutsch-türkische Waffenbrüderschaft“ vorhanden war. Auch wenn nicht alle Seeleute die türkischen Matrosen und Offiziere verachtet haben, so finden sich doch keine Ausführungen, die ein kameradschaftlicheres Zusammenleben zwischen beiden Parteien andeuten würden. Keine gemeinsamen Feierlichkeiten, keine engeren persönlichen Beziehungen (abgesehen vom Beispiel Rudolph Firles) oder traurigen Abschiedsszenen sind überliefert. Ganz im Gegenteil notierte Albert Hopman nach nicht einmal 5 Tagen in Konstantinopel in sein Tagebuch: „Ich sehe von Tag zu Tag ein, daß der Entschluß, hierher zu gehen, die größte Dummheit meines Lebens gewesen ist. Mein einziger Gedanke geht dahin mich wieder mit Anstand aus der Geschichte herauszuziehen. Das wird sehr schwer werden.“1144 Die erhaltenen Aufzeichnungen und Memoiren der deutschen Marineangehörigen stellen meist die eigenen Leistungen in den Vordergrund. Die Tatsache, daß die beiden Schiffe „Goeben“ und „Breslau“ als modernste Fahrzeuge der Flotte den Mittelpunkt der meisten Kampfhandlungen bildeten, leistete solchen Bildern Vorschub. Da erst im August 1917 osmanische Matrosen und Heizer auf die „YavuzGoeben“ kommandiert wurden und auch die Zahl der auf der „Midilli-Breslau“ dienenden Türken mit 25 Mann sehr gering war, blieben die Besatzungen beinahe den gesamten Krieg „unter sich“.1145 Bei den kleineren Begleitschiffen war die Trennung nach Ethnien offenbar noch strikter. Da niemand die Sprache des jeweils anderen beherrschte und Dolmetscher nicht in ausreichender Zahl vorhanden waren, bestanden nur über die – im Gegensatz zu den französischsprachigen Offizieren des osmanischen Heeres – meist englisch sprechenden Seeoffiziere Verständigungs- 1143 Telegramme Freiherrn von Senarclens-Grancys an von Lossow vom 8. und 9.5.1918. BAMA Freiburg, RM 40/ 649, Blatt 56-58. 1144 Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 771. 1145 Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 130. Hüner, unter zwei Flaggen 1930, S. 243. 297 möglichkeiten.1146 Die wenigsten deutschen Marineoffiziere lernten die türkische Sprache. Lediglich Kurt Böcking berichtet, daß er und seine Ausbilder an der Marineschule Halki die Sprache erlernt hätten.1147 Die Trennung zwischen Deutschen und Türken in den Seestreitkräften war jedoch allgegenwärtig und wurde von der deutschen Seite auch absichtlich aufrecht erhalten. Der „Asto Syrak“, Korvettenkapitän von Janson, berichtete in seinem Kriegstagebuch: „Da bekannt wird, daß Jildirim die gleichmäßige Benutzung deutscher Sanitätseinrichtungen für deutsche und Türken anordnen will, wird vertraulich an Kofluss [Kommandeur der Fluß-Abteilung] befohlen, daß es für Marineabteilung aus hygienischen Gründen bei der bisherigen Trennung bleibt.“1148 Ebenso führt ein geheimer Tätigkeitsbericht der „Marine-Batterie II“, die in Mesopotamien eingesetzt war, den guten Gesundheitszustand der Soldaten hauptsächlich darauf zurück, „dass es gelang, alle tuerkischen Soldaten aus der Naehe der deutschen Wohnhaeuser zu entfernen“.1149 Dieser Blick auf den türkischen Verbündeten als eine Art „Krankheitsüberträger“ läßt gleichzeitig vermuten, daß nur wenigen Marineoffizieren überhaupt an näheren Bekanntschaften mit Einheimischen gelegen war. Für die Angehörigen der deutschen Seestreitkräfte war es allerdings auch einfacher, sich von den türkischen Verbündeten abzukapseln, denn auf den Führungsebenen der Flotte waren sie oft isoliert eingesetzt und auch der operative Oberbefehl lag bei einem deutschen Admiral. Die Besatzungen der „Goeben“ und „Breslau“ hatten auch nur wenige türkische Marineangehörige – zumeist als Heizer – übernommen. Die deutschen Seeleute behielten ihre Unterkünfte auf den Schiffen bei und nahmen weiterhin an Bord die Mahlzeiten ein. Hierdurch bildete sich, anders als bei den oftmals vereinzelt eingesetzten Militärberatern im Heer, eine Gemeinschaft, die sich leicht von den türkischen Verbündeten abgrenzen konnte.1150 Zudem lagen alle Schiffe zwischen 1146 Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 130f. Bericht Böckings „Berichte über die Zeit als Kdr. Marineschule Halki“. BAMA Freiburg, N 438/ 7, Blatt 6f. 1148 Kriegstagebuch des Bevollmächtigten Admiralstabsoffiziers bei der Osmanischen OHL, „Ganz Geheim!“, Eintrag vom 23.3.1918. BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 27. 1149 Geheimer Tätigkeitsbericht der Mar.Batt. II für den 1.-15.4.18 (ohne Verfasser) vom 15.4.18. BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 51. 1150 Zudem pflegten die Marineoffiziere einen besonderen Korpsgeist, der sie auch gegenüber deutschen Heeresangehörigen abgrenzte. Deist, Militär und Innenpolitik 1970, S. XVII. 1147 298 den Einsätzen im Hafen der osmanischen Hauptstadt vor Anker, wodurch auch die auf osmanische Schiffe kommandierten Deutschen Möglichkeiten hatten, den Kontakt zu den eigenen Landsleuten zu halten. Man war daher nicht darauf angewiesen, mit türkischen Marineangehörigen einen näheren Umgang zu pflegen und es war einfach, die Berührungspunkte mit der ungewohnten Kultur des Verbündeten zu begrenzen. Bemühungen, die Andersartigkeit des Lebens im Orient zu verstehen, erschienen unnötig. Die Kontakte zwischen deutschen und türkischen Marineangehörigen blieben so während des gesamten Krieges in den meisten Fällen eher oberflächlich und auf das Dienstliche beschränkt. Viele Deutsche versagten sich damit aber die Möglichkeit, ihre Eindrücke von den „faulen und deutschfeindlichen Orientalen“ zu relativieren, und nahmen ein negatives Bild mit in die Heimat. Konteradmiral Hopman schrieb am 16. Februar 1916 zornig in sein Tagebuch: „Die Kerle sind verrückt und mit der Bande soll ich Jahre lang arbeiten. Lieber Steine kloppen in Deutschland.“1151 Hopman verallgemeinert seine begrenzte Erfahrung – er war zu diesem Zeitpunkt noch keinen Monat im Osmanischen Reich und hatte auch nur Konstantinopel gesehen – auf die ganze Türkei. 1925 schreibt er in seinem „Kriegstagebuch“: „Bei aller Hochachtung für die kriegerischen Leistungen eines Enver und Kemal glaube ich nicht an die Zukunft einer Türkei, die nur den Türken gehört.“1152 Damit sollte er allerdings nicht Recht behalten. b) Die Flieger Wie bereits deutlich geworden ist, gab es zwei unterschiedliche Verwendungen für deutsches Flugpersonal im osmanischen Reich: - den Einsatz in den osmanischen Fliegerverbänden, - den Einsatz in den deutschen Fliegerabteilungen (FA) der „Pascha I und II“Verbände. 1151 1152 Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 778. Hopman, Kriegstagebuch 1925, S. 179. 299 Die wesentlichen Unterschiede bestanden darin, daß das deutsche Personal in der türkischen Fliegertruppe der Deutschen Militärmission unterstand, während die Angehörigen der FA 300-303, 304b und 305 ihren Status als deutsche Heeresangehörige beibehielten. Die Deutschen in den osmanischen Luftstreitkräften erhielten bekanntlich den um einen Rang höheren türkischen Dienstgrad. Eine Vergünstigung, die den Soldaten rein deutscher Einheiten im Orient nicht zustand.1153 Zudem hatten die den osmanischen Staffeln zugeteilten Deutschen verständlicherweise einen anderen Kontakt mit ihrem Verbündeten. Im Dienstalltag hatten sie ständig mit türkischem Personal zu tun. Mechaniker, Stabspersonal, Beobachter und Flugzeugführer waren zum Teil Türken und eine Zusammenarbeit war erforderlich, um eine funktionsfähige Fliegerwaffe im Reich des Sultans aufzustellen. Die deutschen Fliegerabteilung blieben hingegen weitestgehend „exklusiv“, also ohne türkische Soldaten, die als Angehörige des Verbandes Dienst taten. So basierten die Erfahrungen dieser deutschen Flieger auf dem Kontakt mit Soldaten und Zivilbevölkerung auf den Reisen an den Einsatzort oder im Hinterland der Front sowie auf Begegnungen mit Angehörigen anderer, osmanischer Einheiten während des Dienstes. Diese Differenzierung gilt es zu berücksichtigen, wenn im Folgenden die Erfahrungen „der deutschen Flieger“ erörtert werden. Bereits bei den „Beweggründen“ für den Dienst im Osmanischen Reich treten deutliche Unterschiede hervor. Richard Euringer, bayerischer Oberleutnant und Flieger, berichtet in seinen etwa 20 Jahre später romanhaft verfassten Erinnerungen über die Vorbedingungen, die bei der Aufstellung der FA 300 von den vorgesetzten Stelle gefordert wurden: „Freiwillige Meldung. Fronterfahrung. Bescheinigte Tropendiensttauglichkeit. Gutes Gebiß. Nachweis, daß nicht geschlechtskrank gewesen. Keinerlei gerichtliche Strafen.“1154 Die Betonung für ihn liegt hierbei, wie aus seinen Schilderungen eindeutig hervorgeht, auf der Freiwilligkeit. Zwar wurden die Flugzeugbesatzungen aus der 1153 1154 PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 10. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 26. 300 Gesamtheit der deutschen Flieger ausgewählt, sie besaßen jedoch – zumindest theoretisch – noch die Möglichkeit, die Entsendung in die Türkei abzulehnen. Allerdings wäre die Ablehnung einer solch „exklusiven“ Sondermission wohl kaum ohne Prestigeverlust für den Piloten möglich gewesen.1155 Hinzu kam offenbar noch eine beinahe „jugendliche Begeisterung“ für ein Osmanisches Reich, das in der Vorstellung der jungen Flieger durch Enver Pascha verkörpert wurde. Der jungtürkische Generalstabschef und Vizegeneralissimus stand laut Euringer für Abenteuer, Heldentum und die Aussicht, mit genügend Tatkraft und Entschlossenheit bis in höchste Positionen aufzusteigen: „Asien, nein wir kannten es nicht. [...] E n v e r P a s c h a! [...] Wir wollten ihm dienen; nicht einem Land, das wir nicht kannten: einem Mann, um den Gefahr und Abenteuer und der Glanz des Helden war.“1156 Euringers spätere Ausführungen sind zweifellos nicht frei von einem „FührerPathos“, das sich aus seiner Sympathie zum und seiner Stellung im Nationalsozialismus ergibt. Ebenso ist zu berücksichtigen, daß Euringer mit seinen Schilderungen ein Bild vom „heldenhaften Grüppchen Deutscher“ zeichnet, das trotz widrigster Umstände zusammenhält und sein Ziel schließlich erreicht. Dennoch enthalten die Abenteuerbücher unbestritten starke autobiographische Elemente und der Vergleich mit Schilderungen anderer Flieger belegt viele Aussagen Euringers.1157 Zudem tragen seine beiden Bücher „Vortrupp Pascha“ und „Der Zug durch die Wüste“ nicht umsonst die Bezeichnung „Roman“, denn seine Schilderungen werden häufig von sehr „blumigen“ Formulierungen begleitet und die Namen vieler Fliegerkameraden sind absichtlich verändert.1158 Jedoch haben seine Beschreibungen 1155 Die Fliegertruppe im Deutschen Reich verwies offenbar nicht ohne einen gewissen Stolz darauf, daß sich ihre Angehörigen ausschließlich aus Freiwilligen rekrutierten. Im Laufe des Krieges konnte diese Art der Ergänzung Dank einer stets hohen Zahl an Meldungen beibehalten werden. Tatsächlich waren manche Verwendungen – etwa die des Jagdpiloten – auch innerhalb der Fliegertruppe so begehrt, daß Bewerber abgelehnt werden mußten. Potempa, Harald: Die Königlich-Bayerische Fliegertruppe 1914-1918, Frankfurt am Main (u.a.) 1997, S. 160-164. Allerdings läßt sich zumindest für die deutschen Fliegerformationen im Osmanischen Reich nicht nachweisen, daß Flugzeugführer bei ihrer Meldung auf solche eine Position spekulierten. Für die Deutschen in den osmanischen Staffeln liegen keine Angaben vor. 1156 Ebd., S. 29f. 1157 „Kritik“ zu den beiden Romanen Richard Euringers findet sich bei: Hillesheim, Jürgen: „Heil dir Führer! Führ uns an! ...“ – Der Ausgburger Dichter Richard Euringer, Würzburg 1995, S. 118-121. Hillesheim arbeitet auch deutlich Euringers Verhältnis zum Nationalsozialismus heraus. 1158 So nennt er den Chef der Abteilung „Hauptmann v. Elmskerk“ statt „Hauptmann v. Heemskerk“ und den zweiten Piloten des Vortrupps „Henkel“ statt „Henkelburg“. Interessanterweise ändert eben 301 von der Begeisterung für ein Land, von dem jene nur ein mythisch verklärtes Bild vor Augen hatten, sicher einen wahren Kern, denn ähnliche Gedanken und Bilder des Osmanischen Reiches finden sich auch in anderen Schilderungen wieder. So nahm der deutsche Jagdflieger Hans Joachim Buddecke große Mühen auf sich, um einmal Enver Pascha, den er in nahezu träumerischer Verklärung schildert, persönlich gegenüber treten zu können: „Seine knappen Worte verrieten außergewöhnliche Art tiefen Denkens. Sie waren wie seine Erscheinung: schön durch Anspruchslosigkeit und anziehend und 1159 freundlich.“ Eine weniger hohe Begeisterung für die Dienstnahme beim Sultan zeigt sich hingegen bei Erich Serno, der mit dem Aufbau der türkischen Luftstreitkräfte beauftragt wurde. In seinen Memoiren beschreibt er eindrücklich, wie geschockt er von der Nachricht war, daß er kurz vor Weihnachten 1914 von der Westfront abgezogen und in den Orient versetzt werden sollte: „Ich fiel da wie aus allen Wolken! [...] Was hatte das zu bedeuten? Der Inspekteur konnte und wollte mir nichts Genaueres sagen, ich sollte mich nur im Kriegsministerium bei Oberst Oschmann melden. Dort würde ich Näheres erfahren. Ich ging aber in meiner deprimierten Stimmung und zwar in Zivil direkt zum Militärkabinett und bat um Aufklärung.“1160 Nachdem er rüde an das Kriegsministerium verwiesen wurde, wird ihm dort mitgeteilt, daß es in der Türkei eine deutsche Militärmission unter Führung eines „gewissen Liman“ gäbe, der um die Entsendung eines Fliegeroffiziers gebeten habe und die Wahl sei auf ihn gefallen. Im Übrigen solle er diese Abberufung als Anerkennung ansehen, zumal er später – unter Anrechnung der Dienstjahre – wieder in deutsche Dienste übernommen werden könne. Aus den Zeilen Sernos wird nicht nur seine geringe Begeisterung für die Versetzung deutlich, sondern auch daß er offenbar keine näheren Kenntnisse über die Verhältnisse im Osmanischen Reich besaß. Er wußte nicht einmal von der dieser Leutnant Hans Henkelburg in seinen Aufzeichnungen den Namen „Euringer“ in „Ehringer“ ab, was möglicherweise mit einer „Selbstzensur“ in Kriegszeiten erklärt werden kann. Henkelburg, Hans: Als Kampfflieger am Suez-Kanal, Berlin 1917, S. 19. (Im Folgenden: Henkelburg, Kampfflieger 1917.) 1159 Buddecke, El Schahin 1918, S. 89. 1160 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 32. 302 Militärmission, obwohl die Berufung des Generals Liman von Sanders 1913 beinahe zum Konflikt mit Russland geführt hatte.1161 Da zu diesem Zeitpunkt das Waffenbündnis mit der Türkei noch jung war und keine für den Kriegsverlauf entscheidenden Kampfhandlungen stattgefunden hatten, mag es jedoch nicht ungewöhnlich erscheinen, daß sich ein Flieger-Oberleutnant eher auf den „Hauptkriegsschauplatz“ im Westen konzentrierte. Dennoch gab es auch deutsche Flugzeugführer, die sich feiwillig zum Dienst in der osmanischen Luftwaffe meldeten, wie etwa Ende 1915 Oberleutnant Hans Joachim Buddecke, der als Jagdflieger über den Dardanellen eingesetzt wurde.1162 Für die ersten deutschen Angehörigen der osmanischen Fliegertruppe kann ohne Zweifel festgehalten werden, daß die Kenntnisse über das Osmanische Reich bestenfalls rudimentär waren, gleichgültig ob die Meldung nun freiwillig erfolgte oder nicht. Die einzigen zuverlässigen Informationen über den Stand der Fliegerei erhielt Serno von der türkischen Botschaft und türkischen Offizieren, die zur Ausbildung nach Berlin kommandiert waren Eine Vorbereitung durch deutsche Stellen fand nicht statt und auch um die Beschaffung des Materials und des Personals mußte er sich selber kümmern, wenngleich ihm die finanziellen Mittel von der osmanischen Staatskasse und damit über deutsche Kredite zur Verfügung gestellt wurden.1163 Im Osmanischen Reich angelangt, stießen die Deutschen auf das bereits häufig erwähnte Grundproblem der Kooperation: Die Sprachbarriere. Keiner der deutschen Flieger war der türkischen Sprache mächtig, so daß sie entweder auf Dolmetscher zurückgreifen mußten oder auf das Französische, sofern ihr Gegenüber diese Sprache beherrschte.1164 Die Kommunikation wurde noch dadurch erschwert, daß es im Türkischen für viele technische Spezialbegriffe der Fliegerei gar keine Wörter gab.1165 Serno konnte das Sprachproblem „entschärfen“, 1161 Siehe oben, S. 84-86. Buddecke, Hans Joachim: El Schahin (Der Jagdfalke) – Aus meinem Fliegerleben, Berlin 1918, S. 64. (Im Folgenden: Buddecke, El Schahin 1918.) Nachdem Hans Joachim Buddecke am 10. März 1918 an der Westfront gefallen war, wurden diese Aufzeichnungen von seinem Vater herausgegeben. 1163 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 33ff. 1164 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 35. Buddecke, El Schahin 1918, S. 65. 1165 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 4. 1162 303 indem er einen türkischen Offizier namens Schakir als seinen „Adjutanten“ einstellte. Dieser türkische Oberleutnant bildete mit seinen offenbar ausgezeichneten Deutschkenntnissen und seiner deutschen Fliegerausbildung allerdings eine Ausnahmeerscheinung, über die der Chef der Luftstreitkräfte wohl exklusiv verfügt haben dürfte.1166 Die Sprachbarriere blieb auch für die nachfolgenden deutschen Fliegerverbände oder die in osmanische Dienste tretenden Piloten eines der größten Hindernisse im Umgang mit dem türkischen Verbündeten. Daneben trafen die Flugzeugführer und Mechaniker auch auf die ungewohnten kulturellen Eigenarten der verschiedenen Völkerschaften Kleinasiens. Zumeist wurden bereits bei der Anreise erste Eindrücke über die türkischen Verbündeten gesammelt. Dabei war folgenreich, daß viele Deutsche ein sehr romantisches Bild vom Osmanischen Reich hatten. Neben den Vorstellungen von einem „heldenhaften Enver Pascha“ malten sich die jungen Männer Bilder von Moscheen, Minaretten und exotischen Wüstenlandschaften aus.1167 Solche Bilder wurden teilweise beim ersten Besuch Konstantinopels bestätigt, da die Hauptstadt reich an prachtvollen Bauten war. Konstantinopel war jedoch in keiner Weise repräsentativ für die Gesamtheit des Osmanischen Reiches. Viele Gebiete waren nur dünn besiedelt und die karge, unwirtliche Landschaft großer Reichsteile ließ schon bald den Träumereien der Flieger Desillusionierungen folgen. So schreibt der deutsche Leutnant der Reserve und osmanische Jagdpilot Bormann über seine Ankunft in Mesopotamien: „Sehr interessant sah die Gegend nicht aus [...]. Im übrigen kein Baum, kein Strauch. Steinhart gebrannter Lehmboden so weit das Auge reichte. Phantastische Vorstellungen von den Wundern des Orients wurden grausam zerstört!“1168 Entsprachen schon diese landschaftlichen Eindrücke nicht den Vorstellungen der deutschen Soldaten, so wurden sie von den Lebensgewohnheiten seiner Einwohner überrascht. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Völker des Osmanischen Reiches konnten sie zwar öfter genießen, jedoch trafen sie nicht überall auf ein solches Verhalten, was sie sehr irritiert zur Kenntnis nahmen, wurde doch auch hier wieder ein Teil des Orientbildes zerstört: 1166 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 35. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 37. 1168 Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 531. 1167 304 „Man betrachtete den Fremdling nicht als Gast, es hätte sonst zuviel Gäste gegeben.“1169 Dazu kam, daß manche Gesten der Gastfreundschaft und der Höflichkeit von den „uneingeweihten“ Piloten mit großer Befremdlichkeit aufgenommen wurden, obgleich man sich anfangs bemühte, sein Gegenüber nicht durch die eigene Unkenntnis der Gebräuche zu kränken. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Bericht von Richard Euringer über die Freundlichkeit zweier türkischer KavallerieOffiziere, die mit den Flieger-Offizieren in einem Zugabteil reisten. Da sich die Passagiere nur durch freundliche Gesten verständigen konnten, wurden bald Speisen und Zigaretten untereinander getauscht: „Grauslich war nur, daß sie die ihren sich selber drehten und, sie mit der Zunge festleckten und dann freundlichst überreichten. [...] Aber ich drückte die Augen zu: in Gottes Namen Cholera, Pocken oder Syphilis! Was tut man nicht für sein Vaterland! Ich schwur sogar es schmecke köstlich. Darauf haben sie jedesmal, wenn sie wieder neue drehten, mir die erste überreicht. Mir schien sogar, sie leckten sie mit besonderer Liebe ab. Gottlob sind sie in Konia, ihrem Endziel ausgestiegen.“1170 Ähnlich den Deutschen, die anderen Waffengattungen zugeteilt waren, bemerkten auch die Flieger rasch die unterschiedliche Mentalität in Bezug auf Zeitverständnis oder Arbeitsweise. Da die Piloten zusammen mit ihren Flugzeugen von Deutschland aus in den Orient reisten, standen sie von Dienstantritt vor größeren Schwierigkeiten als das deutsche Personal im osmanischen Heer, das sich zumeist nur mit dem persönlichen Gepäck befassen mußte.1171 Die Maschinen waren ein sperriges und zugleich sehr fragiles Gut, das unter Einhaltung eines strengen Zeitplanes zum Einsatzort gebracht werden mußte. Doch schon bei der Ankunft am Bosporus stellte sich heraus, daß die örtliche Infrastruktur auf solche Transporte nicht eingestellt war. Die deutschen Transportwaggons waren zu lang, um auf dem Rangierbahnhof auf der europäischen Seite der Meerenge problemlos auf wartende Fähren geladen werden zu 1169 Buddecke, El Schahin 1918, S. 74f. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 94. 1171 Ausnahmen stellen hierbei die Kraftwagenkolonnen, Funker- und Flak-Abteilungen dar sowie einige Artillerie- und Lazarettformationen, die vor allem im Rahmen des „Yildirim“-Unternehmens in das Osmanische Reich verlegt wurden. Eine Aufstellung der Verbände bei: Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 320f. 1170 305 können. Das türkische Bahnhofspersonal, laut Euringer aus „schwermütigen Typen“ bestehend und einem vermutlich auf „Backschisch lauernden Fez“ als leitendem Zivilbeamten, bot keine Hilfe an. Die Deutschen zeigten sich hier bereits von ihrer ungeduldigen Seite und die Lösung des Problems bestand darin, die vorhandenen Schienen zu zerlegen und damit ein improvisiertes Rangierkreuz zu fertigen, sehr zum Entsetzen der türkischen Beamten.1172 Doch Euringer stellt fest: „Elmskerk handelte nach dem Grundsatz, die Türken vor Tatsachen zu stellen, wie in Berlin die OHL.“1173 Dieser „Affront“ gegen den türkischen Bahnhofsvorsteher hatte zur Folge, daß den Fliegern bei der Ankunft auf der anderen Seite des Bosporus per Depesche befohlen wurde, umgehend die Waggons wieder zurückzubringen, da diese am Bahnhof zu verbleiben hätten. Auch hierfür fand sich sogleich eine „pragmatische Lösung“, indem eine Schlechtwettervorhersage erdacht wurde, die eine Rückkehr zu gefährlich machte.1174 Dieses Beispiel zeigt bereits die unterschiedlichen „Problemlösungsansätze“, die hier aufeinandertrafen und noch häufiger aufeinandertreffen sollten. Die deutschen Soldaten erwarteten, daß dem Militär absoluter Vorrang eingeräumt wurde, zumal man sich im Kriegszustand befand. Die osmanische Seite hingegen war es gewohnt, für Leistungen angemessen entlohnt zu werden, gleich von welcher Seite diese Leistungen in Anspruch genommen wurden. Diese „Schmiergeld-“ oder BackschischZahlungen, häufig als Ausdruck der tiefverwurzelten Korruption im Lande gedeutet, werden jedoch verständlicher, wenn man berücksichtigt, daß osmanische Staatsdiener meist schlecht und zudem unregelmäßig oder gar nicht vom Dienstherrn bezahlt wurden.1175 Von vielen Deutschen – und hier bildeten die Flieger keine Ausnahme – wurden diese Umstände falsch interpretiert und dementsprechend sorgten die oftmals strengen Reaktionen für Verstimmungen unter den Verbündeten. Für die türkischen Arbeiter bestand kaum eine Motivation, den Deutschen uneigennützig zu helfen. Während sie in unzulänglicher Weise von ihrem Staat versorgt wurden, mußten sich die wohlgenährten, gut bezahlten und versorgten deutschen Flieger keine Sorgen um 1172 Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 64-66. Ebd., S. 63. 1174 Ebd., S. 72f. 1175 Emin, Turkey 1930, S. 94. 1173 306 ihr tägliches Auskommen machen. Zudem konnte „patriotische Begeisterung“ von Seiten der türkischen Bevölkerung nur in seltenen Fällen erwartet werden.1176 Diese „Unsensibilität“ oder – positiver formuliert – „Unkenntnis der Verhältnisse“ sorgte während der langen und schwierigen Transporte für ständige Erschwernisse. Da durchgängige Schienenstränge fehlten, einige Bahnabschnitte eingleisig oder mit Schmalspurbahnen befahren wurden und starke Regenfälle die Stecken unterspülen konnten, waren die Flugzeugtransporte zu häufigem Umladen und längeren Aufenthalten an Bahnstationen gezwungen.1177 Diese Verzögerungen konnten im Zusammenspiel mit dem engen Zeitplan die Nerven der Transportführer stark belasten. Hierbei wirkte die „ruhige Art“ vieler Türken nur weiter provozierend. So beklagten sich die deutschen Flieger darüber, daß ihnen von türkischer Seite stets die Formulierung „Jawasch, jawasch“ – „Langsam, langsam“ – entgegengehalten wurde.1178 Hauptmann Felmy, von Juli 1916 bis Januar 1918 Führer der FliegerAbteilung 3001179, brachte die Problematik auf den Punkt: „Bisher hatte man in Feindesland Krieg geführt und war gewohnt, zu befehlen. Hier war man in Freundesland!“1180 Wollten die deutschen Flieger aber im „Freundesland“ an ihr Ziel gelangen, waren sie gezwungen, sich an die Umstände anzupassen, zumindest soweit es nötig war, um ihren Auftrag zu erfüllen. Allerdings dauerte diese Phase des Lernens offenbar ziemlich lange, denn die ersten erhaltenen derartigen Befehle, Richtlinien und Anweisungen von allgemeiner Gültigkeit stammen aus dem Jahre 1917. Sie bieten einen guten Einblick in die deutschen Erfahrungen bei Transporten. Dabei handelte es sich zu einem Teil um technische oder hygienische Hinweise, wie etwa die Warnung vor Funkenflug durch das Heizen der Lokomotiven mit Holz, vor dem Genuß roher, ungewaschener Lebensmittel oder vor Läusen in ungereinigten Zugabteilen. Allerdings wird auch vor Diebstählen durch mitreisende Zivilpersonen und sogar durch türkische Soldaten gewarnt und als Lösung vorgeschlagen, diesem 1176 Siehe oben, S. 30f. u. 247. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 519f. 1178 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 36. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 520. 1179 Vgl.: Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. X und MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Zusammenstellung der bei der türkischen Luftwaffe von 19151918 tätigen Deutschen, soweit soweit [sic] dies 1960 noch möglich war“, ohne Seitenzahl. 1180 Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 520. 1177 307 Personenkreis von vorneherein die Mitfahrt in deutschen Waggons zu untersagen. Außerdem wird der Umgang mit den türkischen Verbündeten reguliert: „Allen türkischen Beamten und Offizieren gegenüber ruhig aber bestimmt auftreten. Lautes Schimpfen nutzt nichts, sondern macht den Orientaler noch verschlossener. [...] Beim Umladen türkische Arbeiter beaufsichtigen. 10 Türken leisten die Arbeit eines Deutschen. Auch hier nicht ungeduldig werden. Die Mitarbeit Deutscher Soldaten spornt auch den Orientaler an. Einige geschenkte Zigaretten bewirken oft Wunder.“1181 Die Deutschen in den osmanischen Fliegereinheiten in Mesopotamien erhielten ähnliche Hinweise. Hier lief der Transport aufgrund mangelnder Eisenbahnverbindungen über den Flußweg. Der deutsche Oberleutnant und osmanische Hauptmann Franz von Aulock, Kommandeur der osmanischen FliegerAbteilung 2 in Baghdad1182, vermerkt in seinen „Technischen Notizen“: „Bei Notlandungen [...] Maschinen nie allein stehen lassen, Araber montieren sonst Andenken ab. [...] Steht zum Transport ein türkisches Arbeitskommando zur Verfügung, so exerziere man [...] mit den Soldaten die Handgriffe beim Verladen [...]. Es geht auch südlich des Balkans nur das was geübt ist.“1183 Lassen schon diese Berichte die türkische Seite in keinem guten Licht erscheinen, so bietet der Bericht des deutschen Unteroffiziers Otto Klein über Flußtransporte ein tendenziell noch negativeres Bild: „Ein anderer Vorwärtstrieb als die Strömung existiert nicht. Es ist deshalb falsch, von den Führern zu verlangen, dass sie die Geschwindigkeit durch dauerndes Rudern vergrössern. Die primitive Art der Ruder macht das unmöglich. Die Leute werden durch solche Anordnungen nur erbittert. [...] 1181 Abschrift „Merkblatt für die Reise Konstantinopel – Aleppo!“, Kommandeur der Flieger Heeresgruppe F. Abt. I 141/17. Geheim! vom 4.9.1917. KA München, Flieger u. Luftschiffer 52. Ebenfalls abgedruckt bei: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 278f. Die Unterstreichungen entsprechen dem Original. 1182 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Zusammenstellung der bei der türkischen Luftwaffe von 1915-1918 tätigen Deutschen, soweit soweit [sic] dies 1960 noch möglich war“, ohne Seitenzahl. 1183 „Technische Notizen für Ausrüstung und Transport von Fl.Abt. in Mesopotamien“, Geheim! vom 5.8.1917. KA München, Flieger u. Luftschiffer 52. 308 Bei arger Widerspenstigkeit der [Boots-]Führer sind diese dem nächsten türkischen Kommandanten zu melden, der sie verprügeln lässt. Deutsche dürfen nie selbst Eingeborene schlagen. [...] Eingeborene müssen an Land schlafen, damit sie nicht nachts wertvolle Kisten über Bord gehen lassen, die sie beim Rückmarsch abholen. Am Ufer ist deutsche Patrouille nötig. [...] Da von den Kelleksführern1184 besonders beim letzten Teil der Reise infolge ihrer Faulheit viel gesündigt wird, ist grösste Aufmerksamkeit und Energie nötig. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass diese Leute – meist Kurden – noch grössere Diebe sind, als die am Euphrat.“1185 Aus sämtlichen Berichten läßt sich ein großes Mißtrauen gegenüber der osmanischen Bevölkerung ersehen. Dabei wird kaum ein Unterschied zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung gemacht. Allerdings wird sehr wohl zwischen den verschiedenen Ethnien des Osmanischen Reiches unterschieden. So sind es „die Araber“, die Andenken abschrauben oder „die Kurden“, die sich als die größten Diebe erweisen. Demnach unterscheiden auch die Angehörigen der Fliegertruppe, wie die deutschen Heeressoldaten, sehr bald zwischen den Volksgruppen, mit denen sie interagieren. Für die Flieger war dabei der Konflikt zwischen den beiden größten Volksgruppen, den Arabern und den Türken, von besonderer Wichtigkeit. Andere Minderheiten, wie Griechen, Armenier oder Kurden wurden nur am Rande und bei Durchreise durch große Städte wahrgenommen. Die einzige Ausnahme bildeten die kleinen Gruppen deutscher Siedler in Palästina, die – geht man nach den Schilderungen der Piloten – deutsche Soldaten bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verschiedenen Feierlichkeiten einluden.1186 1184 Siehe oben, S. 209. „Bericht des Werkmeisters Unteroffizier Otto Klein über Erfahrungen bei Flusstransporten in Mesopotamien. Transport auf dem Euphrat.“, Kommandeur der Flieger Heeresgruppe F. Abt. I 126/17. Ohne Datum. KA München, Flieger u. Luftschiffer 52. 1186 Oberleutnant Euringer berichtet von deutschen Kolonisten in Aleppo, die zur Begrüßung deutsche Fähnchen schwenkten und Geschenke an die Flieger verteilten: „Für sie schien unser Eintreffen etwas wovon sie lang und heiß geträumt.“ Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 211. Leutnant Hans Henkelburg, zusammen mit Euringer Flugzeugführer in der FA 300, wird in Jerusalem ebenfalls von deutschen Siedlern empfangen, die ihm zu Ehren ein großes Fest organisieren, „fast wie auf einer echten deutschen Kirmes“. Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 15. Rudolf Holzhausen, Angehöriger der deutschen Flieger-Abteilung 302, faßt in seinem Bericht zusammen: „Die deutschen Kolonien in Wilhelma und Haifa waren beliebte Urlaubsorte für erholungsbedürftige Truppenangehörige.“ PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 29. 1185 309 Dies liegt vor allem daran, daß die überlieferten Berichte deutscher Flieger meist aus den Gebieten des Osmanischen Reiches stammen, in denen diese beiden Völker die mit Abstand größten Anteile an der Einwohnerschaft stellten. Dabei wird die arabische Bevölkerung nochmals in „seßhafte Araber“ und „Beduinen“, also die nomadisch lebenden Wüstenstämme, unterschieden. Die Beduinen spielten für die Flieger insofern eine Rolle, als sie wichtige Aufklärungsergebnisse über feindliche Flugplätze oder Bombenziele liefern sollten. Eine Aufgabe, die von den Wüstenbewohnern dank ihrer Ortskenntnisse offenbar recht gut ausgeführt wurde. Jedoch sahen die Deutschen in „dem Beduinen“ den Prototypen des käuflichen Söldners, der keine andere Loyalität kannte als die zum Geld des Meistbietenden. Daher werden die Beduinen oft als „gierig“ und „gewissenlos“ beschrieben.1187 Es wundert somit nicht, wenn die deutschen Flugzeugführer arabischen Spionen den Verrat von Geheimnissen an das Royal Flying Corps anlasteten1188 und schließlich sogar mit besonderer Verbitterung die „illoyalen Beduinen“ für den Tod eines deutschen Flieger-Offiziers verantwortlich machten.1189 Positive Äußerungen über die arabischen Bevölkerungsteile stehen ausschließlich im Zusammenhang mit geselligen Veranstaltungen. Offenbar hat jeder Deutsche während seiner Dienstzeit im Nahen Osten wenigstens einmal die sprichwörtliche „arabische Gastfreundschaft“ genießen können. So durften die Angehörigen der FA 300 einer „Kamelreiterphantasie“, einer Art Tanzfest mit Schauspiel und Gesang, beiwohnen. Die Deutschen waren fasziniert von den farbenfrohen, exotischen „Künstlern“ und der fremden Musik.1190 Auch Holzhausen berichtet von gemeinsamen Festen mit Tänzen, Essen, Musik und Reiterspielen. Ingesamt sei das „freundschaftliche Verhalten der deutschen Truppen zur arabischen In der ausgiebigen Nutzung der deutschen Kontakte im Orient mag eine gewisse Sehnsucht nach der Heimat zum Ausdruck kommen, die in Anbetracht der Fremdheit des Orients verständlich sein kann. Dennoch waren die Treffen mit deutschen Siedlern eher Ausnahmen, zumindest solange sich die Fronten noch fernab der Siedlungen befanden. 1187 Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 64. 1188 Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 72. 1189 „Nun war er tot. Nach dem, was Mühlmann angedeutet, hat ihn seine Kamelschwadron einsam ins Feuer hineinrennen lassen. Schließlich waren es . . Beduinen.“ Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 68. Der deutsche Flieger-Oberleutnant Soyter war während des zweiten Vorstoßes gegen den Suezkanal als Bodenbeobachter eingesetzt. Vgl.: Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 33. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 161f. 1190 Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 51f. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 275-279. 310 Landesbevölkerung aber auch ihre kämpferische Haltung dort, wo feindliche Berührungen stattfanden, [...] bei den Arabern unvergessen geblieben“.1191 Diese Beurteilung kann durch „Verklärung“ der Erinnerung beeinflußt sein, spiegelt aber gut die Ambivalenz des Verhältnisses zur arabischen Bevölkerung wieder. Im zivilen und gesellschaftlichen Umgang mit den seßhaften arabischen Einwohnern gab es offenbar weniger Konflikte, da man hier – beinahe schon als Reisender – lediglich Nutznießer einer fremden Kultur war, in der die Gastfreundschaft große Bedeutung besaß. Sobald allerdings dienstliche Ansprüche tangiert waren, kollidierten die unterschiedlichen Ansichten miteinander. Während „die Araber“ und Beduinen versuchten, ihre eigene Situation durch den Konflikt – ihrer Ansicht nach fremder Mächte – zu verbessern, indem sie ihre Dienste „versteigerten“ oder für rar gewordene Lebensmittel hohe Preise verlangten, fühlten sich die Deutschen „verraten“. Immerhin wurde der Krieg in „Freundesland“ geführt und dort erwarteten die Soldaten die Unterstützung der Bevölkerung und nicht passive oder gar aktive Obstruktion. Unberücksichtigt ließ die deutsche Seite dabei, daß die arabischen Untertanen des Sultans keinen Grund hatten, die deutschen Verbündeten der Hohen Pforte selbstlos zu versorgen. Es war bekannt, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand verbreitet, daß die türkischen Amtsinhaber mit größter Härte über die südlichen Provinzen des Reiches herrschten: „Der Türke herrscht, er unterwirft. Das was dem Wörtlein Pascha anhängt, dies Reitpeitschenregiment, taugt nun just für den Araber schlecht. Man kann ihn gewinnen, . . wenn man ihm bietet, was er sich träumt. [...] – Ihn treten; damit hat man ihn nicht.“1192 Auf diese Erkenntnis oder besser den Mangel an Erkenntnis wird später noch einmal einzugehen sein. Zunächst muß der Blick noch auf die türkische Bevölkerung gerichtet werden, die von den deutschen Fliegern nur geringfügig besser beurteilt wird als die arabische. Zum Teil erinnern die Schilderungen an das Bild des „Edlen Fremden“, wie es sonst 1191 1192 PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 30. Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 112. 311 nur bei den Beschreibungen arabischer Scheichs verwendet wurde.1193 So beschreibt der Jagdflieger Buddecke die Einwohner eines kleinen Dorfes in Süd-Anatolien: „Sie haben schöne, braune, ebenmäßige Gesichter, offene Augen, guten Charakter.“1194 Immer wieder tauchen auch Beschreibungen auf, die an die Bilder der orientalischen Märchen erinnern, die den Fliegern wohl im Kopf spukten. Reichgekleidete Paschas, muslimische Geistliche und zivile Würdenträger empfingen deutsche Flieger in Konstantinopel. Über die verzierten Räumlichkeiten mit seidenen Diwanen, schmuckvollen Teppichen, Gold und Kristall schreibt Euringer: „Ich kam mir vor wie hingezaubert. Nur Fatime fehlte.“1195 Zudem werden die Piloten auf ihren Reisen durch das Osmanische Reich häufig zu ausgiebigen türkischen Essen eingeladen. Schnell bemerkten auch die Flieger die unterschiedliche Eßkultur: Die Menüs bestanden aus kleinen, aber zahlreichen Gängen, während des Essens wurde kaum gesprochen und zur Beendigung des Mahls gab es den schwarzen und starken Mokka, auch „café turque“ genannt. Erst nach dem Essen zog man sich zum Rauchen in ein anderes Zimmer zurück und pflegte dort die Konversation. Im Übrigen behielten die türkischen Gastgeber während des Essens die Kopfbedeckung auf, während die deutschen Soldaten anfangs noch den Fehler machten, die Mütze abzunehmen.1196 Die bevorzugte Behandlung der deutschen Flugzeugführer hatte ihren Grund wohl darin, daß das Osmanische Reich kaum Erfahrung mit dieser Waffe hatte. Die Flieger wurden als eine hochmoderne und beinahe mysteriöse Truppe angesehen und die wenigsten Türken hatten überhaupt jemals ein Flugzeug zu Gesicht bekommen. Entsprechende Wertschätzung erfuhren die Flugzeugbesatzungen. Noch bevor überhaupt der erste Flugplatz bei San Stefano1197 in Betrieb genommen wurde oder Flugzeuge aus Deutschland geliefert worden waren, hatte Enver Pascha bereits persönlich eine Uniform für die Angehörigen der osmanischen Luftstreitkräfte 1193 Siehe zu Antrittsbesuchen bei Scheichs auch oben, S.260. Buddecke, El Schahin 1918, S. 118. 1195 Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 82. 1196 Buddecke, El Schahin 1918, S. 66f. u. S. 117. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 81f. 1197 Kleiner Ort am Marmarameer auf der europäischen Seite des Bosporus nahe Konstantinopel gelegen. 1194 312 entworfen, die unbedingt zu tragen war.1198 Zu den „Nebenaufgaben“ der FliegerAbteilungen gehörte es dementsprechend auch, türkische Würdenträger oder Befehlshaber durch Flugvorführungen zu erfreuen oder auf Rundflüge mitzunehmen.1199 Mit der Faszination der türkischen Bevölkerung für die Fliegerei ging jedoch zugleich eine völlige Unkenntnis der technischen Neuerungen einher. Diese beeinflußte das Urteil der Flieger über die Bevölkerung und auch ihre türkischen Verbündeten bald negativ. Es begann zunächst mit leichtem Spott über die Angst einfacher Bauern vor Motorfahrzeugen: „Auch beim Anblick unseres recht neuartigen Verkehrsmittels entstand manche komische Situation. Ich sah einen sehr braven Greis samt seinem Esel im Gebüsch verschwinden und einen Abhang hinunterrollen. Wir mußten trotz des Mitleides mit dem Alten über den unglücklichen Tölpel lächeln.“1200 Dieser Spott erhielt bald ärgerliche Untertöne, als man merkte, daß sich das mangelnde technische Wissen nachteilig auf den Dienst oder die Einsatzbereitschaft der Fliegerformationen auswirken konnte. Der Fahrstil des türkischen Kraftfahrers, der Oberleutnant Buddecke zu seinem Flugfeld auf Gallipoli bringen sollte, veranlaßte diesen zu der Vermutung, daß „der Orientale“ zum Autofahren nicht geeignet sei.1201 Obwohl Buddecke gleich darauf seine Aussage relativierte und auch von löblichen „Ausnahmen“ berichtete, blieb die Unfähigkeit der Türken für ihn dennoch die Regel. Auch Erich Serno, der das technische Bodenpersonal für die neue „Luftwaffe“ aus örtlichen Klempnern, Schlossern, Schmieden und jeder halbwegs passenden Berufsgruppe rekrutieren mußte, kommt zu dem Schluß: „Wiewohl ich anfangs das Gefühl hatte, daß dem Türken ein gewisses technisches Gefühl fehlt, so muß ich doch sagen, daß sie hier mit Lust, Liebe und Begeisterung dabei waren. Aber es war natürlich ein Unding, die Leute nur annähernd auf den 1198 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 35. Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 54. Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 267f. 1200 Buddecke, El Schahin 1918, S. 69. 1201 Buddecke, El Schahin 1918, S. 70f. 1199 313 Ausbildungsstand zu bringen, wie wir es von unserem deutschen technischen Personal verlangen.“1202 Trotz des merklichen Wohlwollens, das Serno den türkischen Meschanikern entgegenbrachte, sah er keine Möglichkeit, die Ausbildungs- und Wissensmängel zu überbrücken. Der deutsche Jagdflieger Bormann bemerkt schließlich bissig, die türkischen Monteure seien meist nur zum Wasserauffüllen zu gebrauchen gewesen.1203 In dieser Äußerung wird bereits deutlich, daß sich die (Aus-)Bildungsunterschiede in gravierendem Maße auf die dienstliche Zusammenarbeit auswirkten. Ganz besonders machte den deutschen Fliegern zu schaffen, daß die Türkei kaum technische Mittel für die Fliegerei besaß und über noch weniger ausgebildetes Personal verfügte. Schon die Grundlagen der Arbeit am Boden waren im Osmanischen Reich unbekannt. Bei seiner ersten Landung auf der Gallipoli-Halbinsel bemerkte Oberleutnant Buddecke, daß zur Errichtung eines Flugfeldes das falsche Gelände ausgesucht worden war. Zu diesem Zeitpunkt war seine Maschine aber bereits bis zu den Achsen im weichen Boden versunken und hatte sich mit dem Propeller einen Meter tief in die Erde gegraben.1204 Bei einer weiteren Landung wurde sein Jagdflugzeug ebenfalls schwer beschädigt, als es mit den Feststellklötzen kollidierte, die von den türkischen Mannschaften auf der Start- und Landebahn liegen gelassen worden waren.1205 In beiden Fällen wurde nur das Flugzeug beschädigt, der Pilot blieb unverletzt. Umso ärgerlicher war es für Buddecke, daß – ähnlich wie schon Bormann beobachtete – die türkischen Mechaniker nicht für größere Reparaturen einsetzbar waren, sondern deutsche Monteure aus Konstantinopel anreisen mußten. Er führt diese Problematik allerdings explizit auf Ausrüstungsmängel zurück und nicht pauschal auf „Unfähigkeit“ des türkischen Bodenpersonals.1206 Überhaupt werden häufig Versorgungsmängel für Probleme verantwortlich gemacht, da alle Ersatzteile auf den unzureichenden Verbindungswegen aus Deutschland herangeführt werden mußten. 1202 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 37 u. S. 63. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 531. 1204 Buddecke, El Schahin 1918, S. 78. 1205 Buddecke, El Schahin 1918, S. 82f. 1206 Buddecke, El Schahin 1918, S. 83. 1203 314 Für Hauptmann Felmy von der Flieger-Abteilung 300 stellte die Nachschubfrage die „Lebensfrage“ dar. Die Entfernung von Konstantinopel nach Birseba am Rande der Sinai-Wüste betrug etwa 1.500 Bahnkilometer. Die Strecke war jedoch an mehreren Stellen unfertig und unterbrochen oder besaß wechselnde Spurbreiten, so daß der Nachschub mehrmals umgeladen werden mußte.1207 Das letzte Stück nach Birseba wurde sogar nur noch von Feldbahnwagen angefahren, die wegen des Mangels an Lokomotiven von Maultieren gezogen werden mußten.1208 Während der Umlademanöver kam es häufig vor, daß Teile zu Bruch gingen oder vertauscht wurden. Von einer Lieferung von 7 Maschinen nach Mesopotamien erreichte nur ein einziges Flugzeug unbeschädigt seinen Zielort.1209 Die deutschen Flieger luden daher die Maschinen lieber selbst um und ließen türkisches Personal nicht an die kostbare Fracht heran.1210 Ein solches Mißtrauen gegenüber osmanischen Hilfskräften trug kaum zu einem reibungsloseren Ablauf des Nachschubs bei. Er führte vielmehr dazu, daß an den Umladestationen große Mengen von Material auf ihren Weitertransport warten mußten.1211 Es kam jedoch auch vor, daß Etappenkommandeure, denen das skeptische und manchmal abschätzige Verhalten der Deutschen keineswegs verborgen blieb, mehr oder weniger absichtlich den Transport verzögerten. So mußte Major Serno erst mit einer förmlichen Meldung bei Enver Pascha drohen, bevor eine osmanische Fliegerabteilung unter Leitung eines türkischen Fliegerhauptmanns weiterbefördert wurde.1212 Die Drohung, einen ranghohen osmanischen Vorgesetzten einzuschalten, wurde auch für die Fliegertruppe zu einer unerläßlichen „Waffe“. Im Kriegstagebuch der bayerischen Flieger-Abteilung 304b wird in den Einträgen vom 11./12.10.1917 davon berichtet, daß einem türkischen Bahnhofskommandanten gedroht wurde, ihn bei Djemal Pascha zu melden, sollte er nicht aufhören, den 1207 Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 519. Hans Henkelburg nennt dieses Transportmittel scherzhaft „Sinai-Express“. Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 109. 1209 Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 540 1210 Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 104. 1211 Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 101f. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 519. 1212 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 64. 1208 315 Weitertransport der Abteilung durch Untätigkeit zu behindern. Auch diese Drohung zeigte das gewünschte Ergebnis.1213 Die tatsächliche Intervention bei einem hohen Würdenträger konnte jedoch zu unerwarteten Entwicklungen führen. Für die Fliegertruppe erwies sich besonders der Benzinnachschub als kritisch. Die Flugzeuge verbrauchten mehr Benzin, als durch die spärlichen Nachschubkanäle sickerte. Zudem wurden mitunter beim Umfüllen Fehler gemacht, die den Treibstoff unbrauchbar machten: „Es war nicht nur Wasser in die Kanister sondern Sand ins Benzin gekommen. (So geht es, wenn man Unterorganen und Türken das Abfüllen überläßt!) Verhör und Wutanfall nutzten nichts.“1214 Die deutschen Soldaten entwickelten notgedrungen andere Alternativen, um den Nachschub an Betriebsstoff sicher zu stellen. In Mesopotamien wurde das kostbare Gut mit Flugzeugen zu den Einheiten gebracht. Ein Verfahren, das jedoch – ähnlich der Situation bei den Kohletransporten der Marine – beinhaltete, daß die Transportmaschine fast ebenso viel Treibstoff verbrauchte, wie sie lieferte.1215 Auf ein anderes Problem stieß Oberleutnant Euringer als er nach Damaskus reiste, um dort bei Djemal Pascha zu erreichen, daß eine Lieferung von zwölf Fässern Benzin freigegeben werde, die an einer Etappenstation festgehalten worden war. Er traf dort zufällig zeitgleich mit den Feierlichkeiten zum Geburtstag des Sultans ein und wurde vom deutschen Konsul dem Pascha vorgestellt. Trotz der Ermahnung zu „diplomatischer Zurückhaltung“ brachte Euringer sein Anliegen sehr direkt vor, zum Entsetzen alle Anwesenden. Sein Vorgehen sorgte für größte Aufregung bei allen beteiligten und unbeteiligten Stellen, da der Stab Djemal Paschas nun alles tat, um Benzin für die Flieger zu besorgen. Sinnbild für die Wirkung ist die Reaktion eines deutschen Transportchefs, der Euringer beim Verladen helfen sollte: „Er sagte es sei der Teufel los. Man habe ihm einen Krach gemacht . . ! Er wisse nicht einmal warum. Wie die Sendung weggekommen, ahne er nicht. Er vertrete einen Türken, der es sicher auch nicht weiß. [...] Er werde den Dingen beschleunigt 1213 Kriegstagebuch der bayerischen Flieger-Abteilung 304b: 24.Juli 1917-3.April 1919, Einträge 11.Oktober 1917 und 12. Oktober 1917. KA München, Flieger und Luftschiffer 48. 1214 Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 345. 1215 Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 538. 316 nachgehen. [...] Ich solle in Dreiteufels Namen heut abend, bitte, dem Pascha sagen, es sei gut.“1216 Schließlich kam die FA 300 so zu ihrem Benzin, jedoch nicht ohne daß Euringer Djemal Pascha, seinen Stabschef Ali Fuad Bey und weitere hochgestellte Persönlichkeiten gegen sich aufbrachte. Ein Umstand, den er überraschenderweise eher mit Genugtuung als mit Reue quittiert: „Man hat mich „monoman“ geschimpft. Man gab mir schriftlich, es habe sich bisher in Damaskus kein Deutscher derart lästig gemacht. Aber ich kam zu meinem Benzin.“1217 Trotz des Erfolges bewies der bayerische Flieger eine schwerwiegende Nichtachtung der Gepflogenheiten im Osmanischen Reich. Er verletzte die Ehre des Paschas, indem er ihn offen und im Beisein vieler anderer auf Probleme innerhalb seines Zuständigkeitsbereiches ansprach. In diesem speziellen Fall waren ihm die Vorschriften des Protokolls sogar zuvor vom deutschen Konsul erläutert worden und dennoch hatte er sie ignoriert. Es bleibt fraglich, ob sich Euringer auch gegenüber einem deutschen Würdenträger so verhalten hätte. Aus seinen Aufzeichnungen lassen sich solche Schlüsse leider nicht zweifelsfrei ziehen. Allerdings ist Euringer kein Einzelfall. Auch Major Serno entschied sich bewußt dafür, türkische Landessitten zu ignorieren, sobald sie – seiner Meinung nach – Einfluß auf seinen militärischen Aufgabenbereich hatten. So verwendete er viel Energie darauf, dem einzigen türkischen Jagdflieger Oberleutnant Fazil nach seinem Tod ein „Heldenbegräbnis“ zukommen zu lassen. Für ihn bedeutete dies ein „deutsches Heldenbegräbnis“ mit Ehrenformation, Trauerzug und ähnlichen Zeremonien. Ein für das Osmanische Reich völlig unüblicher Brauch. Serno weigerte sich jedoch, ein „gewöhnliches türkisches“ Begräbnis für einen seiner Piloten zu akzeptieren, und erreichte schließlich, daß der Gefallene zusätzlich zur landesüblichen Zeremonie in einem flaggenbedeckten Sarg im Beisein einer Ehrenkompanie beigesetzt wurde.1218 Neben solchen bewußten Verstößen gegen die Sitten und Gebräuche durch das Beharren auf deutschen Gepflogenheiten kam es aber auch zu ungewollten „Ausrutschern“, deren Folgen nicht weniger gravierend sein konnten. Anläßlich eines 1216 Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 353f. Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 357. 1218 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 134. 1217 317 Besuches von Djemal Pascha, dem Oberbefehlshaber der 4. Armee, bei der FA 300 wurde als Dekoration eine Laterne in Form des „Eisernen Halbmondes“ – eine osmanische Auszeichnung in Form eines roten Metallsterns mit einem weißen Halbmond darauf – angefertigt, die beim Essen den Raum beleuchten sollte. Versehentlich stellten die Deutschen die Verzierung jedoch so auf, daß die Mondsichel nicht etwa die zunehmende, sondern die abnehmende Mondphase zeigte: „Da plötzlich starrt Djemal das unselige Symbol, den a b n e h m e n d e n Halbmond, an und erbleicht: [...] Der Rest ist Panik, Menetekel, Unheil, das sich ankündigt [...]!“1219 Die deutschen Flieger waren zwar peinlich berührt, weil sie durch einen solchen Fehler als Gastgeber in einem schlechten Licht erschienen, zugleich machten sie sich aber auch über den „Aberglauben“ des Paschas lustig und bezeichneten die Reaktion als „Mumpitz“.1220 Ob gewollt oder ungewollt, in jedem Fall muß festgestellt werden, daß die deutschen Angehörigen der Fliegertruppe den osmanischen Eigenarten, den Mängeln in der Ausbildung und, allgemein gesprochen, dem Verbündeten nur wenig Sympathie entgegenbrachten. Hierbei fällt besonders ins Gewicht, daß die Deutschen in Unkenntnis der orientalischen Verhältnisse mit falschen Erwartungen ins Osmanische Reich kamen und von der Realität bald bitter enttäuscht waren. Die bereits angeführten negativen Urteile über „türkische Faulheit“ sowie „arabische Feigheit und Gier“ sind nicht ungewöhnlich und finden sich in fast jeder Schilderung deutscher Soldaten wieder. Bei der Fliegertruppe trat jedoch die technische Rückständigkeit des Osmanischen Reiches stärker in den Vordergrund als bei den anderen Waffengattungen und belastete direkt oder indirekt das Verhältnis zwischen den Verbündeten. So waren die ersten Flugzeuge an den Dardanellen nur mit einem Maschinengewehr für den Beobachter ausgestattet, das lediglich auf Gegner hinter dem Flugzeug wirken konnte. Die Piloten mußten so zunächst auf einen Gegner zufliegen, abdrehen und diesen dann mit dem rückwärtsgerichteten M.G. beschießen. Da die türkischen Offiziere am Boden von diesen Bedingungen nicht wußten, sahen 1219 1220 Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 262f. Ebd., S. 263. 318 sie nur „flüchtende Deutsche“, eine Behauptung, welche die Flieger wiederum in ihrem Ehrgefühl verletzte.1221 Die völlige Unkenntnis der Fliegerei brachte die Deutschen zudem oft in lebensbedrohliche Situationen. Da die Bevölkerung des Osmanischen Reiches und mit ihr die überwiegende Zahl der Soldaten noch nie ein Flugzeug gesehen hatte, herrschte die Meinung vor, daß solche Maschinen nur dem Feind gehören könnten. Das führte dazu, daß deutsche Flugzeuge auch über eigenem Gebiet häufig beschossen wurden: „Wo man als Flugzeug erstmals auftaucht, wird man beknallt; das kannten wir.“1222 Augenzeugen solcher Vorgänge wurden auch deutsche Heeressoldaten, wie etwa Leutnant Ungerer, der in einem Brief an seine Eltern schreibt, daß eine osmanische Fliegerstaffel von den eigenen Soldaten solange beschossen wurde, bis ein Flieger hinter feindlichen Linien abstürzte und die Besatzung gefangen genommen wurde. Damit hätten die türkischen Soldaten vollbracht, was das Royal Flying Corps in vier Wochen nicht geschafft hätte.1223 Doch auch Notlandungen aus anderen Gründen erwiesen sich als sehr gefährlich für die deutschen Piloten. Besonders bei Landungen in der Nähe von Siedlungen fand sich rasch eine Menschenmenge ein, die den Fremden für einen feindlichen Flieger hielt und ihm mit offener Gewalt drohte. Leutnant Henkelburg berichtet ausführlich von einer solchen Situation. Als er sich mit seinem Beobachter auf dem Flug nach Jerusalem befand, mußte er mit einem Motorschaden notlanden. Schon kurze Zeit später erschienen bewaffnete Zivilisten, die sich durch die Gefangennahme der „Engländer“ eine hohe Belohnung erhofften. Die vermeintliche Rettung durch türkische Soldaten entpuppte sich nur als weitere Verschärfung der Situation, da nun besser bewaffnete Türken die „Gefangenen“ übernahmen. Erst nach etwa einer Stunde führte man die beiden in ein nahegelegenes Gebäude, wo sie von dem ranghöchsten Offizier verhört wurden, bis die telegraphische Bestätigung ihrer Identität eintraf. Obwohl Henkelburg in seiner Schilderung hauptsächlich die Sorge um das Leben der Flugzeugbesatzung ausdrückt, wird doch seine Verärgerung über die ungebildeten und aggressiven Bewacher deutlich: 1221 Buddecke, El Schahin 1918, S. 68. Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 18. 1223 Brief von Leutnant Ungerer an seine Eltern vom 4. Mai 1918. BAMA Freiburg, MSG 2/ 2888. 1222 319 „Und zu alledem die Dummheit und der kindliche Aberglaube der ganzen Gesellschaft! Selbst unter schwerster Bedeckung dürfen wir nicht an die Maschine herantreten, um zum Schutz gegen die stechende Sonnenhitze wenigstens unsere Mützen aus dem Rumpf zu holen; denn alles ist der Meinung, daß das Flugzeug beim bloßen Handauflegen durch irgendeine Zauberkraft mit uns davonfliegen könnte.“1224 Auch die Tatsache, daß Major Serno als Chef der osmanischen Luftstreitkräfte nur einem einzigen Piloten – dem bereits genannten Oberleutnant Fazil – ein Jagdflugzeug anvertraute, belegt die deutsche Meinung von den geringen türkischen Fähigkeiten.1225 Allerdings wurde den türkischen Piloten durch diese Verhalten ein wichtiger Teil der Ausbildung, nämlich der Erfahrungsgewinn durch Übung, verwehrt und so kann es kaum verwundern, daß der Ausbildungsstand hinter dem der deutschen Besatzungen hinterher hinkte. Die vorstehenden Äußerungen sollten bereits verdeutlicht haben, wie stark die Deutschen die Unterschiede zum Osmanischen Reich auf verschiedenen Ebenen wahrnahmen. Die einzige Perspektive, die weitgehend unberücksichtigt blieb, war das fremde politische System. Zwar wurden Beamte und Behörden zum Teil scharf kritisiert, sie arbeiteten zu langsam, aber über Parteipolitik in Konstantinopel, politische Stellenbesetzung bei türkischen Stäben oder Ränkespiele innerhalb des türkischen Offizierkorps ist im Unterschied zu den Schilderungen der deutschen Heeressoldaten nichts zu finden. Lediglich wenn das Thema der „Armeniervertreibungen“ angeschnitten wird, erscheinen knappe Äußerungen dazu.1226 Diese Zurückhaltung mag zum einen darin begründet liegen, daß die Flieger es nicht als ihre Aufgabe ansahen, sich in die osmanische Politik einzumischen und damit das deutsche Idealbild des „unpolitischen Offiziers“ wahren wollten. Zum anderen dürfte einem Großteil der Flugzeugführer aber auch schlicht der Einblick in solche politischen Vorgänge gefehlt haben. Im Unterschied zu deutschen Generälen oder Generalstabsoffizieren handelt es sich bei den Piloten um Subaltern-Offiziere, die nur 1224 Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 11. Die ganze Beschreibung des Vorfalls erstreckt sich über die Seiten 9-13. 1225 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 133. 1226 Siehe unten, S. 329. 320 bei gesellschaftlichen Anlässen mit den politischen Entscheidungsträgern zusammentrafen, wenn sie überhaupt solche Persönlichkeiten zu Gesicht bekamen. Zudem blieben die Angehörigen der deutschen Flieger-Abteilungen absichtlich unter sich, zumal kaum die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit türkischen Offizieren bestand. Es mag daher auch nicht verwundern, daß die häufigste Reaktion der Deutschen auf die Andersartigkeit des Orients eher Ablehnung war als Anpassung. Besonders Erich Serno weist immer wieder daraufhin, daß er lieber die „deutschen Tugenden“ in der Türkei einführen wollte, als sich den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen. So schaffte er für das Personal der Luftstreitkräfte sämtliche (jüdischen, islamischen und christlichen) Feiertage ab, denn im Krieg könne das nicht berücksichtigt werden.1227 In einem stark religiösen Land, wie dem Osmanischen Reich, wird diese Maßnahme, die zudem eindeutig ein Eingriff in die Gepflogenheiten eines verbündeten Staates darstellt, kaum auf Gegenliebe gestoßen sein. Ein Umstand, der Serno allerdings auch später nicht störte. Als er eine osmanische Fliegerformation in der Nähe von Mekka inspizieren wollte, bedeutete man ihm, daß „Ungläubigen“ – also Nicht-Muslimen – der Zutritt zu den heiligen Orten des Islam verboten sei. Statt jedoch einen türkischen Offizier, zum Beispiel seinen Adjutanten, mit der Aufgabe zu betrauen, verkleidete er sich als arabischer Scheich und reiste dennoch nach Mekka.1228 Erneut setzte er sein deutsches Dienstempfinden über die Gesetze des Landes. Es versteht sich von selbst, daß er diesen Verstoß in seinem Bericht an den türkischen Generalstab nicht zugibt, sondern von der Entsendung seines Adjutanten spricht.1229 Am deutlichsten macht der Chef der Luftstreitkräfte seine Einstellung gegenüber dem „Türkentum“, wenn er über seine Ansicht der Sprachbarriere schreibt: „Ich hatte mir aber zum Prinzip gemacht, im Dienst nur deutsch zu sprechen, das glaubte ich unserem Deutschtum schuldig zu sein. [...] Das türkische Schreiben, das damals ja noch in arabischer Schrift erfolgte, lehnte ich ab.“1230 Für ein „kameradschaftliches Zusammenleben“ oder eine vielbesungene „Waffenbrüderschaft“ sind solche Ansichten wenig geeignet. Der „Graben in den 1227 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 40. Ebd., S. 139. 1229 MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 22f. 1230 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 39. 1228 321 Köpfen“ wird zum Beispiel darin sichtbar, daß Oberleutnant Buddecke beim Beziehen seiner Fliegerunterkunft auf Gallipoli feststellt, daß im Lager die türkischen von den deutschen Unterkünften deutlich getrennt liegen oder Major Serno gemeinsame Feiern von Deutschen und Türken mißbilligt.1231 In diesem Zusammenhang muß auch das Erstaunen des Majors erwähnt werden, als er auf dem Weg mit einer osmanischen Flieger-Abteilung nach Palästina dem Feldmarschall von der Goltz begegnet, denn dieser begrüßt alle Flieger mit Handschlag und wechselt mit dem türkischen Personal einige Worte auf Türkisch.1232 Eine solche Nähe eines hochgestellten Offiziers ist für ihn in hohem Maße ungewohnt und die offensichtliche Zuneigung des Feldmarschalls zu den Türken sogar noch verwunderlicher. Angesichts derartiger Äußerungen der deutschen Flieger überrascht es nicht, daß meist bei der Abreise aus dem Orient dem Freudengefühl, endlich wieder in die Heimat zu kommen, freie Bahn gelassen wird. Lediglich der Abschied von den (deutschen) Kameraden, mit denen man die Zeit in der Fremde verbrachte, fiel schwer.1233 Doch dann ist es ausgerechnet Major Serno, der beweist, daß es auch Kameradschaft und sogar Freundschaft zwischen türkischen und deutschen Fliegern geben konnte. Mit seinem Adjutanten, Hauptmann Schakir, hielt er auch nach dem Kriege noch Kontakt und beide Familien besuchten sich mehrfach gegenseitig,1234 eine Parallele zu der fortdauernden Freundschaft zwischen den kommandierenden Offizieren des türkischen Torpedobootes „Muavenet-i-Millije“. Enge Kooperation und persönliche Sympathie konnten demnach eine starke Vertrauensbasis bilden, die offenkundige Vorurteile und negative Erfahrungen mit „den Türken“ überwinden half. Diese engen persönlichen Beziehungen müssen jedoch als Ausnahmen angesehen werden. Bei den in der Regel flüchtigen und seltenen Kontakten der meisten Flieger mit türkischen Soldaten haben sich solche Beziehungen nicht entwickelt. Daher ist der Abschied Sernos aus Konstantinopel eher ein Beispiel, wie es hätte sein können: „Ordnungsgemäß verabschiedete ich mich aber von meinen Türken [...]. Dieser Abschied war schwer, es flossen Tränen. [...] 1231 Buddecke, El Schahin 1918, S. 74. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 133. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 102. 1233 Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 107f. Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 392-394. 1234 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 54. 1232 322 Sehr sehr schwer war der Abschied von meinem engeren Stabe, von meinen Adjutanten und besonders von Schakir. In der kameradschaftlichen Weise brachten sie mir noch Erinnerungsgeschenke und blieben bis zur Abfahrt des Dampfers bei mir. Traurig recht traurig war die Abfahrt durch den Bosporus.“1235 1235 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 166. 323 Exkurs: Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher Soldaten Das Vorgehen der osmanischen Führung gegen die armenische Minderheit ist bis heute eines der meist debattierten Kapitel der Geschichte des Ersten Weltkrieges im Orient. Schon die zeitgenössische Öffentlichkeit konnte die Ereignisse nicht einfach übergehen, zumal besonders die „ententefreundliche“ Presse keine Gelegenheit ausließ, um auf die Schrecken der Verfolgung einzugehen und eine deutsche Mitverantwortung zu unterstellen. Diplomatische Kanäle der verbündeten und neutraler Mächte (z.B. USA) waren bemüht, auf die Hohe Pforte einzuwirken, um Gewalttaten zu verhindern. Die türkischen Stellen sperrten sich jedoch gegen alle ausländischen Interventionsversuche. Ernst-Adolf Mueller, eingesetzt als „Sonderführer“ des deutschen Nachrichtendienstes im Osmanischen Reich1236, formuliert: „Der deutsche Botschafter wurde beim Innen-Minister vorstellig, verwahrte sich gegen diese Vorgänge, wurde aber belehrt, daß man in Istambul von solchen Vorgängen nichts wisse, also auch nichts unternehmen könne.“1237 Von strenger Geheimhaltung des später von diversen Staaten offiziell als Völkermord deklarierten Geschehens kann demnach keine Rede sein, denn auch wenn nur wenige Deutsche damals als Augenzeugen in den betroffenen Gebieten waren, so mußten 1236 Siehe zu Funktion und Stellung Muellers unten, S. 360f. HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 30. Neben der staatlichen Diplomatie mühten sich auch kirchliche Vertreter um eine deutsche Intervention gegen Massaker an Christen. Der päpstliche Nuntius in München erreichte, daß die bayerische Gesandtschaft offiziell beim Kaiser in Berlin vorstellig wurde (Ministerial Erlaß Nr. 29329/1091 vom 13. Nov. 1915). Der Reichskanzler und das Auswärtige Amt protestierten scharf über die Botschaft in Konstantinopel bei der Hohen Pforte und verlangten die Einstellung der Mordtaten. Allerdings äußerte der Unterstaatssekretär Zimmermann (Auswärtiges Amt) in einem vertraulichen Schreiben an den königlich bayerischen Oberhofprediger Dryander wenig Hoffnung auf Erfolg: „Leider wird uns unsere Aufgabe durch die Hetzarbeit unserer Gegner erschwert, die erst die Armenier durch Gold und Versprechungen zur Auflehnung gegen die türkische Regierung verführt haben und jetzt – angeblich zum Schutz ihrer Opfer, in Wirklichkeit zu eigennützigen politischen Zwecken – eine Propaganda entfachen, die der Erbitterung der Türken immer neue Nahrung zuführt. Wenn die engliche Presse dem armenischen Volk öffentlich als dem „siebenten Bundesgenossen“ huldigt, der von Kriegsbeginn an ohne Zögern noch Feilschen auf der Seite der Entente gefochten habe (Daily Chronicle vom 23. September), so kann sie sich nicht wundern, daß die Türkei darin eine Rechtfertigung ihres Verhaltens erblickt und ihre Neigung zur Duldsamkeit sich verringert.“ Abschrift eines Vertraulichen Schreibens von Zimmermann an Dryander vom 10.10.1915, HStA München MA 97651. Im gleichen Akt findet sich auch der weitere Schriftverkehr zur Intervention des päpstlichen Nuntius und der bayerischen und deutschen Regierung. 1237 324 sich doch zumindest Berichte oder Gerüchte über die blutigen Vertreibungen herumgesprochen haben. Dennoch widmet diese Arbeit dem Themenkomplex „nur“ einen Exkurs: Zum einen weil die Problematik das Untersuchungsgebiet nur marginal berührt und deshalb nur knapp zu skizzieren ist, um nach etwaigen Auswirkungen auf die deutschen Soldaten zu fragen.1238 Zum anderen steht die Arbeit unter dem Aspekt der Wahrnehmung des türkischen Verbündeten durch deutsche Soldaten, und auf diese hatten die Metzeleien an der armenischen Bevölkerung kaum nachweisbare Auswirkungen. In den Aufzeichnungen und Memoiren, die nach dem Kriege veröffentlicht wurden, finden sich zwar häufig Passagen, die Massaker an der armenischen Minderheit – mehr oder minder scharf – verurteilen, doch liegen keine Informationen, geschweige denn amtliche Schriftstücke vor, aus denen hervorginge, daß die Zusammenarbeit durch die Ereignisse konkret beeinflußt worden wäre. Das bedeutet nicht, daß die Ereignisse von deutschen Soldaten gar nicht wahrgenommen und angesprochen worden wären. Georg Mayer überreichte dem bayerischen Kriegsministerium offenbar nach seiner Rückkehr aus dem Osmanischen Reich (Oktober 1915) unter anderem eine knappe 1238 Zur Diskussion über die Armenierverfolgungen siehe einführend: Kieser, Hans-Lukas/Plozza, Elmar (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich 2006. Gust, Wolfgang (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 – Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005. (Im Folgenden: Gust, Der Völkermord 2005.) Baum, Wilhelm: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten. Geschichte – Völkermord – Gegenwart, Klagenfurt/Wien 2005. (Im Folgenden: Baum, Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten 2005.) Aufgrund der ideologisch höchst aufgeladenen Diskussion um die Ereignisse im Osmanischen Reich ist es äußerst schwierig, Literatur zu benennen, die auf wissenschaftlich methodischem Weg zu einem abgewogenen Urteil gelangt. Schon der Terminus „Völkermord“ wird bis heute von der Türkei abgelehnt. Es kann demnach nicht verwundern, daß die oben genannten Werke dem „türkeikritischen“ Milieu zuzuordnen sind. Spätestens seit dem Bundestagsbeschluß, die osmanischen Gewalttaten offiziell als „Genozid/Völkermord“ zu bezeichnen, ist deutschsprachige Literatur zur Gegenposition kaum noch zu finden. Schon vorher wurde die Position einer Verharmlosung oder gar Leugnung der Geschehnisse hauptsächlich in der türkischsprachigen Forschung vertreten. Jüngere Bemühungen, beide Parteien zu gemeinsamen Konferenzen und einer internationalen Forschungsdiskussion zu bewegen, haben häufig mit dem Problem vorurteilsbehafteter Meinungsbildung zu kämpfen. Dazu das Vorwort in: Adanır, Fikret/Bonwetsch, Bernd (Hrsg.): Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus – Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. VII. Eine aufschlußreiche Detailstudie bietet Martin Tamcke, der eine Arbeit über den Augenzeugen Armin Wegner verfaßte und klar zwischen „Anspruch und Wirklichkeit“ der vermeintlichen „Augenzeugenberichte“ unterscheidet. Offenbar waren Schilderungen der Ereignisse Wegners – eines kriegsfreiwilligen Sanitäters – zu einem bedeutenden Teil durch Hörensagen beeinflußt und beruhten nur zum Teil auf eigenen Erfahrungen. Tamcke, Martin: Armin T. Wegner und die Armenier – Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen, Hamburg 1996. Zur Vorgeschichte der Geschehnisse: Saupp, Norbert: Das Deutsche Reich und die armenische Frage 1878-1914, Köln 1990. 325 Schilderung über „Die Armeniergreuel 1914/15“. Darin beschreibt er die Ermordung und Verschleppung nicht nur von Armeniern, sondern auch von anderen religiösen Minderheiten in telegrammartigem, aber eindrücklichen Stil. Sein Urteil über die türkischen Verantwortlichen fiel dementsprechend aus: „Hier [Khinis] als Wali: Dscheved, Schwager von Enver, energisch, elegant Halil Truppenkommandeur Onkel von Enver. Befehl Halils, alle männlichen Armenier von 12-70 Jahren zu ermorden. [...] Tchefik [sic], Gouv.v.Baschk. Mörder.“1239 Interessanterweise findet sich in demselben Konvolut von Berichten des bayerischen Mediziners ein Aufsatz über Flecktyphus im Osmanischen Reich und seine Auswirkungen auf den Krieg. Darin beschreibt er, wie die türkischen Behörden armenische Untertanen „umsiedelten“. Dagegen protestierte er auf das Schärfste, jedoch nicht etwa aus „Menschenfreundlichkeit“, sondern weil die Gefahr der Verbreitung von Epidemien durch die „verwahrlosten Züge von Vertriebenen“ sich auch auf die türkischen Truppen, also auf seinen Aufgabenbereich des Sanitätswesens auswirken könnten. Trotz mehrmaliger Intervention bei Enver Pascha persönlich findet er kein Gehör. Der osmanische Kriegsminister soll ihm sogar gesagt haben: „Nun, dann sterben sie eben!“1240 Obwohl er eine solch zynische Antwort bekam und obwohl sein Dienst alles andere als konfliktfrei verlief, beeinflußten die Ereignisse sein Bild vom osmanischen Verbündeten nicht nachweislich. Er spricht weiterhin vom „tapferen Türkenvolk“ und auch seine teils sehr harte Kritik an verschiedenen Personen bezieht sich auf dienstliche Vorgänge.1241 Ein weiteres Beispiel für geringe Auswirkungen auf das Urteil über die Verbündeten bieten die Briefe des deutschen Majors (später türkischen Obersten) Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg.1242 Dieser war vornehmlich in Syrien eingesetzt, wo er in Damaskus als Militärattaché fungierte. Wolffskeel war während seiner Dienstzeit 1239 Schreiben Georg Mayers „Die Armeniergreuel 1914/15“ o. Dat., KA München HS 2049, S. 2f. Bericht von Georg Mayer „Der Flecktyphus in der Türkei im Weltkrieg“ o. Dat., KA München HS 2049, S. 15. 1241 Zum „tapferen Türkenvolk“ siehe: Bericht von Georg Mayer „Der Flecktyphus in der Türkei im Weltkrieg“ o. Dat., KA München HS 2049, S. 16. 1242 Zur Verwendung Graf Wolffskeels siehe die Angaben bei: MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der Türkei, Blatt 16. 1240 326 maßgeblich an Polizeiaktionen gegen die armenische Bevölkerung in verschiedenen Orten beteiligt. So entsandte er beispielsweise eine verhältnismäßig große Abteilung (4 Infanteriebataillone, mehrere Kavallerieschwadronen und eine Artilleriebatterie) nach Zeitum1243, um eine – seiner Ansicht nach aufrührerische – Versammlung bewaffneter Armenier, die „Räuberbanden“ Unterschlupf gewährt hätten, aufzulösen. Die Aktion führte zum gewünschten Ergebnis, aber dennoch sah er anschließend die Notwendigkeit zum Erlaß eines Befehls, der der muslimischen Zivilbevölkerung jede Anwendung von Gewalt gegen die Armenier untersagte und allen friedlichen Bürgern den Schutz der Armee zusagte;1244 unbegründet dürfte die Maßnahme wohl kaum gewesen sein. Wenig später schreibt er auch über Gefechte gegen „Beduinen“ und einen größeren Kampf gegen armenischen Bewaffnete, die sich an der Küste bei Antiochia verschanzt hätten. Mit unverhohlenem Zynismus beschreibt er, daß sich die Zivilisten dorthin vor den Maßnahmen der türkischen Behörden geflüchtet hätten, allerdings mit zahlreichen Gewehren bewaffnet wären und zudem schwere Artillerieunterstützung durch 6 französische Kreuzer vor der Küste gehabt hätten.1245 Aus seiner Sicht stellten diese Bewaffneten, zumal sie von der Entente unterstützt wurden, eine Gefahr im Rücken der osmanischen Fronten dar. Nach der Evakuierung der Armenier durch die Kriegsschiffe der Entente schrieb er in einem Privatbrief an seinen Vater: „Über die Berechtigung u. Wert der ursprünglichen Maßregel der Türken gegen die Armenier kann man verschiedener Ansicht sein. [...] An sich sind mir diese ewigen innenpolitischen Sachen widerwärtig, wie Du Dir denken kannst, u. ein Ruhmesblatt der Türkei bildet die ganze Armenierfrage weiß Gott nicht. 1243 Er selbst wählt diese Schreibweise. Es finden sich auch andere, wie etwa „Zeytun“ oder „Sejtun“. Gemeint ist jedoch jedesmal eine Ortschaft im Bezirk Damaskus. 1244 Brief Eberhard Graf Wolffskeels an seinen Vater aus Damaskus vom 30.3.1915, BAMA Freiburg N 138/32. 1245 Offenbar hatten sich in diesen Bergen an der Küste tatsächlich etwa 5.000 Armenier verschanzt. Diese erhielten Waffen, Munition und Verpflegung von den vor der Küste kreuzenden Schiffen der Entente (4 französische und ein britisches). Die Belagerung dauerte etwa anderthalb Monate (21.7.12.9.1915), bis sich die Admiralität des Marineverbandes darauf einigte, die Flüchtlinge nach Ägypten zu evakuieren. Die Depesche des britischen Außenministers, diese Aktion auf keinen Fall durchzuführen, traf erst ein, als die 4.058 Evakuierten bereits in Port Said waren. Baum, Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten 2005, S. 100. 327 Die Leute sind in ihrer ganzen Auffassung in ihrer inneren Politik eben mindestens um 300 Jahre zurück.“1246 Hier wird – wie auch bei Georg Mayer – deutlich, daß zwar die Massaker an den Armeniern wahrgenommen wurden, sie aber nicht in wesentlichem Maße negativ auf die Meinung der Deutschen über den Verbündeten wirken. Wolffskeel muß schon vor Dienstantritt in der Türkei keine allzu hohe Meinung von seinem neuen Einsatzgebiet gehabt haben, denn er lehnte eine Versetzung in den Orient entschieden ab, fügte sich aber schließlich der dienstlichen Entscheidung, zumal Liman persönlich ihm zusicherte, daß Wolffskeels „Vertrag“ mit der Militärmission nur solange festgelegt sei, wie der Krieg es erfordere.1247 Die Kämpfe gegen die „armenischen Aufständischen“ fielen für ihn allerdings in den Bereich der „Dienstpflichten“ und so hatte er offenbar keine Bedenken, im Hinterland „für Ordnung zu sorgen“, auch wenn ihm der innenpolitische Konflikt, „widerwärtig“ war. Die Vorgänge passten anscheinend nicht in sein durch militärische Sozialisation und offizielle Politikferne geprägtes Kriegsverständnis, auch wenn seine Dienstauffassung ihm nicht erlaubte, Befehle zu verweigern. Dieses Verhalten hat Wolffskeel zum Ziel zahlreicher, harscher Kritik gemacht und er wird kurzerhand oft als bestes Beispiel für die „deutsche Mittäterschaft“ am Völkermord angeführt.1248 Es ist allerdings nicht Aufgabe dieser Arbeit, darüber zu urteilen, zumal die Forschungsdiskussion angesichts spärlicher Quellen zur Haltung deutscher Militärs noch lange nicht abgeschlossen zu sein scheint.1249 Anderen Deutschen läßt sich sogar ein (zumindest temporäres) Engagement für den Schutz der Verfolgten nachweisen. So sollen etwa Liman von Sanders und Freiherr 1246 Brief Eberhard Graf Wolffskeels an seinen Vater aus Damaskus vom 15.9.1915, BAMA Freiburg, N 138/32. 1247 Brief Liman von Sanders´ an Eberhard Graf von Wolffskeel vom 6.7.1915, BAMA Freiburg N 138/36. 1248 Als Beispiel hierfür: Kaiser, Hilmar (Bearb.): Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg – Zeitoun, Mousa Dagh, Ourfa. Letters on the Armenian genocide, Princeton [u.a.] 2004. Auch Wolfgang Gust und in der Einleitung zu seinem Buch der Direktor des Zoryan-Instituts für GenozidStudien in Toronto, Vahakn Dadrian, kommen zu ähnlichen Ansichten. Dadrian, Vahakn: Einleitung, in: Gust, Der Völkermord 2005, S. 13. Gust, Der Völkermord 2005, S. 89. 1249 Hilmar Kaiser verweist darauf, daß die schwierige Quellenlage „eine abschließende Bewertung der Rolle deutscher Soldaten vorerst nicht möglich“ macht. Kaiser, Hilmar: Die deutsche Diplomatie und der armenische Völkermord, in: Adanır, Fikret/Bonwetsch, Bernd (Hrsg.): Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus – Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 205. 328 von der Goltz Deportationen in ihrem unmittelbaren Befehlsbereich unterbunden haben.1250 Es überrascht auch kaum, daß viele Deutsche nach dem Krieg in ihren Aufzeichnungen mit der Verurteilung der Verbrechen an der armenischen Zivilbevölkerung nicht sparten. Erich Serno zeigt zwar gewisses Verständnis für die Furcht der osmanischen Behörden vor einem umfassenden armenischen Aufstand, kritisiert aber klar die unmenschliche Durchführung der „Umsiedlungen“.1251 Kreß von Kressenstein bezeichnete das türkische Vorgehen als „grausig, unbegreiflich und empörend“1252 und der Flugzeugführer Richard Euringer beschreibt, wie er auf der Bahnfahrt von den Gerüchten über die Vertreibungen erfahren habe: „Aber Mord! Massenmord an wehrlosen Völkerschaften!? Nein, wir wollten es nicht glauben.“1253 Und wie zum Beweis der „Ungläubigkeit“ geht Euringer schnell wieder zu Reise- und Landschaftsbeschreibungen über.1254 Demnach ist es unstrittig, daß deutsche Soldaten und Offiziere im Orient von dem brutalen Vorgehen gegen die Armenier erfuhren und manche sogar Augenzeugen wurden, denn die Massaker beschränkten sich nicht nur auf die entlegenen Kaukasusregionen. Die Ereignisse waren aus deutscher Sicht „unvorstellbar“ oder aber – im Falle von Augenzeugen – „grausames Morden“. Doch neben den Schrecken der blutigen Verfolgungen mußten die Deutschen auch ihre begrenzten Einflußmöglichkeiten auf das Geschehen erkennen. Die „Umsiedlungsmaßnahmen“ wurden zum größten Teil von Jandarma-Truppen durchgeführt, die als paramilitärische Polizeitruppen bekanntlich dem osmanischen Innenministerium unterstanden. Damit waren sie dem Einflußbereich des Kriegsministeriums und der Militärmission offiziell entzogen. Das bedeutete aber nicht, daß ein deutscher 1250 Gencer, Mustafa: Die Armenische Frage im Kontext der deutsch-osmanischen Beziehungen (18781915), in: Adanır, Fikret/Bonwetsch, Bernd (Hrsg.): Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus – Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 198. (Im Folgenden: Gencer, Die Armenische Frage 2005.) Bemerkenswerterweise wird Goltz von armenischer Seite aber zugleich als „Mitbegründer“ der Idee ethnischer Säuberung der Türkei bezeichnet. Dadrian, Vahakn: Einleitung, in: Gust, Der Völkermord 2005, S. 11. 1251 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 103f. 1252 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 138. 1253 Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 97. 1254 Euringer berichtet zwar noch von Alpträumen, die er und seine Kameraden in der folgenden Nacht gehabt hätten, doch bleibende Auswirkungen auf Verhalten und Einstellung der Deutschen sind nicht erkennbar. 329 Kommandeur oder Generalstabschef einer osmanischen Armee auf solche Vorgänge in seinem Befehlsbereich nicht hätte reagieren können. Liman von Sanders etwa verhinderte im Herbst 1916 durch scharfen Protest und Androhung von Waffengewalt gegen die durchführenden Polizisten Vetreibungen in Smyrna.1255 Der deutsche Missionschef besaß jedoch aufgrund seiner Funktion und der Tatsache, daß er der türkischen Führung als „schwierige Persönlichkeit“ galt, eine Ausnahmestellung. Freiherrn von der Goltz etwa, der in Mosul eine ähnliche Aktion durch Androhung seines Rücktritts verhindern konnte, wurde vom osmanischen Kriegsministerium sehr deutlich gemacht, daß er damit seine Kompetenzen überschritten habe und ein Wiederholung solcher Einmischung nicht geduldet werden würde.1256 Die Hohe Pforte verwahrte sich deutlich gegen die Versuche der verbündeten Offiziere, Einfluß auf „innertürkische Angelegenheiten“ zu nehmen, sondern erwartete, daß diese sich auf ihren dienstlichen Auftrag beschränkten. Der deutsche Kriegsherr hatte seinen Soldaten zwar genau diese Weisung mit auf den Weg gegeben, doch war damit kaum die Billigung oder gar Unterstützung von Massakern an der Zivilbevölkerung impliziert. Für die deutschen Offiziere hätte ein Widerspruch gegen die offiziell sanktionierten Maßnahmen demnach einen Verstoß gegen den Auftrag des Kaisers bedeutet, der allerdings innerhalb ihres Ermessensspielraumes gelegen haben dürfte. Effektives Einschreiten hätte jedoch einer wesentlich stärkeren Machtposition deutscher Militärreformer im Osmanischen Reich bedurft. Die erfolgreichen Interventionen herausragender Persönlichkeiten wie Liman und Goltz sind Ausnahmen, die einen Einfluß dokumentieren, den nur sehr wenige deutsche Offiziere besaßen. Zudem waren die deutschen Kommandeure und Stabsoffiziere in den betreffenden Regionen zumeist so verstreut eingesetzt, daß sie stets aus Eigeninitiative hätten handeln müssen, also ohne Billigung ihrer Vorgesetzten. Liman von Sanders, als ranghöchster Deutscher und Vorgesetzter der Offiziere der Militärmission, beschränkte sich jedoch auf das Eingreifen in Smyrna und befahl nicht etwa, solche Zwangsmaßnahmen generell zu unterbinden. Ihm muß bewußt gewesen sein, daß die Angehörigen der Mission selbst als Divisionskommandeure gar 1255 Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 195f. Wallach bezeichnet den kaum selbstverständlichen Erfolg Limans zu Unrecht als „unbedeutende Einmischung“. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 207. 1256 Gencer, Die Armenische Frage 2005, S. 198. 330 nicht über die Mittel verfügten, Vetreibungen zu verhindern. Zu groß war der Personalmangel an den Fronten und zu anspruchsvoll schon jetzt der militärische Auftrag, der mit unzureichenden Mitteln bewältigt werden sollte. Ganz zu schweigen davon, daß die osmanischen Armeechefs und Oberbefehlshaber kaum den Abzug wertvoller Truppen gestattet hätten, um Einheiten des Innenministeriums zu „bekämpfen“. Der ernsthafte Versuch deutscherseits, seiner moralischen Verpflichtung nachzukommen und die Vertreibungen zu unterbinden, hätte das deutsch-türkische Bündnis ernsthaft gefährden können. Unter militärischen Gesichtspunkten konnte sich Deutschland einen solchen Rückschlag keineswegs leisten, besonders nach dem Beitritt Italiens und Rumäniens zur Entente. Die deutschen Soldaten im Osmanischen Reich befanden sich demnach in einer äußerst schwierigen Situation, die nur wenige Handlungsoptionen, dafür aber mannigfaltigen politische Implikationen bot. Angesichts eines Dilemmas, das zahlreiche Offiziere überfordert haben dürfte, stellte sich seitens der Militärberater häufig Resignation ein. Daher nahmen viele – darunter auch der oben genannte Graf von Wolfskeel – die Maßnahmen der türkischen Regierung als „Kriegsübel“ hin, auch wenn ihnen der verbrecherische Charakter vor Augen trat. Oberst Gerold von Gleich schreibt als Augenzeuge der Verschleppung der armenischen Zivilbevölkerung über die Situation deutscher Offiziere: „Unser deutsches Gefühl empörte sich über solche Grausamkeit. Auch wenn die Armenier wirklich die Gauner und Betrüger gewesen wären, als welche sie von unserer türkenfreundlichen Propaganda hingestellt wurden, waren solche Niederträchtigkeiten unerhört. [...] Wir Offiziere waren natürlich machtlos gegen die türkischen Zivilbehörden, die überdies versicherten, sie würden die von der Regierung befohlenen Maßnahmen so milde wie möglich ausführen. Für uns war es schon schwierig genug, auf rein militärischem Gebiet einigermaßen Einfluß gegen den passiven Widerstand zu gewinnen, in dem der Orientale Meister ist. Auch wird jedes noch halbwegs selbständige Staatswesen Einmischungen Fremder in innerpolitische Angelegenheiten unbedingt verhindern.“1257 1257 Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 91f. 331 Aus dieser Äußerung spricht das Gefühl der Machtlosigkeit gegen einen fremden Staatsapparat, in dem – anders als in einem besetzten Gebiet – nicht die Zivilverwaltung und die Polizei den militärischen Interessen nachgeordnet waren und mit dem man auf Zusammenarbeit angewiesen war.1258 Die Deutschen reagierten auf diese beklemmende Situation offenbar mit Resignation oder Verdrängung der schrecklichen Geschehnisse, zumindest solange der Krieg die Zusammenarbeit erforderte. Zum ohnehin meist negativen Bild vom osmanischen Verbündeten scheint das Vorgehen nur einen weiteren Aspekt hinzugefügt zu haben. Dies erklärt auch die fehlenden Hinweise auf eine Verschlechterung der Kooperation, obwohl viele spätere Veröffentlichungen von „Orientkämpfern“ zeigen, wie sehr sie die Vorgänge als verabscheuungswürdig erachteten. 1258 Trotz des hohen gesellschaftlichen Einflusses des osmanischen Militärs blieben auch deutsche Träger der osmanischen Uniform „Fremde“ im Land. Die strikte Ablehnung deutscher Einmischung durch die türkische Regierung wird auch deutlich an der Abberufung des deutschen Botschafters, der an der Hohen Pforte durch ständige Proteste in Ungnade gefallen war. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 175f. 332 V. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Fehlverhalten und Leistungen der Deutschen im Orient Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt worden ist, welche Eindrücke die Deutschen von ihrem osmanischen Bündnispartner gewannen und mit welchem Unverständnis sie den fremden Kulturen und den Eigenarten „des Orients“ gegenüber standen, erscheint es geboten, ergänzend und detaillierter die deutschen Verhaltensweisen zu untersuchen. Die Bemerkungen über die Vorbildung, Ausbildung oder Motivation der deutschen Offiziere – und diese zeichnen nun einmal für den weitaus größten Teil der Quellen verantwortlich – sollen hier nicht wiederholt werden. Ebenso kann an dieser Stelle keine Charakterisierung „des deutschen Soldaten“ geliefert werden, da vor dem Hintergrund der Wehrpflicht im Deutschen Reich und der Anzahl der Mannschaften solche Ausführungen kaum zuverlässige Angaben erbringen würden. Selbstverständlich ist dies eine Selbstbeschränkung, die sich die deutschen Militärangehörigen gegenüber „dem türkischen Soldaten“ nicht auferlegten. Es wäre jedoch verfehlt, an dieser Stelle ein „gegeneinander Aufrechnen“ von Fehlern zu versuchen. Vielmehr soll dargestellt werden, daß auch die deutsche Seite durchaus Schwierigkeiten hatte, ihrem Selbstbild zu entsprechen. V.1. „Abgesondert von aller Zivilisation“ – Deutsche Mannschaften und Unteroffiziere Zu Anfang des Ersten Weltkrieges war die Anzahl der deutschen Mannschaftsdienstgrade, die im Dienste des Sultans standen, noch leicht „überschaubar“. Obwohl keine genauen Zahlenangaben für die Heeressoldaten vorliegen, kann aus der Funktion der Militärmission gefolgert werden, daß die deutschen Bundesstaaten hauptsächlich Offiziere für die Reformaufgaben an den Bosporus entsandten. Die weitaus meisten „einfachen Soldaten“ oder Unteroffiziere befanden sich auf den beiden deutschen Schiffen „Goeben“ und „Breslau“, die offiziell Teil der türkischen Marine waren. Hinzu kamen noch einige Schreiber und Etappenangehörige, die für den Bürodienst und die Versorgungsaufgaben innerhalb der Militärmission zuständig waren. Die Mitnahme von Burschen war den deutschen 333 Offizieren der Mission untersagt.1259 Das hinderte die Offiziere allerdings nicht daran, sie dennoch mitzunehmen und zum Teil sogar getarnt als angeblich „wichtige Mechaniker“ regelrecht in die Türkei zu schmuggeln.1260 Die Menge der Mannschaften und Unteroffiziere stieg ab dem Jahre 1916 merklich an, da nun auch deutsche Fliegerabteilungen in den Orient verlegt wurden, die zahlreiche Mechaniker mitführten, und da eine steigende Anzahl deutschen Militärpersonals zugleich mehr logistischen Aufwand bedeutete, waren auch mehr Soldaten in der Etappe eingesetzt. Bis zum August 1916 sollen etwa 5.900 Soldaten in den Orient verlegt worden sein. Den Höhepunkt erreichte die deutsche Truppenpräsenz im Jahre 1918, als neben den Fliegerabteilungen, den Marinesoldaten und dem stetig wachsenden Etappenbereich die Formationen der Heeresgruppe F und die Einheiten im Kaukasus an den Fronten des Osmanischen Reiches erschienen. Im letzten Kriegsjahr betrug die Stärke der hier eingesetzten Deutschen zwischen 20.000 und 25.000 Mann, wobei Offiziere und Militärbeamte eingerechnet sind.1261 Angesichts des steigenden Personaleinsatzes, vermag es kaum zu überraschen, daß auch die Zahl von Fehltritten im Orient unerfahrener Soldaten zunahm. Das Verhalten der deutschen Soldaten erlaubt dabei Rückschlüsse auf deren Einstellung zum Dienst im Orient sowie zum osmanischen Verbündeten. Um Regelverstöße und Abweichungen von dienstlichen Vorgaben einschätzen zu können, müssen die Garnisonsbefehle aus Konstantinopel und die Tagesbefehle der osmanischen Marine analysiert werden. Ebenso sind für die späteren Kriegsjahre die wenigen erhaltenen Tagesbefehle der Heeresgruppe F und der „Yildirim“-Formationen sowie der 6. osmanischen Armee in Mesopotamien heranzuziehen. Hierbei ist zu beachten, daß Vergehen schon eine größere Bedeutung beigemessen werden mußte, damit diese Eingang in die Garnisonsbefehle fanden und somit auch (teil-)öffentlich gemacht wurden. Diese Bekanntmachungen lassen erkennen, daß deutsche Soldaten sich Fehlverhaltens in verschiedenen Bereichen schuldig machten. Zuerst zu nennen wäre der Bereich, der die Disziplin innerhalb der deutschen Streitkräfte abdeckte. An 1259 Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 19. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 22. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 40. 1261 Vergleiche: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 233 und Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 253. 1260 334 mehreren Stellen werden etwa die Fälschung von Urlaubsscheinen,1262 unerlaubtes Entfernen von der Truppe1263 oder nachlässiges Verhalten gegenüber vorgesetzten Offizieren erwähnt.1264 Ein nicht unwesentliches Problem der (Selbst-)Disziplin führte zu besonders scharfen Sanktionen gegen die Truppe: Die rasante Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Bereits seit dem Frühjahr 1915 finden sich ständig Hinweise zur Vorbeugung gegen eine Ansteckung in den Befehlen, wobei eine besonders wichtige Form der „Prophylaxe“ das Verbot näheren Kontakts mit Frauen – insbesondere jenen „mit leichtem Umgang“1265 – auf dem orientalischen Kriegsschauplatz sein sollte.1266 Außerdem hatten sich deutsche Soldaten nach jedem Geschlechtsverkehr unverzüglich einer truppenärztlichen Behandlung zu unterziehen. Die Unterlassung war ebenso strafbar wie die „geheime“ Behandlung durch türkische Zivil-Ärzte.1267 In Konstantinopel wurde der Besuch bestimmter Lokale untersagt. Zudem setzte man Zivilstreifen ein, die die Einhaltung der Verbote überprüfen sollten.1268 Doch die Maßnahmen der Kommandobehörden zeigten nur sehr begrenzte Wirkung; als zudem im Rahmen des Unternehmens „Yildirim“ die ersten größeren deutschen Formationen auf dem Kriegsschauplatz eintrafen, nahm die Zahl der Erkrankungen noch einmal stark zu. Liman von Sanders beklagt in einem vertraulichen Bericht vom Mai 1918, daß insgesamt 572 Mann erkrankt seien.1269 Daher griffen deutsche Befehlshaber zu drakonischen Strafmaßen, um die Dienstfähigkeit der Soldaten zu erhalten. Der Generalstabschef der osmanischen 6. Armee, Oberstleutnant Paraquin, ordnete in einem Tagesbefehl an: 1262 Tagesbefehl Nr. 155 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel [1916], KA München, HS 2255. 1263 Flotten-Tages-Befehl Nr. 82, Konstantinopel 21.6.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 111. 1264 Anlage zum Flotten-Tages-Befehl Nr. 93, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 125. Tagesbefehl der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 12.6.1916, KA München, HS 2255. 1265 Garnisonsbefehl Nr. 13, Konstantinopel 14.11.16, KA München, HS 2254. 1266 Flotten-Tages-Befehl Nr. 37, Konstantinopel 29.3.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 52. Flotten-Tages-Befehl Nr. 165, Konstantinopel 18.11.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 209. Tagesbefehl Nr.25 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 9.8.1917, KA München HS 2255. 1267 Allgemeine Garnisonbestimmungen für Konstantinopel, Punkt II.6., KA München HS 2254. 1268 Flotten-Tages-Befehl Nr. 19, Konstantinopel 13.2.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 30. Allgemeine Garnisonbestimmungen für Konstantinopel, Punkt II.9., KA München HS 2254. 1269 Tagesbefehl Nr.13021 des deutschen Anteils „Jildirim“ (Vertraulich!) vom 27.5.1918, BAMA Freiburg, RM 40/ 632, Blatt 12. 335 „Es ist allen Unteroffizieren und Mannschaften durch Offiziere bekannt zu geben, dass Leute, die geschlechtkrank geworden sind, ein Jahr keinen Urlaub zu erwarten haben.“1270 Die Militärmission gab sogar den Befehl aus, daß Erkrankten der Genesungsurlaub gestrichen und Genesenen nur nachrangig Urlaub genehmigt werden solle. Außerdem wurden Truppenteile mit besonders hohem Geschlechtskrankenstand bei Auszeichnungen „weniger berücksichtigt“; Liman von Sanders drohte den Formationen in Syrien und Palästina gar mit einem vollständigen Auszeichnungsstop und „Zusatzbeschäftigung“ gegen die offenkundige Langeweile.1271 Das Problem war demnach gravierend für die deutschen Truppen im Orient. Das Bedürfnis des Soldaten nach „Ablenkung“ ließ sich offenbar nicht durch vereinzelte Soldatenheime befriedigen und anders als an der Westfront hatten die Deutschen nicht die Möglichkeit, vom Militär kontrollierte Bordelle einzurichten.1272 Solche „Etablissments“ drohten zudem das Ansehen Deutschlands im Ausland zu beschädigen, was die Verantwortlichen – zumindest offiziell – unbedingt zu verhindern suchten. Hauptmann von Aulock, der Kommandeur der osmanischen Flieger-Abteilung 2 in Mesopotamien, forderte daher generell „Mannschaften von guter Führung und gutem Benehmen und Aussehen, wegen des Ansehens bei der Bevölkerung“.1273 Aus eben diesem Grunde untersagte Liman von Sanders auch den massenhaften Ankauf von „Andenken“ auf den Basaren, denn während des ortsüblichen „Feilschens“ sei es „mehrfach zu unangenehmen Zwischenfällen gekommen, die das 1270 Tagesbefehl Nr. 20 für den deutschen Anteil der türkischen 6. Armee vom 10.6.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 105. 1271 Tagesbefehl Nr. 56 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 24.7.1918, KA München, HS 2255. Tagesbefehl Nr.13021 des deutschen Anteils „Jildirim“ (Vertraulich!) vom 27.5.1918, BAMA Freiburg, RM 40/ 632, Blatt 12. 1272 Nach 1915 wurde offenbar auch an der Westfront die Gefahr der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten so groß, daß dort von der Militärverwaltung Bordelle eingerichtet wurden, in denen sowohl die Frauen als auch die Soldaten ständiger medizinischer Kontrolle unterlagen. Dennoch blieb „Gelegenheitsprostitution“ ein weiterer Bestandteil des „Lebens hinter der Front“. Siehe zu diesem Themenfeld: Fasse, Alexander: Neben den Kampfhandlungen – Der Alltag deutscher Soldaten an der Westfront 1914-18. Ruhe-, Ausbildungs- und Erholungsphasen [unveröffentlichte Magisterarbeit], Münster 2002, S. 74-78. 1273 Technische Notizen für Ausrüstung und Transport von Fl.Abt. in Mesopotamien (Geheim!) vom 5.8.1917, KA München, Flieger und Luftschiffer 52. 336 deutsche Ansehen geschädigt haben“.1274 Mit solchen „Zwischenfällen“ konnten nur Handgreiflichkeiten zwischen deutschen Soldaten und dem jeweiligen Händler gemeint gewesen sein. Dies wird deutlich, wenn man einen weiteren – zeitlich allerdings späteren – Tagesbefehl der Militärmission einbezieht: „In letzter Zeit ist es in zahlreichen Fällen vorgekommen, dass deutsche Heeresangehörige, insbesondere Unteroffiziere, die Befehle der türkischen Posten und Polizei-Beamten außer Acht ließen, dieselben zur Seite schoben, ja sogar tätlich angegriffen haben, was dann wiederholt zu Schlägereien und ernstlichen Unannehmlichkeiten geführt hat. Ich sehe mich veranlaßt, erneut darauf hinzuweisen, daß den Anordnungen der türkischen Posten und Sicherheitsorgane unbedingt Folge zu leisten ist, und daß Beleidigungen und Tätlichkeiten unter allen Umständen zu vermeiden sind. Entsprechende Zuwiderhandlungen werde ich ohne Ansehung des Dienstgrades unnachsichtlich auf das Strengste bestrafen.“1275 Das Verhältnis zwischen deutschen Mannschaften und Unteroffizieren und dem türkischen Verbündeten barg demnach ein beachtliches Konfliktpotential und bildete einen weiteren Gegenstand, der in den Tagesbefehlen angemahnt werden mußte. Es wäre vermutlich auch sehr optimistisch gewesen, ein völlig reibungsfreies Verhältnis zu erwarten. Das Zitat enthält noch einen weiteren Hinweis, der erstaunlich ist, denn den türkischen Posten wird eine „Befehlsbefugnis“ zugesprochen. Für die Soldaten der Militärmission, die zugleich Angehörige der osmanischen Streitkräfte waren, war diese Formulierung zutreffend. Die erwähnten deutschen Heeresangehörigen unterlagen hingegen der eigenen Befehlsstruktur. Die Unsicherheit, wie man sich gegenüber den Exekutivorganen eines souveränen Verbündeten zu verhalten habe, konnte offenbar selbst von der Militärmission bis kurz vor Kriegsende nicht ausgeräumt werden. Den deutschen Mannschaften mußten die von türkischen Ordnungskräften duchgesetzten Sitten, Gebräuche und Verhaltensregeln des Orients ebenso fremd sein wie den meisten ihrer vorgesetzten Offiziere. Mißverständnisse und Reibungen standen daher zu erwarten. Allerdings läßt die so ernstlich monierte 1274 Befehl Nr. 10698 M.16 des Armee-Oberkommandos der 5. türkischen Armee 20.6.1916, KA München, HS 2255. 1275 Tagesbefehl Nr. 61 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 9.9.1918, KA München, HS 2255. 337 Gewalttätigkeit doch aufhorchen. Daß es im Zuge einer angeheizten Debatte oder unter Einfluß von Alkohol zu „Raufereien“ mit der Zivilbevölkerung gekommen war, vermag kaum zu überraschen, denn auch an den europäischen Fronten war das Verhältnis zur Bevölkerung nicht durchweg ungetrübt.1276 Außerdem betrachteten die deutschen Soldaten die Zivilbevölkerung besonders der abgelegenen Teile des Osmanischen Reiches zum Teil als „Halbwilde“, wie Unteroffizier Fritz Meyer in einem Brief schrieb.1277 Der Unterschied war jedoch, daß es sich in der Türkei um das Verhältnis zu einer verbündeten Macht handelte und nicht etwa um besetztes Gebiet. Prügeleien unter einfachen Soldaten mögen wenig überraschen, doch Gewalt gegen militärische Posten oder türkische Polizei deutet schon auf tieferliegende Ressentiments gegen die osmanische Staatsmacht und Selbstüberschätzung der eigenen Position seitens der deutschen Mannschaften hin. Allerdings geben die Quellen nur sehr begrenzte Auskünfte über dieses Problemfeld auf den „unteren militärischen Ebenen“. Immerhin findet sich ein sehr eindrückliches Beispiel in der Regimentsgeschichte des I.R. 146, das Bestandteil der Heeresgruppe F in Palästina war. Der Musketier Wischnewski berichtet dort über seine Gefangennahme im Oktober 1918 und seine Zeit in Gefangenschaft. Nachdem er und einige Kameraden längere Zeit von arabischen Bewaffneten gefangengehalten und mißhandelt worden waren, mußten sie sich einem Gefangenentransport aus etwa 2.000 Türken und 300 Deutschen anschließen, die in ein britisches Lager überführt wurden. Durch die vorherigen Haftbedingungen hatten Wischnewski und seine Kameraden jedoch sämtliche deutschen Unformteile verschlissen und sich mit türkischen Uniformstücken behelfen müssen: „Als wir dort [im Gefangenlager] angekommen waren, gingen wir drei Mann zu den deutschen Kameraden, die jedoch auf uns schimpften, was wir bei ihnen suchten, da wir bis zur Unkenntlichkeit abgemagert und in der zerrissenen Türkenkleidung 1276 Siehe hierzu einführend zur Westfront: Becker, Annette: Deutsche Besatzungsherrschaft in Nordfrankreich, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina (Hrsg.): Die Deutschen an der Somme 1914-1918 – Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde, Essen 2006. Zilch, Reinhold: Okkupation und Währung im Ersten Weltkrieg – Die deutsche Bestatzungspolitik in Belgien und Russisch-Polen 1914-1918, Goldbach 1994, hier besonders S. 97-241. Zur Ostfront siehe: Strazhas, Abba: Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg – Der Fall Ober Ost 1915-1917, Wiesbaden 1993. Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten – Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002. 1277 Brief von Fritz Meyer an Herrn Telemann vom 19.9.1917, BAMA Freiburg, MSg 2/ 2152. 338 waren. Wir erwiderten aber, daß wir ebenso Deutsche seien wie sie, und als wir ihnen unsere Erlebnisse erzählten, beruhigten sie sich.“1278 Nach der Verlegung in ein weiteres Lager in Ägypten kam es dann auch zu Ausschreitungen zwischen den ehemaligen Bundesgenossen: „Eines Abends kam es zu einer Schlägerei zwischen uns und den Türken, wobei Holzhammer und Knüppel eine Rolle spielten. Erst machten die Deutschen einen Angriff und gingen auf die türkischen Zelte vor, dann wieder die Türken und es wurde sehr laut. [...] Nun wurde es kein friedliches Zusammenleben mit den Türken mehr [...]. Um Streit zu vermeiden, zogen die Engländer einen hohen Stacheldrahtzaun durchs Lager und so waren wir von den Türken getrennt.“1279 Die Spannungen, die sich hier gewaltsam „entluden“, können lediglich einen „Ventilcharakter“ für die aufgestauten Emotionen der Deutschen in Gefangenschaft gehabt haben. Doch bei späteren „Raufereien“ mit britischen Soldaten, die immerhin vor kurzem noch „der Feind“ waren, ging es keineswegs so brutal zu. Man schlug eben nicht mit – wenngleich primitiven – Waffen aufeinander ein.1280 Gegenüber den türkischen Mitgefangenen legten die Deutschen keine solche „Zurückhaltung“ an den Tag. Die Beschreibung der Ankunft Wischnewskis läßt zudem erkennen, welchen Wert die internierten „Orientkämpfer“ auf eine strikte Abgrenzung von den gefangenen Osmanen legten. Damit folgten die Soldaten auch Empfehlungen der deutschen Führung, wie aus einem geheimen Schreiben mit Transportanweisungen für die Fliegertruppe hervorgeht: „Bekleidung: Offiziere möglichst deutsche Uniform, jedenfalls Fliegen nur mit deutschen Hoheitsabzeichen [...] sonst bei Gefangennahme Behandlung wie Türke.“1281 Nicht allein deutsche Vorurteile spielten demnach eine Rolle, sondern man erwartete ähnliche Ressentiments auch bei den europäischen Kriegsgegnern. Das Osmanische Reich – der eigene Verbündete – wurde damit außerhalb des Kreises der „zivilisierten Nationen Europas“ gesehen. Sonderführer Ernst-Adolf Mueller gehörte zwar nicht zu 1278 Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 309. Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 310f. 1280 Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 311. 1281 Technische Notizen für Ausrüstung und Transport von Fl.Abt. in Mesopotamien (Geheim!) vom 5.8.1917, KA München, Flieger und Luftschiffer 52. 1279 339 den Mannschaftsdienstgraden, schilderte die Stimmung in einem britischen Gefangenenlager allerdings so eindrücklich, daß seine Memoiren hier angeführt werden müssen: „Und – das war das Wichtigste! – wir paar Deutschen in Tel el kebir waren „Weiße“, wie der Engländer, gegenüber 35 000 farbigen Orientalen. Gefühlsmäßig gehörten wird doch zum Engländer“1282 Ob diese Ansicht repräsentativ für die deutschen Mannschaften war, läßt sich nicht verifizieren. In Kombination mit der Angst vor Ansteckung mit Krankheiten oder der geringen Meinung von der Kampfkraft der türkischen Armee, der man dadurch leicht eine Mitschuld am verlorenen Krieg geben konnte, ergäbe sich aber durchaus eine „explosive“ Mischung verschiedener Vorurteile und eigenen Überlegenheitsgefühls, die zu Massenschlägereien unter ehemaligen Verbündeten führen könnte. Höchstwahrscheinlich war diese negative Haltung gegen das Osmanische Reich schon vorher unterschwellig vorhanden und führte so zu Reibungen mit den Repräsentanten dieses Staates. Sicher fassen lassen sich die Beweggründe aber anhand des vorliegenden Materials nicht. Ein drittes und ebenfalls besonders schwerwiegendes Problem bilden die Straftatbestände, die normalerweise zu einem Militärgerichtsprozeß hätten führen müssen. Hier sei zunächst das Beispiel der Desertion erwähnt. Diese wurde oft als „Grundübel“ der türkischen Armee bezeichnet, traf aber gleichermaßen auf deutsche Soldaten zu, auch wenn es dort nicht solche Ausmaße annahm wie bei den verbündeten Truppen. Dafür deuten einige Berichte aber durchaus auf „bizarre“ Formen hin. So gab sich der fahnenflüchtige Kraftfahr-Soldat Josef Winkler offenbar als Flieger-Unteroffizier oder Feldwebel aus, um sich unter dieser Tarnung weiterhin im Osmanischen Reich kriminell betätigen zu können. Die Personenbeschreibung erwähnt sogar, daß der Flüchtige sich zahlreiche deutsche und türkische Orden beschaffte, um nicht aufzufallen.1283 Die osmanischen Fliegertruppen waren offenbar eine geeignete Tarnung für Deserteure, da die neue Waffengattung noch im Aufbau 1282 Ernst-Adolf Mueller „Der Erste Weltkrieg – Erinnerungen an meine Tätigkeit bei der Militärmission Türkei 1915/1919“ [vermutl. von 1975], KA München, HS 2884/1, S. 84a. (Im Folgenden: HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“.) 1283 Flotten-Tages-Befehl Nr. 178, Konstantinopel 9.12.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 227. 340 begriffen war und in der unübersichtlichen Kriegssituation ein Untertauchen einfach erschien. Außerdem genossen die Flieger in der Türkei ein recht hohes Ansehen, was einem Fahnenflüchtigen das Leben zusätzlich erleichtern konnte.1284 Major Serno, als Chef der Luftstreitkräfte, berichtet von dem Fall „Bommers“. Hier war ein deutscher Sanitätsfeldwebel namens Bommers mit der Kompaniekasse von der Westfront geflohen und hatte sich in das Osmanische Reich abgesetzt. Dort gab er sich als Leutnant Dr. von Bommers aus, der als Angehöriger eines Vortrupps der Flieger unterwegs sei. Als der vermeintliche Leutnant mehrere hohe „SpesenRechnungen“ an die Deutsche Botschaft schickte, stellte Serno Nachforschungen an, da ihm kein solcher Leutnant bekannt war. Wie sich herausstellte, lag Bommers geschlechtskrank in einem Lazarett. Mittlerweile war er von der Militärmission „vertragsgemäß“ zum Oberleutnant befördert worden, da diese den Schwindel nicht erkannt hatte. Major Serno ließ den Fahnenflüchtigen verhaften und auf einem deutschen Schiff internieren. Nun zeigte sich aber sogleich ein Fehlverhalten von Seiten der deutschen Stellen, das im Verlauf des Krieges mehrfach wiederholt werden wird: Bommers wurde nicht etwa vor Ort der Prozeß gemacht, sondern der Vorfall wurde vertuscht. Um die Ereignisse vor dem türkischen Bundesgenossen zu verbergen, sollte der kranke „Oberleutnant“ mit einem Lazarettzug über den Balkan nach Deutschland gebracht werden. Doch er entkam auf dem Weg dorthin und wurde von da ab nicht nur als Fahnenflüchtiger, sondern auch als Spion gesucht. Als solchen nahm man ihn später in Bulgarien fest und richtete ihn in Sofia hin.1285 Derart spektakuläre Fälle von Desertion bildeten jedoch die Ausnahme und ein besonders schwerwiegendes, mit den Verhältnissen hinter der Front des türkischen Bundesgenossen vergleichbares Problem läßt sich für die Deutschen im Orient nicht nachweisen. Allerdings waren schon die wenigen Fälle von Fahnenflucht ausreichend, um bei den deutschen Kommandostellen in Konstantinopel eine Art „Vertuschungsreflex“ auszulösen. Auf keinen Fall sollte der „rückständige“ osmanische Bündnispartner den Eindruck bekommen, daß auch Deutsche Fehler machten. Der Nimbus der Überlegenheit des deutschen Militärs mußte gewahrt bleiben und die Feststellung, daß sich auch deutsche Soldaten ähnlicher Vergehen 1284 1285 Siehe hierzu auch Kapitel III.2.e) und IV.4.b) MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 38f. 341 schuldig machten, wie man sie beim türkischen Soldaten kritisiert hatte, erfüllte die Verantwortlichen mit Sorge. Diese Befürchtung deutschen Ansehensverlustes wird noch an einem weiteren Beispiel deutlich. Ein häufig beobachteter und scharf kritisierter Mißstand in den osmanischen Streitkräften war für die deutschen Beobachter der Verkauf von Heeresmaterial an die Zivilbevölkerung. Aus deutscher Sicht war es bereits schlimm genug, daß die türkische Intendantur in Konstantinopel den aus Deutschland gelieferten Zucker für die Armee öffentlich feilbot oder gleich ganze Eisenbahnwaggons, die dringend für den Nachschub an den Fronten gebraucht wurden, an zivile Händler vermietete, damit dem militärischen Güterverkehr entzog.1286 Als geradezu unglaublich wurde jedoch der Handel mit persönlicher Ausrüstung oder gar Waffen und Munition empfunden. Besonders in Mesopotamien, das in den letzten Kriegsjahren von schweren Hungersnöten heimgesucht wurde, mußten deutsche Offiziere feststellen, daß die türkischen Soldaten ihre Waffen an die arabische Bevölkerung verkauften.1287 Da die arabische Bevölkerung, wie oben erwähnt, zunehmend als „feindlich“ angesehen wurde, schätzten die deutschen Offiziere diesen Handel als sehr gefährlich ein. Wie so oft konnten die Deutschen aber für den türkischen „Asker“ auch „mildernden Umstände“ geltend machen, denn auch der Soldat litt unter der Hungersnot in den südlichen Provinzen, da er keinen Sold bekam, um sich verpflegen zu können, und seine türkischen Vorgesetzten die Verpflegungsrationen oftmals unterschlugen: „Diesen Umstand [Lebensmittelknappheit] machten sich zahlreiche türkische Offiziere und Beamte zu Nutze, um die für die Truppe bestimmten Lebensmittel auf eigene Rechnung zu verkaufen [...]. Andere Offiziere stellten [...] falsche Quittungen 1286 Aufzeichnungen von Kurt Böcking, BAMA Freiburg, N 438/ 5, o. Seitenzahl. Erich Serno berichtet auch von einem Sanitätsoffizier, der seine medizinischen Instrumente verkaufte. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 55. 1287 Bericht des Majors Hartmann an den Chef des Stabes der Militärmission in Konstantinopel vom 20.5.1918, KA München, MKr. 1782/ 2. Bericht Oberstleutnant Paraquin „Aufgeben des JildirimUnternehmens auf Bagdad. Entwicklung der Lage zwischen August 1917 bis Mai 1918“, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 28f.]. 342 über die Lieferungen der Ankaufszehnten1288 aus und steckten das Geld selbst in die Tasche.“1289 Für den deutschen Soldaten durften solche „Entschuldigungen“ nicht gelten, denn er wurde durch ein deutsches Etappensystem versorgt und von eigenen Offizieren geführt. Dennoch waren auch deutsche Soldaten offenbar einem Nebenverdienst durch den illegalen Handel mit militärischen Gütern nicht abgeneigt. Dies begann bereits mit der Veräußerung von Kleidungsstücken aus deutschen Militärbeständen, deren Ausgabe daraufhin nur noch unter strengen Auflagen erfolgen durfte, und setzte sich über den Verkauf „Heeresgütern“ an Kantinenbesitzer fort.1290 Diese Vorfälle waren zwar noch von geringerer Bedeutung, da in den Befehlen keine schwereren Sanktionen angedroht wurden, doch wurde auch mit „kriegswichtigen“ Materialien Handel getrieben. Der Stabsoffizier der Kraftfahrtruppen (Stokraft) 7711291 bei der Heeresgruppe F, Major Malbrand, stellte bei einer Besichtigungsreise erhebliche Mängel bei den deutschen Kraftfahrern fest: „Mehr Allgemeinsinn und Verständnis für die schwierige wirtschaftliche Lage muss von den unteren Dienstgraden gefordert werden. Herumliegende Ersatzteile, Missbrauch von Benzinfässern zum Aufbocken von Reparaturwagen, häufige Werkzeugverluste, Diebstähle, ja Verkauf, Fahrten unter eigenmächtigem Geldfordern schädigen das Ansehen der Kraftfahrtruppen in hohem Masse. Ich werde beim Oberbefehlshaber erwirken, das gemeingefährliche Handlungen wie Betriebstoff- und Gummiverkauf nicht mehr als Diebstahl oder Unterschlagung, sondern als Hochverrat kriegsgerichtlich geahndet wird, weil dadurch das 1288 Aus dem Bericht Paraquins geht hervor, daß es sich hierbei vermutlich um den Anteil an der Truppenverpflegung handelte, der durch Ankauf bei der Zivilbevölkerung im jeweiligen Einsatzgebiet aufgebracht werden sollte. 1289 Bericht Oberstleutnant Paraquin „Aufgeben des Jildirim-Unternehmens auf Bagdad. Entwicklung der Lage zwischen August 1917 bis Mai 1918“, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 20]. 1290 Anmerkungen zu Pascha II–Vorschrift Abschnitt III und IX vom 22.8.1917, BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 12. Tagesbefehl Nr.13709 des deutschen Anteils „Jildirim“ (Vertraulich!) vom 19.6.1918, BAMA Freiburg, RM 40/ 632, Blatt 34. Die Art der „Heeresgüter“ ist nicht genauer angegeben. Da sie jedoch an einen Kantinenbesitzer verkauft wurden, handelte es sich höchstwahrscheinlich um Verpflegung oder andere sogenannte Marketenderware. 1291 Zur Gliederung der Kraftfahrtruppen und Verortung des Stokraft siehe: Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 299-301. 343 Heeresinteresse in hohem Masse geschädigt, das des Feindes gefördert wird. (Str. G. B. §82, 90,2.)“1292 Und auch das Tabu des Verkaufs der eigenen Waffen wurde von deutschen Soldaten wiederholt gebrochen, wie aus zahlreichen Berichten und Befehlen hervorgeht.1293 Offenbar waren solche Fälle so häufig, daß Liman von Sanders sich genötigt sah, ausdrücklich auf scharfe Bestrafung solchen Verhaltens hinzuweisen: „Da sich in letzter Zeit die Fälle in denen deutsche Soldaten militärische Ausrüstungsstücke verkauft haben, bedenklich mehren, wird auf folgendes ausdrücklich hingewiesen: Ein Soldat [...] macht sich unter Umständen des Kriegsverrats (§ 57 M.Str.G.B.) oder der Gefährdung der Kriegsmacht (§ 62) imFelde [sic] schuldig und kann deshalb mit Zuchthaus bestraft werden.“1294 Die deutschen Soldaten machten sich folglich ähnlicher Vergehen schuldig wie ihre türkischen Pendants. Allerdings waren die deutschen Verfehlungen aus der Sicht der Militärmission und der Vorgesetzten schlimmer als die der türkischen Verbündeten, von denen man unter den gegebenen Umständen und nach den bisherigen Erfahrungen „nichts anderes erwartete“. Dagegen war die beanspruchte deutsche Vorbildfunktion durch das Verhalten einiger deutscher Mannschaften und Unteroffiziere gefährdet, so daß harte Strafen angedroht werden mußten. Eine Vertuschung des verbotenen Handels läßt sich hier allerdings nur eingeschränkt nachweisen. Die Berichte waren zwar zum Teil „Interna“ der Heeresgruppe F und wurden daher nur deutschen Stellen vorgelegt, doch die Tagesbefehle konnten ohne größere Schwierigkeiten auch von türkischen Stellen eingesehen werden. Allerdings waren die Tagesbefehle nur in deutscher Sprache abgefaßt und durch die Sprachbarriere damit nicht „jedermann“ verständlich. Im Unterschied zur Fahnenflucht und der Hochstapelei von Deserteuren war der Waffenhandel auch unter Mitwirkung der osmanischen Bevölkerung durchgeführt worden und nicht 1292 Stokraft-Verfügung Nr. 2: Bemerkungen zur Besichtigungsreise Stokrafts (Dezember 1917) im Bereich K.d.K.(Kommandeur der Kraftfahrtruppen) 7 und K.d.K. 8, BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 46. 1293 Zum Beispiel: Stokraft-Verfügung Nr. 8: Bemerkungen zu Stokraft –Reise Ostjordanland vom 2. bis 11.2.1918, BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 86. Tagesbefehl Nr. 59 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel vom 14.8.1918, KA München, HS 2255. Tagesbefehl Nr. 60 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel vom 21.8.1918, KA München, HS 2255. 1294 Tagesbefehl Nr. 49 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel vom 31.5.1918, KA München, HS 2255. 344 zuletzt durch die rasche mündliche Verbreitung von Neuigkeiten oder Gerüchten bei dieser bekannt, so daß ein Abstreiten kaum Erfolg gehabt hätte. Eine weitaus größere Tendenz zur Vertuschung unliebsamer Ereignisse offenbarte sich hingegen, wenn es um das Fehlverhalten deutscher Offiziere ging. V.2. Vorbild und Vorherrschaft, Konkurrenz und Intrigen – Die deutschen Offiziere Waren schon die Fehltritte der deutschen Mannschaften dazu angetan, das deutsche Ansehen im Osmanischen Reich zu schädigen, so mußte dies in besonderer Weise für die Offiziere gelten. Es wurde bereits erwähnt, daß nicht alle Offiziere freiwillig im Osmanischen Reich waren und von diesen einige sogar recht offen ihren Unmut über das neue Aufgabenfeld zeigten. Ebenso wurde bereits deutlich, daß viele Deutsche mit den fremden Kulturen oder dem andersartigen Militärdienst im Orient Probleme hatten und nicht immer angemessen darauf reagierten. Unbeherrschtes, lautes Auftreten gegenüber einem angeblich „widerspenstigen“ türkischen Untergebenen oder Etappenkommandanten war ein verhältnismäßig geringfügiges Fehlverhalten. Solche Vorfälle waren häufig und endeten meist mit Drohungen, sich an den höchstmöglichen – und vor Ort besonders gefürchteten – türkischen Vorgesetzten zu wenden. Ernstere Auswirkungen mußte hingegen die Androhung von Waffengewalt gegenüber einem verbündeten Militärangehörigen oder auch Zivilbeamten haben. So berichtet Hauptmann Paschasius, Kraftfahroffizier bei der Heeresgruppe F, daß er den Auftrag hatte, Betriebsstoff in das Operationsgebiet zu bringen, der am Bahnhof von Afule zurückgehalten wurde, weil dort angeblich ein Befehl des Oberquartiermeisters der Heeresgruppe eingegangen sei, daß der Treibstoff am Bahnhof zu verbleiben habe. Nachforschungen ergaben jedoch, daß es einen solchen Befehl gar nicht gab und daher wurde der Weitertransport angeordnet.1295 Der Treibstoff blieb allerdings in Afule, woraufhin sich Paschasius selbst dorthin begab. In seinem Sonderbericht beschreibt er: 1295 „Sonderbericht zum Kriegstagebuch Stokraft´s“, Nazareth 13.12.1917,Eintrag vom 11.11.1917, BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 43. 345 „Beförderung des Betriebsstoffs ab Afule nur unter größter Rücksichtslosigkeit und Androhung des Waffengebrauchs im Weigerungsfalle gegenüber dem türkischen Bahnhofskommandanten und dem Stationspersonal möglich. Ein zur Abfahrt bereitstehender Zug, Richtung Jerusalem, der wiederum keinen Betriebsstoff mit sich führt, wird auf Befehl des Hauptm. Paschasius festgehalten und Doppel-Posten auf und vor die Maschine gestellt, die den ausdrücklichen Befehl haben, den Zug nur dann fahren zu lassen, wenn von den 13 auf dieser Station stehenden Betriebsstoffwagen mindestens 5 mit diesem Zuge weiterbefördert werden.“1296 Auch wenn die Maßnahme des Hauptmanns zum Erfolg führte und auch wenn es die schnellste Lösung gewesen sein mag, so erscheint das Verhalten gegenüber einem offiziellen Verbündeten unangebracht. Die Androhung von Gewalt und regelrechte Beschlagnahmung eines Zuges passen eher zu dem Verhalten einer Besatzungsmacht als zu dem eines „Verbündeten in Freundesland“. Eine Ahndung dieser Aktion gab es jedoch nicht, zumal viele Offiziere bereits ähnliche Erfahrungen mit der als „passiver Widerstand des Orientalen“ geschmähten nachlässigen Erfüllung der dienstlichen Aufgaben gemacht hatten. Empfindlich reagierte man jedoch, wenn deutsche Offiziere tatsächlich zur körperlichen Gewalt gegenüber untergebenen Türken griffen. Liman von Sanders verurteilte solches Verhalten auf das Schärfste: „Trotz aller Warnungen ist es wieder vorgekommen, dass sich deutsche Offiziere zu Misshandlungen bezw. vorschriftswidriger Behandlung türkischer oder anderer Untergebener haben hinreissen lassen. Jeder deutsche Offizier wolle sich darüber klar sein, dass er hier auf exponierter Stelle steht, ständig beobachtet wird, und das jegliches Verschulden und Sichgehenlassen das Ansehen des deutschen Offizierkorps in der Türkei schädigt und unseren Gegnern Waffen gegen uns in die Hand gibt. Die älteren Kameraden haben die Pflicht, auf die jüngeren in der genannten Richtung dauernd einzuwirken. Dass ich die Ablösung jeden Offiziers beantrage, der sich zu diesen Verfehlungen hinreissen lässt, habe ich bereits früher bekannt gegeben.“1297 1296 „Sonderbericht zum Kriegstagebuch Stokraft´s“, Nazareth 13.12.1917,Eintrag vom 13.11.1917, BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 44. 1297 Befehl Nr. 11113 M.16 der deutschen Militärmission, Konstantinopel 13.7.1916, KA München, HS 2255. 346 Doch dieser Befehl Limans, der den Vermerk „Persönlich“ trägt, zeigte offenbar keine dauerhafte Wirkung, denn noch im Jahre 1917 mußte die Militärmission deutschen Offizieren das Schlagen unterstellter Türken per Befehl untersagen.1298 Hierbei handelte es sich übrigens nur um die persönliche Bestrafung durch den deutschen Offizier, nicht etwa um die Verhängung einer Körperstrafe, die einem deutschen Disziplinarvorgesetzten bis in das letzte Kriegsjahr hinein ebenso erlaubt war wie auch dem türkischen Offizier. Die Offiziere beider Nationalitäten machten von diesem Recht durchaus Gebrauch, wenngleich nicht gesagt werden kann, in welchem Ausmaße tatsächlich körperliche Züchtigung vorkam.1299 Besonders bemerkenswert ist hier, daß manche Deutschen ohne weiteres Prügelstrafen gegen osmanische Untergebene anordneten, obwohl ihnen im Dienst in der Heimat jedwede Mißhandlung Untergebener verboten war.1300 Allein durch die Anwendung dieser Strafe machte der jeweilige Offizier seine unterschiedliche Wahrnehmung des türkischen im Vergleich zum deutschen Soldaten deutlich. Daß Gewalt gegen türkische Soldaten sehr wohl ernsthafte Folgen für das deutschtürkische Verhältnis haben konnte, zeigt die Affäre um den deutschen Hauptmann Salzmann. Im März 1918 hatte der Hauptmann einer Funkerabteilung in Mossul einen türkischen Kavalleristen mit 15 Stockhieben bestrafen lassen, weil dieser ihn nicht gegrüßt habe. Enver Pascha erfuhr von diesem Vorfall und wandte sich an das Hauptquartier der 6. Armee: „Den Offizieren ist es gesetzlich verboten die Mannschaften zu schlagen. Wenn diese Handlung [...] von einem osmanischen Offizier begangen wird, ist derselbe gesetzlich mit einer Haftstrafe von 2 Monaten bis 1 Jahr zu bestrafen. [...] 1298 Befehl Nr. 23469 M.17 der deutschen Militärmission, Konstantinopel 9.8.1917, KA München, HS 2255. 1299 Siehe hierzu auch S. 248f. u. 311. 1300 In §122 des deutschen Militärstrafgesetzbuches hieß es: „Wer vorsätzlich einen Untergebenen stößt oder schlägt, oder auf andere Weise körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt, wird mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu drei Jahren bestraft [...].“ Zitiert nach Koppman, Clemens: Das Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst Einführungsgesetze, Nördlingen 1885, S. 449. Daß dennoch Mißhandlungen vorkamen, zeigt der skizzenhafte Aufsatz von Benjamin Ziemann, der aufschlußreiche Dokumente (als Faksimile) mitliefert. Ziemann, Benjamin: Soldatenmißhandlungen im deutschen Kaiserreich 1890-1914, in Dokumente zur Militärgeschichte [o.Bd.], ohne Ort 2003. 347 Es wird daher gebeten ihn [Hauptmann Salzmann] sofort nach Deutschland zurückzukommandieren, gegen ihn die Anleitung [sic] gesetzlicher Verfolgungen zu bewirken, und das Ergebnis mitzuteilen.“1301 Ein handschriftlicher Vermerk in der Akte bestätigt, daß der Hauptmann am 12.4. bereits unterwegs war, um sich vor einem Kriegsgericht zu verantworten. Allerdings geht am 9.5.1918 bereits ein Schreiben aus dem türkischen Kriegsministerium ein, in dem um die Einstellung des Verfahrens gebeten wird, da sich der Hauptmann entschuldigt und in Unkenntnis des höheren Befehls gehandelt habe.1302 Juristische Folgen des ohne Zweifel kritikwürdigen Verhaltens des deutschen Offiziers konnten so noch abgewendet werden. Die „Affäre Salzmann“ zog jedoch innerhalb der 6. Armee noch weitere Kreise. Nach dem Bericht des Generalstabchefs der 6. Armee, Oberstleutnant Paraquin hatte Halil Pascha als Befehlshaber der Armee nämlich direkt Enver um die Abberufung des Hautpmanns gebeten, ohne vorher Rücksprache mit seinem deutschen Chef des Stabes zu halten. Außerdem war Paraquin der Ansicht, daß eine Entscheidung des Generals von Falkenhayn noch Bestand hatte, die auch deutschen Offizieren 1303 Untergebene zusprach. eindeutig die Disziplinargewalt über türkische Die türkische Seite, vertreten durch Halil Pascha und seinen Neffen Enver Pascha, sah diesen Sachverhalt offenbar anders und versuchte hier eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen. Die bisherige Regelung besagte zwar, daß der Führer einer geschlossenen Formation des verbündeten Heeres auch die Disziplinargewalt innehatte, in der Realität betraf diese Regelung jedoch nur Deutsche. Die geschlossenen deutschen Formationen unterstanden niemals einem türkischen Truppenführer, der die Disziplinargewalt besaß. Diese lag laut Vertrag bei der deutschen Militärmission, einem Offizier der Militärmission vor Ort oder aber – im Falle der Formationen des „Yildirim“-Unternehmens – bei den deutschen Einheitsführern. Peinlich genau wurde von deutscher Seite darauf geachtet, daß keine Situation entstand, in der einem türkischen Offizier die Disziplinargewalt über einen deutschen Verband zufiel. Eine solche Regelung war auch aus Berlin gewollt, wie aus 1301 Übersetzung eines Schreibens von Enver Pascha an das Hauptquartier der 6. Armee vom 6.4.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. 1302 Schreiben Mahmud Kiamils an das Hauptquartier der 6. Armee vom 9.5.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. 1303 Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 1.4.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106, S. 1. 348 einem geheimen Schreiben aus dem Kriegsministerium in Berlin hervorgeht, das besagt, daß alle dem Osmanischen Reich geliehenen Kraftwagenkolonnen so lange deutscher Führung unterstünden, wie sich deutsches Personal bei ihnen befinde.1304 Selbst in dem seltenen Falle, daß ein türkischer Offizier (wie etwa Halil Pascha als Befehlshaber der 6. Armee) die Befehlsgewalt über deutsche Soldaten ausüben konnte, so konnte er doch keine Disziplinarstrafen gegen sie verhängen. In solchen Fällen half lediglich ein Bericht an die Militärmission oder den ranghöchsten Deutschen vor Ort, der dann vermittelte oder entsprechend weitergehende Maßnahmen veranlaßte. Es lag jedoch nicht im Interesse der deutschen Seite, die eigenen Offiziere noch im Osmanischen Reich zur Rechenschaft zu ziehen, was gleichbedeutend mit einem Eingeständnis eigener „Fehlbarkeit“ vor den Augen des als „unzulänglich“ kritisierten Verbündeten gewesen wäre. Zumeist wurde so in schwerwiegenden Fällen zügig die Abberufung des „Täters“ verfügt, um größeres Aufsehen zu vermeiden. Allerdings ist nicht bekannt, daß solchermaßen Versetzte noch weiteren disziplinarischen Maßnahmen unterlegen hätten. Offenbar gaben sich die deutschen Stellen bereits mit der Entschärfung der akuten Situation zufrieden. Ironischerweise wurde dieses Verfahren nahezu identisch von der osmanischen Seite angewandt und von beteiligten Deutschen scharf kritisiert.1305 Gleich welche Nation den Einheitsführer stellte, es galt das Militärstrafrecht des jeweiligen Mutterlandes. Dennoch konnten Deutsche Bestrafungen nach türkischem Recht verhängen und (von Türken) vollstrecken lassen. Der Handlungsspielraum der deutschen Offiziere scheint aber ebenfalls begrenzt gewesen zu sein. Geringere Vergehen konnten – auch durch Körperstrafen – geahndet werden, doch über die Verhängung etwa von Todesurteilen gegen Deserteure durch Deutsche ist nichts bekannt. Hier mußten auch die Europäer den Weg über die vorgesetzten türkischen Stellen wählen. Zu Beginn des Krieges waren solche Regelungen nur selten durch die türkische Führung angezweifelt worden, doch die Situation hatte sich bis zum Frühjahr 1918 deutlich geändert. Der „kranke Mann am Bosporus“ hatte die Weltöffentlichkeit 1304 Schreiben des Kriegsministeriums Berlin Nr. 1538/17.g.A. 7 V. vom 30.8.1917 (Geheim), BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 27. 1305 Siehe zum Beispiel die Beschwerde Major Sernos über den türkischen Ausbildungsoffizier Hauptmann Fuad, die auf S. 363f. behandelt wird. 349 überrascht durch die Siege an den Dardanellen und bei Kut-el-Amara. Zwar befanden sich die Briten in Palästina auf dem Vormarsch, aber aus Sicht Konstantinopels konnte der Verlust der arabisch-dominierten Gebiete nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches leicht durch Gebietsgewinne im Kaukasus kompensiert werden. Das Selbstbewußtsein der türkischen Seite war demnach keineswegs gesunken, sondern eher noch gewachsen. Die steigende Zahl deutscher Truppen und deutscher Offiziere sowie die schwelenden Streitigkeiten um die kaukasischen Interessensphären hatten die osmanische Haltung gegenüber deutscher Einmischung oder gar Dominanz in Militärfragen verändert. So kann es nicht verwundern, daß sich an dem Fall des Hauptmanns Salzmann eine regelrechte Grundsatzdiskussion um die deutsche Position im osmanischen Heer entzündete. Der Sachverhalt selbst war dabei eher nebensächlich, denn wie Oberstleutnant Paraquin berichtete, kam es im Bereich der 6. Armee zwar häufiger zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen deutschen und türkischen Heeresangehörigen, jedoch konnten diese stets geschlichtet werden.1306 Doch in diesem Falle ließ sich der Streit nicht so schnell aus der Welt schaffen, vor allem da es sich diesmal nicht um ein Problem im Bereich der 6. Armee handelte, sondern um ein Zerwürfnis in der Führungsspitze der Armee. Halil Pascha verwies darauf, daß er mündlich den Befehl gegeben habe, deutsche Offiziere keine Disziplinargewalt mehr über türkische Soldaten ausüben zu lassen. Immerhin sei es nicht einzusehen, daß Deutsche zwar Türken, Türken aber nicht Deutsche bestrafen könnten. Damit griff Halil eine alte Diskussion um die Gleichberechtigung im eigenen (!) Land wieder auf, die bereits zur einseitigen Abschaffung der Kapitulationen und indirekt auch zum deutsch-türkischen Bündnis geführt hatte, durch das man hoffte, die vorherige britisch-französische Bevormundung auszuschalten. Da im späteren Kriegsverlauf immer mehr deutsche Formationen und Soldaten in den Orient verlegt wurden, verlor das deutsche Engagement den „beratenden Charakter“ und die ungeklärten Kompetenzfragen der Koalitionskriegführung rückten in den Vordergrund, was dieser speziellen Diskussion zusätzliche Brisanz verlieh. 1306 Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 1.4.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106, S. 2. 350 Paraquin argumentierte dagegen, daß es kein „ausgereiftes“ Militärrecht – wobei ihm selbstverständlich das deutsche Recht als Idealbild vorschwebte – im Osmanischen Reich gäbe, dem man „guten Gewissens“ auch deutsche Soldaten unterwerfen könne und „[...] außerdem bestünde keine Gewähr, dass selbst ein ad hoc geschaffenes, den deutschen Rechts- und Dienstauffassungen entsprechendes gemeinsames Disziplinarrecht von türkischer Seite richtig und gerecht angewandt werde“.1307 Die Schuld an den Mißstimmungen gibt er der „Eifersucht und dem Eigendünkel der herrschenden Schicht“.1308 Halil Pascha machte jedoch aus dem Ernst der Lage keinen Hehl und schrieb an Paraquin: „1- Da ich nunmehr fühle, dass die ursprünglich dienstliche Angelegenheit in eine persönliche Form [etwa] [sic!] wie zwischen Türken- und Deutschtum übergeht, so ersuche ich Sie, von jetzt ab weder schriftlich noch mündlich sich in dieser Angelegenheit an mich zu wenden. 2- Ich habe heute dem Vizegeneralissimus gemeldet, dass trotz Ihrer guten Arbeit bis jetzt ein weiteres Zusammenarbeiten infolge der zwischen uns eingetretenen Spaltung nicht mehr möglich ist.“1309 Zu diesem Zeitpunkt hatte Paraquin aber bereits selbst um die Ablösung von seinem Posten gebeten, da ihm ein weiteres Zusammenarbeiten „zur inneren Unmöglichkeit geworden“ sei und er das Bedürfnis habe, „wieder einmal in reinlichen Verhältnissen zu arbeiten“.1310 Am 11.4. beendete General von Seeckt jede weitere Diskussion mit einem Schreiben, in dem er auf sehr deutliche Art und Weise zu einer gütlichen Einigung im Sinne der Gesamtkriegführung mahnte.1311 Auch Halil muß eine ähnliche Anweisung erhalten haben, denn tatsächlich arbeiteten er und Paraquin weiter miteinander. Allerdings blieb ein „schaler Beigeschmack“, da beide Seiten treffende Argumente hatten. Die deutsche „Bevormundung“ hatte durchaus militärfachliche Gründe, doch griff sie weit darüber hinaus und verfolgte auch eigennützige Ziele. So trugen Paraquin und Halil gleichzeitig einen Streit über die Erschließung 1307 Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 8.4.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. 1308 Ebd. 1309 Schreiben Halil Paschas an Oberstleutnant Paraquin vom 9.4.1918, , BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. 1310 Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 1.4.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106, S. 4. 1311 Schreiben Generalleutnant von Seeckts an Oberstleutnant Paraquin vom 11.4.1918 (Von Offizier zu Offizier – Nur über Kriegsleitung), BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. 351 und Privatisierung einiger kleinerer Ölquellen in der Gegend um Mosul aus. Dabei wollte Halil die Quellen in private türkische Hände geben, während Paraquin sie gemäß Befehl dem (deutschen) Etappenkommandeur unterstellen wollte.1312 Ein wesentliches Problem, aus dem häufig das Fehlverhalten deutscherseits resultierte, wird hier offenbar: Das Deutsche Reich sah im Osmanischen Reich keinen gleichwertigen Verbündeten. Daher versuchte es ständig, den eigenen Soldaten und Offizieren Sonderstellungen zu verschaffen und sie – mehr oder weniger auffällig – türkischen Einflußmöglichkeiten zu entziehen. Zugleich wurden, besonders gegen Kriegsende im Kaukasus, deutsche Belange in den Vordergrund gestellt und die türkische Interessenlage nur am Rande berücksichtigt. Diese Geringschätzung des Bündnispartners kommt klar im Verhalten der Offiziere und ihren zahlreichen Schriften zum Ausdruck, in denen die Hauptaufgabe und einzige Option des Osmanischen Reiches darin gesehen wird, möglichst viele Kräfte des Gegners zu binden, um deutsche Siege an den „wirklich wichtigen“ Fronten zu ermöglichen.1313 Die Möglichkeit, das osmanische Heer durchgreifend zu reformieren sah man deutscherseits nicht, nachdem die vorherigen Militärberater augenscheinlich gescheitert waren und der Krieg eine weitere Reformtätigkeit nahezu unmöglich machte. Hingegen merkte Berlin schnell, daß der Türkei die wirtschaftlichen Ressourcen für einen modernen und langen Krieg völlig fehlten. Schon bald wurde deutlich, welche enormen Kosten die deutsche Wirtschaft tragen mußte, um den Verbündeten am Bosporus militärisch und – in geringerem Umfange – auch zivilwirtschaftlich mit dem Nötigsten zu versorgen. Berechnungen für den Januar 1916 beliefen sich auf einen Gesamtwarenwert von 138 656 983 Mark für die Unterstützung der Hohen Pforte.1314 Bis zum Kriegsende sollten die militärischen Lieferungen nach Kleinasien einen Wert von 435 Milllionen Mark erreichen, zu dem 1312 Schriftwechsel zwischen Halil Pascha und Oberstleutnant Paraquin vom 4.4.1918 bis 15.4.1918, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106. 1313 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 243-249. Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 10. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 119-122. Bericht des Generalmajors Bronsart von Schellendorff „Kurze Darstellung der Grundzüge der türk. Kriegführung im Weltkrieg 1914/18“ vom 15.12.1917, BAMA Freiburg, W 10/ 50325, S. 5. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 407-408. 1314 „Nachweisung über die aus Anlaß des Krieges für Rechnung der Türkei ausgeführten Lieferungen. Ungefährer Stand Januar 1916.“ BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 105. 352 mindestens weitere 500 Milllionen Mark an nichtmilitärischen Leistungen kamen.1315 Zusätzlich zu diesen „Kriegsnotwendigkeiten“ stellte die deutsche Seite bereits Ende 1916 Berechnungen über die möglichen Kosten einer Militärreform der osmanischen Streitkräfte nach Kriegsende an. Dabei schätzte der deutsche Marineattaché die Summe auf weitere 1,3 Milliarden Mark.1316 Es stand außer Zweifel, daß die Hohe Pforte auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein würde, diese Schulden zurückzuzahlen.1317 Für die türkische Führung war es daher um so wichtiger, wirtschaftlich lukrative Regionen – wie etwa die Region um Baku – zu besetzen, um so die eigene Position zu stärken. Doch verfolgte Deutschland im Stillen andere Pläne. Eine Stellungnahme des deutschen Militärbevollmächtigten in Konstantinopel an die deutsche OHL vom Dezember 1915 deutet bereits die Richtung deutscher Politik an: „Nach dem Kriege wird die Haltung Deutschlands gegenüber der Türkei vielleicht zurückhaltend, vielleicht sogar schr[o]ff sein müssen; während des Krieges müssen wir uns jedoch mit der verbündeten Türkei und besonders mit der jetzigen Regierung freundschaftlich stellen und die Grundlage zu einer gemeinsamen vertrauensvollen Arbeit schaffen, wenn eine aktive und energische Weiterführung des Krieges von Seiten der Türkei gewünscht wird. Hierzu müssen aber den Türken die als notwendig erkannten Mittel gegeben werden, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass die Türkei ihre eigenen Wege geht.“1318 Schon hier deutet sich an, daß wichtige deutsche Stellen das Bündnis mit dem Osmanischen Reich als reine Zweckgemeinschaft ansahen, die man lediglich für die Kriegszeit aufrecht erhalten mußte. Noch deutlicher geht dies aus einem Schreiben Lossows an den deutschen Generalstab, das preußische Kriegsministerium und den deutschen Botschafter vom November 1916 hervor. Anläßlich der hohen Schätzung über die Kosten einer Militärreform meint er: 1315 Zu den nichtmilitärischen Lieferungen zählten unter anderem landwirtschaftliche Maschinen und Geräte zur Verbesserung der Kohleförderung in der Türkei. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 297f. 1316 Anlage zum Schreiben des Marine-Attachés Humann an die Mittelmeer-Division vom 29.11.1916 (Ganz Geheim!), BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 21. 1317 Tatsächlich betrugen die türkischen Staatsschulden bereits 1914 etwa 171 Millionen Ltq (ca. 3,2 Milliarden Mark ) und stiegen durch deutsche und österreichisch-ungarische Kredite und Lieferungen auf knapp 466 Millionen Ltq (ca. 8,5 Milliarden Mark). Emin, Turkey 1930, S. 163f. 1318 Schreiben von Lossow an Falkenhayn vom 20.12.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 102f. 353 „Es wird also notwendig sein, sich im Prinzip darüber klar zu werden, ob man in Deutschland die für die Aufrichtung der Türkei nötigen sehr hohen Summen einsetzen kann und will.+) [...] +) Bemerkung: Die bisher von Seiten des preußischen Kriegsministeriums an die in der Türkei tätigen deutschen Offiziere ergangenen Weisungen lassen erkennen, daß man der Entwicklung einer Waffen- und Kriegsmaterialindustrie größeren Umfanges in der Türkei wenigstens bis jetzt ablehnend gegenüber gestanden hat.“1319 Die Eindrücke aus solchen Äußerungen werden noch durch die Handelsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn untermauert, die sowohl den Balkan als auch die Türkei in „Interessensphären“ aufteilten und eine monopolartige Handelsstruktur nach Kriegsende anstrebten, selbstverständlich ohne Konstantinopel oder Sofia davon zu unterrichten oder gar Einfluß zu gewähren.1320 Eine uneigennützige Absicht der deutschen Seite, das kleinasiatische Großreich militärisch und wirtschaftlich zu reformieren, muß in jedem Falle angezweifelt werden. Vordringlich handelte es sich um ein Zweckbündnis mit der Hohen Pforte, das eine deutsche Reformbereitschaft nicht ausschloß unter der Prämisse, daß man dazu in der Lage war und sich diese „rechnete“. Sicher erhofften sich beide Seiten gleichermaßen Vorteile von dem deutsch-osmanischen Bündnis und im Kriegsverlauf zeigten sich – trotz vieler Rückschläge und Anstrengungen – einige solcher Vorteile auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet. Deutschland scheint sich aber seiner Position als „Senior-Partner“ überaus bewußt und sicher gewesen zu sein und beabsichtigte offenkundig, die eigenen Vorteile auch auf Kosten des „Kranken Mannes am Bosporus“ zu maximieren. Die Sorge der osmanischen Führung, durch den deutschen Verbündeten dominiert zu werden, war also keineswegs unbegründet. Für die Kooperation insbesondere in den höheren Kommandostellen, deren Inhaber eher Einblick in solche übergeordneten Zusammenhänge hatten, war gegenseitiges Mißtrauen aber kontraproduktiv. 1319 Schreiben Nr. 10478 von Lossow an den Chef des General-Stabes (politische Abteilung), das preußische Kriegsministerium (Armee-Abteilung) und an den Botschafter vom 27.11.1916 (Ganz Geheim!), BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 27. 1320 Anlagen zum Schreiben Nr. 6683/1.16.A.Z.(A).II.Ang. des Auswärtigen Amtes in Berlin an das Kriegsministerium in München vom 10.2.1916, KA München, MKr. 224. 354 Die beiden wichtigsten deutschen Befehlshaber waren die (osmanischen) Marschälle von Falkenhayn und Liman von Sanders. Falkenhayns negative Einstellung zu seinem Kommando in Palästina führte schon bald zu ernsthafter Verstimmung unter den Verbündeten.1321 Falkenhayn hatte alle wichtigen Dienstposten seines Stabes mit deutschen Offizieren besetzt und griff nur auf wenige türkische Offiziere in niederen Funktionen zurück. Offenbar wollte er so jegliche Einmischung des „inkompetenten“ Verbündeten verhindern und den von vielen Deutschen angesprochenen „Intrigenspielen“ vorbeugen.1322 Seit seiner Abberufung aus der OHL „witterte“ der General überall Verrat, ein Problem, daß sich schon bei seinem Kommando an die Rumänienfront bemerkbar gemacht hatte.1323 Nachdem er den Befehl über die Heeresgruppe F in Palästina übernommen hatte, wollte Falkenhayn zudem dafür sorgen, daß seinen Anweisungen im gesamten Operationsgebiet unbedingt Folge geleistet würde. Daher kam es schon bald zum Zerwürfnis zwischen ihm und dem Marineminister, Generalgouverneur von Syrien und Oberbefehlshaber der türkischen Palästinafront, Djemal Pascha. Der folgende Konflikt endete mit dem Verlust des Oberbefehls für Djemal, erzeugte jedoch den fortdauernden Widerstand der weiterhin jenem als Gouverneur unterstehenden Zivil- und Nachschubverwaltung.1324 Franz von Papen als Generalstabsoffizier Falkenhayns hatte vergeblich versucht zu verdeutlichen, daß Djemal eine Beschneidung seiner Macht niemals hinnehmen würde. Nach dem erbitterten Streit aller hohen Stellen in der Türkei und in Deutschland und dem „Erfolg“ Falkenhayns bemerkte Papen deprimiert: „Alle vorausgesehenen Folgen traten ein.“1325 Ritter Mertz von Quirnheim findet für Falkenhayns Verhalten gegenüber dem türkischen Verbündeten noch wesentlich deutlichere Worte: „Er glaubte anscheinend als ‚Herrenmensch’ auftreten zu müssen um dadurch Eindruck zu machen. So stiess er dann auch durch seine Forderungen den ‚Vizekönig von Syrien’ Djemal Pascha vor den Kopf. [...T]ürkischen Führern stiess Falkenhayn 1321 Zu Falkenhayns Urteil über sein Kommando siehe S. 226. Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 476. 1323 Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 468 1324 Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr von: Achmed Djemal Pascha, in: Zwischen Kaukasus und Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 2, Berlin 1922, S. 19f. Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 93f. 1325 Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 94. Zu den vorstehenden Ereignissen siehe: Ebd., Seite 93. 1322 355 vor den Kopf, er scheute darin auch vor Enver selbst nicht zurück. So kam es in Jerusalem zwischen beiden zu heftigen Auftritten. Enver forderte u.a. den General v.F. auf, sich die türkischen Truppen an der Kampffront anzusehen. v.F. sah hierin ein Anspielung Envers als ob er (v.F.) sich von der Kampfeszone fern halten wollte und ‚behandelte’ Enver wie einen [‚]Negerhäuptling.’ “1326 Durch seine Art der „Führung“ schaffte es General von Falkenhayn noch weitere hohe Offiziere aus seinem Befehlsbereich zu „vertreiben“. So ließ sich etwa Mustafa Kemal Pascha – der spätere türkische Staatspräsident – als Führer der 7. Armee schon wenige Wochen nach seinem Dienstantritt wieder versetzen, da die Differenzen mit dem deutschen General unüberbrückbar waren.1327 Auch Liman von Sanders, der als Chef der deutschen Militärmission an besonders exponierter Stelle tätig war, zeichnete sich bekanntlich nicht durch feinfühliges oder diplomatisches Verhalten gegenüber dem Bundesgenossen aus. Von seinen „gefürchteten“ Inspektionsreisen vor Kriegsausbruch war bereits die Rede.1328 In diesem Zeitraum hatte sich schon gezeigt, daß sein Verhältnis zum Kriegsminister Enver Pascha sehr gespannt war. Über die Gründe hierfür läßt sich nur spekulieren. Es mag sich um rein fachliche Differenzen gehandelt haben, es könnte die Verachtung für einen politischen Aufsteiger, wie es Enver zweifellos war, mitgeschwungen haben oder beide könnten schlicht „inkompatible“ Persönlichkeiten gewesen sein. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um eine Mischung aus allen Faktoren. Liman selbst berichtet davon, daß Enver ihm geradezu „phantastische“ Pläne für die Kriegführung vorgelegt habe, wie sie nur ein militärischer Dilettant habe entwerfen können. Diese wurden von Liman stets verworfen.1329 Daraufhin setzte Enver, der de facto Oberbefehlshaber war, entweder seine Beschlüsse um, ohne den Deutschen zu informieren, oder er bot dem Marschall Truppenkommandos an entlegenen Fronten des Reiches an, um ihn aus Konstantinopel zu entfernen. Liman sah dies als Autoritätsverletzung und Ehrabschneidung an und beschwerte sich bei Enver sowie beim Deutschen Kaiser darüber, daß seine vertraglich festgelegte 1326 W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 20f. Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 99. 1328 Siehe oben, S. 113f. 1329 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 51-58. 1327 356 Position unterminiert werde.1330 Otto von Lossow findet für dieses Verhalten einen interessanten Vergleich: „Daß diese Reibungen sich verschärften und chronisch wurden, dadurch, daß General Liman bei jeder Gelegenheit sein Papier heraus zog und „auf seinen Schein bestand“ habe ich schon früher erwähnt [...]. Im Gegenteil, wenn dort jemand in Haltung und in Worten bei jeder Gelegenheit auftritt „mein Vater Parcival trägt eine Kron´ und ich, sein Sohn, bin Lohengrin genannt“, so wirkt das teils verstimmend, teils lächerlich.[...] Es muß zugegeben werden, daß es für Liman nicht leicht war, das richtige Verhältnis zu dem jungen Enver zu finden. Daß es möglich war, hat der viel ältere Feldmarschall Goltz bewiesen.[...] Höhere Eingriffe und neue §§§ [sic] hätten auch hier nichts genützt, wo fast alles auf dem Gebiete des persönlichen Taktes lag.“1331 Der Konflikt zwischen Enver und Liman nahm immer heftigere Formen an. Im Januar 1916 wollte Enver gar eine Reihe der Privilegien des Chefs der Militärmission widerrufen, um die ständige Einmischung des deutschen Generals zu beenden. Da Enver hierbei versuchte, sich selbst die Rechte zur Versetzung, Ernennung und Abberufung deutscher Offiziere anzueignen und Liman nur die Befehlsgewalt über die 5. Armee zu lassen, wäre dies einer partiellen Mediatisierung der Militärmission gleichgekommen. Daran hatte Berlin jedoch keinerlei Interesse, zumal eine Unterstellung aller deutschen Heeresangehörigen unter türkisches Kommando für die deutsche Seite undenkbar war. Enver mußte seinen Vorstoß daher wieder aufgeben.1332 In der Folge wurde das Verhältnis Limans zu dem „jungtürkischen Dilettanten“ noch kühler, doch hatte der General sich durchsetzen können, was Envers Groll gegen ihn ebenfalls steigerte. Auch die spätere Berufung Limans zum Nachfolger des Generals von Falkenhayn als Oberbefehlshaber in Syrien und Palästina brachte keinerlei Entspannung im 1330 Förmliche Beschwerde Liman von Sanders Paschas an Enver Pascha vom 13.11.1915,BAMA Freiburg, W 10/ 50748. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 67 u. 73f. 1331 Brief Otto von Lossows an den Präsidenten des Reichsarchivs Potsdam vom 25.11.1921, KA München, HS 3158, S. 3. 1332 Schreiben von Enver Pascha an Liman von Sanders (Persönlich!) vom 28.1.1916, BAMA Freiburg, W 10/ 50748. 357 Verhältnis zu Enver.1333 Freiherr Kreß von Kressenstein berichtet davon, daß Enver und Liman sich so sehr verfeindet hatten, daß sie wochenlang kein Wort miteinander sprachen und jede persönliche Begegnung vermieden.1334 Diese Abneigung steigerte sich soweit, daß Liman es bei einem Besuch des Deutschen Kaisers ablehnte, mit seinem Monarchen zusammen zu speisen, da er neben Enver hätte sitzen müssen.1335 Im Mai 1917 notierte Mertz von Quirnheim anläßlich der Suche nach einem Nachfolger für Bronsart von Schellendorff als Chef des türkischen Generalstabes in sein Tagebuch: „Liman von Sanders wird von Enver schroff abgelehnt. Enver achtet in diesem Manne nicht einmal einen besonders begabten Führer. Jedenfalls hat L.v.S. sich in Konstantinopel politisch und gesellschaftlich so kompromittiert, daß er als rechte Hand Envers gar nicht in Betracht kommen kann. Die politische Welt Cospolis würde energischen Protest erheben. Ich weiß auch nicht, ob ich das bedauern sollte.“1336 Diese Beobachtungen lassen vermuten, daß es sich bei dem Konflikt zwischen Liman und Enver um mehr als rein sachliche Meinungsverschiedenheiten handelte, wie Eberhard Demm behauptet.1337 Vielmehr scheint die oben genannte „explosive Mischung“ aus verschiedenen Faktoren vorzuliegen, bei der die persönliche Eitelkeit oder besser das Gefühl einer „vertraglich zugesicherten Überlegenheit“ Limans gegenüber dem höchsten türkischen Militär eine wichtige Rolle spielte. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, daß der „Starrsinn“ eines hohen Offiziers, wie Liman und das daraus folgende (erzwungene) Nachgeben Enver Paschas dazu beitrugen, daß der osmanische Bündnispartner sich nach den Erfolgen des Jahres 1916 darum bemühte, seine gestärkte Position gegenüber dem mitteleuropäischen Partner geltend zu machen. Das unangemessene Auftreten der deutschen Generalität im Orient, die stets auch im Fokus öffentlichen Interesses stand, hatte demnach spürbar negative Auswirkungen auf die deutsch-türkische Kooperation. Im Vergleich dazu konnten Verfehlungen rangniederer Offiziere mit geringeren Folgen auf das Bündnis 1333 Schriftwechsel zwischen Liman von Sanders, Hans von Seeckt und Enver Pascha vom 11. bis 26.4.1918, BAMA Freiburg, N 247/ 49. 1334 Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 22. 1335 W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 17. 1336 W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 16. 1337 Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 709. 358 „bereinigt“ oder vertuscht werden. Trotzdem deutet die Gesamtheit der Vorfälle darauf hin, daß die deutschen Offiziere keinesfalls nur durch vorbildliches Verhalten auffielen. In einigen Bereichen wichen sie gar in extremer Weise vom „Idealbild“ ab. Auch deutsche Offiziere waren keineswegs frei von Verhaltensweisen, Dienstverstößen oder Übergriffen, die in Deutschland von Ehren- oder Militärgerichten geahndet worden wären. Vizewachtmeister Günter Popp, der wechselnd beim Licht-Meßtrupp 170 und der Feld-Artillerie-Abteilung 701 in Palästina eingesetzt war, berichtet beispielsweise, wie sein kommandierender Offizier reagierte, als 1918 britische Truppen gegen die deutschen Stellungen vorrückten: „Leutnant Kapitza ließ sich sein Pferd satteln und ritt mit seinem Burschen davon, uns zurufend und ermunternd, unser Heil in der Flucht zu suchen.“1338 Von ihrem Einheitsführer im Stich gelassen, versuchten Popp und die verbliebenen Angehörigen seiner Einheit den geordneten Rückzug anzutreten, kamen jedoch in britische Gefangenschaft und wurden in Ägypten interniert. Bei anderer Gelegenheit verweigerte der deutsche Abteilungsführer der osmanischen Flieger-Abteilung 2 einen Befehl des Befehlshabers des türkischen Korps, dem er unterstellt war. Die Abteilung sollte ein Flugzeug losschicken, um Aufklärungsergebnisse über vorrückende britische Truppen zu bestätigen. Der deutsche Führer lehnte dies jedoch mit dem fragwürdigen Argument ab, daß er für einen solchen Flug zu wenig Sprit habe und es um 14:30 Uhr Ortszeit bereits zu spät sei, noch einmal zu starten. Oberstleutnant Paraquin, Generalstabschef der zuständigen 6. Armee, sah in solchen Aussagen lediglich Ausreden und befahl, daß „solche voll berechtigten Klagen über mangelnde Selbsttätigkeit und Unterstützung durch die Fliegerabteilung von dem Korps nicht mehr an die Armee gelangen“ sollten.1339 Aus dem Entwurf geht auch hervor, welche Aspekte an dem Verhalten des betreffenden Offiziers das besondere Mißfallen Paraquins erregten: 1338 Günther Popp „Türkei, Palästina, Ägypten 1918/1919 (Meine Erlebnisse nach Briefen an meine Angehörigen)“, BAMA Freiburg, MSg 2/ 4437, S. 56. 1339 Entwurf eines Schreibens von Oberstleutnant Paraquin an Kofl [Kommandeur der Flieger] 6, FflAbt. [Feld-Flieger-Abteilungen] 2 und 13 sowie den kaiserlich osmanischen Oberstleutnant Reuss 359 „Ebenso erwarte ich, dass im dienstlichen Verkehr mit den türkischen Vorgesetzten die soldatischen Formen streng gewahrt werden. Es verträgt sich nicht, wie es vor einiger Zeit beim 13. Korps geschehen, dass der Führer der Fliegerabteilung dem Generalstabschef des Korps, der sein dienstlicher Vorgesetzter ist, eine anmassende und unmilitärische Antwort gibt. Abgesehen davon, dass es immer peinlich ist, sich nachträglich entschuldigen zu müssen, wird in den Türken ein falscher Eindruck über die Disziplinverhältnisse in unserer deutschen Armee erweckt.“1340 Erneut wird unter anderem die Sorge, das deutsche Ansehen gegenüber dem Verbündeten zu wahren, deutlich. In diesem Zusammenhang mag es auch nicht verwundern, daß der zitierte Passus im fertigen Schreiben gestrichen wurde, denn bei der Zahl der Empfänger war es durchaus möglich, daß dieser Brief in türkische Hände gelangte, was einem unverblümten Eingeständnis deutscher Fehler gleichgekommen wäre. Es wurde bereits erwähnt, daß die deutschen Stellen im Osmanischen Reich zu absichtlicher Verschleierung von Fehlern tendierten, wenn dies als Option galt. Ein Beispiel hierfür in kleinerem Rahmen ist in den Aufzeichnungen des Piloten Richard Euringer zu finden. Ende Juni 1916 machten die deutschen Flieger aus seiner Abteilung ein Übungsschießen auf Büsche in der Umgebung des Flugfeldes. Am Abend des Tages entdeckten Posten im Zielgebiet einen toten türkischen Infanteristen, der eindeutig durch einen Kopfschuß aus den Bordwaffen getötet worden war, während er versuchte, seine Notdurft in den Büschen zu verrichten. Aus Angst davor, einen „diplomatischen Zwischenfall“ zu erzeugen, da „ein Christenhund [...] einen Muslim erschossen“ habe, wurde der Vorfall vertuscht.1341 Der verantwortliche Pilot mußte sich zwar bei den deutschen Vorgesetzten in Birseba melden, aber auch diese waren offenbar der Ansicht, daß unauffälliges Vorgehen das Richtige sei. Der Tote wird „in aller Stille versorgt“.1342 Der einzige Türke, der zudem erst nach dem Abzug der Kompanie des Getöteten eingeweiht wurde, war der und kaiserlich osmanischen Major Hartmann vom 13.2.1918 (Vertraulich!), BAMA Freiburg, PH 5 I/106. Der Name des deutschen Abteilungsführers ist nicht überliefert. 1340 Ebenda. 1341 Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 325. 1342 Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 326. 360 Verbindungsoffizier, der interessanterweise kein Verständnis für die deutsche Aufregung zeigte: „Unfall ist Unfall, im übrigen Krieg. Den Leuten sei zudem verboten, sich vom Lager zu entfernen. Somit bleibt die Geschichte vertuscht.“1343 Abgesehen von der deutschen Tendenz, solche Vorfälle zu verschweigen, wird an diesem Beispiel erneut die harte Einstellung osmanischer Offiziere gegenüber ihren eigenen Soldaten manifest. Das Leben und Wohlergehen der Soldaten scheint bei den türkischen Vorgesetzten nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Von deutscher Seite wurde diese Einstellung zwar oft kritisiert, erscheint aber in dieser Situation recht „hilfreich“. Wahrscheinlich hätte dieser Vorfall selbst bei sofortigem Offenbaren der Flieger-Abteilung gar nicht zu den befürchteten Komplikationen geführt. Doch diese Spekulation ist nebensächlich, denn es ist entscheidend, daß die erste Reaktion der Deutschen vor Ort und an höherer Stelle das Vertuschen des Vorfalls war. Es ist zumindest zweifelhaft, daß die Verantwortlichen auch in der Heimat so hätten vorgehen können. Um die Ausmaße der Taten, die von deutscher Seite verheimlicht wurden, zu verdeutlichen, sollen hier noch zwei Zeugen angeführt werden. Der erste war der junge Ernst Adolf Mueller, der sich als 17jähriger im Jahre 1915 freiwillig zum bayerischen Militär meldete. Dort wurde er als Fahnenjunker angenommen und aufgrund vorhandener Türkischkenntnisse, die er durch einen türkischen Gastdozenten erlangt hatte, zum Heeres-Nachrichten-Dienst nach Berlin versetzt. Im Herbst 1915 kam er nach Konstantinopel, wo er als Angehöriger der Militärmission den Auftrag bekam, „unauffällig“ die Gespräche von türkischen Würdenträgern und Generälen zu belauschen, die von seinen Sprachkenntnissen nichts wußten.1344 Da er so mit den höheren Schichten in der osmanischen Hauptstadt in Kontakt kam, wurde er zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch bei Enver Pascha eingeladen. Vor diesem Gespräch hatte er jedoch große Angst, da er „wußte, wie stark die Päderastie in diesen Kreisen verbreitet war“.1345Als er seinem deutschen Vorgesetzten deswegen Meldung machte, wurde er nur ausgelacht und dennoch zu dem Treffen geschickt. Allerdings erwiesen sich seine Befürchtungen in diesem Fall als 1343 Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 328. HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 4f. u. S. 21. 1345 HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 25a. 1344 361 unbegründet. Offenbar beruhten sie aber nicht auf bloßen Hirngespinsten. Neben seiner Tätigkeit bei Empfängen, wo er nach Bekanntwerden seiner Sprachkenntnisse als Dolmetscher fungierte, wurde Mueller nämlich in Konstantinopel als eine der Zivilstreifen eingesetzt, die Lokalverbote und das Verhalten deutscher Soldaten überwachen sollten.1346 Obwohl er nicht detailliert schildert, welche Beobachtungen er dort machte, so berichtet er doch, wie angeekelt er davon war, im Dienst Zeuge „jeder erdenklichen Perversion“ zu werden: „Fellationen durch Kinder waren da noch das Harmloseste. Diese Tätigkeit in der „Unterwelt“ machte mich natürlich in gewissen, davon betroffenen Kreisen denkbarst unbeliebt, sodaß ich nach einigen Monaten da herausgezogen wurde und eine ganz andere Aufgabe erhielt.“1347 Da der junge Nachrichtendienstler durch sein Wissen offenbar eine Gefahr für das Ansehen verschiedener deutscher (!) Persönlichkeiten darstellte, versuchte die Militärmission die Zustände durch seine Versetzung verborgen zu halten. Mueller sollte nunmehr ab Weihnachten 1915 die Nachschubtransporte nach Syrien, Palästina und Mesopotamien „beschatten“, da hier vermehrt Diebstähle vorgekommen waren. Schon bald konnte er beweisen, daß auf Bahnhöfen ganze Waggons mit Versorgungsgütern abgekoppelt, auf Abstellgleise verschoben und dort vom türkischen Bahnpersonal ausgeplündert worden waren. Die Bewachung wurde verschärft und insbesondere zum Schutz militärischer Ausrüstung der Schußwaffengebrauch befohlen.1348 Trotzdem verschwanden während des Transports über das Taurusgebirge immer wieder ganze Lasttierkarawanen, beladen mit Waffen und Munition für die Truppen in den südlichen Provinzen. Zunächst machte Mueller dafür Araber, Kurden und Armenier verantwortlich. Wie sich allerdings bald herausstellte, steckte eine organisierte Räuberbande unter Führung eines deutschen Majors hinter den Überfällen. Die Festnahme des – namentlich nicht genannten Majors – sorgte bei den deutschen Stellen in Konstantinopel offenbar für großes Aufsehen und brachte Mueller eine Versetzung nach Aleppo und Ende 1916 schließlich zum Stab der 4. osmanischen Armee (Damaskus) ein. Zudem wurde ihm 1346 Siehe hierzu auch oben, S. 335. HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 30. Zum Sachverhalt siehe auch zuvor S. 29. 1348 HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 36. 1347 362 ausdrücklich befohlen, Stillschweigen über die Vorgänge zu wahren.1349 Seine Verwendungen in Syrien bezogen sich fortan offenbar auf „ungefährlichere“ Gegenstände, denn die weiteren Aufzeichnungen Muellers erwähnen keine weiteren brisanten Vorfälle. Daß der Nachrichtenoffizier mit seinen Erfahrungen nicht alleine stand, wird deutlich, wenn man zusätzlich den Bericht von Major Serno über seine Zeit als Chef der türkischen Fliegerwaffe heranzieht. Seine Dienstzeit im Orient war, wie bereits mehrmals gezeigt, nicht frei von negativen Erfahrungen sowohl mit Deutschen als auch mit Türken. Eine Begebenheit, die ihn besonders verärgerte, ereignete sich auf dem Ausbildungsflugplatz bei San Stefano, wo er etwa 20-25 türkische Piloten und Beobachter durch den türkischen Hauptmann Fuad Effendi ausbilden ließ. Wie sich aber anläßlich eines Inspektionsbesuchs herausstellte, hatte der Hauptmann „seine Kommandoge[w]alt dahin gehend ausgenutzt, daß er die Offiziere zu seiner perversen Leidenschaft gezwungen habe, die nach deutschem Gesetz unter Paragraph 175 mit Zuchthaus bestraft wird, ja sogar tätlich mit der Reitpeitsche dabei vorgegangen sei.“1350 Serno echauffierte sich sehr über diese „Sauerei gegenüber ihm anvertrauten Offizieren“, mußte jedoch feststellen, daß sowohl sein türkischer Adjutant als auch die deutschen Stellen die Angelegenheit gelassener sahen. Er meldete den Vorfall bei der deutschen Militärmission und sogar bei Bronsart von Schellendorff, dem deutschen Stellvertreter Envers, und erhielt bei beiden ähnliche Reaktionen: „Der [Major von König, Adjutant Limans] belustigte sich über meine Niedergeschlagenheit und Sorge, lachte und setzte mir auseinander, daß ich da türkisch umlernen müßte; denn das sei in der Türkei nicht strafbar und keinesfalls so ehrenrührig, wie ich es nach deutschen Begriffen auffaßte. Ich sollte den Hauptmann Fuad einfach rausschmeißen aus der Fliegertruppe.“1351 1349 HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 37f. u. S. 43f. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 55. Der §175 des am 1. Januar 1872 inkraftgetretenen Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich besagte: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren [sic] begangen wird, ist mit Gefängniß [sic] zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetze vom 31. Mai 1870 und dem Gesetze vom 15. Mai 1871, Berlin 1871, S. 52. 1351 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 55f. 1350 363 Das Ergebnis der Sache war, daß Hauptmann Fuad selbst um seine Versetzung ersuchte, bevor er von Serno bestraft werden konnte, und eine weitere Verfolgung damit endgültig unterblieb. Auffällig ist hier die nahezu „entspannte“ Reaktion der Deutschen, wenn es sich nicht um Vergehen eigener Offiziere handelte. Daß in solchen Fällen rascher und ernsthafter reagiert wurde, bestätigen auch zwei weitere Erlebnisse Erich Sernos. Im Laufe des Krieges ereignete sich ein ähnlicher Vorfall, wie der oben beschriebene, allerdings mit deutscher Beteiligung. Serno hatte aus Gefälligkeit für Bronsart das Versetzungsgesuch eines deutschen Oberleutnants bewilligt, der zur osmanischen Fliegertruppe versetzt werden wollte, und zwar ohne zuvor dessen Personalakte zu prüfen. Kurze Zeit später stellte sich heraus, daß der Offizier seine Versetzung offenbar mit einem bestimmten Hintergrund angestrebt hatte, denn sein Vorgesetzter Offizier beklagte sich „er betätige sich mit seinen türkischen Kameraden auf dem Gebiete des § 175“.1352 Obwohl in diesem Falle nicht gewaltsam eine Vorgesetztenposition ausgenutzt worden war, sondern es allem Anschein nach zu einvernehmlichen Handlungen kam, stand die Reaktion Sernos seiner vorherigen in keiner Weise nach, so daß rasch und energisch die Ablösung des Betreffenden durchgesetzt wurde. Als besäße dieses Vorkommnis allein nicht bereits genug Ähnlichkeit mit türkischem Verhalten, das wohlgemerkt aus deutscher Sicht eine Straftat war, fiel ausgerechnet auch noch der bekannteste deutsche Jagdflieger im Nahen Osten durch die „Adaption orientalischer Sitten“ unangenehm auf. Oberleutnant Buddecke hatte beim Glücksspiel gegen einen hohen Funktionär einer osmanischen Eisenbahn gewonnen. Da der Verlierer nicht über genug Bargeld verfügte, stellte er dem deutschen Flieger einen Güter-Waggon zur freien Verfügung, den dieser, genau wie es so häufig an den türkischen Verbündeten kritisiert wurde, an einen Händler vermietete und einen ansehnlichen Nebenverdienst einstrich. Als Major Serno davon erfuhr, legte er sogleich an höchster Stelle Beschwerde gegen Buddecke ein, der dann aber selbst seine Rückversetzung an die Westfront beantragte, als die OHL von den Vorgängen erfuhr.1353 So wurde auch in diesem Fall wieder eine „Lösung“ gefunden, bevor ein 1352 1353 MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 126. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 126. 364 öffentlicher Skandal in Deutschland um den bekannten Jagdflieger entstehen konnte, der möglicherweise der türkischen Seite „Angriffspunkte“ geboten hätte, um die deutsche Überheblichkeit anzuprangern. Zwei wichtige Erkenntnisse müssen bereits hier als Zwischenergebnis festgehalten werden: 1. Die deutschen Offiziere im Osmanischen Reich entsprachen nicht alle dem Idealbild, das so gern dem „verlausten türkischen Offizier“ gegenübergestellt wurde. Im Gegenteil, manche machten sich ähnlicher Vergehen schuldig wie die kritisierten Verbündeten. 2. Obwohl die verantwortlichen Stellen oft erstaunlich gut informiert waren, ist ein aktives Gegenlenken, etwa eine ausdrückliche Belehrung neuversetzter Offiziere oder die Abschreckung durch öffentliche Ahndung der Vergehen, nicht zu erkennen. Die bekannten „Vorfälle“ waren offenkundig nicht mit dem Selbstverständnis des Offizierkorps vereinbar, wurden anscheinend aber als Ausnahmen angesehen, gegen die Prävention unnötig erschien. Die häufigste Reaktion darauf war daher eine Vertuschung der Vorfälle, womit eine weitgehende Straffreiheit des Täters einherging. Für den Fall, daß ein Kaschieren unmöglich erschien oder die Person als „untragbar“ eingestuft wurde, versetzte man den Betreffenden höchstens aus dem Orient zurück an eine der europäischen Fronten. Schließlich muß noch auf ein weiteres, bedeutendes Feld von „Fehlverhalten“ verwiesen werden, nämlich auf Konflikte deutscher Offiziere untereinander. Schon bei flüchtigem Studium der Quellen läßt sich erkennen, daß die Deutschen im Orient keineswegs eine „homogene“ Gruppe bildeten, die aufgrund nationaler Identität oder der Zugehörigkeit zum Offizierstand – wenn man überhaupt von einem einheitlichen „Stand“ sprechen kann – geschlossen gegenüber dem osmanischen Offizierkorps auftrat. Hier muß zunächst wieder auf die beiden bekanntesten deutschen Offiziere im Osmanischen Reich verwiesen werden: die Marschälle Liman und Falkenhayn. Daß diese keine diplomatisch geschickten Repräsentanten des Deutschen Reichs waren, ist bereits angeklungen. Doch ihre Meinungsverschiedenheiten trugen sie eben nicht nur 365 mit dem türkischen Verbündeten aus, sondern auch mit deutschen Offizieren. Liman von Sanders stand beispielsweise nicht etwa nur mit Enver Pascha in persönlichem Streit, sondern gleichzeitig auch mit Bronsart von Schellendorff, den er 1914 zur Verwendung als 2. Chef des türkischen Generalstabes von der Militärmission hatte abgeben müssen.1354 Im Zuge des schlimmer werdenden Zerwürfnisses zwischen dem türkischen Kriegsminister und dem Chef der Militärmission verschlechterte sich auch das Verhältnis zwischen Bronsart und Liman. In vielen Fragen der Kriegführung stand Bronsart auf der Seite Enver Paschas und für Liman von Sanders wurde er damit vom Berater zum „Mittäter“ in Bezug auf den militärischen Dilettantismus des Vizegeneralissmus. Ganz besonders deutlich wird diese Auffassung in einem Privatbrief Limans, den er nach dem Kriege an Carl Mühlmann, seinen ehemaligen Adjutanten bei der 5. Armee, schrieb und in dem er harsche Kritik an Fehlentscheidungen bei den Dardanellenkämpfen übt, die seiner Ansicht nach durch „Enver-Bronsart“ verursacht worden waren.1355 Die Liste derjenigen, mit denen Liman von Sanders in Konflikt geriet, ist jedoch noch weitaus länger. So mußte auch Freiherr von der Goltz bald feststellen, daß der Chef der Militärmission eifersüchtig über seinen Befehlsbereich wachte. Als Liman 1915 den Oberbefehl über die neuaufgestellte 5. Armee übernahm und Goltz den Befehl über die 1. Armee bekam, stellten sich bald erste Kompetenzstreitigkeiten ein. Da die Verbände der 1. Armee nicht unmittelbar in Kampfhandlungen an den Meerengen verwickelt waren, fiel ihnen die Sicherung der Nachschublinien im Gebiet der 5. Armee zu. Deren Befehlshaber hatte damit keine Befehlsgewalt über Truppen, die in seinem rückwärtigen Raum standen, was ihn offenbar sehr verärgerte. Goltz schreibt dazu: „Meine Beziehungen sind, mit allem was türkisch ist, die besten, die sich denken lassen. General v. Liman freilich scheint in mir, obwohl ich seine Interessen nie gekreuzt habe, einen gefährlichen Feind zu erblicken. Er spielt, wenn er irgendwas erreichen will, den „wilden Mann“, womit er vielfach seinen Zweck erreicht. [...] Ich beurteile die Lage weniger tragisch. Wo Liman festen Willen trifft, den er nicht zu brechen vermag, fügt er sich. Ein Konflict [sic], wenn er kommt, was ich noch bezweifle, wird Europa nicht mehr erschüttern, als es schon erschüttert ist. Meine 1354 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 30. Schon hier äußerte Liman „fachliche Bedenken“ gegen Bronsart. 1355 Brief von Liman an Mühlmann aus München vom 30.1.1927, BAMA Freiburg, W 10/ 51475. 366 Abberufung würde bei den Türken, zumal beim Sultan, der mir aufrichtiges Vertrauen schenkt, keine Freude erregen. Ich glaube auch, ihm und dem Lande bisher gute und nicht unbedeutende Dienste geleistet zu haben.“1356 In der Tat hatte Liman versucht, über den Militärbevollmächtigten Otto von Lossow die Abberufung des Freiherrn von der Goltz zu erwirken, was jedoch am türkischen Widerstand scheiterte. Weitere Zusammenstöße blieben daher nicht aus, Goltz behielt aber die Oberhand, was einerseits an seinem Ruf im Osmanischen Reich, aber andererseits auch in seinem deutschen (!) Rang eines Generalfeldmarschalls gelegen haben mag, der auf Liman sicher nicht ohne Eindruck blieb.1357 Freiherr von der Goltz besaß allerdings noch einen weiteren gravierenden Vorteil in der Auseinandersetzung mit Liman von Sanders: Er gehörte nicht der deutschen Militärmission an, sondern war vom Deutschen Kaiser direkt dem Sultan unterstellt worden. Diejenigen Offiziere, die der Mission unterstanden, mußten mit härteren Maßnahmen des Chefs rechnen. Liman hatte offenbar schon kurz nach seiner Ankunft in Konstantinopel stark unter psychischem Streß zu leiden, der sich nicht nur negativ auf seine sozialen Kontakte, sondern auch auf den Dienst auswirkte.1358 Als die britisch-französischen Landungen an den Dardanellen begannen, befahl er ständige Gegenangriffe, die jedesmal unter hohen Verlusten fehlschlugen. Als er erkannte, daß er zur Verteidigung übergehen mußte, wollte er dem preußischen Oberst der Pioniertruppe und türkischen Generalmajor Weber – der zuvor die französische Landung auf dem asiatischen Festland abgewehrt hatte – den entsprechenden Abschnitt der Südfront übergeben. Als Limans Adjutant Prigge jedoch eine unbestätigte Meldung brachte, daß die britischen Truppen sich auf dem Rückzug befänden, änderte sich das Verhalten des Befehlshabers der 5. Armee schlagartig: „Jedenfalls änderte diese Meldung ohne weiteres die ungünstige Auffassung des O.B. über die Lage; er sprach seine Genugtuung über den endlichen Erfolg seiner Angriffe 1356 Abschrift eines Privatbriefes von Goltz an Moltke vom 7.9.1915, BAMA Freiburg, N 78/ 3, Blatt 23. 1357 Abschrift eines Privatbriefes von Goltz an Moltke vom 27.9.1915 (Vertraulich!), BAMA Freiburg, N 78/ 3, Blatt 24. 1358 Schreiben von Botschafter Wangenheim an das Auswärtige Amt in Berlin vom 16.3.1914 (Streng Geheim!), BAMA Freiburg, W 10/ 50748. Siehe hierzu auch: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 138-140. 367 aus, traf Anordnungen für eine kraftvolle Verfolgung und befahl meine Rückkehr zum XV. A.K., da er meiner nun nicht mehr bedürfe.“1359 Weber blieb jedoch beim Stab der 5. Armee und bekam mit, wie Major Lange – Divisionskommandeur im betreffenden Abschnitt – dem Oberbefehlshaber mitteilen ließ, daß seine Truppen so erschöpft seien, daß sie keine weiteren Kampfhandlungen überstehen würden, wenn die Angriffe nicht abgebrochen werden würden. Liman wischte diese Meldung mit der Bemerkung beiseite, er kenne Lange als „Flaumacher“. Erst als Aufklärungsflüge belegten, daß die britischen Truppen keineswegs abzogen, befahl Liman die Einstellung der Angriffe und übergab Weber doch das vorgesehene Kommando.1360 Generalmajor Weber zog aus dieser Erfahrung die Lehre, seinen eigenen Wahrnehmungen der Lage vor Ort mehr zu vertrauen als Befehlen des Armeechefs, denn Befehle, von deren Unrichtigkeit er überzeugt war, führte er nur aus, wenn er von Liman eine schriftliche Bestätigung erhielt, die jedoch in den meisten Fällen ausblieb.1361 Dies ist eine Handlungsweise, die sonst von Deutschen nur gegenüber Türken angewandt wurde.1362 Es verwundert nicht, daß der Konflikt erst mit der Ablösung Webers von seinem Kommando endete. Wie schnell der Chef der Militärmission zu erzürnen war, zeigt auch ein Schreiben an General von Seeckt, das Liman als Oberbefehlshaber in Syrien und Palästina verfaßte. Hierin beschwert er sich über den deutschen Major von Feldmann, den Chef der Operationsabteilung des türkischen Generalstabes, weil er sich mehrerer „Achtungsverletzungen“ schuldig gemacht habe. So habe er es gewagt, einem türkischen Offizier gegenüber ein Urteil über die Handlungsweise Limans abzugeben, obwohl Feldmann doch keine Ahnung von der wahren Lage vor Ort habe. Außerdem habe der Generalstabsoffizier ein Schreiben Envers in „ungebührlicher Weise“ übersetzt und an Liman von Sanders geschickt: „So muß ich den Ausdruck ‚nachholen’ von einem deutschen Stabsoffizier aufgesetzt an einen preuß. General der Kavallerie und Führer einer Heeresgruppe in dem bestehenden Zusammenhang als gänzlich unpassend bezeichnen. Nachholen schließt 1359 Schreiben des General d. Inf. a.D. Weber an das Reichsarchiv (Ohne Datum, Eingangsstempel RA: 12.Januar 1924),BAMA Freiburg, W 10/ 51474, S. 10. (Im Folgenden: W 10/ 51474, Schreiben General Webers an das Reichsarchiv.) 1360 W 10/ 51474, Schreiben General Webers an das Reichsarchiv, S. 11f. 1361 W 10/ 51474, Schreiben General Webers an das Reichsarchiv, S. 14f. 1362 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 27f. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 28f. 368 ein Versäumnis ein. [...] Seit dem letzten Teile des Dardanellen-Feldzuges, nachdem Major von Feldmann die Operationsabteilung übernommen hatte, sind viele Vorgänge zu verzeichnen, welche nicht mit der in der preuß. Armee gebotenen Achtung eines Majors gegen einen der ältesten Generale der Armee in Übereinstimmung zu bringen sind. Ich habe bisher nur im Interesse unserer großen Sache unterlassen durch Meldung an Seine Majestät einzuschreiten. Ich dulde aber dieses Verhalten keineswegs länger.“ 1363 Wie der Konflikt mit Feldmarschall von der Goltz zeigte, nahm es Liman selbst nicht „so genau“ mit der „gebotenen Achtung“ gegenüber einem dienstälteren und ranghöheren Offizier. Eine Folge dieser ständigen Konflikte Limans mit anderen deutschen Offizieren offenbarte sich jedoch spätestens nach der Ablösung des Generals Weber im Sommer 1915, denn der Marschall besetzte die wichtigen Stabspositionen und Kommandos innerhalb seiner Armee mit türkischen Offizieren und entließ die deutschen Stabsoffiziere mit Ausnahme seiner engsten Vertrauten.1364 Allerdings tat er das in erster Linie nicht, um seinen Ruf beim türkischen Verbündeten – der durch seine Opposition zu Enver als dem mächtigsten Mann im Osmanischen Reich ohnehin irreparabel beschädigt war – zu verbessern oder gar auf die Erfahrungen „ortskundiger“ Offiziere zurückgreifen zu können. Hier „säuberte“ ein deutscher General vielmehr seinen Stab von den „widerspenstigen, eigenwilligen“ Deutschen und setzte lieber auf die als unselbständig „bekannten“ türkischen Offiziere. Ritter Mertz von Quirnheim spricht von einer „erklärten Absicht“ Limans, die deutschen Offiziere im Stabe in den Hintergrund zu drängen. Als Beispiel dafür führt er an, daß Liman seine deutschen Offiziere nicht von operativen Vorhaben wie bestimmten Angriffen unterrichtete, sondern diese erst durch türkische Offiziere davon erfuhren.1365 So wollte Marschall Liman wohl sicher gehen, daß gegen seine Pläne keine Einsprüche laut wurden. 1363 Abschrift eines Briefes von Liman von Sanders an General von Seeckt vom 26.4.1918, BAMA Freiburg, N 247/ 49, Blatt 8. 1364 Abschrift eines Privatbriefes von Goltz an Moltke vom 3.8.1915 (Vertraulich!), BAMA Freiburg, N 78/ 3, Blatt 20. 1365 W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 22. 369 In ähnlicher Weise „säuberte“ auch General von Falkenhayn seinen Stab von deutschen Offizieren. Er besetzte die Stellen jedoch wieder mit anderen deutschen Offizieren, vorzugsweise mit solchen, die von der Westfront kamen und keine Orienterfahrung besaßen. Erneut ist es Mertz von Quirnheim, der darüber berichtet: „General von Falkenhayn tat sich geradezu etwas Gutes darauf, alle deutschen Offiziere, die vor dem Frühjahr 1917 in den osmanischen Armeen und Diensten standen, als ‚vertürkt’ zu betrachten und ohne irgendwelche Rücksicht auf diese seine eigenen Wege zu gehen. [...] Den General von Bronsart straft er eigentlich mit Verachtung und lehnte auch meine Anregung mit der deutschen Militärmission, besonders mit deren Chef, in persönliche Verbindung zu treten, schroff ab. – Auf seiner Erkundungsreise nach Mosul (Mai 1917) sprach er mit den bei der 6. Armee befindlichen deutschen Offizieren kein Wort. In Palästina war es bei seinem ersten Aufenthalt (ebenfalls Mai 1917) kaum besser. [...] Die deutschen Grundsätze sollten auch für die Türken gelten. Als ein deutscher älterer Stabsoffizier den General auf die Bedenken einer solchen Forderung hinwies, drohte Falkenhayn ihn ‚sofort nach Europa’ zurückzuschicken und erklärte solche ‚Aeusserung als Boykott seiner Anordnungen’. [...] Was v.F. mit dieser ‚Personalpolitik’ bezweckte, ist völlig unklar. In seinem Stabe erhoben sich keine warnenden Stimme[n], sie wären wohl auch nicht gehört worden.“1366 Auch wenn Mertz hier augenscheinlich Zweifel hegt, so dürfte er das Ziel der „Personalpolitik“ Falkenhayns deutlich erkannt haben: Jeden Widerspruch oder die zeitverzögerte Umsetzung seiner Befehle, den er bei türkischen Stellen und offenbar auch „vertürkten“ Deutschen erwartete, im Ansatz zu unterbinden und seine uneingeschränkte Autorität zu verdeutlichen. Ironischerweise war es die Straffung der Hierarchie, durch die er das Zerwürfnis mit Djemal Pascha provozierte, das später zur Ablösung Falkenhayns führte. Auf eine wichtige Vokabel in diesem Bericht ist noch näher einzugehen. Das Wort „vertürkt“ wurde von Falkenhayn offenbar als „Schimpfwort“ für länger im Osmanischen Reich dienende Offiziere benutzt. Oberstleutnant Hans von Kiesling, Generalstabsoffizier der 6. Armee in Mesopotamien, gibt eine Definition des Begriffes: 1366 W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 2-4. 370 „Vertürkt war in jener Zeit ein Eigenschaftswort, das die in Konstantinopel sitzenden, weit vom Schuß befindlichen Herren ebenso wie mancherlei Leute in Deutschland gerne auf diejenigen Offiziere anwendeten, die bestrebt waren, zum Nutzen des großen Ganzen harmonisch mit den Türken zusammenzuarbeiten, und die vielfach keinen Hehl daraus machten, wie die am grünen Tisch beschlossenen Anordnungen sich den realen Tatsachen und der rauhen Wirklichkeit gegenüber als undurchführbar erwiesen.“1367 Auch Generalmajor Oskar Gressmann Pascha und der spätere osmanische Generalmajor von Gleich bestätigen diese Verachtung gegenüber „vertürkten Deutschen“.1368 Das bekannteste mit diesem „Etikett“ versehene Opfer war Freiherr Kreß von Kressenstein, der nach dem britischen Durchbruch in der 3. Schlacht um Gaza durch General von Falkenhayn von seinem Posten als Befehlshaber der 8. Armee abgelöst und in den Stab der Heeresgruppe F versetzt wurde. Er beklagt sich über das Verhalten Falkenhayns bei Bronsart von Schellendorff: „(Leider bildete sich vom ersten Tage an ein gewisser Gegensatz zwischen dem Heeresgruppen-Kommando und mir heraus, den Exz. von Falkenhayn, wie ich vermute, darauf zurückführt, dass es mir am nötigen Offensivgeist, an der Freude an aktiven Unternehmungen und an der nötigen Schärfe gegenüber den Türken fehlt.) Ich führe den Gegensatz darauf zurück, dass Exz.Falkenhayn [sic] weder (die Armeen die er kommandiert, noch) den Charakter des türkischen Volkes, noch den Kriegsschauplatz kannte, (oder ich darf sagen: kennt.) (Exz. Hatte nichts von den Truppen, mit denen er arbeitete, gesehen.) Meine Berichte und Erzählungen und Wahrnehmungen wurden, (wie dies ja bei uns Deutschen leider immer der Fall ist,) als Uebertreibungen und als der Ausfluss des Pessimismus und der Vertürkung angesehen und man glaubte, durch festen Willen, durch Energie und rücksichtsloser [sic] Grobheit in kurzer Zeit alle Uebelstände, die aus einer hundertjährigen Verbummelung hervorgehen, beseitigen und beheben zu können. Exz.v.F. führte die 1367 Kiesling, Hans von [d.i. Hans Edler von Kiesling auf Kieslingstein]: Mit Feldmarschall von der Goltz Pascha in Mesopotamien und Persien, Leipzig 1922, S. 109. 1368 Aus den Erinnerungen von Oskar Gressmann, Exc., General und Pascha, KA München, M 68, S. 24. Oberst von Gleich, dem lange Zeit das Tragen der türkischen Uniform untersagt war, wurde nach dem Tode des Feldmarschalls von der Goltz als Generalmajor in die osmanische Armee aufgenommen. Obwohl er damit erst verhältnismäßig spät in den Dienst des Sultans übertritt, haftet bald auch ihm der Ruf an, er sei „vertürkt“. Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 111f. u. S. 134. 371 türkische Armee im Grenzgebiet der Wüste, wie man eine deutsche Armee im zivilisierten Europa führt.“1369 Fehlende Härte gegenüber dem rückständigen Bündnispartner und Kritik an harten Entscheidungen deutscher Vorgesetzter beim Einsatz von Türken waren demnach die wichtigsten „Symptome der Vertürkung“. Die gesammelten Erfahrungswerte der bereits länger im Orient dienenden Offiziere wurden auf eine eigenartige Weise pervertiert, denn man glaubte nicht nur, sich über solche Ratschläge hinwegsetzen zu können, sondern man sah in Verweisen auf die Realitäten vor Ort eine unzulässige Kritik oder gar Insubordination, unter Umstäden auch einen Grund, den betreffenden „Orientkämpfer“ zu maßregeln oder gar von seinem Posten abzulösen. Einschränkend muß jedoch festgestellt werden, daß keineswegs alle Neuankömmlinge aus Deutschland so über ihre erfahrenen Kameraden im Osmanischen Reich dachten. Hans Guhr und Ludwig Schraudenbach etwa sammelten während ihrer Reise in die Türkei so viele Berichte von deutschen Offizieren, wie sie konnten.1370 Gerold von Gleich schreibt die Verachtung für „vertürkte“, „zu lasche“ Offiziere auch eher einem bestimmten Personenkreis zu: „Nichts war verfehlter und erfolgloser, als wenn manche Deutsche mit dem festen Vorsatz nach der Türkei kamen, den trägen Türken ‚tüchtig auf den Schwung zu bringen’. Derartigen Gelüsten sind meist solche erlegen, deren eigenes Können weniger vorbildlich war.“1371 Zu diesem Personenkreis zählten offenbar besonders die hohen Stabsoffiziere der Heeresgruppe F, wie Falkenhayn selbst, aber eben auch sein Stabschef, der preußische Oberst und später Generalmajor von Dommes, der deutschen Offizieren voller Zorn Kriegsgerichtsverfahren androhte, wenn es auf den türkischen Nachschublinien zu Verzögerungen bei Treibstofflieferungen kam.1372 Die türkeiunerfahrenen Offiziere des Stabes der Heeresgruppe waren sich der 1369 Auszug aus einem Brief von Kreß von Kressenstein an Bronsart von Schellendorff aus Nablus vom 2.12.1917, BAMA Freiburg, N 247/ 40, Blatt 10. Die runden Klammern sind im Original handschriftlich eingefügt worden. 1370 Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S.20 u. S. 26-28. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 29, S. 34f. u. S. 50. 1371 Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 94. 1372 Aktenvermerk des Hauptmann Paschasius aus Jerusalem vom 7.11.1917, BAMA Freiburg, PH 20/ 11, Blatt 65-68. 372 Schwierigkeiten im fremden Land offenbar nicht bewußt, was sogar nachweislich „nicht-vertürkten“ Beobachtern wie Oberst Mertz von Quirnheim negativ auffiel: „Die Illusionen waren unerhört. Der Generalstabschef General von Dommes glaubte in vollem Ernste eine Angriffsarmee bei Berseba versammeln und mit dieser durch die Wüste gegen die rechte englische Flanke vorstossen zu können. Die Transportleistungen der Eisenbahn wurden auf dem Papier einfach in die entsprechende Höhe gesetzt und dann damit als gegebene Faktoren gerechnet. Das Wasser wollte man in allem Ernste den angreifenden Truppen auf Automobiltankwagen nachführen! ! [...] Wie verheerend musste die harte Wirklichkeit im Oktober November 1917 [sic] auf solche Phantasien wirken, kein Wunder wenn ‚die Nerven bald versagten’. Und nun suchte man einen ‚Schuldigen’.“1373 Diese Schuldigen fand man zum einen in den unzulänglichen türkischen Ressourcen, aber zum anderen auch in Form „vertürkter“ Deutscher. Für den Betrachter stellt sich allerdings die Frage, ob die angesprochenen „Illusionen“ entstanden, weil unter dem Druck britischer Angriffe schnelles Handeln erforderlich war, das ein ausführliches Einarbeiten in das Operationsgebiet nicht erlaubte, oder ob nicht tatsächlich hier auch deutschen Offizieren – zumindest in Teilen – „militärischer Dilettantismus“ zumal auf fremdem Kriegsschauplatz vorgeworfen werden muß. Daß jedenfalls nicht alle Stabsoffiziere Falkenhayns die Augen vor der „orientalischen Realität“ verschlossen, beweist das Beispiel des mahnenden Franz von Papen, dessen Stimme bezeichnenderweise ungehört blieb. Eines machen die Beispiele auf jeden Fall deutlich: Die deutschen Offiziere im Osmanischen Reich, insbesondere die höheren Offiziere, trugen zahlreiche Konflikte untereinander aus, die sich äußerst hinderlich auf die Dienstgeschäfte auswirkten. Die sturkturellen Bedingungen des Einsatzes im Orient trugen zu Mißverständnissen und Reibungen ihren Teil bei, denn viele Details der deutsch-türkischen Zusammenarbeit waren nicht festgelegt worden und die „Zwitterstellung“ deutscher Offiziere in türkischer Uniform konnte auch im Umgang mit ihren Landsleuten zu Komplikationen führen von denen das Stigma der „Vertürkung“ nur eine war. Solche Streitigkeiten waren geeignet, das Ansehen der Deutschen bei ihrem osmanischen 1373 W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 20f. 373 Bündnispartner zu schädigen. Ausgerechnet General von Falkenhayn warnt in einem Tagesbefehl des Heeresgruppenkommandos F vor den Folgen: „Sie [die deutschen Offiziere und Angehörigen der Heeresgruppe] dürfen niemals vergessen, daß sie fortgesetzt unter schärfster Beobachtung stehen, und daß jeder Fehler des Einzelnen der Gesammtheit [sic] zur Last gelegt wird. Von der überwiegenden Mehrheit hier werden wir, wie es nicht anders sein kann, durchaus nicht durch verschönernde Gläser vielmehr mit sehr kritischen Augen betrachtet.“1374 Eine „ordnende Hand“, die solche Vorgänge hätte unterbinden können, gab es für die Deutschen im Osmanischen Reich jedoch nicht. Die Militärmission, ursprünglich als ein solches Zentralorgan für die deutschen Militärberater im Orient konzipiert, versagte in dieser Aufgabe völlig, da sie zu deren Wahrnehmung unter Kriegsbedingungen nicht angelegt war und zudem auf viele Hindernisse beim Verbündeten stieß, aber auch, weil der Posten des Chefs sehr unvorteilhaft besetzt worden war. Daneben wurde die zentrale, bündelnde Funktion der Mission dadurch ausgehebelt, daß der deutsche Chef der Flotte, der Militärbevollmächtigte in Konstantinopel, Freiherr von der Goltz in seiner Stellung beim Sultan und später auch der Befehlshaber der Heeresgruppe F sowie zahlreiche weitere deutsche Stellen – sowohl militärische und diplomatische – unmittelbar nach Deutschland berichten konnten.1375 In Deutschland trafen diese Meldungen wiederum bei verschiedenen Stellen, wie OHL, Auswärtigem Amt oder beim Kaiser direkt ein. Von einem einheitlichen Instanzenzug kann demnach keine Rede sein, die strukturellen Schwächen in der Exekutive des Reichs spiegelten sich demnach auf der deutschen Seite in der Türkei und erhielten unter den schwierigen Kriegsbedingungen eine besondere Brisanz.1376 Außerdem war der deutsche Große Generalstab zu weit vom Osmanischen Reich entfernt, um effektiv zur Lösung von Kompetenzfragen oder Klärung von Befehlsverhältnissen beitragen zu können. In der Regel beschränkte sich ein Eingreifen auf die Ermahnung aller Beteiligten, doch „um des großen Ganzen Willen“ eine Einigung zu finden. 1374 Tagesbefehl Nr. 1521 des Heeresgruppenkommandos F vom 30.07.1917, BAMA Freiburg PH 20/ 10, Blatt 15. 1375 Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 27-29. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 295f. 1376 Siehe hierzu: Deist, Militär und Innenpolitik 1970, S. XL-LI. 374 In gewisser Hinsicht boten diese Mängel des deutschen Engagements im Orient daher einen „rechtsfreien Raum“ für ambitionierte Offiziere. In Ermangelung einer allgemein anerkannten Autorität mag es kaum überraschen, daß zum Teil mit übertriebener Härte versucht wurde, den eigenen Befehlsbereich abzusichern. Daß ein solches Verhalten den eigentlichen militärischen Auftrag gefährden konnte, wurde dabei häufig übersehen. Von den Konflikten zwischen den militärischen und den diplomatischen Vertretern Deutschlands ist dabei noch gar nicht gesprochen worden.1377 Abschließend muß für die deutschen Soldaten und auch Offiziere festgestellt werden, daß sie keineswegs immer Repräsentanten eines „zivilisatorisch höherstehenden Europas“ waren. Sie machten sich teilweise der gleichen Vergehen schuldig, für die sie die türkischen Militärangehörigen verurteilten. Diese Tatsachen wurden allerdings tunlichst geheim gehalten oder vertuscht, um gegenüber der Türkei den Anschein der deutschen Überlegenheit zu wahren. Ein solches Verhalten trug jedoch kaum zu einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen den Bündnispartnern bei, da hier künstlich eine Kluft konstruiert wurde, statt eine „Brücke des gegenseitigen Verständnisses“ zu errichten. Deutschen und insbesondere türkeiunerfahrenen Offizieren wurde es daher sehr einfach gemacht, gegenüber dem „rückständigen Osmanen“ arrogant aufzutreten. Diese Haltung stieß jedoch mit zunehmender Kriegsdauer auf deutliches Mißfallen beim Verbündeten, der sich wohl nicht völlig zu Unrecht an die „kolonialherrliche“ Einstellung der Großmächte erinnert fühlte, deren Kapitulationen die Hohe Pforte so zielstrebig verworfen hatte. Außerdem hatten die Erfolge an den Meerengen und bei Kut-el-Amara das osmanische Selbstvertrauen soweit gestärkt, daß man glaubte, als gleichberechtigter Partner angesehen werden zu können. Wenn aber der deutsche Bundesgenosse seinen eigenen Überlegenheitsdünkel offen zur Schau trug, so war der Konflikt zwischen Orient und Okkzident vorprogrammiert. Umgekehrt gibt es aber auch viele Beispiele für deutsche Offiziere, die bereit waren, sich bis zu einem gewissen Maße auf die „Eigentümlichkeiten“ des Osmanischen Reiches einzulassen, und zu Kompromissen 1377 Siehe hierzu die bereits mehrmals zitierten Werke: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976; Weber, Eagles on the Crescent 1970; Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968. 375 gelangen konnten, die ihnen erlaubten, den Rahmen der Möglichkeiten an den kleinasiatischen Fronten voll auszuschöpfen. Freiherr Colmar von der Goltz, Freiherr Kreß von Kressenstein, Hans Guhr, Erich Serno oder Rudolf Firle sind einige dieser positiven Beispiele. V.3. „Am deutschen Wesen.....“1378 – Erfolge deutscher Militärhilfe? Die Ausführungen über das deutsch-osmanische Bündnis lassen erkennen, daß Reibungen und Mißverständnisse beinahe alltäglich waren. Dabei trug das Verhalten der deutschen Militärberater meist nicht zum Ausgleich, geschweige denn zum Spannungsabbau bei.1379 Die oftmals starre Dienstauffassung der Deutschen erschwerte eine Zusammenarbeit besonders dann, wenn die Europäer versuchten, ihre Ausbildungs- und Führungsgrundsätze unverändert auf die orientalischen Verhältnisse zu übertragen. Die „erfolgreiche Tätigkeit“ – die Dimensionen von „Erfolg“ sind im Folgenden noch zu eruieren – hing eben nicht allein von der fachlichen Bildung der Missionsoffiziere ab, sondern auch von der sozialen und politischen Kompetenz sowie dem Verständnis für andere Kulturen und Mentalitäten, die diese mitbrachten. Nur so konnten die „Fremden“ hoffen, sich in den orientalischen Strukturen das Vertrauen und Ansehen zu sichern, das nötig war, um zumindest ansatzweise osmanische Unterstützung zu erfahren. Doch nur wenige 1378 Frei nach dem Gedicht „Deutschlands Beruf“ von Emanuel Geibel (1815-1884) in dem es heißt: „Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen.“ Zit. nach: Conrady, Karl Otto (Hrsg.): Der Neue Conrady – Das große deutsche Gedichtbuch. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf/Zürich 2000, S. 493. In abgewandelter Form wird diese Zeile häufig als Versinnbildlichung des deutschen Weltmachtstrebens unter Wilhelm II. genutzt. Dabei wird jedoch oft die eigentliche Intention des Dichters verkannt, der diese Zeilen bereits 1861 verfasste, um seinem Wunsch nach einer Vereinigung der deutschen Staaten Ausdruck zu verleihen. In der hiesigen Überschrift soll die Zeile die deutsche Militärhilfe mit dem Ziel eines siegreichen Kriegsverlaufs, aber auch den Führungsanspruch im Bündnis sowie den Überlegenheitsanspruch der Berater thematisieren. 1379 Auch wenn die türkische Seite nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist, so läßt sich doch erkennen, daß auch osmanische Stellen manchen Konflikt durch ihr Verhalten auslösten oder gar verschärften. Insbesondere die Wahrnehmung der Siege an den Meerengen und in Mesopotamien als osmanische Erfolge resultierte in einem zunehmenden „türkischen Chauvinismus“ – wie Weber es nennt – , der wiederum zu einem Beharren auf den jeweiligen Selbst- und Fremdeinschätzungen statt zu gegenseitiger Anerkennung der (Hilfs-)Leistungen führte. Weber, Eagles on the Crescent 1970, S. 159. 376 Deutsche waren sich solcher Implikationen ihrer Stellung am Bosporus bewußt.1380 Dies kann insofern kaum verwundern, als sich der Auftrag der Militärmission und des selbständigen „Asienkorps“ ausschließlich auf den militärischen Sektor beschränken sollte. Zudem hatte die türkische Seite mehr als einmal deutlich gemacht, daß Einmischungen in innenpolitische oder administrative Angelegenheiten unerwünscht waren. Doch realiter war das Politisch-Zivile mit dem Militärisch-Dienstlichen häufig so stark verwoben, daß es sich nicht voneinander trennen ließ. Unter dieser Problematik mußte besonders die Tätigkeit der Militärmission leiden, hatten General Liman von Sanders und die Hohe Pforte in ihrem Vertragswerk doch absichtlich einen unpolitischen Ansatz verfolgt. Die nur vage – aber großzügig – definierten Einflußsphären des Missionschefs machten ein nachträgliches „Ausloten“ der tatsächlichen Kompetenzen ebenso notwendig wie die unklare und auf Friedensbedingungen gemünzte Auftragsformulierung. Liman besaß jedoch weder das notwendige Einfühlungsvermögen noch die Kompromißbereitschaft, um seine Position etwa mit Hilfe von Enver Pascha und der jungtürkischen Partei zu festigen. Für die Offiziere der geschlossenen deutschen Formationen der Heeresgruppe F gestalteten sich die Einflußmöglichkeiten noch schwieriger, denn sie unterstanden nicht der Mission, waren damit keine Angehörigen des osmanischen Heeres und besaßen somit keinen festen Platz in der orientalischen Hierarchie. Dennoch versuchten die Deutschen – ohne Rücksicht auf das systemimmanente und – stabiliserende Geflecht parteilicher, gruppenspezifischer oder persönlicher Bindungen der türkischen Offiziere – die Führung zu übernehmen, da sie nur so glaubten, eine effektive und letzlich erfolgreiche Kriegführung auf den orientalischen Schauplätzen gewährleitsen zu können. Dadurch provozierten sie beim Verbündeten oft Unwillen zur Kooperation. Der Konflikt zwischen General von Falkenhayn und Djemal Pascha in Palästina zeigt zudem, daß im Orient politische Faktoren den Dienstbetrieb bishin 1380 Neben den mehrmals erwähnten Beispielen Goltz und Kreß sei hier auch auf General von Seeckt hingewiesen, der als Nachfolger Bronsart von Schellendorfs im Amt des stellvertretenden Chefs des osmanischen Großen Generalstabes rasch feststellen mußte, daß er unentwegt in innen- und außenpolitischen Fragen zu Rate gezogen wurde. Obwohl ihm dabei kaum mangelnder Enthusiasmus vorgeworfen werden kann, war ihm dieses zusätzliche Betätigungsfeld offenbar recht unangenehm. Rabenau, Seeckt 1940, S. 70. 377 zur Gefährdung der Operationen eines gesamten Kriegsschauplatzes überschatten konnten.1381 Es stellt sich demnach die Frage, was im Zusammenhang des Militärbündnisses als „Erfolg“ oder „Leistung“ im Rahmen des deutschen Engagements bezeichnet werden kann. Leistungskategorien sind in diesem Fall nur äußerst schwer festzulegen. Hierbei wirkt sich die militärische Provenienz der Quellen hinderlich aus, sind doch die erhaltenen Stücke fast ausschließlich auf unmittelbar dienstliche Belange des jeweiligen Verfassers fokussiert. So sind zwar Meldungen über Ausbildungs- und Versorgungsmängel bei den Truppen ebensowenig eine Seltenheit wie Gefechtsberichte, hingegen finden sich keine „Evaluierungen“ der deutschen Militärhilfe. Dies führt dazu, daß Verfehlungen oder Probleme sehr ausführlich analysiert werden können, während Verbesserungen oder Lernerfolge höchstens implizit zu erkennen sind. Zunächst sollten allerdings die Ebenen erläutert werden, auf denen sich die „Leistungen“ überhaupt hätten niederschlagen sollen oder können. Der generelle Auftrag der Militärberater bestand in der strukturellen Modernisierung der osmanischen Streitkräfte. Mit Ausbruch des Krieges wurden die Missionsoffiziere jedoch zunehmend in Stabs- oder Kommandofunktionen eingesetzt. Diese deutschen Truppenführer nahmen die Erfolge der Reformbemühungen primär als Faktoren wahr, die sich auf Sieg oder Niederlage im Kampf auswirkten. Die Führung der Militärmission aber auch die Deutschem im osmanischen Großen Generalstab mußten zudem die Gesamtentwicklung auf den Kriegsschauplätzen und deren Auswirkungen auf bündnispolitischer Ebene berücksichtigen. Für Etappenoffiziere hingegen stand eine funktionierende Versorgung und zugleich Zusammenarbeit mit (häufig zivilen) türkischen Behörden im Vordergrund, während Ausbildungsoffiziere die Leistungen ihrer „Schüler“ hauptsächlich im Übungsrahmen bewerten mußten. Somit waren die deutschen Bewertungsmaßstäbe nicht zwangsläufig einheitliche, zumal individuelle Leistungsansprüche stark differieren konnten. Dennoch sind allgemein zwei „Leistungs-Ebenen“ zu berücksichtigen: - Zum einen die militär-fachliche Ebene. Hiermit sind zunächst die Reformen der Grundstrukturen 1381 des osmanischen Streitkräfte Siehe oben, S. 277f. 378 (Ausbildung, Ausrüstung, Formation) gemeint. Zugleich umfaßt sie die Erfahrung militärischer Siege (oder Niederlagen) deutscher Offiziere im türkischen Generalstab sowie der Kommandeure deutscher und osmanischer Verbände im Orient. - Zum anderen muß die Bündnis-Ebene angesprochen werden, womit die Beiträge gemeint sind, die Militärberater leisteten, um die deutschen (!) Erwartungen an das Bündnis mit der Hohen Pforte zu erfüllen. Auf den ersten Blick erscheint der Begriff „Erfolg“ auf militär-fachlicher Ebene unangebracht. Die Quellen belegen, daß die gravierenden Ausbildungsmängel der osmanischen Mannschaften und Offiziere kaum abgestellt werden konnten, und die operationsgeschichtlichen Betrachtungen zeigen, daß die türkischen Operationen in der überwiegenden Mehrheit an eben diesen und zahlreichen weiteren Unzulänglichkeiten scheiterten. Schließlich waren die Verbündeten im Jahre 1918 gezwungen zu kapitulieren und ihre militärische Niederlage einzugestehen. Doch solche Betrachtung greift zu kurz, denn die Tatsache, daß die Armee eines Landes, das kurz vor Kriegsausbruch noch als „nicht bündnisfähig“, ja sogar als „Sterbender“ bezeichnet wurde, vier Jahre an der Seite der Mittelmächte kämpfte, muß bereits als großer Erfolg gelten. Fraglich ist allerdings, wie groß der deutsche Anteil an diesem Erfolg war. Edward Erickson behauptet in seiner Geschichte der osmanischen Armee im Ersten Weltkrieg, daß die deutsche Beteiligung überschätzt werde. Die deutsche Dominanz sei ein „Mythos“, der geschaffen worden sei, um die Leistung der türkischen Armee als „formidable fighting machine much feared by its enemies“1382 herunterzuspielen. Dementsprechend ignoriert Erickson in seiner Arbeit weitgehend den deutschen Einfluß auf die bewaffnete Macht des Sultans und widmet der militärischen Unterstützung nur ein kurzes Kapitel im Anhang. Dort muß er bei näherer Betrachtung der Waffen- und Versorgungslieferungen aus Deutschland und der beachtlichen Anzahl deutscher (Generalstabs-)Offiziere im Orient jedoch einräumen, daß die Unterstützung für die türkischen Kriegsanstrengungen beträchtlich war.1383 Dieses Vorgehen deutet daraufhin, daß Erickson daran gelegen 1382 1383 Erickson, Ordered to Die 2001, S. xvii. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 234. 379 ist, die militärische Leistungsfähigkeit der türkischen Seite besonders und augenscheinlich auch über Gebühr hervorzuheben. Die deutsche Forschung nach 1945 tut sich hingegen schwer mit Urteilen über die Leistungen der deutschen Waffenhilfe. Wenn überhaupt, werden Auswirkungen des Ersten Weltkrieges im politischen wie gesellschaftlichen Verhältnis der beiden Völker gesucht.1384 Lediglich Klaus Wolf kommt in seinem 2008 erschienen Buch über Gallipoli zu dem Urteil, daß deutsche Militärberater wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung der militärischen Fähigkeiten gehabt und zugleich die Rüstungsindustrie sowie das Sanitätswesen erheblich ausgebaut hätten.1385 Trotz des zweifelhaften wissenschaftlichen Wertes der „Schlussbetrachtung“ Wolfs1386 ist dieser Einschätzung grundsätzlich beizupflichten. Es kann nicht ignoriert werden, daß die deutsche Hilfe für den Verbündeten in materieller und personeller Hinsicht von großer Bedeutung war. Das völlige Fehlen modernster Kriegsmittel mußte sich im Ersten Weltkrieg – im Gegensatz zu den Balkankriegen – deswegen fühlbar negativer auswirken, weil die Streitkräfte der westlichen Ententemächte über solche Mittel verfügten. Flugzeuge, U-Boote, drahtlose Kommunikation, gepanzerte Kraftwagen, präzise oder großkalibrige Artillerie und weitere Entwicklungen begegneten den osmanischen Soldaten im Kriegsverlauf. Das Deutsche Reich war bereit, einige, aber nicht alle derartigen Neuerungen dem Bündnispartner zu liefern. Bei manchen Erfindungen, wie etwa den Flugzeugen und den U-Booten, war man ebenfalls sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, den Türken das Material zu überlassen und 1384 Lothar Krecker verweist darauf, daß die Parallelität der harten Friedensbedingungen dazu führte, daß beide Länder so bald wie möglich wieder diplomatische Kontakte pflegten. Krecker, Lothar: Deutschland und die Türkei im zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1964, S. 11-14. Hans Werner Neulen begreift die Zusammenarbeit während des Ersten Weltkrieges eher als Grundstein für eine – allerdings von ihm beinahe mythisch verklärte – deutsch-türkische Freundschaft. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 266f. 1385 Wolf, Klaus: Gallipoli 1915 – Das deutsch-türkische Bündnis im Ersten Weltkrieg, Sulzbach/Bonn 2008, S. 201f. (Im Folgenden: Wolf, Gallipoli 2008.) 1386 Wolf kommt allerdings nicht umher, seine hauptsächlich operationsgeschichtlichen Ausführungen mit einer pathetischen Bitte um Verzeihung zu beschließen: „Die Art und Weise, wie dieses Land in den Krieg gedrängt, die Regierung getäuscht, viele ahnungslose und gutgläubige Menschen in den Tod geschickt und Soldaten achtungslos und überheblich behandelt wurden, beschämen. [...] Da es im heutigen Deutschland kaum einen Verantwortlichen für eine solche Entschuldigung geben wird, möchte ich stellvertretend, auch mit diesem Buch, für das entstandene Leid um Verzeihung bitten.“ Wolf, Gallipoli 2008, S. 206. Abgesehen davon, daß der Autor – die grundlegenden Forschungen von Trumpener, Wallach und Weber ignorierend – das Osmanische Reich in eine undifferenzierte Opferrolle drängt, zeigen diese Zeilen eine Überschätzung und sogar „Kriminalisiserung“ der deutschen Militärhilfe. 380 setzte lieber deutsche Mannschaften ein. Ein plausibler Grund dafür war die mangelnde Ausbildung des türkischen Personals für solches Kriegsgerät, obwohl deutsche Instrukteure ihren Dienst an den neuerrichteten Militärschulen und in den „Modellregimentern“1387 angetreten hatten. Doch diese „Ausbildungsreform“ ging wie so vieles noch auf Friedenszeiten zurück und zeigte sich den Anforderungen des Krieges nicht gewachsen. Die Zahl der Einrichtungen war zu gering, um den hohen Personalbedarf decken zu können, und die Zeit für die Ausbildung reichte nicht aus, denn oftmals fehlten den Schülern grundlegende militärische Kenntnisse.1388 Außerdem wurde das wenige geschulte türkische Personal auf die zahlreichen Kriegsschauplätze verteilt, wo sie mit kaum oder gar nicht ausgebildeten Ausgehobenen zusammenarbeiten mußten, die mit modernen Führungsverfahren nicht vertraut waren. Liman von Sanders kritisiert diese Dispersion der Militärschulabsolventen als eine der Ursachen für die schlechte Kampffähigkeit der osmanischen Verbände.1389 Dabei ähnelt diese Art der Verwendung dem Vorgehen der Militärmission, die ihre wenigen ausgebildeten Berater ebenfalls auf eine große Zahl türkischer Einheiten verteilte. Es entsteht außerdem der Eindruck, daß die Erwartungen an die Effektivität der „verschulten“ Ausbildung unter den Gegebenheiten zu hoch waren. Die Wirksamkeit der praktischen Ausbildung im Gefecht ist hingegen nicht von der Hand zu weisen. Türkische, mit modernen Waffen nicht oder wenig vertraute Soldaten lernten rasch, wie ein Maschinengewehr richtig einzusetzen war, was den britischen Truppen auf Gallipoli und in Palästina schmerzhafte Verluste bereitete. Ebenso konnten die deutschen Berater ihnen zumindest die grundlegenden Kenntnisse zum Betrieb moderner Kriegsschiffe und sogar Flugzeuge vermitteln. Aus der deutschen Nachkriegsplanung für das Kraftfahrwesen im Osmanischen Reich ist sogar erkennbar, daß die Anzahl der als „brauchbar“ eingeschätzten türkischen Fahrer und 1387 Siehe hierzu auch Anhang A. Als Beispiel sei hier erneut auf den Erfahrungsbericht des Generalmajors a.D. Back verwiesen, der den Analphabethismus der auszubildenden Offiziere und Stabsoffiziere beklagte und zudem feststellen mußte, daß einige Offiziere noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatten und von dienstlichen Abläufen wie von der Befehlsgebung keine Kenntnis besaßen. RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 3 u. S. 17. Hier rächte sich das strikt hierarchisch geprägte osmanische System, das die Selbständigkeit der Offiziere in keiner Weise förderte, um diese in ständiger Abhängigkeit zu halten. 1389 Denkschrift Marschall Liman von Sanders „Der heutige Zustand der tuerkischen Armee“ vom 13.12.1917, BAMA Freiburg N 247/ 40, [S. 4f.]. 1388 381 Mechaniker offenbar hoch genug war, daß man glaubte der Hohen Pforte die Militärfahrzeuge überlassen zu können. Diese sollten dann zum Aufbau von (zivilen) Transportlinien dienen, die jedoch – kaum überraschend – nur deutsches Führungspersonal bekommen sollten.1390 Nachweislich wurden auch Erfolge in der sanitätsdienstlichen Ausbildung und Versorgung erzielt, auch wenn es sich hierbei nur um Ansätze handelte, die während des Krieges keine spürbaren Auswirkungen mehr auf das militärische Sanitätswesen zeitigten.1391 Die Personalstärke und der Einfluß der Berater in der Türkei reichten eben trotz allem nicht aus, um unter den örtlichen Gegebenheiten die notwendigen und vor allem tiefgreifenden Militärreformen umzusetzen. Zudem stellte sich heraus, daß deutsche Offiziere, die versuchten, unter Umgehung oder Mißachtung türkischer Stellen zu handeln, auf wachsenden Widerstand des Verbündeten trafen. Deutliches Beispiel hierfür ist der Versuch Falkenhayns, das „Unternehmen Yildirim“ vollständig unter deutsche Kontrolle zu bringen, das in einen Eklat mündete und die Palästinafront gefährdete.1392 An den Dardanellen zeigten sich die Einsätze deutscher Maschinengewehrabteilungen ohne genügende Absprache mit der türkischen Seite ebenso verlustreich wie mangelhaft koordinierte Gefechte des Asienkorps an der Palästinafront im Sommer 1918.1393 Die Deutschen schoben solche Fehlschläge zwar auf „türkische Unfähigkeit“, es kann aber nicht abgestritten werden, daß mangelnde Kommunikation mit dem Bündnispartner auch bei dem europäischen Verbündeten zu finden ist. Dies wird besonders deutlich, berücksichtigt man die Beispiele, bei denen das Eingehen auf die Ansprüche sowie die Leistungsfähigkeit des Verbündeten sich positiv auf die gemeinsame Kriegführung auswirkte. Kreß von Kressenstein paßte sich rasch sowohl den türkischen, wie auch den – in den südlichen Provinzen bedeutsamen – arabisch geprägten Umgangsformen an und gewann so offenbar das Vertrauen eines großen Teils seiner Untergebenen. Zwar 1390 Geheimbericht über das Kraftfahrwesen der Türkei im Frieden vom 10.4.1918, BAMA Freiburg PH 20/ 11, Blatt 84-86. 1391 Becker, Äskulap 1990, S. 443-449. 1392 Siehe oben, S. 277f. 1393 Siebe oben, S. 243f. 382 waren seine Berichte über den gescheiterten Vorstoß zum Suez-Kanal 1915 niederschmetternd, doch hatte er zu diesem Zeitpunkt seinen Dienst noch nicht lange angetreten und daher wenig Erfahrung mit den örtlichen Gegebenheiten. In den folgenden Jahren änderte er seine Taktik entsprechend und konnte damit in begrenztem Rahmen die britischen Operationen stören. Ebenso konnten die von ihm geführten Truppen bei Gaza mehrfach eine britische Übermacht abwehren. Die Hauptlast der Kämpfe trugen dabei stets osmanische Verbände, die wiederum zum größten Teil von türkischen Offizieren geführt wurden. Im Einzelnen ist nicht nachvollziehbar, in welchem Maße von deutschen Instrukteuren Erlerntes ausschlaggebend für den siegreichen Ausgang der Kämpfe war. Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, daß bestimmte Umstände auf britischer Seite den osmanischen Abwehrerfolg begünstigt haben mögen. Dennoch ist es auffällig, daß türkische Truppen, geführt von einem deutschen Generalstabsoffizier, der im Orient ein hohes Maß an Ansehen genoß und wußte, welche Anforderungen er an seine Einheiten stellen konnte, zu solchen – nicht nur für die Briten überraschenden – Leistungen fähig waren. Ähnlich verhält es sich mit den Kämpfen um Kut-el-Amara. Feldmarschall von der Goltz leitete zwar die Gesamtoperationen in Mesopotamien, die direkte Truppenführung oblag jedoch türkischen Offizieren, welche die Belagerung auch nach dem Tode des Freiherrn zu einem für die Türkei siegreichen Ausgang brachten. Erneut ist die Kombination aus einem im Osmanischen Reich angesehenen deutschen Feldherrn und dessen Fähigkeit, die orientalischen Truppen unter „örtlichangepassten“ Grundsätzen zu führen, augenfällig, wenngleich britische Fehlplanungen eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Bei Marine und Fliegertruppe müssen ebenfalls Lernerfolge konstatiert werden. Schon die Gewöhnung an die neuartige Technik und die Ausbildung von Flugzeugführern und Mechanikern waren für die Modernisierung der osmanischen Armee unerläßlich, auch wenn die deutsche Seite der Vorwurf treffen muß, die Ausbildungsbemühungen nicht mit voller Energie vorangetrieben, sondern der Einfachheit halber zu oft auf eigenes Personal zurückgegriffen zu haben. Ebenso konnten die Besatzungen der Kriegsschiffe trotz der begrenzten Zahl von 383 Kampfeinsätzen wertvolle Erfahrungen sammeln.1394 Aufsehenerregende Erfolge, wie derjenige des Torpedobootes „Muavenet“ waren nur möglich, weil die osmanische Mannschaft offenkundig ihre Aufgaben in tadelloser Weise erfüllte und der türkische Kommandant unter Zurückstellung persönlicher Eitelkeiten dem deutschen Kapitänleutnant Firle die Führung des Schiffes überließ. Glaubt man den Ausführungen des deutschen Kommandantenstellvertreters, so war es die freiwillige – also ohne deutschen Zwang erfolgte – Überlassung des Kommandos, welche die volle Kooperation der osmanischen Besatzung ermöglichte. Es bleibt jedoch der Eindruck, daß die positive Bewertung der türkischen Fähigkeiten stark vom siegreichen Ausgang beeinflußt wurde, den Firle in nicht geringem Maße auch auf die eigene Leistung zurückführte. Für die „militär-fachliche Erfolgsebene“ läßt sich demnach festhalten, daß die Deutschen durchaus eine Reihe positiver Ergebnisse sahen. Obwohl sich die Umsetzung der Ausbildung nicht en detail nachweisen läßt, konnten osmanische Verbände unterstützt durch deutsches Gerät und Personal beachtliche Siege erringen. Die erfolgreiche Zusammenarbeit war allerdings überall dort gefährdet, wo Militärberater dienstliche Belange rücksichtslos nach deutschen Maßgaben durchzusetzen versuchten. Deutsche Offiziere, die willens waren, Kompromisse zwischen den eigenen dienstlichen Vorgaben und den orientalischen Rahmenbedingungen zu finden, konnten auf größere Erfolge in der Kooperation verweisen. Es mag banal klingen, doch gegenseitiger Respekt scheint die Erfüllung gemeinsamer militärischer Aufgaben wesentlich erleichtert zu haben. Diese letzte Erkenntnis läßt sich leicht auf die „Bündnis-Ebene“ übertragen. Denn überall dort, wo die europäischen Militärreformer erkennen ließen, daß sie die eigenen Interessen über diejenigen des Bündnisses mit dem Osmanischen Reiches stellten, brachte ihnen der türkische Verbündeten gesteigertes Mißtrauen entgegen. Dazu zählt auch „selektive Ausbildung“, in der türkischen Piloten der Einsatz als Jagdflieger oder Marineangehörigen die Verwendung als U-Boot-Besatzungen 1394 Für die „Goeben” und die „Breslau” gelten diese Beobachtungen nur eingeschränkt, da dort überwiegend deutsche Besatzungsmitglieder eingesetzt waren. 384 verweigert wurde, weil man offenbar ihren Fähigkeiten von vorneherein mißtraute, was von türkischer Seite als auch als Vernachlässigung des Auftrages vollständiger struktureller Modernisierung gedeutet werden konnte, wodurch das Osmanische Reich weiterhin von Deutschland abhängig bleiben würde. Obschon die Militärreformer sich idealiter auf das militärische Aufgabenfeld beschränken sollten, läßt sich die Verzahnung ihrer Tätigkeit mit den bündnispolitischen Vorgaben des Deutschen Reiches erkennen. Das Konfliktpotential wurde noch dadurch vergrößert, daß die beiden Bündnispartner unterschiedliche außenpolitische Ziele verfolgten.1395 Das eindrücklichste und zugleich extremste Beispiel hierfür waren die Auseinandersetzungen über die Interessensphären im Kaukasus im letzten Kriegsjahr. Dort trafen deutsche und jungtürkisch-panturanische Expansionsziele aufeinander. Hier rächte sich, daß vor Kriegsausbruch die „Weltmachtpolitik“ des Deutschen Reiches sehr sprunghaft war, denn so traf der entstehende heftige Streit um die rohstoffreiche Region am Schwarzen Meer beide Seiten weitgehend unvorbereitet. Dadurch wurde der militärische Zusammenhalt in einer bedrohlichen strategischen Lage zusätzlich geschwächt. Zwar waren an den Scharmützeln zwischen deutschen und osmanischen Truppen in den kaukasischen Gebieten keine Angehörigen der Militärmission beteiligt, doch deutsche Offiziere in türkischen Diensten – wie etwa der bayerische Major/osmanische Oberstleutnant Paraquin1396 – erhielten eindeutige Anweisungen, den türkischen Vormarsch in Armenien zu behindern. Die Befehle aus Deutschland wurden über die Militärmission weitergeleitet und schließlich sogar von türkischer Seite abgefangen und zurückgehalten, um die deutschen Absichten (mit Erfolg) zu vereiteln. Demnach waren höchste militärische Stellen auf beiden Seiten in dieses Ränkespiel eingeweiht. Es kann nicht verwundern, daß dieser Umstand die Position der Militärberater, die sich bereits seit 1916 über das überbordende türkische Selbstbewußtsein beklagten, weiter schwächte. Da die militärischen Führer des Osmanischen Reiches enge Verbindungen zur politischen Elite besaßen oder selbst Teil derselben waren, mußte sich der „Verrat“ an den Zielen der Hohen Pforte rasch herumsprechen. Mißtrauen, weitere Reibungen und Konflikte in der dienstlichen 1395 1396 Siehe zu dieser Problematik oben, S. 98-101. Siehe oben, S. 172. 385 Zusammenarbeit wurden so geschürt und erschwerten die Kampfführung gegen die materiell ohnehin überlegenen Ententetruppen. Dabei konnten Deutsche, die sich den Respekt des türkischen Verbündeten verdient hatten, entscheidenden Einfluß auf die Durchsetzung deutscher Interessen im Bündnis nehmen. Der Einsatz Kreß von Kressensteins im Sinai etwa verschlang Ressourcen, die Enver nur zu gerne an anderen Fronten eingesetzt hätte. Die jungtürkische Führung erachtete die Eroberung des Suez-Kanals und die anschließende Besetzung Ägyptens für weniger wichtig als die deutsche Seite. Auch Freiherr von der Goltz konnte dem Kriegsschauplatz in Mesopotamien eine gesteigerte Bedeutung verschaffen, wenngleich er das Kommando dort eher unfreiwillig übernahm. Das sogenannte „Persien-Abenteuer“, die Expeditionen in Richtung Afghanistan und nicht zuletzt die Weiterführung der Baghdadbahn waren originär deutsche Interessen.1397 Dennoch unterstützte das Osmanische Reich diese Ziele. Dabei wäre es irrig zu glauben, daß Konstantinopel sich nicht eigene Erfolge von diesem Vorgehen versprach, doch zeichnete sich – besonders in den letzten Kriegsjahren – ab, daß die Hohe Pforte bereit war, Gebietsverluste in den südlichen Provinzen hinzunehmen und eine Entschädigung an anderer Stelle zu suchen. Allerdings scheint die Präsenz anerkannter und respektierter deutscher Befehlshaber die Verteilung von Kräften auf die verschiedenen Fronten positiv beeinflußt zu haben. So erhielt von der Goltz Einheiten, die eigentlich für die den Jungtürken wichtigere Kaukasusfront gedacht waren und gegen den Suez-Kanal wurde sogar noch ein zweiter Vorstoß avisiert. Zugegebenermaßen läßt sich ein solcher Zusammenhang nicht nachweisen, da er schriftlich nirgends fixiert wurde, doch die bisherigen Ausführungen haben mehr als deutlich die Bedeutung von Beziehungen und persönlichem Prestige im osmanischen System gezeigt. Wo diese „Eigenschaften“ fehlten, waren die Möglichkeiten für Europäer sehr begrenzt. Liman von Sanders mußte mehrfach mit Rücktritt drohen und so seinen Forderungen Gehör verschaffen, da Enver Pascha jeden Gesichtsverlust vermeiden wollte. Der Missionschef gefährdete durch sein Verhalten das Bündnis 1397 Zur Baghdadbahn siehe oben, S. 43-47. Siehe zur Zielsetzung der Expeditionen: Kröger, Martin: Revolution als Programm. Ziele und Realität deutscher Orientpolitik im Ersten Weltkrieg, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – Wirkung, Wahrnehmung, Analysen, München (u.a.) 1994, S. 376f. u. 380-383. Kröger macht deutlich, daß es sich hierbei um außenpolitisch oder wirtschaftlich motivierte Unternehmungen handelt, die jedoch vom Militär personell und materiell unterstützt werden mußten. 386 jedoch unnötig, denn es wäre mehr als fraglich gewesen, ob Berlin einen neuen Missionschef mit ähnlichen Vollmachten hätte durchsetzen können. Der Vertrag des Marschalls war rechtlich gesehen kein Staatsvertrag, sondern ein persönlicher Anstellungsvertrag. Wäre Liman während des Krieges abberufen worden, hätte Deutschland weitere Konzessionen an die Hohe Pforte machen müssen, um ihn zu ersetzen, und diese Zugeständnisse wären mit Sicherheit nach der Verteidigung der Meerengen und der Eroberung Kut-el-Amaras noch weitaus größer gewesen. Dieses Risiko muß auch den Entscheidungsträgern an der Spree bewußt gewesen sein, denn bei späteren Rücktrittsgesuchen Limans war es nicht Enver, der reagierte, sondern der Deutsche Kaiser, der seinen Offizier zur Ordnung rief. Für die „bündnispolitische Ebene“ muß demnach ebenfalls eine Ambivalenz des deutschen Engagements konstatiert werden. Erneut sind es diejenigen Offiziere, die sich an die orientalischen Verhältnisse anzupassen wußten und in der Folge Einfluß und Ansehen im Osmanischen Reich erlangten, die deutsche Interessen fördern konnten, ohne (!) den Bündnispartner offensichtlich zu verärgern. Andere Militärberater, die durch barsches oder herablassendes Verhalten aufgefallen waren, standen hingegen unter kritischer Beobachtung und das mangelnde Einfühlungsvermögen bei ihren Versuchen, deutsche – oder schlimmer noch persönliche Interessen – durchzusetzen, gefährdete das Bündnis und damit die Mittelmächte insgesamt mehr, als es nutzte. Abschließend kann festgehalten werden, daß der militärische Einsatz des Deutschen Reiches im Orient durchaus Erfolge in Ausbildung, Modernisierung und Führung vorweisen konnte, die über das schon von den Zeitgenossen gelobte Endergebnis des „Durchhaltens bis zum Schluß“ hinausgingen. Von den deutschen Offizieren wird nach dem Kriege oftmals hervorgehoben, daß die Sperrung der Dardanellen die Verbindung zwischen den Westmächten und Russland gekappt und zum Zusammenbruch des Zarenreichs beigetragen habe. Außerdem hätten die osmanischen Streitkräfte überlegene britische, französische und russische Truppen gebunden, die andernfalls an den europäischen Fronten eingesetzt worden wären.1398 1398 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 243f. u. 254. Ähnlich positiv bewertet General von Seeckt das deutsch-türkische Bündnis bereits im November 1918. Rabenau, Seeckt 1940, S. 102. 387 Gleichfalls konnten einige Offiziere im Sinne deutscher Weltmachtpolitik arbeiten, wenn auch der Kriegsverlauf den Bemühungen keinen dauerhaften Erfolg verlieh. Von deutscher Seite wurde behauptet, daß die Türkei sich übernommen habe, als sie in den Krieg eintrat, da sie nicht die Mittel besessen hätte, um ihre Interessen durchzusetzen.1399 Auch wenn diese Behauptung nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist, so greift sie doch zu kurz. Es war das Deutsche Reich, daß die Hohe Pforte zum Kriegseintritt drängte, wenngleich die ambitionierten jungtürkischen Machthaber schließlich die endgültige Entscheidung fällten. Ebenso sollte die militärische Unterstützung der Türkei von Beginn an deutschen Interessen dienen. Der Glaube, daß die Osmanen in selbstloser Weise die deutschen Ziele unterstützen würden, war jedoch genauso abwegig wie die Vermutung, daß Deutschland sich lediglich zum Wohle der orientalischen Macht engagieren würde. Daher mag es nicht verwundern, wenn es innerhalb einer Bündniskonstellation, deren Mitglieder unterschiedliche Ziele verfolgen, zu Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Vorgehensweisen kam. Der deutschen Politik und dem Militär muß allerdings der Vorwurf gemacht werden, daß sie ihre Unterstützung der Türkei ungeschickt umsetzten. Große Teile des Personals – auch in exponierten Positionen – waren für den Einsatz im Nahen Osten nicht genügend ausgebildet worden. Zudem machten die militärische Sozialisation und das Festhalten an den internalisierten Maximen manchen Militärberater für einen Einsatz im Osmanischen Reich ungeeignet. Diejenigen Offiziere, die es dennoch verstanden, sich den Gegebenheiten anzupassen, wurden von den eigenen Standesgenossen als „vertürkt“ gebrandmarkt. Es ist müßig über mögliche Entwicklungen des Bündnisses unter anderen Vorzeichen zu spekulieren. Dennoch bleibt der Eindruck, daß die deutschen Militärreformer einem positiveren Ergebnis ihrer Tätigkeit zu häufig selbst im Wege standen. Carl Mühlmann liefert einen möglichen Grund für das deutsche Verhalten: „Denn eine so große Bedeutung der Türkei im Gesamtkriege auch zukam, sie blieb doch ein Nebenkriegsschauplatz.“1400 1399 Siehe zum Beispiel: Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 9. Noch kritischer, jedoch auch von persönlicher Enttäuschung geprägt sind die Ausführungen des Marschalls Liman von Sanders. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 407f. 1400 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 285. 388 VI. Ergebnisse Der gemeinsame Kriegseinsatz endete für das Deutsche und das Osmanische Reich mit dem Abschluß des Waffenstillstandes auf der Insel Mudros am 30. Oktober 1918. Zu diesem Zeitpunkt war der Zusammenbruch der Mittelmächte nicht mehr aufzuhalten und die deutschen Soldaten, die zum Teil erst Anfang 1919 – oder als Kriegsgefangene gar Ende 1919 – vom orientalischen Kriegsschauplatz zurückkehrten, erwarteten gravierende Veränderungen, Revolution, Unruhen und Bürgerkrieg im eigenen Land.1401 Ein bestimmter Begriff für die deutsch-türkische Zusammenarbeit fällt jedoch in älteren und neueren Darstellungen gleichermaßen ins Auge, und zwar der der „Waffenbrüderschaft“.1402 Manche Autoren behaupten zwar, es hätte gar keine „Waffenbrüderschaft“ gegeben, doch das Wort ist aus der Diskussion nicht wegzudenken.1403 Wie so häufig bei Wörtern, denen eine „mystifizierende Wirkung“ innewohnt – und die daher bevorzugt zur Propaganda genutzt werden –, weckt „Waffenbrüderschaft“ bestimmte Assoziationen bei einem großen Rezipientenkreis und läßt zugleich individuelle Ausdeutungen zu. Dabei spielt vor allem die politisch-emotionale Bedeutungsebene des Begriffes eine Rolle, wird hier doch eine Art gleichberechtigter Partnerschaft entworfen, die zugleich selbstlosen Einsatz für den „Bruder“ suggeriert. „Die existenzielle Bedrohung durch den Feind erforderte eine Waffenbruderschaft in der es keine Konflikte gab.“1404 Nach den vorangegangenen Ausführungen läßt sich jedoch feststellen, daß dieses Wort das deutsch-türkische Bündnis nicht wirklich kennzeichnet. Die deutsch-türkische militärische Zusammenarbeit basierte auf einem Zweckbündnis, das in außenpolitisch schwieriger, wenn nicht krisenhafter 1401 Siehe hierzu zum Beispiel die Aufzeichnungen von Kurt Böcking, dem ehemaligen Kommndanten der osmanischen Marineschule, BAMA Freiburg N 438/ 5 und N 438/ 6. 1402 Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 314. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 265f. 1403 Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 129. 1404 Buschmann, Nikolaus: Einkreisung und Waffenbruderschaft – Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871, Göttingen 2003, S. 151. Diese Definition bestand spätestens seit dem deutsch-französischen Kriege und dürfte daher auch den zeitgenössischen Autoren bekannt gewesen sein. Es liegt die Vermutung nahe, daß der Begriff auf diesem Wege in die militärhistorischen Darstellungen eingeflossen ist. 389 Konstellation zustande kam. Das Deutsche Reich suchte dringend Verbündete im Zwei-Fronten-Krieg, und das Osmanische Reich erhoffte sich durch einen Sieg innenpolitische Konsolidierung und eine außenpolitische Aufwertung im Mächtekonzert. Im Ergebnis profitierte Deutschland als stärkerer und führender Bundesgenosse – trotz aller Kosten für Hilfsleistungen – mehr von diesem Bündnis als sein Verbündeter. Dieser band unter erheblichen eigenen Verlusten vor allem britische und russische Truppen, die ansonsten gegen die Mittelmächte eingesetzt worden wären.1405 „Waffenbrüderschaft“ scheint für diese Zusammenarbeit also der falsche Begriff zu sein. Das deutsche (und vor der Reichsgründung 1871 hauptsächlich preußische) Engagement im Osmanischen Reich war lange Zeit kaum als „bedeutend“ zu bezeichnen. Zwar dienten preußische Offiziere in der Armee des Sultans, um als Militärreformer die bewaffnete Macht an mitteleuropäische Standards heranzuführen, doch blieben die Erfolge begrenzt, oft auch völlig aus. Das Engagement wurde allerdings nicht verstärkt, denn für Preußen und später das Deutsche Reich besaß eine Militärreform der osmanischen Armee im 19. Jahrhundert nur untergeordnete Bedeutung. Bismarck hatte deutlich gemacht, daß Berlin keine militärischen Interessen am Bosporus verfolgte, und die Diplomatie zielte eher auf einen Prestigegewinn als „uneigennütziger“ Vermittler in den zahlreichen Konflikten zwischen den europäischen preußischen/deutschen Offiziere Großmächten waren mehr und ein der Hohen Symbol für Pforte. Die verbesserte diplomatische Beziehungen zwischen Kaiser und Sultan als Ausdruck eines geostrategischen Engagements in der Region. Nach 1871 nahm das Interesse der deutschen Politik an dem weitläufigen kleinasiatischen Reich allmählich zu. Die junge europäische Großmacht suchte sich ihren Platz als Weltmacht zu sichern. Trotz all seiner Schwächen war das Osmanische Reich mit seinen Schlüsselstellungen an den Dardanellen und – zumindest bis zur Besetzung durch Großbritannien – am Suez-Kanal ein interessanter Handelspartner. 1405 Dabei ist fraglich, ob besonders die indischen Truppen in diesem Maße an der Westfront hätten eingesetzt werden können. 390 Das deutsche Engagement für das Osmanische Reich blieb jedoch immer noch begrenzt. Nur wenige deutsche Militärberater befanden sich in Konstantinopel und die innenpolitischen Veränderungen durch den Sturz Sultan Abdul Hamids II. (1908/09) versetzten der Zusammenarbeit eher einen Rückschlag, als sie zu fördern. Durchgreifende militärische Reformen wurden auch mangels entsprechender Voraussetzungen im Osmanischen Reich nicht erreicht, dafür hatten die Offiziere zahlreiche Rüstungsaufträge für deutsche Firmen initiiert, damit aber auch ihren Beitrag dazu geleistet, daß die osmanischen Truppen über viele verschiedene zum Teil vom deutschen Heer ausgemusterte Waffen-Modelle verfügten. Doch die Materiallieferungen und Rüstungsverträge der Vorkriegsjahre waren bestenfalls als „zweitklassig“ zu bewerten. Wirklich moderne Ausrüstung aus Deutschland bekam die osmanische Armee oder Marine bis Kriegsausbruch nicht. Die osmanische Niederlage im ersten Balkankrieg fiel bezeichnenderweise auf Deutschland zurück. Obwohl auch britische und französische Offiziere in den osmanischen Streitkräften dienten, sah „die öffentliche Meinung“ vor allem das Versagen deutscher Ausbildungsbemühungen. In einer ohnehin aufgeheizten Stimmung in Europa fürchteten die Verantwortlichen in Berlin längerfristig einen Prestigeverlust. Daher sollte die Idee einer umfangreichen Militärmission zum Wiederaufbau und zur Reform des osmanischen Heeres jetzt umgesetzt werden. Doch trotz der Erfolglosigkeit vorhergehender Reformversuche wurde die Aufstellung der neuen Institution nur halbherzig vorangetrieben. Zwar sicherte ein Vertragswerk dem Missionschef umfassende Kompetenzen zu, doch die Auswahlkriterien für das Personal, allen voran für Liman von Sanders als Chef, waren den Verhältnissen vor Ort kaum angemessen. Auf Offiziere mit Türkeierfahrung wurde nicht zurückgegriffen, sondern allein die Kategorien der Ausbildung und Eignung nach mitteleuropäischen Maßstäben angewendet. Eine spezifische Vorausbildung der Angehörigen der Mission unterblieb. Die Vorbedingungen für einen erfolgreichen Reformeinsatz waren somit ungünstig, doch die Prioritäten in Deutschland lagen offenbar auf der Rückgewinnung des eingebüßten Prestiges. Eine demonstrativ personell aufgestockte Mission konnte zumindest den Anschein deutscher Stärke am Bosporus erwecken, wie die Reaktion Russlands auf die Berufung Limans als 391 Armeeoberfehlshaber in der Region von Konstantiopel zeigt. Die Militärmission kam somit primär unter politischen Gesichtspunkten zustande und schloß die Gefahr eines neuerlichen Scheiterns der eigentlichen Reformbemühungen ein. Zudem wurde den Offizieren durch diese außenpolitische Komponente des Engagements eine Bedeutung verliehen, die ihre Arbeit in den komplizierten Strukturen des Orients erschwerte und sie häufig zwang, das kaiserliche Dogma der „politischen Nichtbetätigung“ zu mißachten. Der Kriegsausbruch in Europa brachte eine tiefgreifende Veränderung für die Offiziere der Militärmission mit sich. Als Paris nicht wie erwartet in deutsche Hände fiel und die Marneschlacht verloren ging, wurde rasch klar, daß der Krieg länger dauern würde. Berlin brauchte zusätzliche Verbündete im Zwei-Fronten-Krieg. Die Hoffnungen ruhten auf den neutralen Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich. Der Schwerpunkt der Militärmission verlagerte sich. Nun stand nicht mehr die Modernisierung der türkischen Armee oder die Akquise von Rüstungsaufträgen im Vordergrund, sondern das Bemühen um einen Kriegseintritt der Hohen Pforte auf seiten der Mittelmächte. Die deutschen Offiziere gerieten ungewollt in die Situation, zum Krieg schürenden Organ der Außenpolitik des Deutschen Reiches zu werden, obwohl der Kaiser ihnen Einmischung in politische Belange verboten hatte. Doch die Vorstellung, die militärischen Belange von den (außen-) politischen trennen zu können, war – nicht zuletzt durch Rücksicht auf innen- und personalpolitische Implikationen in der Türkei – von Anfang an illusorisch. Die Befehle aus Berlin waren nunmehr eindeutig, denn das Osmanische Reich sollte unbedingt als Verbündeter gewonnen werden. Alle Berichte der Militärmission und der Beobachter aus den Balkankriegen, die von desolaten Zuständen der bewaffneten Macht des Sultans sprachen, waren plötzlich „vergessen“. Liman von Sanders meldete „pflichtgemäß“ in die Heimat, daß die Militärmission, die erst wenige Monate zuvor die Arbeit aufgenommen hatte, erfolgreich tätig gewesen sei und dem Heer wurde eine gesteigerte Schlagkraft attestiert. Als die Türkei unter tatkräftiger Mithilfe deutscher Marineeinheiten in den Krieg eintrat, sollte sich rasch zeigen, wie „krank“ der „Kranke Mann am Bosporus“ wirklich war. Die Marine war ungeübt, das Heer mußte dringend reorganisiert 392 werden, Ausrüstung und Versorgung mußten verbessert werden, und technische Neuerungen wie Telephon, Flugzeuge oder Automobile waren rar. Die Meldungen der „Reformoffiziere“, die nun in direkt beratender Funktion in den Stäben oder als Kommandeure eingesetzt wurden, quollen über von Vorwürfen über „orientalische Faulheit“, Korruption in der Etappe, mangelnde Ausbildung von türkischen Soldaten und Offizieren und andere „unzumutbare“ Zustände. Nach deutschen (!) Maßstäben war die osmanische Armee zur erfolgreichen Kriegführung nicht in der Lage. Die Lösung sollte eine verstärkte Präsenz deutscher Offiziere und Soldaten an nahezu allen bedeutsamen Stellen der verbündeten Streitmacht sein. Außerdem sollte ein Großteil der benötigten Güter – militärische und zivile – aus Deutschland importiert werden, während zeitgleich das entsprechende Fachpersonal die wenigen osmanischen Rüstungsbetriebe de facto übernehmen sollte, um eine effiziente Produktion zu gewährleisten. Dennoch läßt sich kaum nachweisen, daß Berlin ein ernsthaftes Interesse an langanhaltenden und umfassenden Militärreformen gehabt hätte. Wirklich moderne Ausrüstung aus Deutschland erhielt die osmanische Armee oder Marine nur in den seltensten Fällen. Das osmanische Heer bekam kaum neuere Artillerie zur Verfügung gestellt und auch die Versorgung mit Infanteriewaffen und Munition war unzureichend. Moderne Kommunikationsmittel (etwa Funkentelegraphen) oder die mit LKW ausgestatten Versorgungs-Kolonnen blieben meist in deutscher Hand. Die Flugzeuge für das Osmanische Reich gehörten nur ausnahmsweise zu den modernen Modellen und wenn leistungsstarkes Gerät eingesetzt wurde, dann vertraute man es eher deutschen als türkischen Piloten an. Hier offenbarte sich, daß bündnispolitische Erwägungen militärische Notwendigkeiten negativ beeinflußen konnten, die ihrerseits selbstverständlich politisch nicht ohne Rückwirkungen blieben. Die Begeisterung der führenden türkischen Militärs für die Fliegerei und die militärischen Erfordernisse hatten zur Verlegung von Maschinen und Personal in den Orient geführt. Doch die Kontrolle über die Kräfte lag praktisch ganz in deutschen Händen, so daß von einer osmanischen Fliegertruppe kaum die Rede sein konnte. Ähnliches zeigt sich bei der Marine, denn U-Boote wurden dem türkischen Verbündeten erst gar nicht zur Verfügung gestellt, ja nicht einmal Hilfe bei der Ausbildung einer Besatzung für das einzige von der Türkei erbeutete U-Boot 393 angeboten. Die Hilfs- und Reformbereitschaft Deutschlands bewegte sich demnach in den engen Grenzen der eigenen Interessen, denn man beabsichtigte offenkundig nicht, den „Kranken Mann“ zu einem „Starken Mann“ zu machen. Aus deutscher Sicht wäre solch ein Vorgehen auch „fahrlässig“ gewesen, da es die eigene Verhandlungsposition nach einem gewonnen Krieg – etwa bei Ansprüchen im Kaukasus oder auf dem Balkan – unnötig geschwächt hätte. Dem aufmerksamen Verbündeten entging sicherlich nicht, wie die osmanischen Erwartungen an eine Modernisierung beschnitten wurden. Das Mißtrauen gegenüber der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von Deutschland und die Sorge vor dem Rückfall in die Schwäche der Zeiten der „Kapitulationen“ wuchsen, was das Bündnis zwangsläufig stark belasten mußte. Es erscheint auch fraglich, ob der Einsatz (nach mitteleuropäischen Maßstäben) modernster Militärtechnik unter den Bedingungen des Orients überhaupt erfolgversprechend gewesen wäre. Der Einsatz der Flieger war militärisch durchaus sinnvoll, denn ihre Aufklärungstätigkeit war an den weitläufigen Fronten des Orients von großem Wert und zugleich konnte man die gegnerischen Piloten an der Erfüllung ihres Auftrages hindern. Allerdings hatte das osmanische Militär keinerlei Erfahrung im Umgang mit der Technik und für eine entsprechende Ausbildung fehlten sowohl die Zeit als auch die strukturellen Voraussetzungen. Außerdem zeigten große Teile der Bevölkerung ein beachtliches Mißtrauen und manchmal auch Furcht – von den Deutschen gern als „Aberglaube“ bezeichnet – gegenüber den technischen Erfindungen der „fortschrittsgläubigen“ Europäer, die sie weder kannten noch verstanden. So behinderten Mentalitätsunterschiede die Ausbildung des osmanischen Personals ebenso wie mangelnde Bildung und Materialknappheit. Ähnliche Probleme zeigten sich bei fast allem schweren Gerät, wie etwa Fuß-Artillerie, Pionierausrüstung, Fernmeldemittel oder Kraftwagen. Besonders die großen Schiffe der osmanischen Marine litten unter ganz ähnlichen Mängeln. Die Ereignisse der Jahre 1917/1918 im Rahmen des Unternehmens „Yildirim“ machen zudem deutlich, daß auch ein vermehrter Einsatz zusammenhängender deutscher Truppenverbände – etwa von mehreren deutschen Divisionen – kaum erfolgreich gewesen wäre. Im Orient mit seinen großen Entfernungen, schwierigen topographischen Verhältnissen 394 und mehreren entlegenen Kriegsschauplätzen fehlten grundlegende Voraussetzungen, die zum „Funktionieren“ europäischer Armeen beitrugen. Krankheiten und Seuchen, die entweder durch das belastende Klima oder die mangelnden hygienischen Bedingungen und unzureichende medizinische Versorgung – die dennoch wesentlich besser als die in der osmanischen Armee war – verursacht wurden, schwächten die „Asienkämpfer“ in gravierendem Maße. Das Deutsche Reich hätte demnach jeder kämpfenden Einheit wesentlich mehr Kriegsmaterial und Verbrauchsgüter sowie eine deutlich größere Zahl an Versorgungstruppenteilen mitgeben müssen, denen der Aufbau und die Unterhaltung einer funktionierenden Etappe unter schwierigsten Bedingungen zugefallen wäre. In der Tat geschah dies bereits bei den verhältnismäßig geringen deutschen „Pascha II“-Kräften, ohne jedoch ernste Versorgungsmängel bei der Truppe verhindern zu können. Daß das bereits stark belastete Deutsche Reich einen noch größeren Personal- und Materialansatz hätte bewältigen können, erscheint ebenso zweifelhaft wie die Annahme, daß die türkische Führung bei ihrem steigenden Mißtrauen gegenüber deutscher Einflußnahme die Verlegung starker Verbände gestattet hätte. In einem – für die türkische Seite verständlicherweise – erschreckenden Maße hatte nach Kriegsausbruch der deutsche Einfluß, also das Durchsetzen primär deutscher Ziele im Osmanischen Reich zugenommen. Die türkische Entscheidung für ein Bündnis mit Deutschland beruhte dagegen auf der Überlegung, daß diese Großmacht immer betont hatte, keine Interessen in Kleinasien und dem Nahen Osten zu haben, sondern dem Sultan stets freundschaftlich verbunden zu sein. Schon mit dem Bau der Baghdadbahn zeichnete sich aber das steigende Engagement Deutschlands im „Wirtschaftsraum Orient“ ab. Die völlige Vereinnahmung der geplanten „Lebensader“ durch die „deutschen Freunde“ wurde in Konstantinopel bereits mit Besorgnis registriert. Unter dem Eindruck der Kriegserfordernisse gewann der orientalische Verbündete dann vollends den Eindruck, daß er kein gleichberechtigter Partner sei, sondern bestenfalls ein „Junior-Partner“. Die deutsche Dominanz schien diejenige Großbritanniens und Frankreichs in den Jahrhunderten zuvor noch zu überschreiten. Für das Osmanische Reich und insbesondere die jungtürkische Führung war der Erste Weltkrieg ein Kampf um die Stabilisierung der neuen 395 Machtstrukturen und zugleich die Neuorientierung der gesamten Staatsordnung. Der Panturanismus verfolgte nicht nur territorial andere Ziele als die Regierungen vor 1913/14, sondern bot auch einen ideologischen Überbau, der in seinen nationalistischen Ansätzen neu war. Damit einher ging die Erwartung, das Osmanische Reich in einen starken, türkisch-dominierten Nationalstaat zu transformieren, der vor allem von den europäischen Mächten unabhängig war. Das Deutsche Reich hatte seine Unterstützung dabei angeboten und – insbesondere durch Rückhalt bei der Abschaffung der Kapitulationen, um die Türkei zum Kriegseintritt zu bewegen – Hoffnungen geweckt. Daher mußte es die Hohe Pforte als Zurücksetzung empfinden, daß Deutschland den Orient recht offensichtlich als Nebenkriegsschauplatz betrachtete. Prominente deutsche Offiziere, wie etwa General von Falkenhayn, machten keinen Hehl aus ihrer Ansicht, daß eine Versetzung in die Türkei einer „Verbannung von den richtigen Fronten“ gleichkäme. Außerdem waren deutsche Vorschläge zur Regelung von Unterstützungsleistungen öfter in einer Art und Weise formuliert, die „ehrverletzend“ für die Verantwortlichen in Konstantinopel waren, da sie keinen Zweifel an der Überlegenheit Deutschlands und der Abhängigkeit der Türkei ließen.1406 Diese negative Erfahrung mit dem Deutschen Reich als Verbündetem teilte das Osmanische Reich mit Österreich-Ungarn – das als mit Deutschland kulturell vergleichbarer Staat und europäische Großmacht allerdings einen anderen Status gegenüber Berlin beanspruchen konnte – und insbesondere mit Bulgarien. Auch diese beiden Länder fühlten sich im Bündnis zurückgesetzt.1407 1406 Bericht des deutschen Marine-Attachés Korvettenkapitän Humann „Zur Lage am 20.Dezember [1915]“, BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 99-103. 1407 Der k.u.k. Genralstabschef Conrad von Hötzendorf ging sogar schon Anfang 1915 so weit, die deutschen Verbündeten als „heimliche Feinde“ zu bezeichnen, da sie sich überall einmischen und die österreichischen Planungen behindern würden. Stürgkh, Josef Graf von: Im Deutschen Großen Hauptquartier, Leipzg 1921, S. 116. Der deutsche Oberstleutnant von Bardenleben, Verbindungsoffizier zwischen den bulgarischen und türkischen Truppen auf dem Balkan, berichtet von einem Gespräch mit dem Kommandeur der 2. bulgarischen Armee, General Lukow, vom 26. August 1918, der ihm berichtet, welchen Stellenwert Ludendorff den Hilfsgesuchen des Verbündeten einräumte: „Sie sehen zu schwarz, mein lieber General; Ihr Kriegsschauplatz ist nicht so wichtig.“ Oberstleutnant F.v.Bardenleben: Bei Türken und Bulgaren als Verbindungsoffizier im Weltkriege, KA München, HS 2150, S. 20. Beiden Quellen kann vorgeworfen werden, daß sie Ansprüche formulieren, die wirklichkeitsfremd waren, denn niemand konnte von einem Bündnispartner völlige „Selbstaufopferung“ erwarten. Dennoch wird deutlich, daß eine solche Hoffnung auf „das starke Deutschen Reich“ bestanden hatte, die – so unrealistisch sie auch gewesen sein mag – enttäuscht worden war. 396 Die Situation änderte sich grundlegend, als der Angriff auf die Meerengen abgewiesen wurde und die Belagerung von Kut-el-Amara ebenfalls für die Mittelmächte siegreich verlief. Das Jahr 1916 sollte sich nicht nur für den Kriegsverlauf, sondern auch für das deutsch-türkische Bündnis als gravierend herausstellen. Die Hauptlast der Kämpfe hatten nämlich stets – aus naheliegenden Gründen – osmanische Truppen getragen, wenngleich oftmals unter deutschen Kommandeuren oder Generalstabschefs. Insgesamt war das deutsche Engagement aber zahlenmäßig nicht so groß, daß sich nicht auch zahlreiche türkische Offiziere einen Ruf machen konnten. Mustafa Kemal, der später als Atatürk berühmt wurde, wurde durch seine herausragenden Leistungen bei der Verteidigung der Dardanellen bekannt und Halil Pascha, der Onkel Enver Paschas, nahm die britische Kapitulation bei Kut entgegen. Fortan begegneten die Türken den deutschen Beratern mit gestärktem Selbstbewußtsein. Angeheizt durch die Propagandameldungen einiger Zeitungen der Mittelmächte, die nicht zuletzt die Entente verwirren und die Rückschläge im Kaukasus vergessen machen sollten, ging dieses Selbstbewußtsein oftmals über die realen Verhältnisse hinaus. In jedem Fall kollidierte es mit dem Selbstbewußtsein der Militärberater, die hofften, ihre als „richtig“ empfundenen Doktrinen in den osmanischen Streitkräften durchsetzen zu können und zwar zur Not gegen türkischen Widerstand. Dieser war seit April 1916 aber zusehends schwerer zu „brechen“ und die Reibungen zwischen den Verbündeten wurden stärker. Die deutschen Militärberater und -reformer empfanden das türkische Verhalten als undankbar, denn schließlich hätte „ihre“ Hilfe die Siege überhaupt erst ermöglicht. Die Frage, wie groß der deutsche Anteil an den besagten Siegen war und welche Selbstüberschätzung des Bündnispartners sich daraus ergeben hatte, beschäftigte die Beteiligten daher auch noch nach Kriegsende.1408 Während der Kämpfe um Kut-elAmara hatte zwar Feldmarschall von der Goltz den nominellen Oberbefehl inne, aber die Operationen wurden von türkischer Seite geleitet und noch nach dem Tode des Freiherrn erfolgreich beendet, weshalb es schwer war, die türkischen Leistungen zu ignorieren.1409 1408 Siehe hierzu die Briefe von Liman von Sanders an seinen ehemaligen Adjutanten Mühlmann vom 31.5. und 21.7.1927, BAMA Freiburg W10/ 51475. 1409 Ein interessanter Versuch der deutschen Unterstützung diesen Sieg in Mesopotamien zuzuschreiben, ist in dem „vaterländisch“ geprägten Sammelwerk „Deutsche Stunden“ aus dem Jahre 397 Die erwähnten Spannungen und Reibungen bei der gemeinsamen Kriegführung sind hauptsächlich durch deutsche Offiziere dokumentiert. In der Mehrzahl der Fälle entstanden solche Reibungen mit osmanischen Offizieren, denn aus der Sicht der deutschen Militärberater erfüllten nur wenige Türken die fachlichen oder „ethischen“ Anforderungen dieses Standes. Die Deutschen besaßen stark idealisierte Vorstellungen davon, wie ein „professioneller Offizier“ sozialisiert und ausgebildet zu sein hatte und welchem Standesethos er folgen sollte, um Anerkennung zu finden. Die Kriterien der Militärberater waren auf die Situation in der türkischen Armee aber nur sehr bedingt anzuwenden. Die innenpolitischen Wirren um Sultan Abdul Hamid II. und der Umsturz durch Enver Pascha hatten Staat und Armee in Aufruhr versetzt und zugleich destabilisiert. Die Armee war stets das Instrument zur Machtausübung und Machtakkumulation im Orient gewesen. Der in Konstantinopel residierende Sultan mußte seinen Anordnungen besonders in den entfernteren Provinzen seines multikulturellen Riesenreiches oftmals mit Waffengewalt Nachdruck verleihen. Umgekehrt konnten seine – muslimischen – Untertanen Einfluß durch Aufstieg in der Armee gewinnen, wenn ihnen der Weg über die Zivilverwaltung verwehrt geblieben war. Eine streng reglementierte Beamtenlaufbahn, wie sie in vielen europäischen Staaten vorhanden war, fehlte im osmanischen System ebenso wie regelmäßige Besoldung oder eine Form sozialer Sicherung durch „den Staat“. Für die aufstrebenden Untertanen des Sultans war daher „Günstlingswirtschaft“ die bevorzugte Methode der Absicherung und für den Herrscher war die bewaffnete Macht nicht nur ein militärisches, sondern auch in höchstem Maße politisches Instrument. Enver Pascha, der sich in jungen Jahren zum Kriegsminister putschte und den schwachen Sultan Mehmet V. vollends zu einer nur noch repräsentativen Figur im Schatten der jungtürkischen Partei machte, wußte natürlich um diese Verhältnisse. Zur Sicherung seiner nicht unumstrittenen Macht mußte er die Armee mit seinen 1941 zu finden. Hier werden neben den Schlachten von Leuthen und Belle-Alliance (auch als Schlacht von Waterloo bekannt) sowie nicht-militärischen Ereignissen (Erstaufführung von Schillers „Räubern“, Tod Heinrich Schliemanns) Kämpfe aus dem Ersten Weltkrieg genannt. Als Beispiel für „Deutsche Stunden“ auf dem orientalischen Kriegsschauplatz wird hierbei nicht etwa die wesentlich bekanntere Verteidigung der Gallipoli-Halbinsel gewählt, sondern die Belagerung Kut-el-Amaras. Hier bestand offenbar noch der Bedarf, die deutsche „Urheberschaft“ für den Sieg besonders herauszustellen. Prugel, Alfred: „Haltet Fellahiye ...!“ – Der Kampf um Kut el Amara und Fellahiye im Jahre 1916, in: Langenbucher, Erich/Losch, Sebastian (Hrsg.): Deutsche Stunden – Zeugnisse der Tapferkeit, des Glaubens und der Treue, Braunschweig/Berlin/Hamburg 1941, S. 258-270. 398 loyalen Offizieren besetzen. Viele alte Offiziere wurden durch jüngere ersetzt und zwar vor allem nach politischen Erwägungen und weniger unter Berücksichtigung militärischer Eignung. Wäre Enver anders vorgegangen, wäre es fraglich gewesen, ob er seine Stellung lange behalten hätte. Dem deutschen Beobachter und Offizier erschlossen sich diese Strukturen offenbar selten bis gar nicht oder er ignorierte sie. Der Kaiser hatte Liman von Sanders die Weisung der „politischen Nichteinmischung“ mit auf den Weg gegeben. Bei realistischer Betrachtung war sie jedoch für die Militärmission kaum einzuhalten. Doch deckte sich die Forderung mit dem Idealbild des „unpolitischen“, auf den Kriegsherrn verpflichteten Offiziers im Deutschen Reich. Im Osmanischen Reich wurden die Reformer aber mit dem Gegenteil konfrontiert. Besonders nach Kriegseintritt der Türkei wurde Kritik laut. Die Tatsache, daß Enver Pascha wenig Alternativen blieben, wollte er seine Macht konsolidieren, fiel den Deutschen offenbar nicht ins Auge. Ebenso überrascht waren sie, als sie merkten, daß die mitteleuropäischen Ausbildungsgrundsätze und Kampfdoktrinen kaum im osmanischen Heer umzusetzen waren, ja sich der Bundesgenosse sogar gegen eine radikale und rasche Veränderung der Verhältnisse nach deutschem Vorbild wehrte, obwohl der Reformauftrag der Militärmission vertraglich festgelegt war. Offenbar war türkischerseits eine rein funktionale Verbesserung zur Steigerung der Effizienz – etwa durch technische Modernsierung – der Streitkräfte erwünscht, da man sich in Konstantinopel um weitreichende Konsequenzen größerer Reformen für das bestehende osmanische System sorgte. Der Auftrag der Militärmission war diesen systembedingten Schwierigkeiten jedoch nicht angepasst worden und den deutschen Offizieren fehlte häufig die Sensibilität, sich den andersartigen Voraussetzungen des Osmanischen Reiches anzupassen. Allerdings muß man berücksichtigen, daß das Deutsche Reich stets beabsichtigte, seine Stellung als wirtschaftliche und militärische Großmacht auszubauen. Man glaubte sich durch Demonstrationen der eigenen Stärke und Überlegenheit gegenüber anderen Großmächten abgrenzen zu müssen. Schwache Bündnispartner konnte sich das Reich daher nicht leisten, doch abhängige Bündnispartner waren erwünscht. Eine Umformung nach dem eigenen, als überlegen empfundenen Modell erschien bei diesen angebracht und möglich. Jede Rücksicht auf politische Befindlichkeiten war dabei durch den Dienstherrn ausgeklammert worden. 399 Der deutsche Offizier sollte sich als militärischer Spezialist nur auf die Durchführung seines Auftrages konzentrieren. Aus deutscher Sicht tat der türkische Offizier das nicht. Die Berichte und Memoiren zeichnen ein Bild vom unselbständigen Türken, der mehr auf den eigenen Vorteil bedacht war und nur durch ständige Kontrolle und Androhung (oder Durchführung) scharfer Sanktionen zur Erfüllung seiner Aufgaben gebracht werden konnte. Der militärisch unprofessionelle Osmane, faule Türke oder gar feige Orientale sind gängige Stereotype, die von den Deutschen gezeichnet wurden. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß in einer zahlenmäßig starken, wenngleich quantitativ erheblich fluktuierenden Armee, dazu noch unter Kriegsbedingungen, viele Soldaten Dienst taten, die solch einem Negativbild entsprachen. Die strukturellen Rahmenbedingungen leisteten weniger qualifizierten Offizieren zudem eher Vorschub als in anderen Armeen, aber auch das Osmanische Reich verfügte über fähige Führer. Diese wurden jedoch nur am Rande erwähnt, da die „simple“ Pflichterfüllung für die deutschen Offiziere so selbstverständlich war, daß sie keiner besonderen Erwähnung bedurfte. Bei genauem Hinsehen finden sich solche positiven Erwähnungen türkischer Offiziere aber durchaus.1410 Besonders gute Führer in der osmanischen Armee wurden eher als „Ausnahmen, welche die Regel bestätigen“, angesehen. Die bekannten und erfolgreichen türkischen Offiziere, wie etwa Mustafa Kemal, verfügten meist auch über ein selbstbewußtes Auftreten gegenüber dem europäischen Verbündeten, das durch die Siege 1916 nicht geschmälert wurde. Sie gerieten schnell in den Verdacht „Deutschenhasser“ zu sein oder zumindest ausgewiesene Kritiker des deutsch-türkischen Bündnisses.1411 Einige wenige Deutsche, besonders jüngere Subaltern-Offiziere, hegten allerdings so etwas wie Bewunderung für die Leistung der ebenfalls „jugendlichen“ Militärs des Osmanischen Reiches. Enver Pascha wurde von ihnen als Inbegriff des „Draufgängertums“ angesehen, zumal er mit kaum über 30 Jahren „Kriegsheld“ und 1410 Z.B.: Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 15ff. Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 2. 1411 Brief von Oberstleutnant a.D. Willmer an Liman von Sanders vom 12.5.1927, BAMA Freiburg W10/ 51475. 400 Kriegsminister war. Diese sehr „träumerisch-idealisierte“ Vorstellung war aber nicht repräsentativ für das deutsche Bild vom türkischen Offizier und betraf mit dem Vizegeneralissimus eine Ausnahmeerscheinung. Die Mehrheit der deutschen Offiziere hatte kein positives Bild vom türkischen Gegenüber, weil die Maßstäbe beider Armeen zu unterschiedlich waren. In einigen Fällen lag es wohl auch nahe, die Schuld für eigenes Versagen auf den „unfähigen Verbündeten“ abzuwälzen, insbesondere wenn Andere eine „generelle Verrottung“ und „mangelnde Funktionalität“ des osmanischen Offizierkorps bestätigten. Anders war hingegen die deutsche Einschätzung des türkischen Soldaten. Warf man den Offizieren Unselbständigkeit, Verantwortungsscheu und „stumpfen“ Gehorsam vor, so waren dies ins Positive gewendet Tugenden, die man am Soldaten schätzte. Der anatolische Soldat wurde für seine Leidensfähigkeit, seine Duldsamkeit und seinen Gehorsam unter den extremen Bedingungen der unterschiedlichen Fronten des orientalischen Kriegsschauplatzes gelobt. Praktisch ohne Verpflegung, ausreichende Ausrüstung und Munition, effiziente Unterstützung durch andere Waffengattungen oder Sanitätsdienst, Heimaturlaub, Sold und von seinen eigenen Offizieren mit Härte, wenn nicht Verachtung behandelt, kämpfte und starb er klaglos. So attestierte es ihm die Mehrzahl der deutschen Beobachter, die sich zugleich nicht vorstellen konnte, den eigenen Soldaten solche Umstände zuzumuten. Die hohe Desertionsquote – insbesondere auf den Märschen zur Front – wurde zwar kritisiert, trat aber hinter den positiven Eigenschaften des „türkischen Soldatenmaterials“ zurück. Der türkische Soldat „funktionierte“ nach dem Prinzip von „Befehl und Gehorsam“, das für eine „moderne“ Kriegführung nach deutschem Modell nur bedingt geeignet war. Hierbei war konsequente und „richtige“ Führung entscheidend, die durch das türkische Offizierkorps kaum geleistet werden konnte. Das „Funktionieren“ beschränkte sich daher hauptsächlich auf die Verteidigung, denn bei Angriffen oder gar speziellen Operationen (wie etwa dem amphibischen Übergang über den Suez-Kanal) offenbarten sich die gravierenden Mängel der osmanischen Streitkräfte; ein Umstand, der von einigen deutschen Führern erst sehr spät und nach verlustreichen Kämpfen erkannt wurde. Vielleicht wehrte man sich gegen diese Erkenntnis auch deshalb so vehement, weil die Maxime deutscher Kriegführung stets der Angriff war, denn nur durch erfolgreiche Offensiven sollte ein Krieg zu gewinnen sein. Doch wie so häufig 401 trafen auch in diesem Punkt die europäischen Vorstellungen nicht auf die Bedingungen des Osmanischen Reiches zu. Nach den bisherigen stark verallgemeinernden Äußerungen der Deutschen über den Zustand des türkischen Bundesgenossen verwundert es zunächst, daß die deutschen Soldaten im Orient zwischen den verschiedenen Völkerschaften des Osmanischen Reiches unterschieden und bestimmte „schlechte Eigenschaften“ unterschiedlichen Ethnien zuordneten. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch rasch klar, daß die Unterschiede zwischen Arabern und Türken, Kurden und „Beduinen“ sowie den zahlreichen anderen Völkerschaften schon innerhalb der osmanischen Gesellschaft deutlich zum Ausdruck kamen. Einige der Stereotype deutscher Soldaten wurden anscheinend auch von bestehenden Vorurteilen türkischer Offiziere beeinflußt, wie etwa das Urteil über die politische Unzuverlässigkeit der arabischen Bevölkerung. Zudem waren die Europäer solche Art von Differenzierung im Zeitalter der Nationalstaaten durchaus gewohnt und auch innerhalb des Deutschen Reiches wurde etwa der Unterschied zwischen Polen und Deutschen wahrgenommen. Im Unterschied zum ethnisch türkischen Soldaten wurden die Soldaten der anderen Völker durchweg schlecht beurteilt. Die arabischstämmigen Bevölkerungsteile, die für den Dienst in regulären Einheiten herangezogen wurden, galten unter Deutschen bestenfalls als unzuverlässig und im schlimmsten Falle als Feiglinge, Diebe oder Gefahr für die eigene Seite. Auch hier wurden die Rahmenbedingungen geflissentlich ignoriert. Wie die letzten Kriegsmonate überdeutlich zeigen, herrschte zwischen den beiden Völkerschaften eine unterschwellige Feindschaft, die sich im Angesicht des Zusammenbruchs 1918 in blutigen Ausschreitungen Bahn brach. Da auch für die arabischen Regimenter ähnliche Bedingungen der Ausbildung, Ausrüstung und Versorgung galten wie für die anatolischen Einheiten, verwundert es nicht, daß die Bereitschaft, für die „herrschenden Türken“ zu kämpfen, begrenzt war. Einige Deutsche nahmen diese ethnischen Konflikte sehr wohl wahr, denn deren politischen Dimensionen nahmen – teilweise von den Ententemächten forciert – im Kriegsverlauf zu. Doch die Konsequenz war die Stigmatisierung arabischer Einheiten als „unbrauchbar“, denn über Möglichkeiten, die erkannten Mißstände abzustellen, verfügten die Europäer nicht. Die Einmischung in politische Belange des 402 Osmanischen Reiches war ihnen untersagt worden, wenngleich dies nicht bedeutete, daß sie es – wie zum Beispiel die Marschälle Liman von Sanders und Falkenhayn – nicht mittelbar und unter dem Vorwand militärischer Notwendigkeit taten. Doch der Kriegsverlauf ließ wenig Spielraum für ein konzilianteres Verhalten seitens der Jungtürken und diese standen der offensichtlichen deutschen Einflußnahme auf innenpolitische Angelegenheiten stets – und mit zunehmender Empfindlichkeit – ablehnend gegenüber. Die „irregulären“ Einheiten, die für den Sultan kämpften und sich zumeist aus berittenen „Beduinen“ im Süden und Kurden, Tscherkessen oder anderen kaukasischen Ethnien im Nordosten des Reiches zusammensetzten, „genossen“ das mit Abstand geringste Ansehen bei den Deutschen. Die „feigen Araber“ der regulären Regimenter wurden als Soldaten unter der Flagge des Sultans wahrgenommen und an ihr Verhalten die Maßstäbe soldatischer Rechte und Pflichten angelegt, wenngleich sie diesen aus europäischer Sicht meist nicht entsprachen. Die „Irregulären“ besaßen nicht einmal diesen geringen „moralischen“ Vorteil, sondern sie vereinten die „schlechten Charaktereigenschaften“ ihrer Ethnien1412 mit einer für die deutschen Beobachter unerträglichen Profitgier. Für die Dienste solcher Einheiten mußte in Gold bezahlt werden und damit konnte nur eine sehr begrenzte Loyalität erkauft werden, die sehr häufig die Bereitschaft, sich größeren Gefahren für Leib und Leben auszusetzen, nicht einschloß. Unter militärischen Gesichtspunkten waren solche Formationen für einen Einsatz in den vorderen Frontlinien gegen reguläre britische, russische oder französische Truppen vollkommen ungeeignet. Im Rahmen des „Kleinen Krieges“ konnten sie jedoch effektiv sein. Wie bei der Verwendung hinter der eigenen Front zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ gingen sie dabei aber mit großer Brutalität vor. Mit dem Dienstethos deutscher Offiziere ließen sich Käuflichkeit und zugleich übermäßige Härte gegen Unterlegene nicht vereinbaren. Sie bezeichneten diese Formationen daher verächtlich als „Banden“ und scheuten sich auch nicht, ihre Mitglieder und vor allem Anführer als Halunken, Lügner, Räuber oder gar Mörder zu titulieren. Möglicherweise spiegelt sich in dieser 1412 Die Klischees über „die Araber“ wurden bereits erwähnt. Im Falle der kaukasischen Stämme kamen noch Stereotype, wie Wildheit, Blutdurst oder Rücksichtlosigkeit gegenüber Besiegten hinzu. 403 auffallend deutlich artikulierten Verachtung auch die Erfahrung der deutschen Armeen mit „Franctireuren“ in Westeuropa sowohl 1870/71 als auch 1914-1918 wider.1413 Entsprachen also schon die türkischen Truppen und die türkischen Führer nur sehr eingeschränkt den Vorstellungen der deutschen Offiziere, so konnten die Formationen aus anderen Völkern diesen Ansprüchen noch weniger gerecht werden. Allerdings taten sich auch die deutschen „Vorbilder“ öfter schwer, den eigenen Ansprüchen zu genügen. Die Militärreformer hatten nämlich einen rein militärischen Auftrag. Auf den schwierigen Aufgabenbereich in einer unterschiedlich geprägten Kultur, in der jede Geste, jeder Fehler, jede Schwäche und Stärke sehr genau wahrgenommen wurde und in der zudem die Parteipolitik das Militär in wesentlich stärkerem Maße beeinflußte als es in Deutschland der Fall war, waren sie nicht vorbereitet worden. Dies ist durchaus im wörtlichen Sinne gemeint, denn es ist nicht gesagt, daß eine solche Vorbereitung nicht hätte stattfinden können. Ganz im Gegenteil, bei einer engeren Kooperation zwischen dem diplomatischen Korps und dem Militär sowie einem Rückgriff auf die Erfahrungen vorheriger Miltiärreformer hätte vermutlich so manche Reibung vermieden werden können. Doch nichts dergleichen geschah. Vielmehr befand sich die Botschaft in Konstantinopel und deren Militärattché (später Militärbevollmächtigter) in ständigem Konflikt mit der Führung der Militärmission. Diese wiederum hatte nicht das beste Verhältnis zum Stab der Mittelmeerdivision oder zu Freiherrn von der Goltz und ebenfalls nicht zum (deutschen) stellvertretenden Chef des osmanischen Generalstabes. Unscharf formulierte Aufträge, fehlende Koordination sowie die Unklarheit über die Grenzen der Kompetenzbereiche waren von Beginn an strukturelle Unzulänglichkeiten, die während des Krieges nicht behoben werden konnten, was nicht zuletzt an der Person 1413 Siehe zu den Kämpfen mit „Franctireuren“ einführend: Krüger, Christine: Die Wahrnehmung der Gewalt im deutsch-französischen Krieg in württembergischen Zeitungen, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, Bd. 62, Stuttgart 2003, S. 319-343. Wieland, Lothar: Belgien 1914 – Die Frage des belgischen "Franktireurkrieges" und der deutschen öffentlichen Meinung von 1914 – 1936, Fankfurt am Main (u.a.) 1994. Tatsächlich macht die Diskussion über „unrechtmäßige und rechtmäßige Mittel des Krieges“ (z.B. Kennzeichnung als Kombattanten bei irregulären Verbänden, Rechte und Pflichten der Bevölkerung besetzter Gebiete) in militärtheoretischen Schriften des Kaiserreichs die Beschäftigung mit dem Franctireurkrieg und dessen Ablehnung als völkerrechtswidrig deutlich. Der „Kleine Krieg“ irregulärer Truppen wird dabei kritisch beurteilt, da er „leicht in Räuberei und unerlaubte Gewalttat ausartet“. Kriegsgeschichtliche Abteilung I des Großen Generalstabes (Hrsg.): Kriegsgebrauch im Landkriege, Berlin 1902, S. 5. 404 des Generals Liman von Sanders lag, der seine Machtbefugnisse verbissen verteidigte. Vertraglich waren lediglich seine Kompetenzen festgelegt worden. Über den Auftrag der Angehörigen der Militärmission sowie deren Status in der verbündeten Armee lagen bestenfalls Richtlinien vor, die unter die veränderten Anforderungen des Krieges kaum anwendbar waren. Diese verworrene Konstellation führte dazu, daß die deutschen Stellen ständig ihre jeweiligen Führungsansprüche gegeneinander abzugrenzen suchten. Zwischen dem hohen deutschen Führungspersonal im Orient gab es daher starke Spannungen, so daß deren Berichte, die aufgrund des Immediatrechts vieler Stellen unmittelbar nach Berlin gingen, nicht abgestimmt waren. Dabei verfügte das Kriegsministerium in Berlin nur über sehr begrenzte Mittel, um die Soldaten auf ihren Auslandseinsatz vorzubereiten und nahm sich in Anbetracht des Kriegsverlaufs in Europa weder die Zeit noch eignete es sich die Kenntnisse an, um die Lageberichte, Meldungen und Eingaben aus dem Osmanischen Reich sachdienlich auszuwerten und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Man griff daher auf in den eigenen Kolonien oder bei Verwendungen im europäischen Ausland „bewährte“ Auswahlkriterien zurück. Tropendiensttauglichkeit und Fremdsprachenkenntnisse (allerdings nicht der osmanischen Landessprachen) wurden vorausgesetzt und darüberhinaus noch der militärische Werdegang einer Versetzung in den Orient zugrundegelegt. Daß die berufliche Qualifikation nach europäischer Schulung im Osmanischen Reich gegenüber charakterlicher Eignung zum Umgang mit einer islamisch geprägten Kultur weniger wichtig war, fand im Deutschen Reich keine Berücksichtigung. Im Gegenteil, in manchen Fällen (zum Beispiel: Liman, Falkenhayn, Mayer, Schraudenbach) wurden sogar Offiziere in den Orient versetzt, deren Persönlichkeit als „schwierig“ bekannt war und denen nur bedingt eine beeindruckende militärische Laufbahn attestiert werden konnte. In sehr vielen Fällen erwies sich die Auswahl der Offiziere als unglücklich und die wenigen „glücklichen“ Fälle blieben Ausnahmen. Eine besondere Befähigung zum Dienst für den Sultan fehlte zahlreichen Militärreformern. Selbst speziell ausgebildetete Offiziere, wie Pioniere, Fernmelde-, Artillerie-, Flieger- und sogar Versorgungsoffiziere konnten ihre Fähigkeiten nur verzögert und unvollständig zum Einsatz bringen, da das Osmanische Reich die technischen, strukturellen, personellen und operativen Voraussetzungen dafür nicht aufwies. Die Grundlagen mußten zum 405 Teil erst noch während des Krieges geschaffen werden. Dies konnten die Deutschen aber nur vor Ort erkennen und dann versuchen, mit der Situation umzugehen. Vor allem in Konstantinopel, wo die meisten Deutschen tätig waren, oder während ihrer Dienstreisen konnten sich die Neuankömmlinge mit erfahrenen „Orientkämpfern“ austauschen. Die fremden Umgangsformen, Sitten und Gebräuche mußten erst im Osmanischen Reich von Grund auf erlernt werden. Zudem blieb die Sprachbarriere eines der größten Hindernisse für eine störungsfreie Zusammenarbeit, auch wenn einige Deutsche sich während ihres Dienstes geringfügige Kenntnisse der türkischen Sprache aneigneten. Die stereotypen Vorstellungen von „dem Orient“, wie sie die Deutschen aus Märchen, Romanen oder antiker Literatur besaßen, hielten der Realität nicht stand. Entsprechend groß war das Unverständnis, mit dem die Europäer den Osmanen begegneten. Ob und wie sich dieses Unverständnis wandelte, hing vom Einzelnen ab. Der Kommandeur des I.R. 146, Major Frithjof Freiherr von Hammerstein Gesmold, beschrieb in seinem Tagebuch die sechs Stadien, die jeder Fremde in Konstantinopel zu durchlaufen habe: „1) Helle Begeisterung 2) Basses Erstaunen 3) Stille Abscheulichkeit 4) Tobsucht 5) „Wir machen mit“ 6) „Ich kann nicht mehr“.“1414 Bei der Mehrheit der deutschen Soldaten war die eigene Sozialisation offenbar so stark verwurzelt, daß sie kaum über „Phase 4“ hinaus kamen, denn sie ließen gegenüber den veränderten Rahmenbedingungen keine Kompromißbereitschaft erkennen. Mit großer Entschlossenheit versuchten sie, ihre mitteleuropäischen Doktrinen und Verhaltensweisen dem Verbündeten aufzuzwingen. Andere hingegen (zum Beispiel: Kreß, Guhr, Serno und Firle) waren bemüht, sich mit dem für sie ungewohnten Umfeld bestmöglich zu arrangieren, auch wenn sie dabei einen Teil ihrer Vorstellungen zunächst hintanstellen mußten. Dadurch konnten sie beim Verbündeten hohes Ansehen erlangen und so ihren Dienst wesentlich reibungsfreier und erfolgreicher gestalten. Die eigenen Kameraden oder auch Vorgesetzten, zumeist diejenigen, denen eine längere Erfahrung im Osmanischen Reich fehlte, kritisierten diese Kompromißbereitschaft aber als Schwäche und 1414 Kriegstagebuch des Freiherrn von Hammerstein-Gesmold, Heft 12, Eintrag vom 8.4.1918, BAMA Freiburg N 309/ 12. 406 Preisgeben des deutschen militärischen Selbstverständnisses. So entstand das Stigma der „Vertürkung“. Schon diese Wortkreation zeigt, wie es um das deutsch-türkische Bündnis bestellt war. War ein Offizier als „vertürkt“ diffamiert worden, so war es ihm beinahe unmöglich, seine Ansichten, Ratschläge oder auch handfesten Kenntnisse bei den deutschen Stellen erfolgreich vorzubringen. Zugleich mußte die Angst vor einer solchen Stigmatisierung sich hinderlich auf die Kooperation zwischen anderen Deutschen und dem osmanischen Bündnispartner auswirken. Die Begrifflichkeit unterstreicht weiterhin das Überlegenheitsgefühl, mit dem zahlreiche Deutsche im Dienst auftraten. Auch wenn es stimmte, daß Deutschland strukturell weiterentwickelt war als das Osmanische Reich, so war es doch mehr als unklug, dem eigenen Verbündeten diesen Umstand vorzuhalten. Türkischerseits entstand nicht zu Unrecht der Eindruck deutscher Arroganz gegenüber dem orientalischen Bundesgenossen, was sehr empfindlich registriert wurde. Immerhin handelte es sich beim Osmanischen Reich – trotz aller Defizite – um eine souveräne Macht. Das Verhalten vieler Deutscher machte hingegen deutlich, daß diese den „Kranken Mann“ am Bosporus keineswegs als gleichberechtigten Partner ansahen. Dabei stand der „gefühlten Überlegenheit“ nicht immer eine „tatsächliche Überlegenheit“ gegenüber. Die Leistungen und Führungsqualitäten schwankten unter den deutschen Armeeangehörigen ebenso wie u