„Tapfere Askers“ und „Feige Araber“

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Neuere und Neueste Geschichte
„Tapfere Askers“ und „Feige Araber“
Der osmanische Verbündete aus der Sicht deutscher Soldaten im Orient
1914-1918
Inaugural-Dissertation
zur Erlangung des Doktorgrades
der
Philosophischen Fakultät
der
Westfälischen Wilhelms-Universität
zu
Münster (Westf.)
vorgelegt von
Jan Christoph Reichmann
aus Duisburg
2009
Tag der mündlichen Prüfung: 16.07.2009
Dekan: Prof. Dr. Christian Pietsch
Referent: Prof. Dr. Bernhard Sicken
Korreferent: Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung........................................................................................................................................1
I.1. Thematik und Fragestellung..........................................................................................................1
I.2. Forschungssituation.......................................................................................................................5
I.3. Quellen(kritik).............................................................................................................................10
I.4. Konzeptionelle Überlegungen.....................................................................................................15
I.5. Wortgebrauch und Abkürzungen................................................................................................18
II. Einführung: Außenpolitik an der Peripherie..........................................................................21
II.1. Die Beziehungen zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich vor
dem Ersten Weltkrieg (1871-1912)...................................................................................................21
a) Die politischen Beziehungen.........................................................................................................21
b) Die wirtschaftlichen Beziehungen.................................................................................................37
c) Die militärischen Beziehungen......................................................................................................47
II.2. Die Entwicklung zum deutsch-türkischen Bündnis (1912/13-1914).........................................65
a)Die Balkankriege 1912/13 als „Generalprobe“ für die deutschen Offiziere.................................65
b)Liman von Sanders und die Deutsche Militärmission vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges(19131914)......................................................................................................................78
c)Die deutsch-osmanische Zusammenarbeit bis zum Kriegseintritt der Türkei................................91
II.3. Strukturelle Probleme der deutsch-türkischen Zusammenarbeit vor dem
Ersten Weltkrieg..............................................................................................................................105
III. Die deutschen Soldaten und ihre türkischen „Waffenbrüder“ im Ersten Weltkrieg......131
III.1. Die bewaffnete Macht des Osmanischen Reiches bei Kriegsausbruch 1914.........................131
III.2. Die deutsch-osmanische Kriegführung im Orient..................................................................142
a)Die Kämpfe an den Meerengen....................................................................................................143
b)Die Kämpfe im Kaukasus.............................................................................................................157
c)Der Krieg in Syrien, Palästina und Mesopotamien......................................................................173
d)Der Krieg zur See.........................................................................................................................200
e)Die Fliegertruppe.........................................................................................................................211
IV. Die Eindrücke vom „Verbündeten im Orient“....................................................................221
IV.1. „Wege zum Ruhm“? – Motivation und Orientbild deutscher Soldaten.................................221
IV.2. „Tapfere Askers“ und „Feige Araber“ – Die Mannschaften der osmanischen
Streitkräfte.......................................................................................................................................238
IV.3. „Keine Kameraden“? – Die Offiziere des osmanischen Heeres............................................266
IV.4. Sonderfälle Marine und Fliegertruppe?..................................................................................280
a)Die Marine...................................................................................................................................281
b)Die Flieger...................................................................................................................................299
Exkurs:
Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher Soldaten....................................324
V. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Fehlverhalten und Leistungen der Deutschen
im Orient........................................................................................................................................333
V.1. „Abgesondert von aller Zivilisation“ – Deutsche Mannschaften und Unteroffiziere..............333
V.2. Vorbild und Vorherrschaft, Konkurrenz und Intrigen – Die deutschen Offiziere...................345
V.3. „Am deutschen Wesen.....“ – Erfolge deutscher Militärhilfe?................................................376
VI. Ergebnisse................................................................................................................................389
Anhang A........................................................................................................................................410
Anhang B........................................................................................................................................421
Quellen- und Literaturverzeichnis...............................................................................................426
Abkürzungsverzeichnis.................................................................................................................443
Kartenverzeichnis..........................................................................................................................444
I. Einleitung
I.1. Thematik und Fragestellung
„Der Erste Weltkrieg - Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ so lautet der Titel
eines von Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe herausgegebenen Buches.1 Die
verschiedenen Artikel des Sammelbandes behandeln politische, wirtschaftliche,
soziale und nicht zuletzt militärische Zusammenhänge in großer Breite, allerdings in
deutlicher Fokussierung auf die europäischen Fronten. Dem Kriegsschauplatz im
Osmanischen Reich wird hingegen nur ein einziger Aufsatz gewidmet, der sich
zudem ausschließlich mit dem brutalen Vorgehen der osmanischen Regierung gegen
die christlich-armenische Minderheit im Kaukasus befaßt. Auf gerade einmal vier
Seiten werden diese Ereignisse geschildert.2 In einigen neueren Monographien zum
Ersten Weltkrieg ist die die Darstellung der politischen und militärischen Ereigisse im
Orient bereits etwas umfangreicher.3
Dennoch wird der Kriegsschauplatz im Osmanischen Reich, das ein Vielfaches der
Fläche des Deutschen Reiches besaß4, als Nebenkriegsschauplatz behandelt. Dabei
1
Burgdorff, Stephan u. Wiegrefe, Klaus (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg - Die Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts, Hamburg/München 2004. (Im Folgenden: Burgdorff/Wiegrefe, Weltkrieg 2004.) Der
Titel des Buches steht in Anlehnung an George F. Kennan, der den Begriff der „great seminal
catastrophe of this century“ prägte. Kennan, George F.: The decline of Bismarck´s European order –
Franco-Russian relations 1875 – 1890, Princeton 1979, S.3f. Später wurde die Begrifflichkeit von
Ernst Schulin und Wolfgang Mommsen (leicht abgewandelt) übernommen, um den Ersten Weltkrieg
zu charakterisieren. Schulin, Ernst: Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Michalka,
Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – Wirkung, Wahrnehmung, Analysen, München (u.a.) 1994, S.
3. Mommsen, Wolfgang J.: Die Urkatastrophe Deutschlands – Der Erste Weltkrieg 1914-1918,
Stuttgart 2002.
2
Andresen, Karen: Der Massenmord an den Armeniern, in: Burgdorff/Wiegrefe, Weltkrieg 2004, S.
211-214.
3
Vgl. Strachan, Hew: The First World War – Volume I: To Arms, Oxford 2001, S. 644-693. (Im
Folgenden: Strachan, First World War 2001.) Ders: Der Erste Weltkrieg - Eine neue illustrierte
Geschichte, München 22004, S. 121-161. (Im Folgenden: Strachan, Weltkrieg 2004.) Stevenson,
David: 1914-1918 – Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 32006 (hier besonders S. 142-156). Praktisch
keine Beachtung findet der Kriegsschauplatz hingegen in: Salewski, Michael: Der Erste Weltkrieg,
Paderborn (u.a.) 22004. (Im Folgenden: Salewski, Der Erste Weltkrieg 2004.)
4
Nach den verlorenen Balkankriegen war das Osmanische Reich 1914 noch etwa 1.795.000 km2 groß.
Genaue Angaben zur Größe liegen nicht vor. Zudem waren bestimmte Gebiete nominell Teil des
Osmanischen Reiches, entzogen sich de facto aber weitgehend dem Zugriff der Regierung in
Konstantinopel (Gebiete des Kaukasus, Mesopotamiens und der arabischen Halbinsel). Krause, Paul
R.: Die Türkei, Berlin/Leipzig 1916, S. 5 u. S. 23. [Auf S. 5. ist offenbar ein Druckfehler in der
Flächenangabe. Eine plausiblere Angabe daher auf S. 23.] Im Vergleich lag die Fläche des Deutschen
1
waren im Kriegsverlauf immerhin etwa 25.000 deutsche Soldaten innerhalb der
Grenzen der heutigen Staaten Türkei, Syrien, Jordanien, Israel, Libanon, Ägypten und
Irak eingesetzt.5
Dennoch beschäftigt sich ein sehr öffentlichkeitswirksamer Zweig der Forschung
hauptsächlich mit den Verbrechen an der armenischen Minderheit im Osmanischen
Reich und der Rolle der deutschen Soldaten bei diesen Vorgängen.6
Doch ist dies bei weitem nicht der einzige Aspekt, den es bei der Behandlung der
deutsch-türkischen Beziehungen im Zusammenhang mit dem Weltkrieg 1914-1918
zu beachten gilt. Nach einer Phase von kriegerischen Auseinandersetzungen der
Hohen Pforte
mit einigen
Nachbarstaaten und
revolutionären, politischen
Veränderungen im Inneren wurden die Beziehungen zur aufstrebenden, Großmacht
Deutschland in der Tat immer enger. Diese Annäherung fand ihren Ausdruck
zunächst 1913 in der Entsendung einer ersten offiziellen Militärmission aus
Offizieren deutscher Staaten, die als Instrument zur Modernisierung des militärisch
rückständigen Heeres des Sultans vorgesehen war. Der „Höhepunkt“ wurde
allerdings mit dem Kriegseintritt der Hohen Pforte auf seiten der Mittelmächte
erreicht, denn der „Große Krieg“ – wie ihn Zeitgenossen nannten und wie er bis heute
vorwiegend in der englisch- und französischsprachigen Literatur genannt wird –
sollte entscheidenden Einfluß auf den weiteren Verlauf der Geschichte Deutschlands
und der Türkei nehmen. Die Verliererstaaten zerbrachen und neue Gebilde
entstanden. Für die moderne Türkei erlangte ein Offizier der osmanischen Armee
namens Mustafa Kemal Pascha als späterer Staatsgründer und erster Präsident unter
dem Namen „Atatürk“ maßgebliche Bedeutung. Er setzte die Trennung von Staat und
Kirche durch und festigte damit in der Türkei ein Bild des Militärs, das bis ins 21.
Jahrhundert Bestand hat.
Die türkischstämmige Autorin Esra Sezer beschreibt dies in einem Artikel der vom
Deutschen Bundestag herausgegebenen Wochenzeitung „Das Parlament“:
Reiches bei 542.000 km2. Habenicht, Hermann/Wichmann, Hugo (Bearb.): Taschen-Atlas vom
Deutschen Reiche, Gotha 21908, S. 5-7. Zu den Grenzen des Reiches siehe auch Karte 1.
5
Neulen, Hans Werner: Feldgrau in Jerusalem - Das Levantekorps des kaiserlichen Deutschland,
München 22002, S. 11. (Im Folgenden: Neulen, Feldgrau 2002.) Zu den Grenzen des Osmanischen
Reiches siehe auch Karte 1.
6
Siehe hierzu den Exkurs: Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher Soldaten.
2
„Der Einfluss des türkischen Militärs auf die Politik hat seine Wurzeln im
Osmanischen Reich (1299 bis 1922). Während damals die Armee die Kraft war,
welche die ersten Reformen durchsetzte, genoss sie nach dem Zerfall des Reiches und
der Errichtung der Türkischen Republik unter der Führung von Mustafa Kemal
Atatürk (1881 bis 1938 "Vater der Türken") das Ansehen als Republikgründerin. Die
Überzeugung der Offiziere, sie seien die eigentlichen Hüter der Republik, die
entscheidenden Verantwortungsträger und die Erbwächter des Kemalismus, wird bis
heute in den Militärakademien gelehrt und durch ihre Mitglieder vertreten.“7
Die Autorin betont mit gutem Grund, daß schon in osmanischer Zeit die bewaffnete
Macht eine der wichtigsten Institutionen und „Klammern“ des orientalischen
Vielvölkerstaates war. Der Armee des Sultans wird sogar eine das Staatssystem (!)
modernisierende Funktion beigemessen. Es ist hier nicht der Platz zu erörtern,
inwiefern den Streitkräften der Republik Türkei ähnliche Funktion zukommt, doch es
ist augenfällig, welche Eigenschaften dem Militär des oftmals als „Kranker Mann“
geschmähten Osmanischen Reiches zugeschrieben werden. Diese unterscheiden sich
doch deutlich von dem Bild der Streitkräfte der deutschen Bundesstaaten – und
insbesondere der preußischen Hegemonialmacht – im deutschen Kaiserreich, wo die
Armee zwar ebenfalls eine herausgehobene, aber zugleich systemstabilisierende
Stellung besaß.8 Trotzdem waren deutsche Offiziere und Soldaten in kleinerer Zahl
schon seit dem frühen 19. Jahrhundert an der an der Modernisierung – und seit den
Balkankriegen 1912/13 auch Führung – der osmanischen Streitkräfte beteiligt. Sollte
demnach die obgige Einschätzung stimmen, arbeiteten zwei Parteien zusammen, die
sich bereits im Verständnis ihrer Funktion in Staat und Gesellschaft voneinander
unterschieden. Dennoch pflegten beide eine langjährige Zusammenarbeit, die
schließlich zu einem Bündnis im als „Urkatastrophe“ bezeichneten Ersten Weltkrieg
führte.
7
Sezer, Esra: Das türkische Militär und der EU-Beitritt der Türkei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,
Beilage zur Ausgabe Nr. 43/2007 (22.10.2007) der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Zitiert nach der
Internetausgabe: http://www.das-parlament.de/2007/43/Beilage/005.html, Stand: 14.04.2008).
8
Siehe hierzu Kapitel II.3., S. 111f.
3
Das deutsch-türkische Bündnis bietet sich demnach als lohnendes Feld zur
Erforschung deutscher Koalitionskriegführung an, denn bei genauerer Betrachtung
zeigen sich mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten in den Interessen der
Bündnispartner. Mögliche Reibungspunkte bilden dabei nicht allein unterschiedliche
militär-strategische Schwerpunktsetzungen, sondern auch divergierende politische
und wirtschaftliche Ziele. Die Problematik solch gegensätzlicher Absichten und ihrer
Auswirkungen auf die Bündniskriegführung findet jedoch hauptsächlich in Studien
Erwähnung, die das deutsche und österreichisch-ungarische Verhältnis untersuchen.9
Die Untersuchung des Waffenbündnisses mit dem Osmanischen Reich könnte
allerdings zahlreiche neue Aspekte erbringen. So lassen sich nicht zuletzt Einblicke in
die Zusammenarbeit mit einem grundlegend verschiedenen, weil überwiegend
islamisch geprägten Reich gewinnen, die in dieser Art einmalig war.
Gegenstand dieser Arbeit ist allerdings nicht eine umfassende Geschichte der
deutsch-osmanischen Koalitionskriegführung im Ersten Weltkrieg. Vielmehr soll die
Untersuchung den Fokus auf die deutschen Soldaten legen, die im Osmanischen
Reich kämpften, und mit Mentalitätsaspekten einem gewichtigen Faktor des
Bündnisses gelten, der bislang wenig Beachtung gefunden hat. Dabei stellen sich
zunächst grundlegende Fragen nach dem Auftrag der Deutschen im Orient und den
Mitteln, die ihnen zur Durchführung an die Hand gegeben wurden. Außerdem müssen
die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen untersucht werden, unter denen sie
ihren Dienst leisteten, um dann den Blick auf die Eindrücke der Kriegsteilnehmer
selbst zu richten. Welche Erfahrungen und Einsichten gewannen die Deutschen
9
Bereits unter den Zeitgenossen fand die Diskussion um Konflikte zwischen diesen beiden Mächten
recht breite Beachtung. Exemplarisch seien hier nur genannt: Cramon, August von: Unser
Österreichisch-Ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege – Erinnerungen aus meiner vierjährigen
Tätigkeit als bevöllmächtgter deutscher General beim k.u.k. Armeeoberkommando, Berlin 21922.
Stürgkh, Josef Graf von: Im Deutschen Großen Hauptquartier, Leipzig 1921. (Im Folgenden: Stürgkh,
Im Großen Hauptquartier 1921.) Werkmann, Karl Freiherr von: Deutschland als Verbündeter – Kaiser
Karls Kampf um den Frieden, Berlin 1931.
In der jüngeren Werken zur Geschichte der k.u.k Armee wird die Bündnisproblematik zumindest am
Rande erwähnt: Kronenbitter, Günther: „Krieg im Frieden“ – Die Führung der k.u.k. Armee und die
Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906-1914, München 2003, S. 277-314. Rauchensteiner,
Manfried: Der Tod des Doppeladlers – Österreich-Ungarns und der Erste Weltkrieg, Graz (u.a.) 1993,
S. 379-384. Eine der wenigen neueren Monographien zum Thema ist: Müller, Martin:
Vernichtungsgedanke und Koalitionskriegführung – Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn in der
Offensive 1917/1918, Graz 2003.
4
während der Zusammenarbeit mit dem Osmanischen Reich? Welche Werte, Normen
und Ansprüche fanden sie vor und welche brachten sie mit? In einer Frage formuliert:
Wie nahmen die deutschen Militärangehörigen ihren türkischen Verbündeten wahr
und welche Konsequenzen hatte dies für ihr Handeln? Dabei bedeutet „wahrnehmen“
nicht die bloße Perzeption – also die sinnliche unreflektierte Wahrnehmung – des
Fremden. Vielmehr ist hier im Sinne des philosophischen Apperzeptionsbegriffs die
bewußte Erfassung von Andersartigkeit und deren Einordnung in bereits Bekanntes
gemeint.10 Bei diesem Prozeß spielt das Autostereotyp der Deutschen eine nicht
unwesentliche Rolle, denn es steht zu vermuten, daß dieses als Maßstab für den
Vergleich mit dem orientalischen Verbündeten herangezogen wurde und somit das
Urteil über jenen mitbestimmte.
Ziel dieser Untersuchung ist es herauszuarbeiten, welche Einflüsse – sowohl positiver
als auch negativer Art – sich auf die Zusammenarbeit zwischen deutschen und
türkischen Militärangehörigen auswirkten. Die Gebiete, auf denen diese Faktoren
wahrgenommen werden konnten, reichen von religiösen, sozialen, sprachlichen bis zu
fachlichen oder technischen Themenbereichen. Aufgrund dieses großen Spektrums an
möglichen Wahrnehmungsfeldern wird die Untersuchung sich auf bestimmte
Bereiche beschränken müssen.11 Doch zunächst muß erläutert werden, worauf diese
Arbeit aufbauen soll.
I.2. Forschungssituation
Wie eingangs erwähnt, beschäftigte sich die Forschung der letzten Jahre vornehmlich
mit der Situation der Armenier im Osmanischen Reich. Für die hier behandelte
Fragestellung ist diese Diskussion jedoch nur wenig hilfreich.
Den jüngsten Versuch einer Gesamtdarstellung des deutschen Engagements auf dem
orientalischen Kriegsschauplatz bildet der Band von Hans Werner Neulen, der bereits
1991 erschien.12 Überblicksartig schneidet der Autor dabei sowohl die militärischen
10
Zu den Begriffdefinitionen von „Apperzeption“ und „Perzeption“ siehe: Halder, Alois/Müller, Max:
Philosophisches Wörterbuch, [erw. Neuausg. der Aufl. 1988] Freiburg i. Br. 1993, S. 25f. u. 231.
11
Siehe Abschnitt I.4.
12
Neulen, Hans Werner: Feldgrau in Jerusalem - Das Levantekorps des kaiserlichen Deutschland,
München 22002. (Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002.) Das Buch erschien in erster Auflage bereits
5
als auch politischen Entwicklungen des Weltkrieges im Orient an. Allerdings hat der
Autor sein Werk unter das Motto der „Hervorhebung der deutsch-türkischen
Freundschaft“ gestellt, so daß Einleitung und Fazit einen versöhnlichen Ton erhalten,
der nicht unbedingt den Erkenntnissen im Hauptteil der Untersuchung entspricht.
Dennoch hat Neulen dank seines umfangreichen Literaturverzeichnisses – aus dem
sich jedoch nicht alle Titel in der eigentlichen Arbeit wiederfinden – und der
Einbindung zahlreicher Quellen einen guten Überblick über das Thema geliefert, der
sich als Einstiegslektüre eignet.
Die „Standardwerke“ zum Themenkomplex des deutsch-türkischen Bündnisses
stammen noch aus den späten 60er und den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ulrich
Trumpener veröffentlichte 1968 „Germany and the Ottoman Empire 1914-1918“.13
Sein Hauptaugenmerk lag – neben der Auswertung englischsprachiger Quellen – auf
der Analyse der vorhandenen Akten des Auswärtigen Amtes. Daher rücken neben
militärischen Aspekten des Bündnisses besonders die diplomatischen und
wirtschaftlichen Interessen ins Blickfeld des Autors. Ähnlich ging Frank G. Weber in
seinem Buch „Eagles on the Crescent – Germany, Austria and the diplomacy of the
Turkish Alliance 1914-1918” (1970) vor.14 Der Titel läßt bereits erahnen, daß der
Autor den Blick auf die Beziehung der drei Großmächte richtete. Hierbei hob er
besonders die Interessen der Orientpolitik Österreich-Ungarns hervor sowie deren
Konsquenzen für den Vertrag der „Mittelmächte“ mit der Hohen Pforte. Diese beiden
Untersuchungen verdeutlichen vor allem die politischen Hintergründe des
Zustandekommens des deutsch-türkischen Bündnisses und diplomatische Reibungen
während der „Bewährung“ im Krieg selbst. Für die vorliegende Arbeit sind sie damit
wertvolle Nachschlagewerke, um die militärische Sichtweise in politische Leitlinien –
aber auch Konfliktfelder – einzubetten.
1991 und drei Jahre später als „ungekürzte Ausgabe“ unter anderem Titel: Neulen, Hans Werner:
Adler und Halbmond – Das deutsch-türkische Bündnis 1914-1918, Frankfurt am Main 1994.
13
Trumpener, Ulrich: Germany and the Ottoman Empire 1914-1918, Princeton 1968. (Im Folgenden:
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968.)
14
Weber, Frank G.: Eagles on the Crescent – Germany, Austria and the diplomacy of the Turkish
Alliance 1914-1918, Ithaca/London 1970. (Im Folgenden: Weber, Eagles on the Crescent 1970.)
6
Die letzte Monographie, die als Standardwerk gelten kann, verfaßte Jehuda Wallach
(1976).15 Er gibt einen Überblick über die militärische Zusammenarbeit der deutschen
Staaten (und hier überwiegend Preußens) mit dem Osmanischen Reich, wobei er den
Schwerpunkt auf die Tätigkeit der deutschen Militärmission legt. Wallach gründet
seine Arbeit im Wesentlichen auf die Korrespondenzen und Unterlagen des
Auswärtigen Amtes und legt verständlicherweise sein besonderes Augenmerk auf die
Person des Marschalls Liman von Sanders als Chef der Militärmission. Damit
behandelt er grundlegende Aspekte, die auch in dieser Untersuchung Beachtung
finden. Allerdings beschränkt sich die vorliegende Arbeit nicht auf diesen Teil
militärisch-politischer Beziehungen; mehr noch, sie bezieht auch Entsendung,
Auftrag, Einsatz, Erfahrungen, Auftreten und Verhalten der Marineangehörige und
Flieger deutscher Abteilungen ein, für die die Mission nicht viel mehr als eine
„personalbearbeitende Stelle“ war. Zudem hat Wallach gezeigt, daß der Einfluß der
Militärmission mit steigender Entfernung von der osmanischen Hauptstadt deutlich
abnahm, und somit erweisen sich seine Einsichten als begrenzt.
In jüngster Zeit erschienen drei deutsche monographische Detailstudien, die sich mit
Aspekten
der
deutsch-türkischen
Zusammenarbeit
im
Ersten
Weltkrieg
beschäftigen.16 Als erste wäre die veröffentlichte Magisterarbeit von Michael Unger
(2003) zu nennen, der die Zusammenarbeit insbesondere der längere Zeit
vernachlässigten
bayerischen
Militärangehörigen
mit
ihren
osmanischen
Bündnispartnern untersuchte.17 Der Autor behandelt Ziel und Entwicklung des
bayerischen militärischen Engagements sowie die Auseinandersetzungen mit Preußen
im Rahmen der gesamtdeutschen (aber preußisch dominierten) Militärhilfe für die
Türkei. Für die Zeit des Ersten Weltkrieges schildert er zudem die bayerischen
Erfahrungen und Schwierigkeiten im Umgang mit dem osmanischen Verbündeten
anhand repräsentativer Beispiele. Unger kam dabei zugute, daß im Bayerischen
15
Wallach, Jehuda: Anatomie einer Militärhilfe - Die preußisch-deutsche Militärmission in der Türkei
1835-1919, Düsseldorf 1976. (Im Folgenden: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976.)
16
Hinzu kommen einige Aufsätze zum Thema, von denen hier derjenige von Eberhard Demm als der
für diese Studie interessanteste erwähnt werden soll. Demm, Eberhard: Zwischen Kulturkonflikt und
Akkulturation: Deutsche Offiziere im Osmanischen Reich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
53 (2005), S. 691-715. (Im Folgenden: Demm, Kulturkonflikt 2005.)
17
Unger, Michael: Die bayerischen Militärbeziehungen zur Türkei vor und im Ersten Weltkrieg,
Frankfurt am Main 2003. (Im Folgenden: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003.)
7
Kriegsarchiv in München noch ein umfangreicher Aktenbestand zum Thema erhalten
ist, so daß die Arbeit nicht nur auf den so häufig benutzten Archivalien des
Auswärtigen Amtes aufbaut. Die Arbeit stellt daher einen der wichtigsten
deutschsprachigen Beiträge zum Thema dar und erweist sich für diese Untersuchung
als hilfreich.
Zwei weitere Arbeiten wurden im Jahre 2007 veröffentlicht. Fahri Türk behandelte
die deutsch-türkischen Rüstungsgeschäfte zwischen 1871 und 1914.18 Obwohl der
Untersuchungszeitraum den Ersten Weltkrieg damit nicht mehr einschließt, lassen
sich aus dieser Arbeit, die mit zahlreichen statistischen Erhebungen aufwarten kann,
interessante Rückschlüsse auf den engen Zusammenhang von Wirtschaft und Militär
in der Kooperation der beiden Staaten ziehen. Der Ausbau der Vormachtstellung
deutscher Rüstungsgüter im Orient wird ebenso verdeutlicht wie der ständige
Wettbewerb zwischen europäischen Lieferanten und deren Auswirkungen auf die
Bewaffnung der osmanischen Streitkräfte. Die zweite Darstellung stammt von
Matthias Römer.19 Er beschäftigt sich hauptsächlich mit der britischen Unterstützung
für die osmanische Marine und der aufkommenden deutschen Konkurrenz, verkörpert
durch die Besuche des Freiherrn Colmar von der Goltz und von deutschen
Militärberatern in den Balkankriegen. Die Aufnahme der Tätigkeit der Militärmission
unter Liman von Sanders wird nur am Rande behandelt, da sie erst außerhalb des
Untersuchungszeitraumes einsetzte.20
Trotz dieser Arbeiten bleibt der Bestand an deutscher Forschungsliteratur zum
Themenfeld dürftig, da die „Standardwerke“ von Trumpener, Weber und Wallach der
englischsprachigen Forschung entstammen. Diese ist es auch, die eine ungleich
größere Menge an Untersuchungen zum Ersten Weltkrieg im Orient aufweist. Eine
18
Türk, Fahri: Die deutsche Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften zwischen 1871 und 1914 –
Die Firma Krupp, die Waffenfabrik Mauser und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken,
Frankfurt am Main (u.a.) 2007. (Im Folgenden: Türk, Türkeigeschäfte 2007.)
19
Römer, Matthias: Die deutsche und englische Militärhilfe für das Osmanische Reich 1908-1914,
Frankfurt am Main (u.a.) 2007. (Im Folgenden: Römer, Militärhilfe 2007.)
20
Hier nur am Rande erwähnt werden soll die Dissertation von Salvador Oberhaus. Sie beleuchtet
einen weiteren Aspekt deutschen Engagements im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich und
hier besonders die Bestrebungen religiöser Propaganda. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist sie
weniger von Belang, muß aber im Zusammenhang des Gesamtthemenkomplexes der deutschosmanischen Beziehungen genannt werden. Oberhaus, Salvador: „Zum wilden Aufstande entflammen“
– Die deutsche Ägyptenpolitik 1914 bis 1918. Ein Beitrag zur Propagandageschichte des Ersten
Weltkrieges, Düsseldorf 2006 (Online-Veröffentlichung).
8
Fülle militärgeschichtlicher Arbeiten beschäftigt sich mit den Kämpfen auf der
Gallipoli-Halbinsel und den Kämpfen in Palästina und Syrien 1917/18. Die
Ereignisse in Mesopotamien sind hingegen wesentlich weniger erforscht, wenngleich
die umfangreichen Bände des britischen Generalstabswerkes und des australischen
Gegenstücks erwähnt werden müssen, die aus rein operationsgeschichtlicher Sicht
und mit dem Fokus auf der britischen Seite die Geschehnisse vorbildlich beleuchten.
Die anglophone Forschung bezieht sich – kaum verwunderlich – überwiegend auf
britische Quellen und Unterlagen. Nur am Rande werden deutsche oder gar türkische
Sichtweisen angerissen; so etwa der „halboffizielle“ Band des Militärhistorikers
C.E.W. Bean über die „Gallipoli Mission 1948“, die mit der Untersuchung des
Schlachtfeldes beauftragt war und dazu auch türkische Augenzeugen hörte.21 Im
Jahre 2001 tat sich Edward J. Erickson dadurch hervor, daß er mit Hilfe türkischer
Quellen und Literatur eine Geschichte des osmanischen Heeres verfaßte. Auch die
Fliegertruppen werden von Erickson kurz angesprochen, die Seestreitkräfte bleiben
jedoch weitgehend ausgeklammert. Dieses Werk ist eine lohnende Ressource für die
Erforschung des Kriegsgeschehens, weil nur sehr wenig türkische Forschungsergebnisse überhaupt Eingang in europäische oder US-amerikanische Arbeiten
fanden. Erickson beschränkt seine Arbeit allerdings größtenteils auf die
Operationsgeschichte, so daß sie für die Fragestellung dieser Untersuchung nur
begrenzten Wert besitzt. Zudem ist sein Buch offenbar mit wesentlicher
Unterstützung des türkischen Generalstabes entstanden und gewisse „pro-türkische“
Tendenzen in seiner Interpretation müssen berücksichtigt werden.22 Somit wird zu
prüfen sein, ob die Ergebnisse Erickson´s nicht einer Differenzierung bedürfen.
Es bleibt festzuhalten, daß neuere Forschungsliteratur zur Geschichte der deutschtürkischen Truppen nur spärlich vorhanden ist. Auch ereignisgeschichtlich dominiert
21
Bean, C.E.W.: Gallipoli Mission, Sydney 1948, S. 351-374. Der Band wurde von der staatlichen
Stelle des „Australian War Memorial” herausgegeben, erschien jedoch nicht in der Reihe der „Official
History of Australia in the War 1914-1918“.
22
Ein Beispiel hierfür ist die Schlußfolgerung, daß das osmanische Heer auch 1918 noch
ausreichenden Widerstand gegen die britischen Truppen hätte leisten können, wenn nicht der
Waffenstillstand „dazwischen gekommen“ wäre. Das Bild entspricht in deutlichem Maße dem
deutschen Schlagwort „Im Felde unbesiegt“ und sollte daher kritisch überprüft werden. Erickson,
Edward J.: Ordered to Die - A History of the Ottoman Army in the First World War, Westport 2001, S.
204 u. 215f. (Im Folgenden: Erickson, Ordered to Die 2001.)
9
die englischsprachige Forschung, während die Verbreitung türkischer Arbeiten meist
schon an der Sprachbarriere scheitert.
I.3. Quellen(kritik)
Die Quellenlage für das deutsche Engagement im Osmanischen Reich ist als
ausreichend zu bezeichnen. Einen großen Teil der Archivalien bewahrt das
Auswärtige Amt auf. Sie betreffen daher meist diplomatische, manchmal aber auch
militärische Vorgänge. Besonders während der Zeit der offiziellen Militärmission
fungierten deutsche Offiziere zugleich als Repräsentanten des Deutschen Reichs und
waren daher zur Berichterstattung an das Amt in Berlin genötigt, wenngleich sie
diesem offiziell nicht unterstanden. Diese Quellen sind aber in der Vergangenheit
wiederholt untersucht und ausgewertet worden. Außerdem stehen sie für den
dienstlichen Verkehr zwischen Soldaten und Diplomaten und sind somit nur von
begrenztem Aussagewert, wenn man die Vorstellungen und Wahrnehmungen
deutscher Soldaten untersuchen will. Daher werden die Schriftwechsel mit dem
Auswärtigen Amt in dieser Arbeit nur am Rande genutzt. Wichtiger erscheinen der
offizielle Schriftverkehr und die entsprechenden Berichte und Unterlagen, die
während des Dienstes im Osmanischen Reich innerhalb der deutschen Truppen
zustande kamen. Allerdings sind große Teile der Akten der Militärmission kurz nach
Kriegsende in Konstantinopel verlorengegangen oder bereits auf dem Rückzug der
deutschen Truppen von den türkischen Fronten verschollen.23 Nimmt man die
Verluste der Aktenbestände des Heeresarchivs im Zweiten Weltkrieg hinzu, so
erscheint die Quellenlage zunächst unzureichend. Glücklicherweise sind die
umfangreichen Bestände des Bayerischen Kriegsarchivs (KA) in München jedoch
erhalten. Hier lassen sich neben den von Unger bereits bearbeiteten noch weitere
Erinnerungen
und
Aufzeichnungen
sowie
dienstlicher
Schriftverkehr
in
befriedigendem Maße finden, der durch die (meist preußischen) Unterlagen in
Freiburg ergänzt werden kann. Die Quellensituation am Bundesarchiv-Militärarchiv
in Freiburg im Breisgau (BAMA) ist jedoch – im Vergleich zur Menge des
23
Petter, Wolfgang: Zur deutsch-türkischen Zusammenarbeit im Ersten Weltkrieg, Manuskript o. Ort
und o. Dat., S. 6.
10
allgemeinen Aktenbestandes – unbefriedigend. Über die deutsche Tätigkeit am
Bosporus sind nur sehr wenige Akten, die zum Großteil der Marine entstammen,
überliefert; immerhin sind auch hier einige ergiebige Nachlässe vorhanden. Diese
schwierigen Voraussetzungen dürften einer der Gründe sein, weshalb in der
Vergangenheit die Forschung vorwiegend die Unterlagen des Auswärtigen Amtes
auswertete.
Seit der deutschen „Wiedervereinigung“ sind jedoch Archivbestände der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in das Bundesarchiv übernommen
worden. Sie enthalten zahlreiche Unterlagen – insbesondere Dokumente, die das
Reichsarchiv für seine Schriften benutzte –, die lange als verschollen galten.24 Aus
diesem größtenteils unbearbeiteten archivalischen Fundus schöpft die vorliegende
Arbeit ebenso wie aus den Quellen des KA in München.
Die Anzahl gedruckter Quellen und Memoiren ist wenig befriedigend. Der Vergleich
mit der Literaturlage zur europäischen Westfront 1914-1918 verbietet sich jedoch, da
nicht zuletzt das Kontingent der Deutschen im Orient wesentlich kleiner war.
Trotzdem ist die Quantität der Bücher und Aufsätze im Vergleich zum geringeren
Personaleinsatz recht beachtlich. Hier seien exemplarisch nur die Memoiren des
Marschalls Liman von Sanders, des bayerischen Offiziers Freiherrn Kreß von
Kressenstein oder des deutschen Stabschefs der 3. osmanischen Armee, Felix Guse,
genannt. Daneben bleiben noch die Jahrbücher des Bundes deutscher Asienkämpfer,
die in den 1920er Jahren erschienen. Insgesamt sind zwar nur 6 dieser Jahrbücher
(1921-1929) veröffentlicht worden, doch enthalten sie einige aufschlußreiche
Beiträge von Soldaten. Vereinzelt haben Kriegsteilnehmer Erfahrungsberichte auch in
anderen
Sammelbänden,
„Fachzeitschriften“
oder
„Kameradschaftsorganen“
veröffentlicht. Da manche dieser Periodika wissenschaftlich problematisch oder
politisch tendenziös sind, ist der Inhalt solcher Berichte mit Einschränkungen
24
Die Bestände befinden sich im Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg im Breisgau) unter den
Signaturen RH 61 beziehungsweise W 10. Nach Fertigstellung dieser Arbeit sind beider Bestände
unter der Signatur RH 61 zusammengefasst worden. Die neue Verzeichnung konnte nicht mehr
berücksichtigt werden, allerdings sind die hier verwendeten Signaturen über die archivübliche
Konkordanz nachvollziehbar.
11
verwertbar. Allerdings ist deren Anzahl nicht so hoch, daß sich dieser Umstand
gravierend auf die Quellensituation auswirken würde.
Insgesamt läßt die Menge der Veröffentlichungen daher zumindest detailliertere
Einblicke zu, wenngleich allgemeingültige Aussagen auf dieser Grundlage nur unter
Vorbehalt getroffen werden können.
Die „Erinnerungsliteratur“ oder besser die „zeitgenössische Bearbeitung“ ist auch
nicht unproblematisch. Zunächst einmal konnten sich alle Autoren nur in geringem
Maße auf dienstliche Unterlagen berufen, da diese meistenteils verloren waren,
wenngleich nicht in dem Ausmaße wie nach 1945. Viele Autoren und ebenso
Forscher des Reichsarchivs gründeten ihre Arbeiten daher auf eigene Aufzeichnungen
und Tagebücher oder auf die Aussagen von „Orientkämpfern“. Für die Erforschung
der subjektiven Wahrnehmung des Verbündeten ist dies somit eine zentrale
Quellengruppe, bleiben die so bearbeiteten Schriften doch verhältnismäßig nah an
den Eindrücken, Meinungen und Wahrnehmungen der Akteure. Zugleich gewähren
diese Einblick in Einschätzungen der Ausgangslage an den osmanischen Fronten
durch deutsche Kriegsteilnehmer, die sich ebenfalls auf die Einschätzung des
türkischen Verbündeten ausgewirkt haben dürften. Dabei ist zu berücksichtigen, daß
der Einzelne – ganz gleich welcher hierarchischen Ebene er angehörte – nur einen
begrenzten Überblick über die Gesamtsituation hatte. Dies mußte besonders in
Kriegszeiten und auf einem Schauplatz gelten, dessen Kommunikationsmöglichkeiten
und Informationswege arg zu wünschen übrig ließen. Daher müssen die
Schlußfolgerungen immer auch dahingehend untersucht werden, ob sie nicht die
„Gesamtlage“ vernachlässigen und in ihrer – oft eindrücklichen Schärfe – zu
relativieren sind. Außerdem vergingen häufig zehn und mehr Jahre, bis die
ehemaligen „Asienkämpfer“ ihre Erinnerungen und Erfahrungen niederschrieben und
damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten. Diese Verzögerung gilt es
zu berücksichtigen, da die Schilderungen durch eine Vielzahl von Faktoren, etwa die
Lektüre anderer Literatur zum Thema, beeinflusst worden sein können.
Ein weiteres Problem ist die mehr oder weniger offensichtliche Intention des
Verfassers. Da der Kampf im Osmanischen Reich und letztlich der Erste Weltkrieg
für das Deutsche Reich mit einer Niederlage endete, lag die Schuldzuweisung des
12
Versagens gegen die deutschen Offiziere in der Luft. Mancherlei Darstellung
osmanischer Unzulänglichkeiten kann daher überzeichnet sein, um die eigenen
Verdienste „unter solchen Umständen“ hervorzuheben und gleichzeitig deutlich zu
machen, daß unter diesen Rahmenbedingungen die optimale Leistung erbracht wurde.
Recht augenfällig sind solche Ausführungen bei dem bayerischen Offizier Ludwig
Schraudenbach, der sein Buch offenbar nicht zuletzt deshalb verfaßte, um bestimmten
Anschuldigungen – auch aus dem Kameradenkreise – entgegenzutreten, er habe seine
Dienstpflichten im Orient vernachlässigt und seine Zeit mit „touristischen“ Reisen zu
den Sehenswürdigkeiten des Landes verbracht.25 Solche „Rechtfertigungstendenzen“
können auch dazu führen, daß positive Erfahrungen mit dem osmanischen
Verbündeten in den Hintergrund treten oder gar nicht erwähnt werden.
Möglicherweise
wurden
auch
bestimmte
(Aus-)Bildungsstandards
für
mitteleuropäische Truppen als „selbstverständlich“ betrachtet und fanden daher keine
Erwähnung, wenn sie im fremden Orient vorgefunden wurden. Somit wären nur
Nichterfüllungen deutscher Standards als Abweichung von der Norm kritisch
vermerkt worden.26
Weiterhin sind in einigen Werken indirekte oder gar direkte „Abrechnungswünsche“
der Autoren zu finden. Liman von Sanders etwa läßt in seinem Buch „Fünf Jahre
Türkei“ keinen Zweifel an seinem schlechten Verhältnis zum osmanischen
Kriegsminister Enver Pascha aufkommen. Auch betont er, daß die Spannungen stets
durch Enver verursacht worden seien, der jung und unerfahren zu militärischen
Fehlern geneigt habe und außerdem dem Rat des Marschalls Liman nur selten
zugänglich gewesen sei. Zudem geht der Chef der deutschen Militärmission nicht nur
mit seinem türkischen „Widersacher“ hart ins Gericht, sondern spart ebenfalls nicht
mit Kritik an den deutschen Botschaftern in Konstantinopel, an verschiedenen Stellen
im Deutschen Reich (z.B. am Auswärtigen Amt) oder an anderen deutschen
Offizieren in Diensten des Sultans (z.B. Bronsart von Schellendorff). Aus
verschiedenen Quellen und erhaltenen Archivunterlagen geht hervor, daß Liman
25
Siehe hierzu Kapitel IV.1., S. 227.
Hierzu ist etwa eine weitere Untersuchung von Erickson erschienen, der deutlich auf die Mängel des
osmanischen Heeres eingeht, jedoch auch mit der Intention, die erbrachten Abwehr- und
Verzögerungserfolge gegen die britischen Truppen an den Dardanellen und in Palästina als besonders
„effektiv“ herauszustellen. Erickson, Edward J.: Ottoman army effectiveness in World War I – A
comparative study, London (u.a.) 2007.
26
13
offenbar selbst nicht wenig zu den regelmäßigen Reibungen beigetragen hat. Sein
Buch, das er zeitnah in britischer Gefangenschaft auf der Insel Malta verfaßte und das
bereits 1919 als erstes (Nachkriegs-)Werk zum Themenfeld erschien, birgt zwar viele
wertvolle Informationen über Ereignisse, Planungen und Strategien, in die der Autor
als ranghöchster Offizier der Militärmission Einblick hatte, es ist aber zugleich eine
sehr offene, persönliche „Klageschrift“ eines Mannes, der unter dem Eindruck einer
umfassenden militärischen Niederlage stand und einen britischen Militärgerichtsprozess erwartete, der allerdings nie stattfand. Limans Buch ist daher in seiner
Deutlichkeit auffällig unter den Büchern deutscher „Orientkämpfer“, die im
Allgemeinen ihre Kritik etwas zurückhaltender anbringen. Kreß von Kressenstein,
dessen Verhältnis zu Liman oder dem später im Orient eingesetzten General
Falkenhayn ebenfalls nicht spannungsfrei war, beschränkt sich auf einige wenige
bittere Bemerkungen über „die Führung“. Das Gegenstück dazu ist eine Arbeit des
Württembergers Gerold von Gleich, der ebenfalls sehr offen die deutschen Fehler und
Versäumnisse aufzeigt, dabei aber anscheinend keine persönliche Anklagen im Sinn
hatte, sondern eher eine „allgemeine Kritik“ beabsichtigte.27
Diese Überlegungen zeigen ein zusätzliches Manko der archivalischen und
veröffentlichten Quellen auf. Der Autorenkreis setzt sich in der ganz überwiegenden
Mehrheit aus Offizieren zusammen. Nur in äußerst seltenen Fällen finden sich
Berichte von Unteroffizieren oder Mannschaften. Aussagen zu den Anschauungen
dieser Dienstgradgruppen müssen daher mit Hilfe von Tagesbefehlen oder
Schilderungen ihrer Vorgesetzten erschlossen und rekonstruiert werden. Verbindliche
Aussagen sind für diese Soldatengruppen nur schwer zu treffen.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Überlieferung zwar für eine
Untersuchung eine durchaus tragfähige Grundlage bietet, jedoch auch beträchtliche
Lücken aufweist. Nicht alle Fragen werden daher befriediegend geklärt werden
können.
27
Gleich, Gerold von: Vom Balkan nach Bagdad – Militärisch-politische Erinnerungen an den Orient,
Berlin 1921.
14
I.4. Konzeptionelle Überlegungen
Die Entwicklung der militärischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und
der Hohen Pforte im Frieden bis zum Ausbruch der Balkankriege28 und das deutsche
Engagement im Osmanischen Reich während dieser Kriege bis hin zur Entsendung
einer offiziellen Militärmission sind für den Hauptkomplex dieser Untersuchung von
grundlegender Bedeutung und werden daher als Einführung in die Thematik und
Genese der späteren intensiven Zusammenarbeit behandelt.29 Dabei sind nicht allein
die strategischen und politischen Erwägungen zu berücksichtigen, die zu einem
deutsch-osmanischen Waffenbündnis führten, sondern auch der Umstand, daß bereits
in diesen Phasen Verhaltensweisen und Probleme deutlich werden, die sich während
des Ersten Weltkrieges maßgebend auf das Bündnis auswirken sollten.
Gerade die Tätigkeiten militärischer Berater und der Beginn der deutschen
Militärmission fallen noch in die Zeit vor dem Kriegsausbruch, wirkten sich jedoch in
entscheidendem Maße auf die Politik der Großmächte aus. Gleichzeitig konnten
deutsche Militärangehörige schon hier erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit
der Türkei machen. In einem die Einleitung abschließenden Kapitel (II.3.) werden
daher diese ersten praktischen Erfahrungswerte in der Kooperation aber auch
Beobachtungen über das Verhalten und die Reaktionen der Deutschen und dessen
mögliche Hintergründe zusammengefasst. Da bekanntlich die Quellen hauptsächlich
von deutschen Offizieren stammen, repräsentieren sie überwiegend ein bestimmtes
soziales Milieu. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, daß diese Sichtweisen
einheitlich sind, sondern nur, daß sie vor dem Hintergrund einer ähnlichen (!)
Sozialisation
gefällt
landsmannschaftliche
wurden.
Diese
Unterschiede
Hintergründe
innerhalb
der
waren
deutschen
zudem
durch
Militärmission
mitbestimmt, da etwa bayerische Offizieranwärter eine durchweg bessere
Schulbildung sowie in Teilen anders akzentuierte Ausbildung als ihre preußischen
Pendants erhielten. Inwieweit Ähnlichkeiten in der Vorbildung oder in „Vorurteilen“
angenommen werden können, muß bereits in den einleitenden Überlegungen
28
29
Siehe II.1 c.
Siehe Kapitel II.2.
15
angesprochen werden. Auch bestimmte „Grundkonstanten“ im Bereich der
Wahrnehmung interkultureller Unterschiede sollen in die Überlegungen einfließen.30
Beachtung verdienen auch mediale Darstellungen vom Einsatzgebiet und den
Verbündeten der deutschen Soldaten, so zum Beispiel dem sogenannten
„Orientalismus“, der die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit im kaiserzeitlichen
Deutschland nicht unwesentlich beeinflußte. Ähnliche Phänomene lassen sich auch
für andere Länder nachweisen.31 In einem späteren Kapitel (VI.1.) wird darauf
einzugehen sein, inwieweit sich solche Beeinflussungen tatsächlich nachweisen
lassen.
Dagegen sind – trotz vereinzelter Bestrebungen deutscher Interessengruppen –
Einflüsse kolonialistischer Tendenzen auf die deutsch-türkische Kooperation im
Kriege nur schwer nachzuweisen.32 Das Osmanische Reich war ein souveräner Staat
und wenngleich ihm die Akzeptanz als gleichrangige Großmacht fehlte, so sind die
Urteile über die „schwarzafrikanischen“ Einwohner der deutschen Kolonien und
30
Die Forschung hat in den letzten 20 Jahren ein verstärktes Augenmerk auf interkulturelle Identitäten
und Fremdwahrnehmung gelegt. Einführend können hier zwei Tagungsbände genannt werden:
Breuer, Ingo/Sölter, Arpad A. (Hrsg.): Der Fremde Blick – Perspektiven interkultureller
Kommunikation und Hermeneutik. Ergebnisse der DAAD-Tagung in London, 17.-19. Juni 1996,
Bozen 1997. Lenz, Bernd (Hrsg.): Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen
Kulturen – Theorieansätze, Medien, Textsorten, Diskursformen; Passau 1999.
Einen sehr guten Überblick über einige Forschungsprojekte zum Themenkomplex (die von der
Volkswagenstiftung gefördert wurden) bietet der Band: Craanen, Michael/Gunsenheimer, Antje
(Hrsg.): Das „Fremde“ und das „Eigene“ – Forschungsberichte (1992 – 2006), Bielefeld/Hannover
2006. Ebenfalls hilfreich zur Erklärung nationaler oder ethnischer Stereotypen ist die Forschung auf
dem Gebiet der Reiseliteratur. Einige Studien aus der Sicht diverser europäischer Nationen finden sich
in dem Sammelband: Bauerkämper, Arne/Bödeker, Hans Erich/Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Welt
erfahren – Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt am Main 2004. Ergänzend
hierzu sollte auch die österreichisch-ungarische Perspektive berücksichtigt werden:
Bernard, Veronika: Österreicher im Orient – Eine Bestandsaufnahme österreichischer Reiseliteratur im
19. Jahrhundert, Wien 1996.
Die Zahl deutschsprachiger Forschungen, die sich mit der außereuropäischen Sicht auf die Europäer
beschäftigen, ist für den Themenbereich dieser Arbeit unzulänglich, doch soll an dieser Stelle die
(bereits ältere) Arbeit des ägyptischen Professors Maher nicht unerwähnt bleiben. Obwohl dieses
Bändchen gerade 32 Seite umfaßt, wird doch der interessante Versuch gemacht, die Stereotypen beider
Seiten skizzenhaft zu vergleichen: Maher, Moustafa: Das Bild des Deutschen in der arabischen und das
Bild des Arabers in der deutschen Literatur, Düsseldorf (u.a.) 1978.
31
Einen guten Überblick zum Einfluß „des Orientalischen“ zum Beispiel auf die englisch- und
französischprachige Literatur jener Zeit bieten einführend: Barfoot, C.C./D´haen, Theo (Hrsg.):
Oriental Prospects – Western Literature and the Lure of the East, Amsterdam/Atlanta 1998.
32
Zu den „Kolonialbestrebungen“ deutscher Siedler siehe einführend: Petry, Erik: Ländliche
Kolonisation in Palästina – Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Köln
(u.a.) 2004. Fuhrmann, Malte: Der Traum vom deutschen Orient – Zwei deutsche Kolonien im
Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt am Main/New York 2006.
16
Schutzgebiete doch andere als über die Untertanen des Sultans, denn im Orient
konnten die Deutschen nicht den „Kolonialherrenstatus“ für sich beanspruchen.33
Ebenso läßt sich die Forschungsdiskussion um „Christentum und Islam“, die offenbar
nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 an Bedeutung gewonnen hat,
schwerlich auf die damaligen Verhältnisse anwenden.34 Die religiösen Unterschiede,
welche auch damals schon wahrgenommen wurden, werden zweifellos auch den
deutschen Offizieren nicht entgangen sein. Jedoch spielten sie für die Deutschen nur
dann eine Rolle, wenn sie die dienstliche Zusammenarbeit beeinträchtigten.
Mit dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs 1914 beginnt der eigentliche
Untersuchungszeitraum und er endet mit dem Waffenstillstand von Mudros 1918. Es
gilt zunächst, die Rahmenbedingungen darzulegen, unter denen die deutschen
Soldaten ihre Erfahrungen mit den Streitkräften des Sultans sammelten. Einleitend
wird dabei auf die Struktur der bewaffneten Macht im Orient einzugehen sein, um
anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Bereich der Formationen, der
Ausrüstung und Bewaffnung, des operativen und faktischen Verständnisses, der
Führungsgrundsätze und –mittel, Personalersatz und Logistik, kurzum, der militärisch
relevanten Faktoren die Voraussetzungen der Kooperation darzulegen. Anschließend
folgen nach einer Analyse des Auftrags der deutschen Militärs mit der erforderlichen
Differenzierung aus der Sicht der Verbündeten knappe ereignisgeschichtliche
Überblicke über die Kämpfe an verschiedenen Fronten. Dabei kann lediglich eine
Auswahl von Schauplätzen behandelt werden. Diese richtet sich nach dem deutschen
Engagement an der betreffenden Front und der Bedeutung – in politischer,
propagandistischer und militärischer Hinsicht sowie den Auswirkungen auf das
Selbst- und Fremdbild – für das deutsch-türkische Bündnis. Bestimmte Sonderfälle,
wie etwa die Unternehmungen in Richtung des indischen Subkontinentes oder der
33
Zum Bild der Kolonien und ihrer Einwohner in Deutschland siehe einführend die Aufsatzsammlung:
Bechhaus-Gerst, Marianne/Gieseke, Sunna (Hrsg.): Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von
Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur, Frankfurt am Main (u.a.)
2006.
34
Einführend zur Diskussion um die historisch-theologische Entwicklung des Verhältnisses zwischen
Christentum und Islam sowie deren Auswirkung auf die jüngste Zeit siehe:
Kuschel, Karl-Josef: Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007.
Kandil, Fuad: Blockierte Kommunikation: Islam und Christentum – Zum Hintergrund aktueller
Verständigungsprobleme, Berlin 2008. Schmid, Hansjörg (Hrsg.): Identität durch Differenz?
Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg 2007.
17
kurzzeitige Einsatz osmanischer Verbände in Europa wurden aufgrund ihrer
mangelnden Vergleichbarkeit ausgeklammert.
Im Anschluß an die ereignisgeschichtlich-operative Darstellung gilt es die deutschen
Eindrücke vom Verbündeten genauer zu betrachten. Dabei sind selbstverständlich
auch die Beweggründe der Deutschen für eine Dienstnahme im Orient von Interesse.
Danach werden die Erfahrungen der deutschen Heeresangehörigen mit den
osmanischen Bundesgenossen im Alltagsdienst und im Einsatz, in der Ausbildung
und im Gefecht, bei Rückschlägen und Erfolgen analysiert und zwar unterschieden
nach dem Blick auf die Mannschaften und Unteroffiziere sowie auf die Offiziere.
Dies ist um so notwendiger, als die Mehrzahl der Berichte und Quellen von deutschen
Offizieren stammt, die – basierend auf ihrer militärischen Sozialisation – besondere
Ansprüche an diese Personalkategorien stellten.
Im Vordergrund stehen die Wahrnehmungen der Heeresangehörigen, denn diese
bildeten eindeutig die größte Gruppe der Militärberater. Die Erfahrungen
Angehöriger der Marine und der jungen Fliegertruppe werden gesondert in die
Untersuchung
einbezogen,
um
möglicherweise
„teilstreitkraftsspezifische“
35
Bewertungen nachvollziehen zu können.
Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, daß unangemessenes oder
ungeschicktes Verhalten die Zusammenarbeit erschwert haben können. In einem
vierten Kapitel wird daher „deutsches Fehlverhalten“ in einem weiten Sinne, werden
aber auch die „Erfolge“ oder „Leistungen“ des Engagements analysiert. Hierbei muß
erörtert werden, welche Verhaltensweisen die Deutschen in Übereinstimmung und
Unterschied zum Selbstverständnis an den Tag legten und inwiefern ihr Gebaren den
eigenen Ansprüchen genügte oder sich auf die Durchführung ihres Auftrages
auswirkte. In einer Umgebung, die sehr sensibel auf vermeintliche oder tatsächliche
Einmischung in „innere Angelegenheiten“ reagierte, können die Folgen erheblich
gewesen sein.
35
Die Militär-Fliegerei war im Ersten Weltkrieg noch keine autonome Teilstreitkraft, sondern
unterstand dem Heer.
18
I.5. Wortgebrauch und Abkürzungen
Zum besseren Verständnis sind einige sprachliche Vereinheitlichungen in dieser
Arbeit
vorgenommen
worden.
So
wird
weitgehend
auf
die
türkischen
Begrifflichkeiten verzichtet. Ortsnamen werden entweder nach dem zeitgenössischen
deutschen Kartenwerk36 zitiert oder – sofern auf den Karten nicht verzeichnet – nach
der jeweiligen Quelle, was nicht zwangsläufig der heutigen Schreibweise entpricht.
Um Mißverständnisse und Verwechselungen zu vermeiden, wird an wenigen,
kenntlich gemachten Stellen von dem Kartenwerk abgewichen. Dieses Verfahren
ermöglicht eine größere Nähe zu den zeitgenössischen Unterlagen. In Fällen
gravierender Namensänderungen wird der heutige Name der Ortschaft in Klammern
angegeben, um eine Verortung zu erleichtern. Manchmal kann es aber auch
vorkommen, daß die Quellenangaben sich auf nicht mehr existente Bahnhöfe, Dörfer
oder Oasen beziehen, zu denen keine genaueren Angaben gemacht werden können. In
solchen Fällen wird zumindest eine grobe Platzierung angegeben.
Ähnlich wird bei den Personennamen verfahren. Die Schreibweise richtet sich nach
der – von deutscher Seite – meist gebrauchten Art und Weise. In der Forschung wie
auch in den Quellen ist sie häufig willkürlich, was zu Komplikationen führen kann.
Die deutsche Namensgebung ist dabei oft lautsprachlich bedingt und verhältnismäßig
nah am sprachlichen Original. So wird der türkische „Cemal Paşa“ im Deutschen
lautsprachlich korrekt „Djemal Pascha“ geschrieben.
Eine Besonderheit ist die Verwendung der Begriffe „türkisch/Türkei“ und
„osmanisch/Osmanisches Reich“. Der Verfasser ist sich sehr wohl bewußt, daß beide
Begriffe eine unterschiedliche Bedeutung haben, denn die offizielle Staatsbezeichnung während des Untersuchungszeitraumes ist letztere. Die „Türkei“ wurde
erst nach dem Ersten Weltkrieg gegründet.37 Im Sinne sprachlicher Abwechslung
werden die Begriffe allerdings in dieser Arbeit häufig synonym gebraucht. Bezüge
auf die ethnische Herkunft oder andernfalls die staatliche (und damit zugleich
36
Karten zum Weltkriege: Der Orient, Bielefeld/Leipzig 4[1915]. Vorweg kann bereits erwähnt
werden, daß diese Karten – obwohl recht detailliert – für den militärischen Gebrauch nur wenig
geeignet waren. Trotz des (vermutlichen) Erscheinens während des Krieges konnten sie kaum die
miserable Versorgung mit Kartenmaterial ausgleichen. Siehe hierzu Kapitel VI.1., S. 231f.
37
Bihl, Wolfdieter: Die Kaukasus-Politik der Mittelmächte – Teil 1: Ihre Basis in der Orient-Politik
und ihre Aktionen 1914-1917, Wien/Köln/Graz 1975, S. 139.
19
multiethnische) Ebene ergeben sich jeweils aus dem Zusammenhang. Dabei muß
ebenfalls berücksichtigt werden, daß die deutschen Soldaten meist von „der Türkei“
und „den Türken“ sprachen, wenn sie eigentlich das „Osmanische Reich“ meinten.
Hierbei handelte es sich wohl um ähnliche Vereinfachungen, wie etwa „Deutschland“
statt „Deutsches Reich“ zu sagen. Allerdings kann in einigen Fällen nicht
ausgeschlossen werden, daß durch die Bezeichnung zugleich die Vorherrschaft der
ethnischen Türken in allen Bereichen des Osmanischen Reichs anerkannt wurde.
Maße und Gewichte werden nach den heutigen Standards abgekürzt. Für die
Währungen (sofern sie nicht ausgeschrieben sind) werden die zeitgenössischen
Abkürzungen verwendet, da sie zum Teil heute nicht mehr existieren und die
Nachfolger der beteiligten Staaten neue Währungen mit anderen Namen und Kürzeln
führen. Militärische Abkürzungen haben sich im Laufe der Jahre nur unwesentlich
verändert. Zum besseren Verständnis werden diese – im Alltag weniger
gebräuchlichen Abkürzungen – auch an der betreffenden Stelle im Text
aufgeschlüsselt.
Abkürzungen von Archiven bei Quellenangaben richten sich nach dem üblichen
Gebrauch in der Forschungsliteratur.
Alle weiteren Abkürzungen entsprechen ebenfalls den alltäglich gebräuchlichen
Standards und bedürfen daher keiner gesonderten Erklärung.
Schließlich sollen kurz die osmanischen Titel Effendi, Bey und Pascha erläutert
werden. Im Osmanischen Reich war es üblich den gesellschaftlichen und dienstlichen
Rang nicht allein durch Amtsbezeichnungen, sondern auch durch Namenszusätze
anzuzeigen. Anders als in Westeuropa wurden diese Ergänzungen an den Namen
angehängt, wie bei „Enver Pascha“. Der Begriff Effendi stellt dabei die geringste
Stufe dar und findet sich im militärischen Kontext bei Leutnanten, Hauptleuten und
zum Teil Majoren. Der Titel Bey wurde in der Regel höheren Staatsdienern oder
Stabsoffizieren (oft ab Oberstleutnant) verliehen, während der Zusatz Pascha zumeist
höchsten Beamten, Ministern oder der Generalität vorbehalten war.
20
II. Einführung: Außenpolitik an der Peripherie
II.1. Die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und dem Osmanischen
Reich vor dem Ersten Weltkrieg (1871-1912)
a) Die politischen Beziehungen
Vor der Reichsgründung unterhielt von den nachmaligen Mitgliedsstaaten des Reichs
hauptsächlich das Königreich Preußen Kontakte zum Osmanischen Reich.38 Der
preußische Ministerpräsident und spätere Reichskanzler Otto von Bismarck sah die
Türkei allerdings nicht etwa als Bündnispartner oder auch nur als originäre
preußische (respektive deutsche) Interessensphäre an. Ihm blieb aber nicht verborgen,
daß die anderen europäischen Großmächte rivalisierend um Einfluß in diesem Raum
bemüht waren und dieses Ringen an der Peripherie Entlastung für Deutschland bieten
konnte.39
Frankreich besaß bereits seit 1528 Verträge mit dem Sultan, durch die französische
Staatsbürger, die innerhalb der Grenzen des orientalischen Großreiches lebten,
arbeiteten und handelten, weitgehend dem türkischen Zugriff entzogen waren.40
Diese
sogenannten
„Kapitulationen“
gewährten
zunächst
französischen
Staatsangehörigen und später auch anderen Europäern weitgehende rechtliche
Exemtionen, die sich besonders auf die Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich
auswirkten.41 Derartige Bestimmungen, in Verbindung mit absehbarer Parteinnahme
der abendländischen Mächte zugunsten ihrer Staatsbürger, waren den türkischen
Behörden wie auch den Geschäftsleuten ein Dorn im Auge, zumal eine
38
Unger, Michael: Die bayerischen Militärbeziehungen zur Türkei vor und im Ersten Weltkrieg,
Frankfurt am Main 2003, S. 11f. (Im Folgenden: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003.)
39
Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich – Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 18711945, Stuttgart 1995, S. 39f. (Im Folgenden: Hildebrand, Das vergangene Reich 1995)
Scherer, Friedrich: Adler und Halbmond – Bismarck und der Orient 1878-1890, Paderborn (u.a.) 2001,
S. 9f.. (Im Folgenden: Scherer, Adler und Halbmond 2001.)
40
Overbeck, Alfred Freiherr von: Die Kapitulationen des Osmanischen Reiches, München 1917, S. 7.
(Im Folgenden: Overbeck, Kapitulationen 1917.)
41
Siehe dazu Kapitel II.1.b), S. 37f.
21
Benachteiligung der Osmanen gegenüber ihren westlichen „Handelspartnern“ immer
deutlicher wurde.42
Neben wirtschaftlichen Interessen spielten für die Großmächte strategische
Überlegungen eine Rolle. So war sowohl Großbritannien als auch dem Russischen
Reich an der Kontrolle der Meerengen zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer
gelegen. Russland könnte so den Handel über seine Schwarzmeerhäfen Odessa und
Sewastopol sichern, während das Empire über ein nicht zu vernachlässigendes
Drohmittel, nämlich eine Sperrung der Durchfahrt, gegenüber Anrainerstaaten des
Schwarzen Meeres verfügen würde.43 Schon im Krimkrieg (1853-1856) hatte sich
gezeigt, daß England und Frankreich nicht bereit waren, eine weitgehende Kontrolle
oder direktes militärisches Vorgehen des Zaren gegen den so mühsam erschlossenen
osmanischen Handelsraum zu tolerieren.44 Diese Reiche hatten wegen der
„osmanischen Frage“ einen der blutigsten Kriege des ausgehenden 19. Jahrhunderts
geführt.45
Ganz anders sah dies hingegen Preußen und nach 1871 das Deutsche Reich. Zwar
waren sich die maßgeblichen Kreise in Berlin durchaus des Konfliktpotentials im
Orient bewußt, doch war besonders Fürst Bismarck nicht gewillt, das noch junge
Gebilde des Deutschen Kaiserreiches durch ein größeres Engagement auf diesem
Schauplatz aufs Spiel zu setzen. Im Gegenteil, seine Außenpolitik sah zunächst vor,
„Frieden zu halten, mit allen, mit denen man Frieden halten konnte“.46 Legendär
wurde sein Ausspruch, daß er nicht die Knochen „eines einzigen pommerschen
42
Overbeck, Kapitulationen 1917, S. 26.
Bodger, Alan: Russia and the End of the Ottoman Empire, in: Kent, Marian (Hrsg.): The Great
Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984, S. 77f. und S. 82. (Im Folgenden: Bodger,
Russia and the Ottoman Empire 1984.) Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 7.
44
Majoros, Ferenc u. Rill, Bernd: Das Osmanische Reich (1300-1922) - Die Geschichte einer
Großmacht, Graz (u.a.) 1994, S. 335f. (Im Folgenden: Majoros/Rill: Osmanisches Reich 1994.)
Matuz, Josef: Das Osmanische Reich - Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt 21990, S. 229f. (Im
Folgenden: Matuz, Das Osmanische Reich 1990.),
Auch Nicolae Jorga führt bereits 1913 eindeutig die wirtschaftlichen Hegemonialansprüche der
westeuropäischen Großmächte als ursächlich für deren Eingreifen auf osmanischer Seite an.
Jorga, Nicolae: Geschichte des Osmanischen Reiches - Nach den Quellen dargestellt von Nicolae
Jorga, Band V, (unveränderter Nachdr. d. Ausg. Gotha 1913) Frankfurt am Main 1990, S. 437-440.
(Im Folgenden: Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990.)
45
Einführend zum Krimkrieg siehe Werth, German: Der Krimkrieg - Geburtsstunde der Weltmacht
Rußland, Frankfurt am Main (u.a.) 1992. Baumgart, Winfried: The Crimean War 1853-1856, London
1999.
46
Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band I) 1963, S. 162.
43
22
Grenadiers“ für den Orient opfern würde.47 Diese Haltung ist verständlich, wenn man
die „schwierige Geburt“ des preußisch dominierten Deutschen Reiches48 und die
filigrane Außenpolitik des Kanzlers Bismarck bedenkt.49 Das Ausscheiden der Hohen
Pforte50 als Bündnispartner bedeutete jedoch nicht, daß Deutschland keine Interessen
im kleinasiatischen Raum verfolgt hätte. Die junge europäische Großmacht hatte
wirtschaftliche Interessen an Bosporus, Euphrat, Tigris und nicht zuletzt am Jordan.51
Politisch hielt sich Berlin zwar eher im Hintergrund, dennoch hoffte es, die Rivalität
der Großmächte zu seinen Gunsten nutzen zu können. So gerierte sich das junge
Kaiserreich nach der Orientkrise als Friedensvermittler und ließ diese günstige
Gelegenheit, eigene Vorstellungen durchzusetzen, nicht verstreichen.
Im Jahre 1875 hatte die Krise mit einem Aufstand der christlichen Bevölkerung in
Bosnien und Herzegowina, im Vorfeld habsburgischen Staatsgebiets, begonnen. Bis
zum Juli 1876 folgten Aufstände in den bulgarischen Provinzen, in Serbien und
Montenegro. Die osmanische Herrschaft auf dem Balkan stand vor dem völligen
Zusammenbruch. Unter größten militärischen Anstrengungen gelang es den Truppen
des Sultans jedoch, die Aufstände niederzuschlagen. Zu weiteren Erfolgen kam es
allerdings nicht, denn die europäischen Großmächte griffen schon bald durch
politischen Druck in die Konflikte ein.52 Die türkische Regierung machte zwar
weitgehende Konzessionen, was eine autonomere Stellung der europäischen
Besitzungen und Reformen der Reichsregierung sowie der Provinzregierungen
anging, war aber nicht gewillt, die Überwachung der inneren Angelegenheiten durch
47
Schüßler, Wilhelm (Bearb.): Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 11, Reden 1869-1878, Berlin
1929, S. 476. Beachtenswert ist die Anmerkung des Bearbeiters zu Bismarcks Aussage: „Damit
bezeichnet Bismarck die Grundüberzeugung seiner ganzen orientalischen Politik.“
48
Zur Reichsgründung und der Forschungsdiskussion siehe einführend: Frie, Ewald: Das Deutsche
Kaiserreich, Darmstadt 2004.
49
„Enzyklopädischer Überblick“ über die Außenpolitik Bismarcks bei: Hildebrand, Klaus: Deutsche
Außenpolitik 1871-1918, München 1989, S. 3-26. Zur Haltung Bismarcks im Vorfeld des russischtürkischen Krieges 1877/78: Engelberg, Ernst: Bismarck – Das Reich in der Mitte Europas, Berlin
1990, S. 223-239 (Im Folgenden: Engelberg, Bismarck 1990.) und Pflanze, Otto: Bismarck and the
Development of Germany – Volume II: The Period of Consolidation, 1871-1880, Princeton 1990, S.
415. (Im Folgenden: Pflanze, Bismarck Volume II 1990.)
50
Die Bezeichnung ist hergeleitet von der Eingangspforte des Sultanpalastes in Konstantinopel und
steht sinnbildlich für die osmanische Regierung.
51
Siehe zu den wirtschaftlichen Beziehungen Kapitel II.1.b).
52
So zwang Russland den Sultan zu einem Waffenstillstand mit den serbischen Aufständischen, um
einen erdrückenden Sieg der Türkei zu verhindern. Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 31.
23
eine Kommission aus Vertretern der Großmächte zu tolerieren.53 Diese Weigerung
bot Russland einen willkommenen Anlaß, dem Sultan 1877 den Krieg zu erklären.
Die russische Regierung war der Überzeugung, dadurch den „Zustand der
Ungewißheit“ in Bezug auf die eigene Machtstellung in der Balkanregion endgültig
klären zu können. Neben der Erweiterung des eigenen Machtbereiches spielten auch
panslawistische Bestrebungen für St. Petersburg ein große Rolle, die nur
vordergründig dadurch verdeckt werden sollten, daß der Zar als Beschützer des
Christentums und des Selbstbestimmungsrechts der Balkanvölker auftrat.54 Um
gravierende Machtverschiebungen mit weitreichenden Folgen für die Beziehungen
der europäischen Großmächte zu verhüten und einen akzeptablen Ausgleich
herbeizuführen, wurde 1878 der Berliner Kongreß einberufen. Bismarck zeigte sich
hier als Mediator besonders zwischen Österreich-Ungarn und Russland, die
konkurrierende Interessen an Gebieten auf dem Balkan hatten und die
Expansionsbestrebungen der Gegenseite trotz des Dreikaiserabkommens von 1873
fürchteten.55
Reichskanzler Otto von Bismarck legte der deutschen Orientpolitik zwei wesentliche
Annahmen zugrunde. Zum einen glaubte er, daß der russisch-österreichische Konflikt
auf dem Balkan eine Annäherung beider Staaten verhindern, aber kaum zu solch
gravierenden Verstimmungen führen würde, daß Deutschland nicht als Friedensstifter
auftreten könnte. Zum anderen nahm er an, daß die Meinungsverschiedenheiten über
die Zugangskontrolle zum Schwarzen Meer eine politische Annäherung zwischen
London und St. Petersburg auf lange Zeit ausschließen würden. Wie sich
herausstellen sollte, ging er in beiden Annahmen fehl. Im Gegenteil, seine
Bemühungen, bei den Verhandlungen in Berlin möglichst keine der Großmächte zu
übervorteilen, führten zu ernsten Verstimmungen mit dem Zaren und schließlich zum
53
Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990, S. 567-569.
Aus Sorge, der Konflikt könne sich ausweiten, und um das Zarenreich nicht zu verärgern, beschloß
die deutsche Reichsleitung „wohlwollend neutral“ gegenüber St. Petersburg zu bleiben. Engelberg,
Bismarck 1990, S. 239f. Bismarck sah zudem die Möglichkeit, dem russischen Expansionsdrang ein
„Ventil“ zu liefern, das deutsche Interessensphären nur mittelbar berührte. Pflanze, Bismarck Volume
II 1990, S. 430f.
55
Zu den Hintergründen der habsburgischen Annexionspolitik in Bosnien siehe:
Kos, Franz-Josef: Die Politik Östereich-Ungarns während der Orientkrise 1874/75-1879, Köln/Wien
1984. Hier insbesondere S. 36-65. (Im Folgenden: Kos, Orientkrise 1984.)
54
24
endgültigen Ende des Dreikaiserabkommens.56 Statt mit wenigen eigenen Kräften die
politischen Gegenüber zu beschäftigen, mußte das Deutsche Reich in steigendem
Maße seine Energie auf den Balkanraum und den Orient richten.57
Trotzdem blieb das Osmanische Reich für den „Eisernen Kanzler“ in erster Linie ein
Schauplatz, auf dem sich „die Anderen“ verausgaben sollten. An engere Beziehungen
zum Sultan oder gar an ein formelles Bündnis mit der Hohen Pforte dachte er nicht.
Obwohl die Abneigung in Berlin gegenüber einer aktiven Einmischung am Bosporus
und auf dem Balkan groß war, darf man nicht von einem völligen Desinteresse des
Deutschen Reiches ausgehen.58 Ganz im Gegenteil, die Haltung Bismarcks zur
Orientpolitik änderte sich seit etwa 1880. Zunehmende Investitionen der deutschen
Wirtschaft und stärkere militärische Aufbauhilfe verlangten ein höheres Engagement
in der Region, Allerdings versuchte er auch jetzt noch jedes direkte Eingreifen zu
vermeiden, um seinem Hauptanliegen – der europäischen Absicherungspolitik –
möglichst nicht zu schaden.59
Mit der Thronfolge Kaiser Wilhelms II. erfuhren die Aktivitäten der deutschen
Außenpolitik im Nahen Osten nach 1888 eine noch deutlichere Änderung.60 Wilhelm
56
In der Tat verursachte der Ausgang des Berliner Kongresses in weiten Teilen der politischen
Öffentlichkeit in Russland eine Unruhe, die eine schwere innenpolitische Krise im Lande auslöste.
Panslawistische Parteien und Zeitungen befürchteten eine Benachteiligung und sogar eine Gefährdung
der Großmachtstellung des Zarenreiches. Für St. Petersburg war das Dreikaiserabkommen damit
praktisch hinfällig und die russische Außenpolitik orientierte sich nunmehr – trotz eines knapp
fünfjährigen Wiederauflebens des Abkommens in Form des Dreikaiserbundes (1881-1886) – an
anderen Bündnispartnern. Hildebrand, Das vergangene Reich 1995, S. 54ff. Engelberg, Bismarck
1990, S. 283-296.
57
Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 55f. und S. 544f.
58
Vgl. dazu: Kössler, Armin: Die deutsch-türkischen Beziehungen zur Kaiserzeit, in: Fragner,
Christa/Schwarz,Klaus (Hrsg.): Festgabe an Josef Matuz - Osmanistik-Turkologie-Diplomatik, Berlin
1992, S. 164f. (Im Folgenden: Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992.) und Wallach, Jehuda:
Bismarck and the „Eastern Question“ - A re-assessment, in: Wallach, Jehuda (Hrsg.): Germany and the
Middle East 1835-1939 - International Symposium April 1975, Tel-Aviv 1975, S. 26. (Im Folgenden:
Wallach, Bismarck and the „Eastern Question“ 1975.)
59
Wallach, Bismarck and the „Eastern Question“ 1975, S. 29.
60
Zur neuen Ausrichtung der Außenpolitik unter Wilhelm II. siehe: Pflanze, Otto: Bismarck and the
development of Germany, Volume III: The Period of Fortification, 1880-1898, Princeton 1990, S. 307316. Diese neue Richtung stand wesentlich unter dem Eindruck einer wachsenden Wirtschaft und
vermehrter imperialistischer Tendenzen im Deutschen Reich. Bezeichnend dafür ist ein Trinkspruch
Kaiser Wilhelms II. anläßlich des 25. Jahrestages der Reichsgründung (18.Januar 1896): „Aus dem
Deutschen Reich ist ein Weltreich geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende
unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den
Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See zu fahren
hat. An Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, Mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich
auch fest an unser heimisches zu binden.“ Zit. nach: Schieder, Theodor: Nationalismus und
25
II. sah in der Türkei einen potentiellen Bündnispartner gegen den möglichen Gegner
Russland.61 Der letzte Krieg jener Mächte 1877-78 hatte gezeigt, daß eine
diplomatische Annäherung zwischen Zar und Sultan höchst unwahrscheinlich war.
Der Kaiser sah deshalb die Möglichkeit, die Türkei gegen Russland auszuspielen. Um
die Beziehungen zur Hohen Pforte auszubauen, unternahm er in den Jahren 1889 und
1898 Reisen nach Palästina.62 Während die erste Reise eher in familiärem Rahmen
stattfand, war die Reise im Jahre 1898 für die spätere Nähe zur Pforte in
Konstantinopel wegweisend. Hier besuchte der Deutsche Kaiser unter anderem das
Grab des berühmten Sultans Saladin, der 1187 bei Hattin das christliche
Kreuzfahrerheer vernichtend geschlagen hatte. Eine Geste, die in einem Land, das
einen großen Teil seiner Politik über symbolische Handlungen kommunizierte, sehr
aufmerksam verfolgt wurde. Nach der Rede des Kaisers in Damaskus am 8.
November 1898, in der er sich zum Freund der „300 Millionen Mohammedaner, die
auf der Erde zerstreut leben“ erklärte,63 war deutlich geworden, daß diese Reise nicht
nur eine Pilgerreise sein sollte.64 Die deutsch-osmanischen Beziehungen erfuhren
dadurch eine Aufwertung, die mittelfristig konkrete Gestalt annahm. Das Osmanische
Reich wurde jetzt als potentieller Bündnispartner angesehen und damit in das
Geflecht der „Großmachtpolitik“ eingebunden. Allerdings bedeutete dies nicht
automatisch die Anerkennung als „gleichberechtigter Partner“. Die Türkei war zwar
nicht mehr nur Handlungsraum, sondern auch Ansprechpartner im diplomatischen
Gefüge, doch schon länger galt sie nicht mehr als militärische Großmacht. Zu
offensichtlich
waren
die
Schwächen
des
Großreiches
gegenüber
den
Unabhängigkeitsbestrebungen der kleineren Balkanstaaten und des ägyptischen
Nationalstaat – Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, herausgegeben von Otto Dann
und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1991, S. 223. (Im Folgenden: Schieder, Nationalismus 1991.)
61
Scherer, Adler und Halbmond 2001, S. 543.
62
Zur ersten Reise nach Konstantinopel siehe: Balfour, Michael: Der Kaiser – Wilhelm II. und seine
Zeit, (Neuaufl. d. dt. Ausg. 1967) Berlin 1996, S. 147f.
63
Jaschinski, Klaus: Des Kaisers Reise in den Vorderen Orient 1898, ihr historischer Platz und ihre
Dimensionen, in: Jaschinski, Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des Kaisers Reise in den Orient
1898, Berlin 2002, S. 30f. (Im Folgenden: Jaschinski, Des Kaisers Reise 2002.)
64
Wilhelm II. hatte in einem Brief vom 18. August an den Zaren Nikolaus II. noch von einer Reise
ohne politische Motive gesprochen. Er stellte sich als gläubigen Monarchen dar, der zur Einweihung
der Grabeskirche in Jerusalem pilgern wolle. Polkehn, Klaus: Wilhelm II. in Konstantinopel. Der
politische Startschuß zum Bau der Bagdadbahn, in: Jaschinski, Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des
Kaisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002, S. 61. (Im Folgenden: Polkehn: Wilhelm II. in
Konstantinopel 2002.)
26
Vizekönigs.65 Zudem erzeugten die Avancen des Kaisers bald ernsthafte
Verstimmungen bei den übrigen europäischen Mächten.66 Er schenkte diesen
Schwierigkeiten jedoch ebensowenig Aufmerksamkeit wie der Tatsache, daß seine
Zusagen gegenüber dem Sultan auch bei einigen Kreisen im Deutschen Reich auf
Kritik stießen.67
Unbeirrt ging Wilhelm dazu über, deutsche Unterstützung für das krisengeschüttelte
Reich anzubieten. Dazu gehörten sowohl wirtschaftlicher Aufbau als auch die
Entsendung von Militärs als Instrukteure für die osmanische Armee, auf deren
Auswirkungen noch zurückzukommen sein wird.68 Ein richtiggehendes Bündnis
zwischen beiden Staaten wurde aber weiterhin nicht angestrebt, was neben politischer
Vorsicht auch an einer persönlichen Antipathie gegenüber dem Sultan gelegen haben
mag.69
Der regierende Herrscher der Osmanen, Sultan Abdul Hamid II., war einer
allgemeinen Annäherung an das Deutsche Reich nicht abgeneigt, da ein solches
65
1881 entbrannte in Ägypten ein Aufstand gegen den Sultan, den Großbritannien nutzte, um 1882 das
Vizekönigreich am Nil quasi zu annektieren und zum britischen Protektorat zu erklären.
Siehe Majoros/Rill, Osmanisches Reich, S. 348; Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V)
1990, S. 593; Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S 242.
66
Besonders Frankreich und Russland reagierten empfindlich auf die Kaiserreise, während
Großbritannien keine wirtschaftliche Bedrohung durch Deutschland in Palästina sah.
Gründer, Horst: Die Kaiserfahrt Wilhelms II. ins Heilige Land 1898 – Aspekte deutscher
Palästinapolitik im Zeitalter des Imperialismus, in: Ders. u.a. (Hrsg.): Weltpolitik, Europagedanke,
Regionalismus – Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag am 30. Januar 1982, Münster
1982, S. 372-374. (Im Folgenden: Gründer, Die Kaiserfahrt 1982.)
67
Der Kaiser war besonders zu Theodor Herzl und zur zionistischen Bewegung, die Kolonisierungsund Protektoratspläne für Palästina hatte, auf Distanz gegangen. Auch die Idee, Territorien ohne
zionistischen Hintergrund aus dem Osmanischen Reich herauszulösen und als deutsche Kolonien
einzurichten, waren nach der Reise des Kaisers praktisch endgültig in das Reich der Phantasie
verbannt. Vgl. dazu Jaschinski: Des Kaisers Reise 2002, S. 31f. und Schoeps, Julius H.: Theodor
Herzls Palästina-Reise und die Vision des Judenstaates in seinem Roman „Altneuland“, in: Jaschinski,
Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des Kaisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002, S. 79f.
Genauere Ausführungen zu Theodor Herzls Bemühungen und deren Scheitern bei: Meier, Axel: Die
kaiserliche Palästinareise 1898 – Theodor Herzl, Großherzog Friedrich I. von Baden und ein deutsches
Protektorat in Palästina, Konstanz 1998.
Die alldeutsche und christlich-nationale Siedlungspolitik im Nahen Osten erfuhr ebenfalls keine große
Unterstützung. Die Kaiserreise machte vielmehr deutlich, daß „Deutschland sich keine Interessen im
Orient schaffen werde“. Fuhrmann, Malte: Der Traum vom deutschen Orient – Zwei deutsche
Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 156f. Gründer,
Kaiserfahrt 1982, S. 380f.
68
Siehe unten, Kapitel II.1.b) und c).
69
Nach den Armeniergreueln das Jahres 1894 hatte Wilhelm den Sultan Abdul Hamid II. als
„ekelhaften Menschen“ bezeichnet und sogar seine Absetzung befürwortet.
Jaschinski: Des Kaisers Reise 2002, S. 30.
27
Engagement in der Türkei mit großer Wahrscheinlichkeit den Einfluß der anderen
europäischen
Mächte
zurückdrängen
würde.
Durch
den
entstehenden
Konkurrenzkampf hoffte er den politischen und wirtschaftlichen Druck von der
Hohen Pforte ablenken zu können.70 Allerdings legte er keinen Wert auf einen
weiteren Vertrag, der sein Reich an eine westeuropäische, christliche Großmacht
binden würde. Die Geschichtsschreibung sieht in diesem Sultan einen paranoiden
Tyrannen, der überall Verrat und Intrige witterte und versuchte, diese Befürchtungen
durch eine dichtes Netz eigener Spione zu neutralisieren,71 ein Umstand, der sich
besonders auf militärischem Gebiet verheerend auswirken sollte, aber sowohl
innenpolitisch als auch außenpolitisch seine Wirkung nicht verfehlte. Die
diplomatischen Kontakte blieben daher trotz der veränderten Akzentuierung der
deutschen Außenpolitik auf bestimmte Gebiete begrenzt und wurden von türkischer
Seite zum Teil sehr mißtrauisch beobachtet.72
Die nicht zuletzt durch das Verhalten des Sultans angespannte innenpolitische
Situation in den osmanischen Gebieten73 entlud sich schließlich in der sogenannten
„Jungtürkischen Revolution“ (1908).74 Schon 1889 hatten türkische Offiziere, die
überwiegend im europäischen Teil des Reiches stationiert waren, eine Gesellschaft
gegründet, die wenig später unter der programmatischen Benennung „Komitee für
Einheit
und
Fortschritt“
bekannt
werden
70
sollte.75
Unzufrieden
mit
der
Zudem hatte Kasier Wilhelm II. bereits deutlich gemacht, daß ihm an einer Kolonialisierung von
türkischem Gebiet nichts gelegen sei und war damit in den Augen des Sultans ein „ungefährlicherer“
Partner. Ahmad, Feroz: The Late Ottoman Empire, in: Kent, Marian (Hrsg.): The Great Powers and the
End of the Ottoman Empire, London 1984, S. 11. (Im Folgenden: Ahmad, Late Ottoman Empire
1984.)
71
Emin, Ahmed: Turkey in the World War, New Haven 1930, S. 32f. (Im Folgenden: Emin, Turkey
1930.); Majoros/Rill, Osmanisches Reich, S. 340 und S. 351. Diese Einschätzung wird von Matuz
relativiert. Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 235.
72
Zu den starken Auswirkungen des hamidischen Systems auf militärischem Gebiet siehe unten, S.
52f.
73
Seit dem Berliner Kongress von 1878 und der Unabhängigkeit der Balkanstaaten war es nicht
friedlich im Osmanischen Reich geblieben. Ständig kam es zu Unruhen, Aufständen oder bewaffneten
Konflikten, die den Einsatz von Truppen erforderten. Zum Beispiel: 1888 Aufstand auf Kreta, 1895/96
blutige Ausschreitungen von und gegen Armenier in Istanbul, 1897 griechisch-osmanischer Krieg.
Eine übersichtliche Chronologie bietet: Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 306f.
74
Der Begriff „Jungtürken“ wurde von westeuropäischen Zeitungen und Journalisten geprägt und
wurde zum Inbegriff für die regierenden Politiker im Osmanischen Reich bis zum Waffenstillstand
1918. Hale, William: Turkish Politics and the Military, London/New York 1994, S. 36. (Im
Folgenden: Hale, Turkish Politics 1994). Zu den Anfängen der „jungtürkischen Bewegung“ siehe
Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 249-251.
75
Hale, Turkish Politics 1994, S. 30. Diese Gruppe ist aber nur ein Teil der als „jungtürkische
Bewegung“ bekannten politischen Gruppierungen und Gesellschaften, welche an der Revolution
28
Alleinherrschaft des Sultans und der sozialen und wirtschaftlichen Lage76 arrangierte
diese Gruppe schließlich mit Waffengewalt die Wiederinkraftsetzung der liberaleren
Verfassung von 1876 und die Schaffung eines Parlamentes in Konstantinopel.77
Dadurch sollte das marode Staatswesen modernisiert und vor dem drohenden Zerfall
bewahrt werden. Der Sultan blieb vorläufig im Amt, konnte sich aber mit der
Beschneidung seiner Machtbefugnisse nicht abfinden, und so versuchten schon im
April 1909 konservative Kreise eine Gegenrevolution, um Parlament und Verfassung
auszuhebeln. Da die Armee aber mehrheitlich hinter den jungtürkischen Offizieren
stand, wurde dieser Versuch niedergeschlagen. In der Folge wird Sultan Abdul
Hamid II. endgültig abgesetzt und durch seinen Bruder Mehmed V. Reshad ersetzt.78
Österreich-Ungarn nutzte die innenpolitischen Wirren, um Bosnien und die
Herzegowina79 offiziell zu annektieren, Griechenland nahm Kreta in Besitz und in
Bulgarien erklärte König Ferdinand von Coburg-Koháry die volle Souveränität des
Königreichs.80
Die reale Macht in Konstantinopel lag nun bei der neuen „jungtürkischen Partei“, die
das Parlament und den Sultan weitgehend entmachteten und auf repräsentative
beteiligt waren, wenn auch diejenige mit den radikalsten und bekanntesten Zielen. Ahmad, Late
Ottoman Empire 1984, S.7.
76
Einer der Mißstände, die auch noch im Ersten Weltkrieg wiederholt moniert werden, ist die
unregelmäßige oder gänzlich ausbleibende Bezahlung der Soldaten und Offiziere. Siehe unten, S. 54f.
u. 306f.
77
Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches 1990, Anhang „Chronik der Ereignisse bis zum
Untergang des Osmanischen Reiches“, S. II. Im Jahre 1876 hatte sich Abdul Hamid II. bereit erklärt,
anlässlich seines Regierungsantritts eine Verfassung anzunehmen. Der Sultan reagierte damit auf
innenpolitischen Druck von hochrangigen Reformern, die vor allem gegen die „Willkürherrschaft“ von
Bürokraten, Richtern und Adeligen unter schwachen Sultanen vorgehen wollten. Daher enthielt das
Verfassungswerk zwar parlamentarische Elemente (ein vom Volk gewähltes Abgeordnetenhaus und
einen vom Sultan bestimmten Senat) sowie eine rechtliche Festsetzung von Grundrechten osmanischer
Bürger (z.B. Petitionsrecht, Handelsfreiheit, Steuergerechtigkeit, etc.). De facto war die Position des
Sultans durch die Verfassung gleichzeitig so gestärkt worden, daß er viele der Rechte und Freiheiten
einschränken oder zumindest in seinem Sinne beeinflußen konnte. Kaum zwei Jahre (Februar 1878)
später löste Abdul Hamid II. das Parlament wieder auf und setzte damit die Verfassung außer Kraft.
Kraelitz-Greifenhorst, Friedrich von : Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, Leipzig
1909. S. 6f. Der Gesetzestext in neurer Edition ist abgedruckt in: Hirsch, Ernst: Die Verfassung der
Türkischen Republik, Frankfurt am Main/Berlin 1966, S. 195-206.
78
Neulen, Hans Werner: Feldgrau in Jerusalem - Das Levantekorps des kaiserlichen Deutschland,
München 22002, S. 23f. (Im Folgenden: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002.)
79
Seit dem Berliner Kongreß 1878 standen diese Gebiete bekanntlich unter habsburgischem Mandat,
gehörten aber formell noch zum osmanischen Staatsgebiet.
80
Hale, Turkish Politics 1994, S. 38f. Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches, Anhang „Chronik
der Ereignisse bis zum Untergang des Osmanischen Reiches“, S. II.
29
Aufgaben beschränkten.81 Für die Beziehung zum Deutschen Reich war die
Revolution bedeutsam, da sich jetzt erstmals die politische Gruppe durchsetzen
konnte, die im Ersten Weltkrieg hauptverantwortlich für das Bündnis zwischen dem
Deutschen und dem Osmanischen Reich zeichnete.
Die neuen politischen Entscheidungsträger strebten aber keineswegs von vorneherein
eine enge Anlehnung an das Deutsche Reich an. Zunächst einmal geriet die deutsche
Regierung eher in Mißkredit, da sie mit Abdul Hamid II. eng zusammengearbeitet
hatte und zudem mit der Habsburgermonarchie, einem alten Gegenspieler der Türkei,
verbündet war.82 Sicherlich stellten die durch deutsche Militärs ausgebildeten
Offiziere unter den „Jungtürken“ eine große Gruppe, aber zahlreiche Mitglieder des
Parlamentes und der Regierung waren zivile Würdenträger, die sich eine
fortwährende Einmischung des Militärs in die Politik verbaten. Außerdem gab es
auch unter den Offizieren Vertreter eines „unionistischen Ansatzes“ und andere, die
dem liberal-bürgerlichen Lager näher standen. Die „Unionisten“ strebten eine
stärkere Einflußnahme des Militärs auf die zivilen Staatsorgane an und verfolgten
zugleich türkisch-nationalistische Ziele wie die „Turkisierung der Fremdvölker“ im
Osmanischen Reich und im Kaukasus.83
Von einer einheitlichen politischen Bewegung, wie sie gerne von den neuen
Machthabern propagiert wurde, kann also keine Rede sein, ebensowenig von der
Schaffung einer stabilen Regierung. Denn die „Revolutionäre“ übernahmen mit den
beiden Großwesiren84 Said und Kamil Pascha sowie dem Außenminister Tefvik
Pascha zunächst einige der wichtigen Stützen des alten osmanischen Regimes.85 Die
bisherige Idee des „Osmanismus“, die interessanterweise auch in der wieder in Kraft
getretenen Verfassung von 1876 festgeschrieben war86, lebte im neugeschaffenen
Parlament weiter. Diese Ideologie hatte die Erhaltung des Vielvölkerstaates und
81
Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 352f. Hale, Turkish Politics 1994, S. 41.
Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 177. Hallgarten, George F.: Imperialismus vor 1914 –
Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg,
Band II, München 21963, S. 102. (Im Folgenden: Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band II) 1963.)
83
Diese expansionistischen Bestrebungen sind wesentlicher Teil der „panturanistischen“ Ideologie,
siehe Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 8.
84
Hierbei handelt es sich um eine Art türkischen „Ministerpräsidenten“, den höchsten staatlichen
Beamten im Osmanischen Reich. Zur Begriffsklärung siehe Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S.
88f.
85
Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 7.
86
Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 342.
82
30
zugleich eine Form der Identitätsstiftung mit Hilfe von politischen Zugeständnissen
und Mitbestimmungsrechten der ethnischen Gruppen zum Ziele.87 Hingegen
verfolgten die „Jungtürken“ stark türkisch-nationalistische Absichten. Erstmals in der
Geschichte der Türkei wurde durch politische Kräfte die Vorherrschaft eines Volkes,
nämlich der Türken, über die arabischen, armenischen, griechischen und vielen
anderen Völkerschaften des Reiches gefordert. Diese Ideologie des „Turanismus“
oder auch „Panturanimsus“ schloß die Turkvölker ein, die im Kaukasus und damit im
Russischen Reich lebten. Diese ideologisch-ethnische Verklammerung sollte im
multiethnischen Osmanischen Reich identitätsstiftend wirken, trug zugleich aber
expansionistische Züge88, eine Politik, die sich 1918 noch gravierend auf die deutschtürkischen
Beziehungen
auswirken
sollte.
Der
neue
Nationalismus
der
„jungtürkischen Bewegung“ besaß gegenüber dem „Osmanismus“ allerdings eine
größere Anziehungskraft und schon bald wandten sich mehr und mehr türkische
Politiker von „osmanistischen Ideen“ ab.89
Während auf innenpolitischer Ebene in Konstantinopel sehr viel Bewegung herrschte,
blieben in den diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei
entscheidende
Veränderungen
aus. Zwar waren
auf
wirtschaftlichem und
militärischem Sektor weitere Kooperationen angelaufen, aber zu einem formellen
Bündnis konnte sich weder Berlin noch die Hohe Pforte entschließen. Stattdessen
sollten sich die politischen Kontakte in den kommenden Jahren merklich abkühlen.
Ende September 1911 erklärte Italien dem Osmanischen Reich den Krieg und
besetzte dessen nordafrikanische Besitzungen in Tripolitanien und auf der Cyrenaika.
Durch diese unprovozierte Aggression verlor Konstantinopel, nachdem Ägypten
unter britisches Mandat gekommen war, auch seine letzten afrikanischen
Besitzungen.90 Das Deutsche Reich verhielt sich bei dieser Aktion Italiens neutral,
87
Expansionistische Tendenzen treten weitgehend in den Hintergrund, während Besitzstandwahrung
und Stärkung durch innere Einheit die Primärziele bilden. Matuz, Das Osmanische Reich S. 250.
88
In gewisser Weise enthält diese Ideologie ähnliche Merkmale wie das nationalistische Gedankengut
in Europa. Siehe hierzu: Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland
und Europa, München 2000. Schieder, Nationalismus 1991, S. 113-127.
89
Hale, Turkish Politics 1994, S. 37.
90
Hale, Turkish Politics 1994, S. 42. Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 353. Immanuel,
Friedrich: Der Balkankrieg 1912 - Erstes Heft. Vorgeschichte-Streitkräfte-Kriegschauplatz, Berlin
1913, S. 25f. (Im Folgenden: Immanuel, Balkankrieg I 1913.)
31
denn offiziell war Italien Mitglied des Dreibundes mit Österreich-Ungarn und
Deutschland. Trotz der bisherigen militärischen Zusammenarbeit mit der Armee des
Sultans
erschien
es
der
Wilhelmstrasse
eher
geboten,
den
italienischen
Bündnispartner nicht zu verärgern, zumal Russland, Großbritannien und Frankreich
nicht in den Krieg eingriffen, aber indirekt in ihrer Kolonialpolitik betroffen waren.
Für die deutsche Außenpolitik schien dies wichtiger als eine Parteinahme zugunsten
eines Landes, dessen wirtschaftlicher Nutzen und militärischer Wert ziemlich gering
eingeschätzt wurde. Das geflügelte Wort vom „kranken Mann am Bosporus“ machte
schon länger die Runde durch Europa und die bisherigen Erfahrungen mit dem
osmanischen Staatsapparat hatten eher dazu beigetragen, dieses Bild noch zu
untermauern.
Die Regierung in Konstantinopel nahm dem Land des „Freundes von 300 Millionen
Mohammedanern“ diese Zurückhaltung dagegen recht übel. Im Juli 1912 zwang die
von liberalen Offizieren gegründete „Freiheits- und Einigkeitspartei“ den Großwesir
Said Pascha und damit schließlich die jungtürkische Regierung zum Rücktritt. Nach
dem anschließenden Sieg der Liberalen bei den Parlamentswahlen wurde der
„Turkifizierungsprozeß“ im Osmanischen Reich angehalten.91 Die Position
derjenigen, die eine engere Anbindung an das Deutsche Reich forderten, war dadurch
stark geschwächt worden.
Schon Anfang Oktober 1912 und noch vor Abschluß eines Friedensvertrages mit
Italien erklärten die Balkanstaaten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro
der Hohen Pforte den Krieg.92 Die verheerende Niederlage der osmanischen Truppen
kostete das Reich beinahe alle seine verbliebenen Besitzungen auf dem Balkan und
damit auf dem europäischen Festland93 und zudem immense Verluste an Menschen
und Material.94
91
Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches, Anhang „Chronik der Ereignisse bis zum Untergang
des Osmanischen Reiches“, S. III.
92
Zur Ereignisgeschichte des Ersten und Zweiten Balkankrieges siehe Immanuel, Friedrich: Der
Balkankrieg 1912/13, 5 Bde., Berlin 1913-1914. Unter Kapitel II.2.a wird noch genauer auf die
Auswirkungen auf die militärische Zusammenarbeit einzugehen sein.
93
Die im Mai 1913 in London per Friedensvertrag festgelegten europäischen Gebiete des
Osmanischen Reiches umfaßten nur etwa die Hälfte der westlichen Territorien der heutigen Türkei.
Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 256.
94
Genaue Zahlen für die türkischen Verluste liegen nicht vor. Jedoch gibt Immanuel allein 90.000
Gefangene an. Für die Seite der Kriegsgegner werden an Toten und Verwundeten etwa 117.000 Mann
angegeben. Immanuel, Friedrich: Der Balkankrieg 1912/13 - Viertes Heft. Der Krieg vom
32
Damit war die Hohe Pforte nicht nur militärisch, sondern auch politisch erheblich
geschwächt. Selbst dem letzten deutschen Befürworter einer Allianz mit dem
Osmanischen Reich lag dessen Schwäche deutlich vor Augen. Dieses Desaster
nutzten einige führende Köpfe des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, um per
Handstreich die Regierung an sich zu reißen. Friedensverhandlungen der liberalen
Regierung unter Großwesir Kamil Pascha hatten zu Gerüchten geführt, daß
Konstantinopel bereit sei, Adrianopel95 an Bulgarien abzutreten, was neben dem
strategischen Verlust einen weiteren erheblichen Gesichtsverlust bedeutet hätte.96 Am
23. Januar 1913 ergriff eine Gruppe von Politikern und jungen Offizieren, angeführt
von Enver Bey und Talaat Bey, die Initiative, stürmte die Büroräume des Großwesirs
und zwang ihn unter Gewaltandrohung zum Rücktritt.97 Bei diesem Staatstreich
wurde der osmanische Kriegsminister Nazim Pascha erschossen.98 Die genauen
Umstände der Ermordung des Kriegsministers liegen im Dunkeln, aber unter den
deutschen Soldaten kursierte während des Weltkrieges das Gerücht, daß der spätere
Kriegsminister Enver Pascha selbst der Täter gewesen sei.99 Die Auswirkungen auf
das deutsch-türkische Verhältnis waren trotz der gewaltsamen Umstände, die den
Deutschen Kaiser sehr verärgerten und die persönlichen Beziehungen zu Enver eine
Zeit lang belasteten100, positiver Natur. Die liberale und eher entente-freundliche
Regierung wurde durch eine germanophilere Regierung unter General Mahmut
Schevket Pascha als Großwesir und Kriegsminister ersetzt.101
Wiederbeginn der Feindseligkeiten im Februar 1913 bis zum vorläufigen Friedensschluß im Mai
1913., Berlin 1913, S. 73f. (Im Folgenden: Immanuel, Balkankrieg IV 1913.)
Unter Berücksichtigung der desaströsen Niederlagen in Kombination mit Epidemien, hervorgerufen
durch die unzureichenden hygienischen und logistischen Verhältnisse im osmanischen Heer, wird die
Zahl jedoch mindestens genauso hoch zu veranschlagen sein.
95
Der heutige Name lautet Edirne.
96
Hale, Turkish Politics 1994, S. 43.
97
Erickson, Edward J.: Ordered to Die - A History of the Ottoman Army in the First World War,
Westport 2001, S. 3. (Im Folgenden: Erickson, Ordered to Die 2001.)
98
Hale, Turkish Politics 1994, S. 45.
99
Euringer, Richard, Vortrupp „Pascha“ - Roman der ersten Expedition deutscher Flieger in die
Wüste, Berlin 1937, S. 70f. (Im Folgenden: Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937.)
100
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 18f.
101
Majoros/Rill, Osmanisches Reich 1994, S. 356.
33
Als auch dieser im Juni 1913 einem Attentat zum Opfer fiel102, wurde der ägyptische
Prinz Said Halim Pascha, ein Mitglied des „Komitees für Einheit und Fortschritt“,
zum Großwesir ernannt. Jedoch lag ein Großteil des politischen Einflusses und der
Macht bei den drei führenden Köpfen des Komitees: Enver Bey, Talaat Bey
(nunmehr Innenminister) und Djemal Bey.103 Von diesen insgesamt vier mächtigsten
Männern im Osmanischen Reich waren drei (Said Halim, Enver, Talaat) Befürworter
einer Annäherung an den Dreibund, der 1913 offiziell noch immer existierte.
Lediglich Djemal sah größere Chancen in der Kooperation mit Frankreich und der
Entente, vor allem weil er sich so einen größeren Schutz vor Russlands Ambitionen
erhoffte.104
Das Deutsche Reich hielt sich hingegen auf der politischen Bühne zurück. Schon
nach dem italienisch-türkischen Krieg in Nordafrika war erste Kritik an der deutschosmanischen Zusammenarbeit, besonders auf militärischem Gebiet, laut geworden.
Nach der Niederlage im Ersten Balkankrieg konnten sich ehemalige Militärreformer
vor harscher Kritik in der Presse kaum retten.105 Besonders die Arbeit des berühmten
und im Osmanischen Reich sehr geachteten Colmar Freiherr von der Goltz war Ziel
solcher Attacken. In einem Brief an den Kommandierenden General des IV.
osmanischen Armeekorps Pertev Pascha schreibt er resignierend:
„Für die große Welt hat der geschlagene Feldherr immer Unrecht.[...]
Mich hat meine Erfahrung eine grenzenlose Verachtung alles dessen gelehrt, was
öffentliche Meinung und Urteil der Welt genannt werden kann.“106
Für das deutsche Ansehen bei den europäischen Großmächten, das zu einem großen
Teil auf der Einschätzung der militärischen Stärke des Reichs beruhte, war es
wichtig, die Zusammenarbeit mit der Türkei auf diesem Sektor dennoch fortzusetzen.
Ein Abzug deutscher Militärberater wäre einem Eingeständnis des Scheiterns der
Militärhilfe gleichgekommen, was zu einer deutlichen Schwächung der politischen
102
Nach kurzem Waffenstillstand fiel nach Wiederaufnahme der Kämpfe am 28. März 1913
Adrianopel. Am 10. Juni 1913 wurde im Vertrag von London neben großen Gebietsverlusten auf dem
Balkan auch die Übergabe der Stadt an Bulgarien festgeschrieben. Dieser für die Türkei sehr
unvorteilhafte Friedensschluß sorgte für die gravierende Unzufriedenheit, die in dem Anschlag auf den
Großwesir mündete. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 3.
103
Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 256f.
104
Vgl. Ebenda, S. 257 und Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 19.
105
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 119.
106
Brief Goltz Pascha an Pertev Pascha vom 4.1.1913, BAMA Freiburg, N 737/ 11.
34
Position Deutschlands im Nahen Osten beigetragen hätte. So war man in Berlin
bemüht, die Schuld an dem Versagen der osmanischen Armee bei den Türken selbst
zu suchen, während die Diplomaten zugleich versuchten, den sensiblen Partner am
Bosporus dem Reich gewogen zu halten.107 Ein formelles Bündnis mit dem
Osmanischen Reich kam für das Deutsche Reich aber weiterhin nicht in Frage. Zu
groß waren die Spannungen zwischen der Hohen Pforte und den anderen Mitgliedern
des Dreibundes Österreich-Ungarn und Italien. Zu groß war auch die Furcht davor,
die im Orient engagierten Großmächte zu bedenklichen Reaktionen zu provozieren.
So blieb es bei der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung für
Konstantinopel bei möglichst weitgehender politischer Zurückhaltung, wie schon in
den Jahren vor der „jungtürkischen Revolution“.108
Die jungtürkische Regierung hatte derweil noch mit der Niederlage und den daraus
resultierenden politischen Spannungen sowie der Integration der Flüchtlingsmassen
aus den ehemaligen Balkanbesitzungen zu kämpfen. Deutsche Hilfen waren
willkommen, aber deutsche Einmischung in die Politik nicht, auch weil kein Mitglied
der Regierung wirklich mit voller Unterstützung einer der Großmächte rechnete, die
trotz Zusicherung der Wahrung des status quo am Bosporus untätig blieben, als sich
die Truppen der Balkanstaaten bedrohlich der osmanischen Hauptstadt näherten.109
Noch während in Berlin und Konstantinopel die Folgen des Ersten Balkankrieges
analysiert wurden, zerbrach Ende Juni 1913 die Allianz der Sieger über die Türkei an
der mazedonischen Frage. Bulgarien wollte seinen Machtbereich durch Einverleibung
Mazedoniens zu einem „großbulgarischen Reich“ ausdehnen. Serbien und
Griechenland waren hingegen selbst an mazedonischen Gebieten interessiert,
während Rumänien durch einen Sieg über Bulgarien auf eine Annexion der
Dobrudscha hoffte. Die geschlagene Türkei sah in dieser Wendung die Gelegenheit,
zumindest Teile ihres europäischen Besitzes zurückzugewinnen und eine Pufferzone
zwischen Westgrenze und Hauptstadt zu errichten.110 Der sehr kurze Zweite
Balkankrieg endete mit der Niederlage Bulgariens. Die osmanischen Truppen
konnten im Verlauf der Kampfhandlungen Adrianopel zurückerobern und im
107
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 121.
Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 171.
109
Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 15.
110
Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 259.
108
35
Friedensschluß mit Bulgarien wurde die Westgrenze des Reiches auf die MaritzaLinie festgelegt.111
Dieser militärische Erfolg gab der Regierung des „Komitees für Einheit und
Fortschritt“ vorerst die nötige Sicherheit, um (weitgehend) ohne Furcht vor neuen
Putschversuchen oder Attentaten handeln zu können. Oberstleutnant Enver Bey, der
im Zweiten Balkankrieg Adrianopel zurückgewann, genoß hohe Popularität. Im
Januar 1914 wurde er zum Generalmajor und Pascha sowie zum Kriegsminister
ernannt.112 Von da an bestimmte er wesentlich die außenpolitischen Beziehungen und
konnte später auch das Bündnis mit den Mittelmächten gegen den Widerstand
zahlreicher türkischer Politiker durchsetzen.113
Doch zunächst nutzte Enver den günstigen Ausgang des Zweiten Balkankrieges, um
die deutsch-türkischen Beziehungen zu vertiefen. Von einem Rückzug des deutschen
Engagements aus dem Osmanischen Reich war nun keine Rede mehr. Im Gegenteil,
die militärische Zusammenarbeit erreichte durch die Berufung einer offiziellen
Militärmission unter Generalleutnant Otto Liman von Sanders Ende 1913 einen
Höhepunkt, an dem Enver offenbar stark mitgewirkt hatte.114
Obgleich diese Militärmission ein Politikum war und die Position des deutschen
Generals Liman von Sanders zu diplomatischen Unstimmigkeiten und einer schweren
Krise mit Russland führte, ist in der Entsendung noch nicht der Grundstein für die
spätere deutsch-türkische Allianz zu sehen. In der türkischen Regierung gab es
gewichtige Stimmen, wie die des Marineministers Djemal Pascha oder des
Finanzministers Djavid Bey, die für eine Anlehnung an die Entente plädierten. Noch
im Juli 1914 wurden von der Hohen Pforte Bündnisvorschläge an Frankreich und
111
Diese entspricht der heutigen Westgrenze der Türkei. Zum genauen Verlauf der Friedensverhandlungen: Immanuel, Friedrich: Der Balkankrieg 1912/13 - Fünftes Heft (Schlußheft). Der zweite
Balkankrieg im Juli 1913, Berlin 1914, S. 90-95.
112
Hale, Turkish Politics 1994, S. 45.
113
Zu den genaueren Umständen des Beitritts der Türkei zum Bündnis zwischen Deutschland und
Österreich-Ungarn siehe Kapitel II.2.c.
114
Petter, Wolfgang: Die deutsche Militärmission im Osmanischen Reich, in: Jaschinski,
Klaus/Waldschmidt, Julius (Hrsg.): Des Kaisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002, S. 89. Im
Vergleich dazu sieht J. Wallach eine Beteiligung Envers weniger deutlich, sondern rückt auch
deutschen Druck zur Entsendung dieser Mission ins Blickfeld. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe
1976, S. 126f.
36
Großbritannien übermittelt. Sogar mit dem „Erzfeind“ Russland verhandelte man,
doch überall wurde der Türkei eine mehr oder weniger unhöfliche Abfuhr erteilt.115
Ebenso versuchte man zwar von deutscher Seite fortwährend, die Beziehungen nach
Konstantinopel zu verbessern, an ein Bündnis dachte die Regierung in Berlin
allerdings erst, als der Krieg in Europa praktisch unausweichlich war. Die hektischen
Bemühungen Deutschlands um weitere Verbündete, ebenso die Angst der Türkei
ohne wirkliche Unterstützung einer Kriegspartei zum Spielball der Mächte zu
werden, führten im August 1914 schließlich zum Abschluß eines ersten Vertrages
zwischen den beiden Staaten.116
b) Die wirtschaftlichen Beziehungen
Im Unterschied zu den teilweise bereits seit Jahrhunderten bestehenden
wirtschaftlichen
Verbindungen
der
europäischen
Mächte
Frankreich
und
Großbritannien zur Hohen Pforte konnte das Deutsche Reich als „junge Nation“ keine
Beziehungen ähnlichen Ausmaßes vorweisen. Zugleich war Deutschland eine
aufstrebende bedeutende Industriemacht, die Betätigungsfelder und Märkte suchte.
Da im Osmanischen Reich durch die bereits erwähnten „Kapitulationen“ der
Tätigkeit ausländischer Investoren und Kaufleute kaum Grenzen gesetzt waren, hatte
beinahe jedes Land dort starke wirtschaftliche Handelsinteressen. Diese tradierten
Verträge, die bereits seit dem 16. Jahrhundert die Form von „Kapitulationen“ hatten,
besagten im Wesentlichen:
1) Die Freiheit des Handelsverkehrs war festgelegt, indem man ausländischen
Kaufleuten Schutz vor osmanischen Kontrollen ihrer Schiffe gewährte, Ausnahmen
vom Strandrecht und die Festlegung der Zölle regelte. Neben der Tatsache, daß die
115
Die Entente versprach sich einen größeren Vorteil von einer neutralen Türkei. Vor allem fürchtete
man sich vor der Notwendigkeit, zu große Zugeständnisse an die Hohe Pforte machen zu müssen, die
man lieber „kontrollierte“, als sie als Bündnispartner anzuerkennen. Trumpener, Germany and the
Ottoman Empire 1968, S. 20. Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 262. Emin, Turkey 1930, S. 6971. Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 15.
116
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 21f. Auf die genauen Umstände des
Kriegseintritts wird an späterer Stelle eingegangen. Siehe Kapitel II.2.c.
37
Hohe Pforte Ausländern gewichtige zollpolitische Ausnahmeregelungen eingeräumt
hatte, waren zusätzlich noch Immunitäten in der Steuerpolitik zugestanden worden.
Der größte Teil des Geldes, das in türkischem Staatsgebiet von ausländischen
Händlern erwirtschaftet wurde, floß unangetastet aus dem Reich ab.
2) Die durch die Kapitulationen begünstigten Ausländer unterstanden der
Gerichtsbarkeit ihres eigenen Konsulats und zwar in Zivil- wie auch den meisten
Strafsachen. Zivilklagen osmanischer Untertanen gegen ausländische Beklagte
bedurften einer strengeren und komplizierteren Beweisführung. Strafsachen durften
nur direkt von der Hohen Pforte verfolgt werden.
3) Die Angehörigen der jeweils vertragschließenden europäischen Nation durften ihre
Religion im Osmanischen Herrschaftsgebiet frei ausüben. Behinderungen durch die
türkischen Behörden waren untersagt.117
Auch das Königreich Preußen hatte 1761 einen solchen Vertrag mit dem Sultan
geschlossen, dessen Gültigkeit für das Deutsche Reich 1890 bekräftigt wurde.118
Allerdings war das Deutsche Reich für die Türkei weder der wichtigste
Handelspartner, noch hatten die osmanischen Importe vor dem Kriege für
Deutschland einen besonders hohen Wert.119 Im Jahre 1913 betrug der aus dem
Osmanischen Reich nach Großbritannien ausgeführte Warenwert etwa das Vierfache
des Handelsvolumens mit Deutschland. Umgekehrt führte das Deutsche Reich nur
etwa für die Hälfte des britischen Warenwertes Güter in die Türkei aus, was für die
117
Overbeck, Kapitulationen 1917, S. 9-11. Emin, Turkey 1930, S. 112f.
Overbeck, Kapitulationen 1917, S. 21-26. Der Autor versucht, die deutsch-türkischen Verträge als
vorbildlich für den Umgang „zwischen voll- und gleichberechtigten Gliedern der
Völkerrechtsgemeinschaft“ (S. 26) darzustellen. Die Artikel des Vertrages sind für das Osmanische
Reich jedoch de facto kaum weniger benachteiligend als etwa die Verträge mit Frankreich oder
Großbritannien, denn trotz der schwachen wirtschaftlichen Position Deutschlands im Mittelmeerraum,
herrschte offensichtlich kein Gleichgewicht zwischen den Vertragspartnern, sondern eine einseitige
Überlegenheit der europäischen Macht. Diese Realität spiegelte der Vertragstext selbstverständlich
nicht wider.
119
Zwar nahm das Handelsvolumen gemessen am Warenwert zwischen 1888 und 1913 deutlich zu,
aber insgesamt blieb es hinter dem gewünschten Niveau zurück. Türk, Fahri: Die deutsche
Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften zwischen 1871 und 1914 – Die Firma Krupp, die
Waffenfabrik Mauser und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, Frankfurt am Main (u.a.)
2007, S. 20f. (Im Folgenden: Türk, Türkeigeschäfte 2007.)
118
38
Hohe Pforte ein Handelsdefizit bedeutete.120 Für die beiden späteren Verbündeten gab
es demnach wichtigere Handelspartner, was den zivilen Handel angeht, ein Umstand,
der nicht zuletzt auf die fehlenden Transportkapazitäten Deutschlands im Mittelmeer
zurückzuführen war.121 Anders gestaltete sich die Situation, wenn man die
Rüstungslieferungen, den Kapitalexport und vor allem die Investitionen in den
Eisenbahnbau im Osmanischen Reich betrachtet.
Die Türkei war im Vergleich zu den europäischen Großmächten ein industriell
unterentwickelter Staat.122 Eine moderne Rüstungsproduktion, wie sie seit Abdul
Hamid II. angestrebt wurde, fehlte beinahe völlig. Lediglich im Umfeld von
Konstantinopel
gab
es
einige
Munitionsfabriken.123
Um
die
gewünschte
Modernisierung der Armee durchführen zu können, wodurch die Hohe Pforte hoffte
höheres außenpolitisches Ansehen zu erlangen und sich effektiv innenpolitischen
Gegnern widersetzen zu können, war das Land auf Waffenimporte angewiesen. Ein
Umstand, den sich das Deutsche Reich gerne zu nutzen machte. Schon im Zuge der
Orientkrise in den 1870er Jahren hatte Alfred Krupp erste größere Rüstungsaufträge
mit dem Osmanischen Reich abschließen können.124 Diese Form der wirtschaftlichen
Beziehungen wurde von beiden Seiten bevorzugt ausgebaut, nicht zuletzt weil der
Sultan den deutschen Beteuerungen glaubte, keine weitergehenden, politischen
Interessen in seinem Herrschaftsbereich zu verfolgen. Die deutsche Industrie sicherte
sich so wegen der vielen Konflikte im und gegen das Osmanische Reich einen
ständigen Absatzmarkt und die Türkei konnte auf Waffen zurückgreifen, die seit dem
deutsch-französischen Krieg (1870/71) einen sehr guten Ruf genossen.
Eine aktiv fördernde Funktion in diesem Geschäft kam den preußischen/deutschen
Militärangehörigen
zu,
die
im
Rahmen
120
verschiedener
Verträge
zu
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 10.
Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 168.
122
Emin, Turkey 1930, S. 91f.
123
Zudem war die Leistungsfähigkeit besonders in der Produktion von Artilleriemunition noch 1915
stark eingeschränkt. Liman von Sanders, Otto: Fünf Jahre Türkei, Berlin 1920, S. 99. (Im Folgenden:
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920.)
124
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 32. Dieser Umstand hielt Krupp freilich nicht davon
ab, auch Geschäfte mit den Balkanstaaten und anderen Protagonisten der Orientkrise abzuschließen.
Kössler, Armin, Aktionsfeld Osmanisches Reich – Die Wirtschaftstinteressen des Deutschen
Kaiserreiches in der Türkei 1871-1908 (Unter besonderer Berücksichtigung Europäischer Literatur),
New York 1981, S. 107-113. (Im Folgenden: Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981.)
121
39
Instruktionszwecken
nach
Konstantinopel
geschickt
wurden.
Der
spätere
Generalfeldmarschall von der Goltz Pascha hatte bereits 1889 im Rahmen seiner
Tätigkeit in der Türkei darauf verwiesen, daß Geschäfte vor Ort meistens über
persönliche Beziehungen zustande kämen.125 Die Militärinstrukteure besaßen
derartige Beziehungen, wie Äußerungen Bismarcks zur „Nützlichkeit“ der
sogenannten
„Kaehler-Mission“126
gegenüber
dem
Fürsten
zu
Hohenlohe-
Schillingsfürst127 im Jahre 1880 bestätigen.128 Allein in den Jahren von 1885 bis 1887
gingen aus Deutschland Waffenlieferungen im Wert von über 16 Millionen
Reichsmark an den Bosporus; hierbei handelte es sich um den Kauf von 500.000
Gewehren und 50.000 Karabinern der Firmen Mauser und Loewe.129 Fortan bildete
der Rüstungsexport eine der wichtigsten Stützen der Beziehungen zwischen dem
Deutschen Reich und der Türkei. Im Jahre 1898 schreibt Hauptmann Morgen, der
Militärattaché der deutschen Botschaft in Konstantinopel, nach Berlin:
„[...] es darf daran erinnert werden, daß durch die Vermittlung der deutschen
Militärmissionen in den Jahren 1885-1895 nicht weniger als 100 Millionen für
Bestellungen an Kriegsmaterial (Torpedoboote, Feldartillerie, Küstengeschütze,
Gewehre, Artillerie- und Infanterie-Munition) an Deutschland gegeben wurden.“130
Die Waffenexporte deutscher Firmen in die Türkei nahmen stetig zu, und die
gleichzeitige Aufrüstung der Balkanstaaten machte eine weitere Aufrüstung der
osmanischen Armee nötig. Die Rüstungsspirale in Südosteuropa und Kleinasien
drehte sich unaufhörlich.131 Trotz verstärkten Konkurrenzkampfes mit englischen,
amerikanischen und vor allem französischen Firmen konnten deutsche Firmen den
größten Marktanteil auf dem militärischen Sektor behaupten.132
Die engeren Rüstungsbeziehungen ließen die Gesamthandelsbilanz der beiden
Staaten bis 1905 enorm ansteigen.133
125
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 105.
Zur „Kaehler-Mission“ (ab 1882) siehe unten, S. 49f.
127
1880 Staatsekretär des Auswärtigen Amtes.
128
Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 114.
129
Ebd., S. 121. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 105.
130
Zitiert nach: Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 248.
131
Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 167.
132
Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 266-268.
133
Die Türkei importierte das sechsfache an Warenwert im Vergleich zu 1888 und exportierte 1905
sogar das 22-fache des Warenwertes ohne jedoch zu einer ausgeglichenen Handelsbilanz zu kommen.
Emin, Turkey 1930, S. 39
126
40
Die „jungtürkische Revolution“ tat den Waffenlieferungen höchstens kurzfristig
Abbruch, denn die Beteiligung von Militärkreisen garantierte praktisch eine hohe
Nachfrage. Allerdings war der deutsche Handelspartner offenbar nicht wirklich daran
interessiert, den osmanischen Truppen zu modernster Bewaffnung zu verhelfen. Noch
lange nach der Ausmusterung aus den Streitkräften des Deutschen Reiches wurden
veraltete Gewehre Modell 1888 und ebenso veraltete Kanonen an die türkische
Armee geliefert.134 Der größte Coup war in dieser Hinsicht der Verkauf von zwei
überholten Linienschiffen der Brandenburg-Klasse an die osmanische Marine im
Jahre 1910.135
Auch wenn man das Streben nach möglichst großem Gewinn zu Grunde legt, so
verwundert es doch, daß die militärischen Entscheidungsträger im Deutschen Reich
und die Deutschen im Osmanischen Reich, die angeblich so entscheidend an den
Rüstungsgeschäften beteiligt gewesen sind, so wenig auf die Modernität achtgaben.
Der Grund lag möglicherweise darin, daß wegen der vorsichtigen deutschen
Außenpolitik ein Bündnis mit der Türkei nicht absehbar war. Bezeichnenderweise bot
im Ersten Weltkrieg die Ausrüstung der Osmanen viel Anlaß zur Klage für die
deutschen Offiziere.136
Die
Aufrüstungsbestrebungen
der
Hohen
Pforte
hatten
trotz
solcher
Unzulänglichkeiten dennoch einen hohen Preis. Für ein überwiegend agrarisch
geprägtes Land, das von inneren Unruhen und verlorenen Kriegen geschüttelt wurde,
dazu noch durch nachteilige Verträge keinen gravierenden Einfluß auf den
gewinnträchtigen ausländischen Handel auf seinem eigenen Staatsgebiet nehmen
konnte und das ständig befürchten mußte, in Konflikte mit den überlegenen
europäischen Großmächten hineingezogen zu werden, waren solche Käufe ohne
Kredit nicht finanzierbar. Die Verschuldung der Hohen Pforte bei überwiegend
ausländischen Gläubigern – unter ihnen auch die Deutsche Bank – nahm schließlich
134
Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 269f.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 106. Es handelt sich um die „S.M.S. Kurfürst
Friedrich Wilhelm“ und die „S.M.S. Weißenburg“ (beide Stapellauf 1891), die später unter den Namen
„Haireddin Barbarossa“ bzw. „Torgut Reis“ unter osmanischer Flagge fuhren. Mühlmann, Carl: Das
deutsch-türkische Waffenbündnis im Weltkriege, Leipzig 1940, S. 11f. (Im Folgenden: Mühlmann,
Waffenbündnis 1940.)
136
Zur Ausrüstungsproblematik siehe auch unten, S. 136f.
135
41
derartige Ausmaße an, daß im Jahre 1881 alle türkischen Einnahmen der „Dette
Publique Ottomane“ zugeführt werden mußten. Dieser Zusammenschluß aller
Gläubiger des Osmanischen Reiches kontrollierte praktisch zur Gänze die
bedeutenden Wirtschaftsprojekte und hier vor allem den Eisenbahnbau, der auf
osmanische Konzessionen und finanzielle Unterstützung angewiesen war. Durch
diese umfassende Kontrolle der Finanzen konnte die Verschuldung des Osmanischen
Reiches bis zum Jahre 1898 um 240 Millionen Mark verringert werden. Allerdings
geschah dies unter völliger Vernachlässigung türkischer Interessen. Durch den
Entzug der finanziellen Mittel sah sich der Sultan gezwungen, weitere Geldquellen zu
Lasten der Untertanen zu erschließen, was der politischen Stabilität des Landes nicht
gerade förderlich war.137 Allein von den Einnahmen einer Sondersteuer der Hohen
Pforte auf die Zehntabgaben und auf die Zölle gegenüber den Balkanstaaten gingen
über 96% an die Krupp-AG.138 Zwischen 1881 und 1908 mußte sich die osmanische
Regierung 51,5 Millionen Ltq139 (954,3 Millionen M) im Ausland leihen. Obwohl die
direkten Steuern und Zölle für die osmanischen Untertanen weiter stiegen, reichten
die Einnahmen nicht aus, um die enormen Ausgaben zu decken. Daher war
schließlich auch die jungtürkische Regierung gezwungen, ihre Kriege durch
ausländische Anleihen zu finanzieren und die Verschuldungspolitik der früheren
Regierung fortzusetzen.140
Deutsche Gläubiger hielten 1881 einen Anteil von 4,7% an Schuldverschreibungen
der Hohen Pforte. Der Prozentsatz stieg auf 12,1% im Jahre 1898 und 1907 auf
15,1%. Die Quote entsprach einem Gegenwert von 77 Millionen Ltq (1,43 Milliarden
M).141 Die Finanzgeschäfte mit dem Osmanischen Reich setzten sich bis zum Beginn
des Krieges ungemindert fort und sorgten für eine steigende Abhängigkeit der Türkei
von Deutschland. Zugleich steigerte sich das Engagement Berlins zur Wahrung des
137
Zur Organisation der Schuldenverwaltung siehe: Hallgarten, George F.: Imperialismus vor 1914 –
Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg,
Band I, München 21963, S. 475f. (Im Folgenden: Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band I) 1963.)
138
Von 2,1 Millionen Ltq (38,9 Millionen M) sind das 2,02 Millionen Ltq (37,5 Millionen M).
Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 279.
139
Ltq = türkisch Pfund (türk. Lira)
140
Die Gesamtsumme der Anleihen zwischen Juli 1908 und Juli 1914 betrug 46 Millionen Ltq (852,4
Millionen M). In Anbetracht des kürzeren Zeitraums bedeutet dies eine rapide steigende Verschuldung,
wobei gleichzeitig der durchschnittliche Zinssatz der Darlehen von 4,1% auf 4,6% kletterte. Zur
Verteilung der Staatsschulden siehe: Ahmad, Late Ottoman Empire 1984, S. 23f.
141
Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 168 und S. 174.
42
status quo am Bosporus – wenn auch nicht bis zur tatsächlichen militärischen Hilfe –,
denn im Gebiet des Osmanischen Reiches lief seit den späten 1880er Jahren das wohl
prestigeträchtigste Wirtschaftsunternehmen des Deutschen Reiches im Ausland: Der
Bau der Baghdadbahn.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte der Eisenbahnbau eine immer größere Bedeutung
gewonnen. Der Personen- und Güterverkehr ermöglichte auf einem Schienennetz
höhere personale Mobilität, schnelleren Warenaustausch einschließlich einer
steigenden
arbeitsteiligen
Produktion
und
schuf
ungleich
größere
Transportkapazitäten als Pferdefuhrwerke oder andere Tiergespanne. Auch für die
militärischen Operationen gewannen der Truppentransport auf der Schiene, der
Transport schwerer Waffen und ihrer Munition sowie der Transport von
Versorgungsgütern eine erhebliche Bedeutung. Das Kriegsbild des ausgehenden 19.
und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde wesentlich dadurch beeinflußt.142 Diese
Entwicklung war auch der Hohen Pforte nicht entgangen. Allerdings sah sich das
Osmanische Reich finanziell und technisch nicht in der Lage, sein Territorium mit
einem durchgehenden Schienennetz zu versehen.143 Lediglich einige kurze Strecken,
denen höchstens eine regionale Bedeutung zugemessen werden konnte, verbanden
wirtschaftlich interessante Orte im Reich. Diese Linien konzentrierten sich auf die
türkischen Besitzungen auf dem Balkan, den west-anatolischen Teil des Reiches um
Konstantinopel und Smyrna (Izmir) und den Bereich zwischen dem Golf von
Alexandrette (Iskenderun) und Adana.144 Diese Trassen wurden alle von
ausländischen Firmen erbaut oder zumindest betrieben, die zugleich das rollende
Material lieferten, wobei hier in der Mehrzahl englische und französische
Unternehmen involviert waren. Die beiden Großmächte bewarben sich auch seit 1863
um die Konzession für den Bau einer Bahnlinie, die quer durch das Osmanische
142
Eine Überblicksdarstellung der Eisenbahnentwicklung, mit besonderem Augenmerk auf der
militärischen Nutzung findet sich bei: Fiedler, Siegfried: Taktik und Strategie der Einigungskriege
1848-1871, (Neudruck der Ausgabe Bonn 1991) Augsburg 2002, S. 139-142.
143
Lodemann, Jürgen und Pohl, Manfred: Die Bagdadbahn – Geschichte und Gegenwart einer
berühmten Eisenbahnlinie, Mainz 1988, S. 3. (Im Folgenden: Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988.)
144
Ebd. und Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 126.
43
Reich vom Bosporus zum Persischen Golf führen sollte.145 Der Sultan zögerte jedoch,
die Konzession zu erteilen, da beide Staaten unverhohlen eigene Interessen mit dem
Bahnbau zu verfolgen schienen und überdies die positive Wirkung für das
Osmanische Reich zweifelhaft war. Außerdem drohte dadurch größere finanzielle
Abhängigkeit von den europäischen Großmächten.146 Das Deutsche Reich bot hier
wegen der bismarckschen „Nichteinmischungspolitik“ eine mögliche Alternative.
Schon Sultan Abdulaziz (1861-1876) versuchte daher, deutsche Investoren und
Ingenieure für den Bau einer Eisenbahnstrecke von Haidar Pascha147 über Angora
(Ankara) und Mosul nach Baghdad und schließlich nach Basra zu gewinnen. Obwohl
ihm dies gelang, konnte bis zum Jahre 1875, als der türkische Staatsbankrott jede
Weiterführung unmöglich machte, nur ein kleines Teilstück (93 km) von Haidar
Pascha bis Ismid fertiggestellt werden.148
Auch Sultan Abdul Hamid II. bemühte sich nach der Thronübernahme 1876 um
deutsche Beteiligung an einer Bahnlinie, die Konstantinopel mit Baghdad verbinden
sollte. 1888 kam es schließlich zur Erteilung einer Konzession für den Bau, den
Betrieb und die Verwaltung einer Bahnlinie an eine Investorengruppe unter
Federführung der Deutschen Bank.149 Allerdings sollte sie zunächst nur von Haidar
Pascha bis Angora führen. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten, die sowohl mit
der Finanzierung des Projektes als auch dem eigentlichen Bau zu tun hatten, konnte
145
Die wichtigsten Parteien sind hier eine französische Investorengruppe um Collas und die englischfanzösische Bankgruppe der Banque Ottomane, die zugleich sehr vorteilhafte Beziehungen zur bereits
erwähnten „Dette Publique Ottomane“ unterhielt. Sıtkı, Bekir: Das Bagdad-Bahn-Problem 1890-1903,
Freiburg i. Br. 1935, S. 18. (Im Folgenden: Sıtkı, Bagdad-Bahn-Problem 1935.)
146
Ebd., S. 16. Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 134.
147
Ein damals noch wenig ausgebauter Handelshafen im Süden von Konstantinopel an der asiatischen
Küste des Marmarameeres.
148
Für diesen Bau zeichnete hauptsächlich die türkische Regierung selbst verantwortlich, die den
österreichischen Ingenieur Wilhelm Pressel zu diesem Zweck anstellte. Kössler, Aktionsfeld
Osmanisches Reich 1981, S. 126. Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 4. Sıtkı, Bagdad-BahnProblem 1935, S. 17. Paul Butterfield schreibt hingegen, daß für den Bau eine französische Firma
verantwortlich gewesen wäre, während die türkische Regierung den Betrieb bis 1880 geführt hätte, bis
eine englische Firma diese Strecke übernahm. Butterfield, Paul K.: The Diplomacy of the Bagdad
Railway 1890-1914, Göttingen 1932, S. 10.
149
Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 142. An dieser Konzession sollen ursprünglich
auch englische Investoren beteiligt gewesen sein. Jastrow, Morris (jr.): The War and the Bagdad
Railway – The story of Asia Minor and its relation to the present conflict, Philadelphia/London 21918,
S. 82. Damit sind vermutlich englischen Betreiber der Linie Haidar Pascha – Ismid gemeint, die ihre
Rechte an die deutschen Investoren verkauften. Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 13.
44
die Bahnlinie bis zum 31. Dezember 1892 fertiggestellt werden.150 Die Durchführung
des Projekts führte zu einer spürbaren Verschlechterung der Beziehungen zu
Frankreich und Russland, die sich beide in ihrer Interessensphäre angegriffen fühlten.
Russland sah, daß sein westlicher Nachbar sich zunehmend am Bosporus, der
Schlagader
der
russischen
Schwarzmeerhäfen,
engagierte,
und
Frankreichs
wirtschaftliche Vormachtstellung im Osmanischen Reich mußte den ersten herben
Rückschlag verkraften. Österreich-Ungarn, Italien und England hingegen begrüßten –
wenn auch hinter vorgehaltener Hand – den deutschen Erfolg, weil sie hofften, nun zu
Lasten des französischen Einflusses ihre Position in Kleinasien ausbauen zu
können.151
Durch den Eisenbahnbau hatten deutsche Firmen und mittelbar auch die vorwiegend
preußisch-deutsche Politik Zugang zu einem weiteren lebenswichtigen Bereich des
Osmanischen Reiches erlangt.152 Dabei wurde die wirtschaftliche Bedeutung des
Streckenausbaues in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch durch weitere
Projekte ergänzt, die im Gefolge der ehrgeizigen Planung entstanden. Neue Bahnhöfe
und Verladestationen mußten entlang der Strecke errichtet werden. Der Hafen von
Haidar Pascha wurde ausgebaut, um den voraussichtlich wachsenden Warenverkehr
umschlagen zu können, und selbstredend ließ es sich die Bahnbaugesellschaft nicht
nehmen, einen besonders repräsentativen Bahnhof an diesem Endhaltepunkt in
unmittelbarer Nähe zum Herrschaftszentrum des Osmanischen Reiches zu errichten.
Sogar in die Förderung der Landwirtschaft entlang der Bahnlinie wurde investiert, um
die zukünftige Rentabilität zu sichern.153
150
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß aufgrund mangelnder Erfahrung deutscher Firmen im Bahnbau
auf türkischem Gebiet eine französische Firma von den deutschen Investoren mit der Durchführung
beauftragt wurde. Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 20f. Zu den
Finanzierungsschwierigkeiten siehe: Kössler, Aktionsfeld Osmanisches Reich 1981, S. 144-147.
151
Ebd., S. 143f.
152
Für die politische Abhängigkeit solcher Großunternehmungen von der Genehmigung durch höchste
Stellen im Deutschen Reich spricht schon die juristisch unnötige Einholung einer Erlaubnis des
Auswärtigen Amtes, bevor überhaupt Verhandlungen mit der Türkei begonnen wurden. Damit wurde
faktisch die Anfrage gestellt, ob eine solche Unternehmung von der Regierung als politisch opportun
erachtet wurde. Die eigenhändige Unterschrift Bismarcks unter den Vorgang verdeutlicht, daß man
sich in Berlin der Tragweite der Unternehmung bewußt war. Bode, Friedrich Heinz: Der Kampf um
die Bagdadbahn 1903-1914 – Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-englischen Beziehungen, ND
Aalen 1982, S. 2f. Sıtkı, Bagdad-Bahn-Problem 1935, S. 19f. Kössler, Aktionsfeld Osmanisches
Reich 1981, S. 139f.
153
Zu den Folgeprojekten des anatolischen Bahnbaues: Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 3540.
45
Eine umfassende Konzession für den Bau einer durchgehenden Eisenbahnlinie bis
Baghdad vermochte die bisherige Anatolische Bahnbaugesellschaft jedoch erst im
März 1903 zu erlangen.154 Die Widerstände von englischer, französischer und
russischer Seite hatten die politische Brisanz einer von Deutschen kontrollierten Linie
bis zum Persischen Golf sehr deutlich werden lassen. Zugleich mußte auch die
osmanische Seite erkennen, daß ihre Einflußnahme auf die künftige Entwicklung der
Bahn praktisch ausgeschaltet werden sollte. Schon im Jahre 1899 war ein Vorschlag
der Hohen Pforte, das Baghdadbahnprojekt als „türkische Staatseisenbahn“
durchzuführen, auf entschiedene Ablehnung der deutschen Seite gestoßen.155 Die
Hoffnung auf einen „selbstlosen“ Einsatz des Deutschen Reiches hatte sich damit
verflüchtigt und das Land statt dessen nur in die Abhängigkeit von einer weiteren
ausländischen Großmacht geführt.
Dennoch war das kleinasiatische Reich auf das technische Wissen europäischer
Ingenieure angewiesen, wollte es seine Verkehrsinfrastruktur modernisieren. Die
Konflikte der Europäer untereinander hatten aus Sicht der Hohen Pforte immerhin
eine vereinte Anstrengung zur Ausnutzung der türkischen Schwäche verhindert, und
weitere Zugeständnisse an das Deutsche Reich versprachen, diesen positiven Effekt
noch eine Weile aufrechtzuerhalten. So wurde in den Jahren von 1901-1906 unter
deutscher Anleitung und mit deutschem Material die Hedjasbahn (DamaskusMedina) gebaut.156 Auch der Ausbau der anatolischen Bahnen bis nach Aleppo und
der Anschluß oder Ausbau kleinerer Nebenbahnen konnte 1908 vertraglich geregelt
werden.157
Durch die „jungtürkische Revolution“ im selben Jahr wurden allerdings die ohnehin
schwierigen und schleppenden Bauarbeiten gänzlich unterbrochen. Erst nach der
endgültigen Absetzung Abdul Hamids II. konnten die Arbeiten wieder aufgenommen
werden. Die bereits erwähnten Kriege und politischen Wirren sowie wachsender
154
Ein guter Überblick über die komplexen Verhandlungen, die schließlich zur
Vertragsunterzeichnung führten bei: Sıtkı, Bagdad-Bahn-Problem 1935, S. 96-151.
155
Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 49.
156
Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 176. Ein Überblick über den Bau und die Tätigkeit
des leitenden Ingenieurs Meißner bei: Pönicke, Herbert: Die Hedschas- und Bagdadbahn erbaut von
Heinrich August Meißner-Pascha, Düsseldorf 1958, S. 2-13.
157
Lodemann/Pohl, Die Bagdadbahn 1988, S. 64f.
46
Widerstand der Entente in der „Dette Publique Ottomane“ erschwerten die Arbeiten
bis zum Kriegsausbruch zusätzlich.158
Die bis zu diesem Zeitpunkt erreichten positiven Auswirkungen auf den
Warentransport zu den Hauptumschlagsplätzen sowie auf den zivilen Personenverkehr verdienen sicherlich Beachtung.159 Dagegen muß ebenso festgehalten
werden, daß die zahlreichen Unterbrechungen im Streckennetz einen raschen
Truppentransport, wie ihn die moderne Kriegführung erforderte, nahezu unmöglich
machten. Ebenso war der finanzielle Gewinn für die osmanische Seite wegen der
bereits erwähnten wirtschaftlichen Sonderrechte der ausländischen Bahnbetreiber
eher gering. Aus politischer Sicht waren die Bahnarbeiten jedoch von größerer
Bedeutung
für
das
deutsch-türkische
Verhältnis
als
die
„regulären“
Handelsbeziehungen sowie die Rüstungs- und Kapitalgeschäfte Deutschlands mit der
Türkei.
c) Die militärischen Beziehungen
Erste Bemühungen, durch Militärberater Einfluß auf die osmanische Armee zu
nehmen, gab es bereits während des Krieges zwischen Österreich/Russland und dem
Osmanischen Reich (1787-1792).160 Der preußische König Friedrich Wilhelm II.
erhoffte sich durch Einflußnahme auf die Hohe Pforte einen langen und für die beiden
europäischen
Mächte
verlustreichen
Krieg.
Preußen
könnte
dann
als
Friedensvermittler auftreten und als Gegenleistung gegenüber dem Zaren und dem
habsburgischen Kaiser Gebietsansprüche in Polen geltend machen. Zum Zwecke der
Einflußnahme auf das türkische Heer wurden daher – zunächst incognito – der
preußische Oberst von Goetze und die beiden Leutnante von Schmidt und von
158
Kössler, Beziehungen zur Kaiserzeit 1992, S. 177f.
Zahlen zur Produktions- und Handelssteigerung bei: Grunwald, Kurt: Penetration Pacifique – The
financial vehicles of Germany´s „Drang nach dem Osten“, in: Wallach, Jehuda (Hrsg.): Germany and
the Middle East 1835-1939 - International Symposium April 1975, Tel-Aviv 1975, S. 91.
160
Zum Ursachen und Verlauf des Krieges siehe: Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V)
1990, S. 71-99.
159
47
Scholten im Jahre 1788/89 an den Bosporus gesandt.161 Der Einfluß von Goetzes
blieb jedoch verschwindend gering, da die Hohe Pforte eine offizielle Allianz mit
Preußen anstrebte, zu der Friedrich Wilhelm II. aber nicht bereit war. Der Großwesir
mißtraute dem preußischen Offizier deshalb so sehr, daß er ihm Kontakte mit seinem
Stab und damit der Kommandozentrale der osmanischen Armee verwehrte.162 Kurz
vor Ende des Krieges gelang es von Goetze jedoch Zugang zum Stabe zu erhalten
und dort einen Kriegsplan auszuarbeiten, der durch den baldigen Waffenstillstand und
die beginnenden Friedensverhandlungen allerdings nicht mehr umgesetzt werden
konnte.163 Diese ersten Militärberater unterschieden sich in ihrem Auftrag offenbar
dadurch von ihren Nachfolgern, daß sie in die operativen Vorgänge eingreifen und
weniger eine systematische Ausbildung betreiben sollten und konnten.
Um eine Festigung der militärischen Beziehungen bemühten sich die Hohe Pforte und
Preußen erst wieder im frühen 19. Jahrhundert. Im Jahre 1837 wurden einige
preußische Offiziere – der Bekannteste unter ihnen war der junge Helmuth von
Moltke – auf Bitten des Sultans offiziell in die Türkei entsandt.164 Zwei Jahre später
endete diese Mission, ohne merkliche Reformen in den militärischen Strukturen des
osmanischen Heeres durchgesetzt zu haben. Offenbar waren beide Seiten darin
übereingekommen, daß „die Zahl der Instrukteure zu gering war, um einen
durchschlagenden Erfolg erzielen zu können“.165 Trotz dieses eher unrühmlichen
161
Der genaue Auftrag der Offiziere scheint strittig zu sein. So schreibt Kurt von Priesdorff, daß von
Goetze den Auftrag gehabt habe „das türk. Heer auf preuß. Art zu bilden.“ Priesdorff, Kurt von
(Hrsg.): Soldatisches Führertum. Teil 3 – Die preußischen Generale von 1763 bis zum Tode Friedrichs
des Großen, Hamburg o.J. [1936], S. 412. Ebenso finden sich diese Angaben in: Deutsche Offiziere in
der Türkei 1756-1939, BAMA Freiburg, MSg 2/3284, Blatt 1. (Im Folgenden: MSg 2/3284, Deutsche
Offiziere in der Türkei.). Johann Wilhelm Zinkeisen berichtet hingegen von einer „Instruction“ des
preußischen Königs an von Goetze, die besagt, daß der Offizier durch Ratschläge an die Hohen Pforte
oder direkte Kriegsplanung im Stabe des osmanischen Großwesirs für einen verlustreichen und
langandauernden Krieg zu sorgen habe. Zinkeisen, Johann Wilhelm: Geschichte des osmanischen
Reiches in Europa, Bd. VI, Gotha 1859, S. 679-682. (Im Folgenden: Zinkeisen, Geschichte des
osmanischen Reiches 1859.)
162
Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches 1859, S. 703f.
163
In der Tat verschlechterten sich die preußisch-osmanischen Beziehungen durch das Kriegsende und
die fruchtlose Militärhilfe so sehr, daß Oberst von Goetze um seine körperliche Unversehrtheit
fürchten mußte und um seine Abberufung bat. Diese wurde ihm am 4. September 1791 gewährt.
Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches 1859, S. 794f., 813 und 832f.
164
Moltke selbst war schon seit längerer Zeit ohne offizielle Stellung in der Türkei und verbachte
insgesamt etwa vier Jahre dort. Trumpener, Ulrich: German Officers in the Ottoman Empire, 18801918: Some comments on their backgrounds, functions and accomplishments, in: Wallach, Jehuda
(Hrsg.): Germany and the Middle East 1835-1939 - International Symposium April 1975, Tel-Aviv
1975, S. 31. (Im Folgenden: Trumpener, German Officers 1975.)
165
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 27.
48
Endes ließ die Mission bereits einige Umstände deutlich werden, die auch die
späteren offiziellen Militärinstrukteure betreffen sollten. So wurden die preußischen
Offiziere vom Sultan großzügig in die höfische Gesellschaft eingeführt, wo die
meisten zudem mit hohen Auszeichnungen bedacht wurden. Sie genossen in vollem
Umfang die Gastfreundschaft der Türkei und wurden in militärischen Fragen zum
„Fachsimpeln“ eingeladen. Einmischung in das wirkliche Tagesgeschäft des Heeres
war jedoch unerwünscht und ungefragte Kommentare verbat sich der osmanische
Herrscher von vornherein.166 Die Betonung liegt dabei auf „offiziellen Instrukteuren“
oder solchen, die mit der Unterstützung der deutschen Regierung rechnen konnten,
denn auch nach dem Abzug der preußischen Offiziere 1839 taten Deutsche Dienst in
der Armee des Osmanischen Reiches. Da es sich dabei hauptsächlich um Offiziere
außerhalb eines Dienstverhältnisses in den deutschen Staaten handelte, waren die
Reformbemühungen solcher „Privatpersonen“ – mit wenigen Ausnahmen – noch
weniger erfolgreich als diejenigen der „Moltke-Mission“.167
Nach der Proklamation des Deutschen Reiches wurde in den 1880er Jahren abermals
eine Militärmission an den Bosporus geschickt, die sogenannte „Kaehler-Mission“,
benannt nach dem ranghöchsten Offizier und Führer der Mission, dem preußischen
Oberst Otto Kaehler. Als er im April 1882 nach Konstantinopel reiste, wurde er von
zwei preußischen Hauptleuten und einem Rittmeister begleitet.168 Offiziere anderer
deutscher Bundesstaaten waren nicht vertreten, da, ähnlich der diplomatischen Ebene,
noch bis nach der Jahrhundertwende die Militärbeziehungen zwischen Deutschem
Reich und Türkei ausschließlich vom preußischen Heer wahrgenommen wurden.169
166
Moltke selbst beschreibt die offensichtliche Geringschätzung, die ihm entgegengebracht wird, sehr
anschaulich in seinem Brief aus Konstantinopel vom 1. September 1839: „[...] die ersten
Würdenträger des Reiches waren von der größten Aufmerksamkeit [...]; die Obersten räumten uns den
Vortritt ein, die Offiziere waren noch leidlich höflich, der gemeine Mann aber machte keine Honneurs
mehr, und Frauen und Kinder schimpften gelegentlich hinter uns her. [...] Wir waren höchlich
ausgezeichnete Individuen einer äußerst gering geschätzten Kategorie [...].“
Moltke, Helmuth von: Unter dem Halbmond – Erlebnisse in der alten Türkei 1835-1839, bearb. v.
Helmut Arndt, Tübingen/Basel 1979, S. 349. Zur Besoldung der Offiziere durch den Sultan siehe:
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 22f.
167
Laut Trumpener wurden einige dieser Offiziere zu Generälen befördert. Ob dies als Zeichen für
Erfolge bei Reformen gewertet werden kann, bleibt fraglich. Trumpener, German Officers 1975, S. 32.
Wallach beschreibt hingegen, daß auf dem Gebiet der Rüstungsaufträge für deutsche Firmen auch
dieser Personenkreis gute Arbeit leistete. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 32.
168
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 42.
169
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 18.
49
Die Aufgaben der Offiziere um Oberst Kaehler entsprachen denen ihrer Vorgänger.
Sie sollten sich ein Bild von den Zuständen in der osmanischen Armee machen, die
nur wenige Jahre zuvor den russisch-türkischen Krieg erfolglos ausgefochten hatte,
Reformvorschläge ausarbeiten und der türkischen Führung bei deren Umsetzung –
selbstverständlich mit Hilfe der deutschen Wirtschaft – beratend zur Seite stehen.
Kommandofunktionen
oder
gar
Kampfeinsätze
waren
grundsätzlich
ausgeschlossen.170 Der Auftrag der Reformer war demnach nur vage formuliert und
ließ den Offizieren einen verhältnismäßig großen Ermessensspielraum, wie sie ihre
„Beratung“ umsetzten. Eine deutsche koordinierende Stelle in Konstantinopel gab es
nicht.
Die tatsächlichen Wirkungsmöglichkeiten der deutschen Offiziere waren somit
vollständig von den Kommandobehörden und der Militärbürokratie der Türkei und in
besonderem Maße vom Wohlwollen des Sultans abhängig, zumal Abdul Hamid II.
damals große Angst vor einem Militärputsch gegen seine repressive Herrschaft hatte.
Schon bald erkannten die preußischen Offiziere üble Mißstände im Heer, die auf die
Furcht des Sultans, aber auch auf generelle Ausrüstungs- und Ausbildungsmängel
sowie strukturelle Probleme zurückzuführen waren. Korruption in den höchsten
Stellen sowie das geringe Ansehen der „ungläubigen Europäer“ erschwerten den
Offizieren ihre Aufgabe beträchtlich.171
Jedoch muß auch darauf verwiesen werden, daß bei den deutschen Offizieren nur
wenig Bereitschaft bestand, sich auf die Verhältnisse vor Ort einzulassen. Dies
begann mit der Tatsache, daß keiner der entsandten Offiziere die Sprache des
fremden Landes erlernte. Geschäftssprache in den entsprechenden Kreisen im
Osmanischen Reich war die französische Sprache. Dies half den Offizieren zwar bei
der „regulären“ Verständigung, ermöglichte aber ebenso den Türken, in ihrer eigenen
Sprache zu verhandeln, ohne Gefahr zu laufen, den „Christen“ zu viel zu verraten.
Hinzu trat, daß sowohl im militärischen als auch im kulturellen Sinne die eigenen
bewährten, aber eben preußischen Maßstäbe an die osmanische Umgebung angelegt
wurden. Kaehler verfaßte eine Denkschrift für den Sultan, in der er die
170
171
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 41.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 45-48.
50
Umstrukturierung des türkischen Heeres nach preußischem Vorbild forderte.172
Diese Forderung ist verständlich, bedenkt man, daß zu dieser Zeit das preußische
Heerwesen weltweit hohes Ansehen genoß und sich die „kaehlerschen Offiziere“ in
dieser Armee am besten auskannten. Sie läßt allerdings die speziellen Verhältnisse im
Osmanischen Reich unberücksichtigt. Schließlich fehlte auch ein wirklicher Einblick,
da die Angehörigen der Mission praktisch auf den Großraum Konstantinopel
beschränkt blieben. Alle Anschauungen mußten daher von den wenigen besichtigten
Truppen in der Stadt oder ihrer Nähe herrühren, deren Zustand und Ausrüstung
keinesfalls repräsentativ für die Gesamtheit der Streitkräfte war. Die Tatsache, daß
die deutschen Vorschläge von den zuständigen Stellen in Konstantinopel und sogar
vom Sultan selbst mit vorbildlicher Höflichkeit ignoriert wurden, löste Frustration bei
den Preußen aus, die schließlich in Resignation mündete. Kaehler schrieb in einem
Brief an seine Frau den bezeichnenden Satz: „Ja es ist ein herrliches Land, wenn nur
kein Türke darin wäre.“173
Obwohl die preußischen Offiziere wenig Fortschritte verzeichnen konnten, forderten
sie schon bald Verstärkung aus der Heimat an, um – beginnend mit systematischer
Schulung – strukturelle Änderungen nach europäischem Vorbild vorzubereiten. Im
Osmanischen Reich sollte ein umfassendes Militärschulwesen eingeführt werden.
Zwar gab es bereits einige Schulen für Offizieranwärter, jedoch äußerten sich die
Europäer sehr abfällig über den Lehrstoff an diesen Bildungsstätten. Es würden
ausschließlich veraltete französische Lehrbücher auswendig gelernt und die
praktische Ausbildung fehlte gänzlich.174 Zu Beginn des Jahres 1883 übermittelte
man die Bitte des Sultans um Entsendung eines weiteren deutschen Offiziers für die
Betreuung des Militärschulwesens nach Deutschland. Ausgewählt wurde der
preußische Major im Großen Generalstab Colmar Freiherr von der Goltz.175 Freiherr
von der Goltz trat bei seiner Ankunft in der Türkei nicht sofort in türkische Dienste,
172
Ebd., S. 50.
Brief Kaehlers vom 8. November 1882, zitiert nach: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S.
46.
174
Goltz, Friedrich Freiherr von der/ Foerster, Wolfgang: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von
der Goltz – Denkwürdigkeiten, Berlin 1932, S. 113. (Im Folgenden: Goltz/Foerster, Goltz
Denkwürdigkeiten 1932)
175
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 54.
173
51
sondern nutzte die Zeit, um sich einen Eindruck von Land und Leuten zu
verschaffen.176
Der damals 40 Jahre alte Major hatte einen scharfen Blick für die Mißstände in der
türkischen Armee, aber auch in der türkischen Verwaltung und Regierung. Bereits
kurz nach seinem offiziellen Übertritt in türkische Dienste begann er die Arbeit an
neuen Ausbildungsvorschriften für den Generalstabsdienst, den Felddienst und für
Taktik, die in die türkische Sprache übersetzt wurden und damit den Schülern nicht
nur einen einfacheren Zugriff als die französischsprachige Literatur boten, sondern
vor allem eine nach neuen operativen und taktischen Maximen entwickelte Anleitung
sicherten.177 Neben solchen theoretischen Grundlagen legte Goltz großen Wert auf
die praktische Ausbildung der angehenden Offiziere. Darunter verstand er Manöver
größerer
Truppenkörper,
Schießausbildung
mit
scharfer
Munition
und
Generalstabsreisen an die Grenzen und mögliche Kriegsschauplätze des Osmanischen
Reiches. Diese Maßnahmen erfreuten sich bei den jüngeren türkischen Offizieren
größter Beliebtheit, wie der spätere türkische General Pertev Pascha in seinen
Lebenserinnerungen über Goltz schreibt.178 Eine völlig andere Reaktion rief der
preußische Reformer jedoch bei Sultan Abdul Hamid II. hervor. Da er selbst mit Hilfe
der Armee an die Macht gelangt war, lag ihm verständlicherweise daran, eine analoge
Gefährdung seiner Machtstellung von vornherein auszuschließen. Goltz formulierte
die Situation in einem Schreiben vom Juni 1885 folgendermaßen:
„Jede Truppenversammlung, jede Selbständigkeit irgendeines Führers, die bei den
militärischen Anstalten getroffen werden müssen, erregt bei ihm den Wahn, daß sich
dahinter ein Komplott verberge. Sein Streben ist viel mehr darauf gerichtet, die
Armee zu schwächen, kampfunfähig und wehrlos zu machen, als sie zu stärken.“179
Das Streben des Sultans nach umfassender Kontrolle der bewaffneten Macht,
schränkte die Handlungsmöglichkeiten des preußischen Reformers deutlich ein, denn
176
Das Ergebnis dieser Erkundungen war ein kurze Abhandlung, die unter dem Titel „Die Streiter des
Halbmondes“ abgedruckt ist bei: Schmitterlöw, Bernhard von: Aus dem Leben des
Generalfeldmarschalls Freiherr von der Goltz-Pascha – Nach Briefen an seinen Freund, Berlin/Leipzig
1926, S. 95-104. (Im Folgenden: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926)
177
Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 114.
178
Ausführlich und geradezu enthusiastisch berichtet er beispielsweise über eine Generalstabsreise
nach Thessalien im Jahre 1894. Pertev, Demirhan: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der
Goltz – Das Lebensbild eines großen Soldaten – Aus meinen persönlichen Erinnerungen, Göttingen
1960, S. 25-28. (Im Folgenden: Pertev, Goltz Lebensbild 1960)
179
Zitiert nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 109.
52
Mittel für modernere Ausrüstung und umfangreiche Ausbildungsvorhaben der
Truppen wurden nur zögerlich oder überhaupt nicht bewilligt. Was für den
osmanischen Herrscher eine „sinnvolle Vorsichtsmaßnahme“ war, erschien dem
Freiherrn als „sträfliche Vernachlässigung“ eines wichtigen – oder gar des
wichtigsten – Instrumentes staatlicher Machtausübung. Dabei war Major von der
Goltz keineswegs der einzige, der die „Blockadehaltung“ des Sultans verurteilte,
denn
auf solcherlei Widerstände waren bereits die anderen preußischen Offiziere gestoßen.
Aber Goltz vertrat seine Auffassung ungleich energischer und scheute auch nicht
davor zurück, dem Sultan bis an den Rand einer öffentlichen Demütigung
entgegenzutreten. Bernhard von Schmitterlöw berichtet anekdotenhaft, Goltz habe im
Jahre 1886 dem Sultan den fertigen Entwurf einer neuen Armeeorganisation
vorgelegt und dafür einen Orden erhalten. Der Entwurf sei aber nicht umgesetzt
worden und so habe Goltz ihn ein zweites Mal eingereicht, woraufhin er als
Belohnung einen kostbaren Brilliantenschmuck für seine Frau bekam, der Entwurf
aber weiterhin ignoriert wurde. Der dritte Versuch brachte Goltz eine finanzielle
Anerkennung von 20.000 Francs (ca. 16 330 M) ein180, führte aber immer noch nicht
zur Umsetzung. Erst die vierte Vorlage beim Sultan habe schließlich den Herrscher
zu dem entnervten Ausspruch „Was will der Goltz denn nun noch haben?“ und
damit zu einem Umdenken veranlaßt.181 Wenn auch der geschilderte Ablauf – von der
wörtlichen Rede des Sultans ganz zu schweigen – kaum der Realität entspricht, so
zeigt dieses Beispiel doch, welche Spannungen Auftrag und Engagement der Preußen
verursachen konnten. Freiherr von der Goltz schaffte sich zudem weitere Feinde, als
er die ihm anvertrauten Militärschulen der Kontrolle eines vom Sultan beauftragten
Agenten entziehen wollte. Diese Affäre zog weite Kreise und Goltz konnte
schließlich nur durch die Drohung mit seinem Abschied aus der Armee die Oberhand
gewinnen.182 Kaehler, noch am 29. Juni 1882 zum preußischen Generalmajor
befördert, brachte die Dinge auf den Punkt, als er in einem Brief nach Deutschland
schrieb: „Ich glaube der Sultan hat uns gegenüber so etwas von dem Gefühle des
180
Schmitterlöw betont, daß Goltz diesen Betrag selbstverständlich einer wohltätigen Organisation
gespendet habe, was den Anekdotencharakter unterstreicht.
181
Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 116f.
182
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 56f.
53
Zauberlehrlings und würde heilfroh sein, wenn er die Preußen, die er rief, mit
Anstand wieder los werden könnte.“183
Am Ende ließ Abdul Hamid II. „seine gerufenen Preußen“ allerdings nicht ziehen.
Die Verträge der Reformer waren von Anfang an zeitlich befristet, in der Regel auf
drei Jahre, und mußten nach Ablauf der Frist neu verhandelt werden. Während des
gesamten Verbleibs im türkischen Dienst waren diese Offiziere von ihrer heimischen
Armee lediglich „zur Disposition (z.D.) gestellt“, das heißt, sie behielten ihren Rang
im preußischen Heer, ließen ihre Dienstgeschäfte jedoch ruhen und konnten nach
Ablauf des Vertrages mit der Hohen Pforte wieder bei vollem Anspruch auf die
früheren Bezüge und adäquate Verwendung in Deutschland dienen.184 Diese Praxis
sollte das Deutsche Reich auch in den kommenden Jahren und während des Ersten
Weltkrieges beibehalten, wenngleich in modifizierter Form. Für die deutschen
Offiziere bedeutete dies Verfahren eine Minimierung des Risikos, da ihnen ihre
Dienstposten und sogar ihre Gehälter sowie die Pensionsansprüche vom Dienstherrn
garantiert wurden. Außerdem war der finanzielle Anreiz, am Bosporus auszuhelfen,
beträchtlich. In den ersten Verträgen wurden Generalmajor Kaehler 30.000 Francs
(ca. 24.500 M) Jahresgehalt und zusätzliche Rationen zugesprochen, während seine
Offizierskameraden als preußische Majore z.D. immerhin mit 23.000 Francs (ca.
18.800 M) Gehalt rechnen konnten.185 Diese Summen waren erstaunlich, bedenkt
man, daß ein preußischer Stabsoffizier ohne Kommando um 1900 in der Heimat etwa
5.850 M bezog, von speziellen Zulagen abgesehen.186 Die komfortable finanzielle
183
Zitiert nach: Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 120. Zur Beförderung Kaehlers
siehe: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 43.
184
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 36.
185
Ebd., S. 44.
186
Die Einkommen der deutschen Offiziere waren in recht komplizierten Vorschriften und Gesetzen
geregelt. Vielen Offizieren standen neben dem „Grundgehalt“ noch weitere Zulagen, wie
beispielsweise Servisgelder, Wohnungsgeldzuschüsse oder Pferdegelder zu, die gemäß der
Vorschriften für den jeweiligen Offizier festgelegt wurden. Die genannte Summe ist ein
Annäherungswert für das Grundgehalt. Dennoch kann als sicher angesehen werden, daß die Offiziere,
die in die Türkei gingen, wesentlich mehr Geld vom Sultan erhielten als in ihren Funktionen im
Deutschen Reich. Eine Zusammenfassung der Bezüge von deutschen Offizieren um 1900 in: B., E. v.:
Das Diensteinkommen der Offiziere [aktiven, inaktiven und des Beurlaubtenstandes] im Frieden, Burg
1900. Die gesetzliche Grundlage und ausführliche Regelung der Bezüge sowie der Zulagen wird
geregelt im: Besoldungsgesetz vom 15. Juli 1909, in Reichs-Gesetzblatt 1909, Nr. 38, S. 573-661,
Berlin 1909. Eine anschauliche Darstellung der Reallohnentwicklung für einige Dienstgradgruppen
54
Ausstattung
der
Deutschen
in
Konstantinopel,
die
bei
den
jeweiligen
Neuverhandlungen sogar noch weiter ausgebaut wurde, bot reichlich Angriffspunkte
für Gegner der Reformer im türkischen Reich. Dort wurden die Beamten und
Offiziere, sogar jene des herrscherlichen Hofes, entweder unregelmäßig oder
bisweilen längere Zeit überhaupt nicht bezahlt.187 Da die Erfolge der Instrukteure auf
sich warten ließen, war vielen Türken zudem nicht ersichtlich, weshalb sich der
Sultan ein so teures „Spielzeug“ wie die Preußen leistete. Diese Einstellung mag
seltsam erscheinen, wenn man bedenkt, daß viele Reformvorhaben doch gerade auch
am türkischen Widerstand scheiterten, aber aus der Sicht der unterbezahlten
osmanischen Staatsdienerschaft sind Existenz- und Modernisierungsängste sicherlich
nachvollziehbar.
Die deutschen Offiziere nutzten zudem die Furcht des Sultans, die „wahren
Verhältnisse“ im Osmanischen Reich und in seiner Armee könnten bekannt werden,
für sich aus. Daher verband man Verhandlungen über die Verlängerung des Dienstes
in Konstantinopel stets mit der Forderung nach einer Gehaltserhöhung. Schon 1885
wurden die Bezüge Kaehlers auf 40.000 Francs (ca. 32.700 M) und die seiner
Begleiter (preußische Majore z.D.) auf 30.000 Francs (ca. 24.500 M) erhöht.188 Als
im Jahre 1888 allerdings die drei preußischen Offiziere Hobe, Ristow und
Kamphoevener,189 die mittlerweile zu türkischen Generälen avanciert waren, neue
nahezu exorbitante Forderungen stellten, intervenierte auch die deutsche Regierung,
um einen drohenden Prestigeverlust und den Eindruck der Geldgier zu verhindern.190
Der Sultan lehnte jedoch den angebotenen Austausch der Offiziere ab und einigte
sich schließlich mit den Militärs auf eine deutliche Gehaltserhöhung unter Wegfall
verschiedener Sonderleistungen.191 Daß solche Verhandlungen bald in der
deutscher Offiziere bei: Tippach, Thomas: Koblenz als preußische Garnison- und Festungsstadt –
Wirtschaft, Infrastruktur und Städtebau, Köln [u.a.] 2000, S. 268-271.
187
Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 102f.; Wallach, Anatomie einer Militärhilfe
1976, S. 71.
188
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 63.
189
Kaehler war im Jahre 1885 verstorben.
190
Kamphoevener forderte (inkl. außerordentlichen Zulagen) bis zu 60.000 Francs (ca. 49.000 M) von
der Hohen Pforte. Diese Forderung überschritt sogar das Gehalt des deutschen Kriegsministers
deutlich. Bismarck selbst war sehr erzürnt über dieses Verhalten. Trumpener, German Officers 1975,
S. 34.
191
Zu den Verhandlungen: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 69-72.
55
Konstantinopler Öffentlichkeit publik wurden und die preußischen Offiziere in ein
noch schlechteres Licht setzte, darf nicht verwundern.
Ein weiterer Bonus wurde den fremdländischen Beratern gewährt. Auch er sorgte für
einige Mißstimmungen. Mit Vertragsabschluß und Übertritt erhielten die preußischen
Offiziere einen um einen Dienstgrad höheren Rang in der Armee des Sultans. Der
preußische Oberst Kaehler wurde somit zunächst zum kaiserlich osmanischen
Brigadegeneral (Miri Liwa) befördert. Da ihn Wilhelm I. aber noch nachträglich als
preußischen Generalmajor zur Disposition stellte, erhielt er rasch den Rang eines
osmanischen Generalleutnants und wurde zudem zweiter gleichberechtigter Chef des
türkischen Generalstabes.192 Die Erhöhung des Dienstgrades war eine Forderung des
preußischen Militärkabinetts gewesen, das darin nicht nur eine Anerkennung des
höheren Ausbildungsstandes sah, sondern den entsandten Offizieren auch die mit dem
höheren Dienstgrad verbundenen Dienstposten und Wirkungsmöglichkeiten eröffnen
wollte. Diese Praxis wurde bis zum Ende des Ersten Weltkrieges beibehalten.
Weiter darf nicht unerwähnt bleiben, daß sich bereits vor der Jahrhundertwende erste
Anzeichen für „innerdeutsche Konflikte“ abzeichneten. Offenbar traute weder die
entsendende deutsche Regierung den Reformoffizieren vollkommen, noch bildeten
die Deutschen untereinander eine homogene Gemeinschaft. Schon kurz nach dem
Dienstantritt Kaehlers 1882 hatte Bismarck den preußischen Offizieren streng
untersagen lassen, sich in irgendeiner Art und Weise in die deutsch-türkische Politik
einzumischen, und anläßlich der oben erwähnten Gehaltsverhandlungen kam es zu
Verstimmungen zwischen dem deutschen Botschafter am Bosporus und den
preußischen Offizieren.193 Trotz des militärischen Auftrages der Reformer ließen sich
demnach die politischen Aspekte des preußischen Engagements nicht ausklammern.
Auch Goltz schrieb in einem Brief vom 8.6.1885:
192
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 43. Auch die Begleiter Kaehlers (eigentlich
preußische Hauptleute oder Rittmeister) wurden vom Kaiser befördert und als Majore zur Disposition
gestellt. In Verbindung mit der „Beförderung“ in der osmanischen Armee stiegen die Deutschen in
kürzester Zeit zwei Dienstgrade auf, was ein weiterer Anreiz für den Dienst am Bosporus gewesen sein
wird, da die Standzeiten in der preußischen Armee wesentlich länger waren.
193
Ebd., S. 45 und S. 70.
56
„Es zeigen sich in dieser Isolierung auf dem fremden Boden am deutschen Charakter
überhaupt mancherlei Seiten, die nicht angenehm sind, die aber die Palaistürken
scharf durchschauen und benutzen.“194
Tatsächlich konnten die politischen Gegner der preußischen Reformer diese
Differenzen nutzen, um die Reformvorhaben zu torpedieren.195 Nicht immer waren
die Differenzen mit persönlicher Antipathie zwischen den deutschen Offizieren
verbunden, da zumindest Kaehler in dem bereits zitierten Brief eine hohe Meinung
von Goltz erkennen läßt.196 In ihren Methoden und ihrer Dienstauffassung konnten
die Deutschen allerdings ihre ganz persönlichen Ansichten verfolgen, da eine
koordinierende und faktisch vorgesetzte Stelle vor Ort fehlte. Kaehler und nach
seinem Tode von der Goltz waren zwar dienstälter als die übrigen Preußen und mit
höheren Posten innerhalb der osmanischen Hierarchie ausgestattet, standen aber in
keinem direkten Vorgesetztenverhältnis. Die Reformoffiziere waren de jure
eigenständige Vertragsnehmer beim Sultan, obwohl sie im Deutschen Reich
weiterhin eine Stellung bekleideten und daher die „Wünsche“ des Kaisers oder der
deutschen Regierung, die sich der politischen Implikation dieser Konstellation
bewußt waren, nicht einfach ignorieren konnten.197 In ihrem Selbstverständnis
blieben die Offiziere ihrem Kriegsherrn, also dem deutschen Kaiser und preußischen
König verpflichtet. Sie sahen sich lediglich als an die Hohe Pforte abkommandiert
194
Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 110.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 54.
196
Siehe oben S. 53f.
197
Goltz traf zum Beispiel 1886 keine Anstalten, seinen Vertrag mit dem Sultan zu verlängern,
sondern wollte wieder nach Deutschland zurückkehren. Die Intervention des Sultans beim Kaiser hatte
jedoch eine Kabinettsorder zur Folge, die es als „allererwünschteste Lösung“ bezeichnete, wenn Goltz
in der Türkei bliebe, wozu sich Goltz dadurch genötigt sah. Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten
1932, S. 135.
Da ihm auch die dritte Vertragsverlängerung durch eine kaiserliche „Bitte“ praktisch „aufgezwungen“
wird, bemerkt Goltz in einem Brief von 1893 verärgert: „Ich versichere Dich, daß mein Hauptmotiv,
meine Stellung hier mit ihrem immerhin reichlichen Einkommen aufzugeben, das Gefühl gegen das
Vaterland war. Noch einmal werde ich aber künftig nicht mein und meiner Familie Existenz um eines
so idealen Grundes halber aufs Spiel setzen.“ Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S.
119. Grundsätzlich konnten zivile deutsche Stellen keine verbindlichen Weisungen an das Militär
erlassen. Aus den Briefen des Freiherrn von der Goltz spricht eine „moralische Verpflichtung“, die er
gegenüber seinem Vaterland, seinem Monarchen und dessen Repräsentanten gegenüber empfand.
Diese Einflußmöglichkeit der deutschen Reichsleitung auf die deutschen Offiziere in der Türkei blieb
auch während des Ersten Weltkrieges noch bestehen.
195
57
und tiefergehende Loyalitäten gegenüber dem Sultan als obersten Dienstherrn
empfanden sie nicht.198
Eine regelmäßige Berichterstattung nach Berlin gab es – wieder einmal mit der
Ausnahme des Freiherrn von der Goltz – nicht. Daher wundert es nicht, daß die
politisch Verantwortlichen auf Anfragen aus Konstantinopel zum Teil unangemessen
reagierten, indem sie auf den Eigenantrieb des Sultans verwiesen, der „irgendwann“
einsetzen werde.199
Die gehobene Dienststellung der deutschen Reformoffiziere sorgte zudem im
Umgang mit anderen deutschen Militärbehörden oder der Botschaft für Probleme. So
bestanden einige der Herren auch dann auf einer Behandlung gemäß ihrer Stellung im
türkischen Dienste, wenn sie als deutsche Offiziere zur Disposition keinen Anspruch
darauf erheben konnten. Neben kleineren, aber nicht minder skandalösen
Auseinandersetzungen über die Titulatur erlaubten sich einige deutsche Offiziere,
namentlich der türkische Marschall und Kavallerie-Instrukteur von Hobe, offen gegen
den deutschen Botschafter zu opponieren. Dieser hatte vorgeschlagen, eine
regelmäßige Berichterstattung einzuführen, die über den Schreibtisch des Generals
von der Goltz laufen sollte. Dieses Kontrollinstrument wurde durch von Hobe Pascha,
dessen Instrukteurs-Tätigkeit völlig ergebnislos blieb und der sich lieber eines
„bequemen Lebens“ bei Hofe erfreute, auf das schärfste kritisiert und schließlich
nahm der Streit derart heftige Formen an, daß Wilhelm II. 1894 die Abberufung von
Hobes verfügte. Diese Affäre war auch deswegen delikat, weil von österreichischer
Seite vermutet wurde, daß gegen von Hobe stichhaltige Korruptionsvorwürfe
vorgelegen
hätten.200
Sie
belegt
zudem
198
den
Anspruch
der
deutschen
Auch Colmar Freiherr von der Goltz Pascha sah den Kaiser weiterhin als seinen obersten
Dienstherren an, wenngleich er gegenüber seinen türkischen Kameraden und Untergebenen im Laufe
der Zeit eine echte Zuneigung entwickelte, zumal er ihm im eigenen Lande nicht die Achtung zuteil
wurde wie im Osmanischen Reich. Im Oktober 1914 schreibt Goltz an seinen Freund, den
osmanischen General Pertev Pascha, wie unzufrieden er mit dem Posten als Generalgouverneur von
Belgien sei. Brief von Goltz Pascha an Pertev Pascha, Brüssel 17.10.1914, BAMA Freiburg, N 737/11.
199
Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 120.
200
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 81-84. Ob diese Vorwürfe eine reale Grundlage
hatten, muß Spekulation bleiben. Hobe selbst gab die ungeklärten Vorgesetztenverhältnisse als Grund
für seine Intervention an. In Wirklichkeit fürchteten die Reformer aber, daß von der Goltz sie durch
eine zentrale Berichterstattung an den Kaiser über ihre – eher bescheidenen – Reformbemühungen in
Mißkredit bringen könnte. Ein weiteres Indiz dafür, wie entschieden sich der Freiherr für
Militärreformen im Osmanischen Reich einsetzte.
58
Militärangehörigen auf Autonomie besonders gegenüber zivilen Stellen.201 Solche
Stellen waren im Deutschen Reich gegenüber der bewaffneten Macht nicht
weisungsbefugt und trotz einer grundsätzlich anderen Ausgangssituation im
Osmanischen Reich war die Mehrzahl der Militärreformer nicht bereit, in Kleinasien
auf diese Sonderstellung zu verzichten, obschon die politisch-diplomatischen
Verflechtungen mit ihren Dienststellung gravierende sein konnten. Die ständigen
Bemühungen der Botschaft auf die Reformer Einfluß zu nehmen, führten stattdessen
zu einem gesteigerten Mißtrauen der militärischen Seite gegenüber den eigenen
Diplomaten.
Der Dienst der deutschen Reformoffiziere war demnach alles andere als eine einfache
Mission. Widerstände von türkischer Seite, Friktionen mit deutschen Stellen und die
schwierige Balance zwischen dem militärischen Auftrag und der internationalen
Politik, die jede mögliche Machtverschiebung zu Gunsten Deutschlands in Kleinasien
mit Argusaugen überwachte, waren stete Hindernisse auf dem Wege zu wirksamen
Reformen. Hinzu traten noch Unklarheiten im Auftrag, so daß den Offizieren zwar
wichtige militärische Aufgaben – wie etwa Kommandofunktionen – untersagt, ihnen
aber auch keine klaren Kompetenzen zuerkannt wurden. Die Stellung eines
„Militärberaters“ war eben nicht mit eindeutig definierten Befugnissen verbunden,
sondern die Handlungsmöglichkeiten waren nicht zuletzt vom persönlichen Einfluß
des Offiziers abhängig, der diesen Posten innehatte. So blieb die Wirksamkeit der
meisten preußischen Berater recht begrenzt. General Kamphoevener etwa, der durch
die hohen Gehaltsforderungen von sich reden gemacht hatte, blieb bis 1909, volle 27
Jahre, im Osmanischen Reich tätig, wurde vom Deutschen Kaiser nobilitiert und
erlangte sogar den Rang eines türkischen Marschalls. Spürbare Veränderungen in
seinem militärischen Reformbereich bewirkte er hingegen nicht.202
Goltz begründete die Erfolglosigkeit seiner Mitreformer folgendermaßen:
201
202
Siehe hierzu auch unten S. 116f.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 72.
59
„Die übrigen lieben Landsleute haben seinerzeit, als sie des Großherrn ganz sicher
waren, das ihrige getan, um sich durch hohlen Übermut aller Herzen zu
entfremden.“203
Der Freiherr war es auch, dem wohl noch am ehesten Erfolge beschieden waren.
Zwar vermochte auch er nur langsam etwas zu bewegen, aber seine schriftlichen
Leitfäden für die Militärschulen und seine ständigen Forderungen nach praktischer
Ausbildung wurden, wenngleich erst lange nach seinem offiziellen Ausscheiden aus
türkischen Diensten, allmählich umgesetzt. Noch wichtiger waren die persönlichen
Bindungen, die Goltz zum türkischen Offiziernachwuchs aufbaute. Viele der
damaligen Militärschüler, die später zu seinem engeren Stab gehörten, erreichten
hohe Posten in der osmanischen Armee und manche wurden Befehlshaber in den
Balkankriegen 1912/13.204 Der preußische Instrukteur erfreute sich offenbar bei
seinen Schülern und Untergebenen einer deutlich höheren Beliebtheit als bei seinen
vorgesetzten Stellen. Dennoch bildete sich um den späteren Generalfeldmarschall,
ähnlich seinem Vorgänger Moltke, ein Mythos, der noch Jahrzehnte später spürbar
war. So berichtet der spätere Generalmajor Back, der 1911 Leiter eines
Offizierübungslagers in der Türkei wurde:
„Wohl kein Ausländer hat jemals diesen Einfluß auf den Türken gewonnen, wie v.d.
Goltz.“205
Damit wird aber auch überdeutlich, daß von der Goltz eine Ausnahmeerscheinung
und kaum repräsentativ für die Leistungen der deutschen Offiziere in der Türkei war.
Am 12. Dezember 1895 verließ Goltz die Türkei und trat wieder in preußische
Dienste über.206
Nach dem Ausscheiden des wohl bekanntesten und energischsten deutschen Offiziers
aus türkischen Diensten folgte bis zum Ausbruch der Balkankriege noch eine ganze
203
Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 116.
Pertev, Goltz Lebensbild 1960, S. 17.
205
Bericht von Gen.maj. a.D. Back über die Tätigkeit der Mil.Miss. i.d.Türkei vor dem Weltkriege,
25.10.1920,BAMA Freiburg, RH 61/ 413, S. 4f. (Im Folgenden: RH 61/ 413, Bericht von Gen.maj.
a.D. Back.) Back wurde 1914 nach seiner Zeit in der türkischen Offizierausbildung zum preußischen
Oberst z.D. befördert und führte als osmanischer Generalmajor ein Armeekorps an den Dardanellen.
1917 kehrte er als Oberst und Brigadekommandeur in die preußische Armee zurück. MSg 2/3284,
Deutsche Offiziere in der Türkei, Blatt 6 u. Blatt 9.
206
Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 160.
204
60
Reihe weiterer Reformer, die an dieser Stelle nicht alle benannt werden können. Zu
keiner Zeit hielten sich jedoch viel mehr als 20 offiziell entsandte Preußen im
osmanischen Heer auf. Hinzu kamen einige aufgrund privater Initiative dienende
deutschstämmige Offiziere.207 Wie Freiherr von der Goltz berichtet, waren 25
deutsche Offiziere als Führer von sogenannten Offizier-Übungslagern und ModellRegimentern eingeplant.208 Der Erfolg dieser Offiziere scheint, nicht zuletzt in
Anbetracht der verheerenden Niederlage in den Balkankriegen, recht begrenzt
gewesen zu sein. Der k.u.k. Feldmarschall-Leutnant und Militärbevollmächtigte in
der Türkei Joseph Pomiankowski schreibt jedenfalls in seinen Erinnerungen, daß
diese deutschen Instrukteure keinerlei Einfluß auf Organisation, Ausbildung und
Kriegsvorbereitungen gehabt hätten.209 Damit wären die Militärberater für das
osmanische Desaster 1912/13 nicht verantwortlich gewesen, was allerdings nicht
verhinderte, daß sie zum Ziel internationaler Kritik wurden.210
Die begrenzten Einflußmöglichkeiten änderten sich nach der Absetzung des Sultans
Abdul Hamid II. kaum. Die Spannungen zwischen den effektiv herrschenden
türkischen Militärs und den „überbezahlten“ preußischen Beratern verschärften sich
eher noch. Der Ruf nach einem beschleunigten Abzug der Deutschen wurde laut.211
„Nach der Absetzung Abdul Hamids nahmen die türkischen Generale – mit geringen
Ausnahmen entweder vollständige militärische Laien, oder aber reine Theoretiker,
zum großen Teil zu alt oder krank – die Organisation und Ausbildung der Armee in
ihre Hände. Es waren zwar auch zirka 20 deutsche Instruktionsoffiziere vorhanden,
jedoch konnten diese unter der Führung der unfähigen, aber sehr selbstbewußten
207
Zur Entwicklung der Militärmission bis zur „Jungtürkischen Revolution“: Wallach, Anatomie einer
Militärhilfe 1976, S. 85-90.
208
Colmar Freiherr von der Goltz, Winke für die in den türkischen Dienst als Instrukteure
übertretenden Offiziere, Vertraulich, Konstantinopel August 1909, BAMA Freiburg N 155/3, (hier
Blatt 62). Abgedruckt in ANHANG A [S.418f.]. (Im Folgenden: Goltz, Winke 1909.) Besonders
bemerkenswert ist die Tatsache, daß einige der eingeplanten Offiziere auch im Ersten Weltkrieg noch
in der Türkei tätig waren, wie etwa der bayerische Major von Lossow sowie die preußischen Majore
Bischof und Back.
209
Pomiankowski, Joseph: Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches – Erinnerungen an die
Türkei aus der Zeit des Weltkrieges, Wien (u.a.) 1928, S. 32. (Im Folgenden: Pomiankowski, Der
Zusammenbruch 1928.)
210
Siehe unten, S. 73-75.
211
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 87f.
61
türkischen Generale nichts durchsetzen. Die wichtigsten Entschlüsse und Absichten
wurden übrigens vor den Deutschen geheimgehalten.“212
Viele der älteren deutschen Offiziere verließen kurz nach der endgültigen Absetzung
des Sultans 1909 die Türkei, unter ihnen auch der mehrmals erwähnte und schließlich
zum türkischen Marschall beförderte Kamphoevener.213 Diese Entwicklung kam den
neuen türkischen Machthabern nicht ungelegen, konnten sie doch endlich die
„erfolglosen Kostenverursacher“ los werden. Schon vor dem Ende des hamidischen
Regimes waren Verhandlungen mit Berlin mit dem Ziel geführt worden, etwa ein
Dutzend jüngere deutsche Offiziere als Ersatz für die mittlerweile hochrangigen
Preußen in Konstantinopel zu erhalten. Interessanterweise fiel hierbei wieder der
Name des Freiherrn von der Goltz. Er sollte die offizielle Mission anführen.214
Obwohl die revolutionären Vorgänge 1909 die Planungen weitgehend zunichte
machten, blieben die Militärs am Bosporus bei ihrer Bitte um die Hilfe des
zwischenzeitlich zum preußischen Generalobersten beförderten von der Goltz.
Tatsächlich reiste dieser mit Zustimmung des Kaisers schon im Juli 1909 in die
Türkei. Allerdings war sein Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer und glich eher einer
Inspektionsreise, zumal er keinen Anstellungsvertrag mit dem neuen Sultan abschloß.
Während seines ersten Aufenthaltes 1909 stellt Goltz allerhand Mißstände in der
Armee fest, die immer noch nicht abgestellt waren. Er forderte energisch deren
Behebung und die Abhaltung größerer Manöver, um die Einsatzbereitschaft der
revolutionsgeschüttelten Truppen gewährleisten zu können. Dabei kam ihm der
Umstand zu Hilfe, daß drei der höchsten Funktionsträger in der Armee, unter ihnen
auch der Kriegsminister, seine ehemaligen Offizierschüler waren. So konnte er in den
Jahren 1909 und 1910 anläßlich weiterer Kurzaufenthalte in der Türkei wirklich
einige Manöver abhalten, während er bei organisatorischen Fragen weiterhin auf
Widerstände stieß. Diese Phase erhöhter Aktivität im osmanischen Heer endete schon
bald mit dem Angriff Italiens auf die tripolitanischen Besitzungen der Hohen
Pforte.215
212
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 33.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 99.
214
Ebd., S. 94.
215
Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 313-319.
213
62
Drei weitere wesentliche Entwicklungen der Zeit bis zu den Balkankriegen (1912/13)
sollen hier noch erwähnt werden.
Da ist zuerst an die Tatsache zu erinnern, daß nach der „jungtürkischen Revolution“
erstmals auch Offiziere aus süddeutschen Bundesstaaten offiziell in die Türkei
entsandt wurden. Trotz Bedenken und offenbar auch Widerstandes auf preußischer
Seite erreichte der bayerische Major Otto von Lossow 1910 seine Anstellung in
Konstantinopel.216
Lossow
sollte
in
den
kommenden
Jahren
an
den
Kampfhandlungen auf dem Balkan teilnehmen, wo er erstmals nach der langen Zeit
der deutschen Reformbemühungen die Entwicklungen in der osmanischen
Streitmacht unter Kriegsbedingungen beobachten und vor allem über sie berichten
konnte. Außerdem wurde Lossow 1915 zum deutschen Militärattaché und im April
1916 zum Militärbevollmächtigten in Konstantinopel ernannt und konnte dadurch
während des Ersten Weltkrieges einen nicht geringen Einfluß auf die deutschen
Offiziere im Osmanischen Reich ausüben. Ihm folgten weitere Offiziere, unter denen
der bayerische Oberleutnant Franz Carl Endres und der preußische Leutnant Hans
Rohde hervorzuheben sind. Beide berichteten als Schriftsteller über die türkischen
Verhältnisse.217 Auch für die süddeutschen Offiziere galten im übrigen die
Vertragsbedingungen, die schon Oberst Kaehler 1882 ausgehandelt hatte:
Beibehaltung des Dienstgrades in der jeweiligen deutschen Armee, Erhöhung des
Dienstgrades und direkte Anstellung durch den Sultan.218
Zum zweiten ist von Bedeutung, daß der deutsche Einfluß auf die türkische Marine
verhältnismäßig gering blieb. Zwar befand sich seit 1884 der deutsche
Korvettenkapitän und türkische Konteradmiral Starke als Marineberater in der
Türkei, gewichtige Ergebnisse seines Aufenthaltes sind jedoch nicht bekannt. Starke
verließ 1891 die Türkei und wurde Anfang 1892 durch den Korvettenkapitän und
späteren türkischen Admiral Kalau vom Hofe ersetzt. Auch dessen Einfluß blieb
gering; er machte eher durch Zerwürfnisse mit dem türkischen Marineminister und
durch Fehlplanungen bei Marinegeschäften mit den deutschen Werften in Kiel von
216
Da die Anfrage aus der Türkei durch vorherige private Initiative Lossows entstand, kann hier
durchaus von „erreichen“ gesprochen werden. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 26.
217
Offiziere: Trumpener, German Officers 1975, S. 35f. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 66.
218
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 30f. Es kann allerdings davon ausgegangen werden,
daß schon aufgrund der niedrigeren Dienstgrade der erwähnten Offiziere die Bezahlung durch den
Sultan wesentlich moderater ausfiel als bei den Offizieren um den Preußen Kaehler.
63
sich reden.219 Die wenig fruchtbaren Ansätze einer Zusammenarbeit mit der
kaiserlichen Marine hat die türkische Regierung 1908 dazu veranlaßt, Großbritannien
um Hilfe bei der Reorganisation der Marine zu bitten. Dieser Bitte kamen die Briten
ab 1909 mit insgesamt drei aufeinanderfolgenden Marinemissionen unter den
Admiralen Gamble (1909-1910), Williams (1910-1912) und Limpus (1912-1914)
nach, wodurch der Einfluß der Deutschen weitgehend auf die Einfädelung von
Rüstungslieferungen beschränkt wurde.220
Schließlich darf zum dritten nicht vergessen werden, daß nicht nur deutsche Offiziere
ins Osmanische Reich gingen, sondern auch türkische Offiziere in das Deutsche
Reich reisten, um dort ausgebildet zu werden. Schon 1882 hatte der Sultan diesen
Austausch angeregt und nach längerer Beratung stimmte Berlin der Entsendung
türkischer Offiziere zu. Dennoch blieben stets Bedenken, daß politische
Verwicklungen entstehen könnten, wenn Preußen – in dessen Armee wurden die
Türken praktisch exklusiv entsandt – offiziell die Ausbildung übernahm. Diese
Befürchtungen verhinderten eine intensive Ausbildung einer größeren Anzahl
türkischer Soldaten.221
Dennoch wurde der Austausch zwischen beiden Armeen in den Jahren von 1895 bis
1908 weiter intensiviert und neben Offizieren sollten künftig türkische Unteroffiziere
in das Ausbildungsprogramm einbezogen werden. Auch diese Vertiefung der
Beziehungen wurde durch die Sorge der Deutschen vor einem Verlust des
„moralischen Wertes“ der Truppe im Falle einer engeren Einbindung der türkischen
Armeeangehörigen behindert.222 Die Ausbildung selbst reichte offenbar von
„Anschauungsreisen“, die einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit der deutschen
Streitkräfte und der Industrie vermitteln sollten, bis hin zu praktischer Ausbildung in
219
Zu Starke und Kalau vom Hofe siehe: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 58f. und 102104.
220
Rooney, Chris B.: The International Significance of British Naval Missions to the Ottoman Empire,
1908-1914, in: Middle Eastern Studies, Vol. 34, no. 1, Abingdon 1998. Zitiert nach der OnlineAusgabe: http://www.library.cornell.edu/colldev/mideast/ottus.htm (Stand: 18.09.2006.)
221
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 60f.
222
Schulte, Bernd F. : Vor dem Kriegsausbruch 1914 – Deutschland, die Türkei und der Balkan,
Düsseldorf 1980, S. 22. (Im Folgenden: Schulte, Vor dem Kriegsausbruch 1980.)
64
technisch
anspruchsvollen
Militärbereichen,
wie
der
Ausbildung
zum
Artillerieoffizier.223
Sogar Enver Pascha, der nach dem „jungtürkischen Handstreich“ auf die Hohe Pforte
1913 zum osmanischen Kriegsminister und 1914 zum Vizegeneralissimus224
avancieren sollte, diente in den Jahren 1909-1911 als Militärattaché in Berlin, bis er
zur Teilnahme am türkisch-italienischen Kriege nach Tripolis abreiste.225 Wie sich
später noch zeigen wird, war diese Zeit im Urteil der deutschen Offiziere für seine
militärische Bildung wenig fruchtbar.
II.2. Die Entwicklung zum deutsch-türkischen Bündnis (1912/13-1914)
a) Die Balkankriege 1912/13 als „Generalprobe“ für die deutschen Offiziere
Wie bereits angeklungen ist, stellten die kriegerischen Auseinandersetzungen des
Osmanischen Reiches mit den Balkanstaaten das deutsch-türkische Verhältnis auf
eine harte Probe. Das beruhte zum einen auf der offiziellen Neutralität des Deutschen
Reiches, die schon im türkisch-italienischen Kriege für Enttäuschung in
Konstantinopel sorgte, hatte die Hohe Pforte doch die vage Erwartung gehabt, daß
Deutschland aufgrund der militärischen Beratungstätigkeit und besonders nach der
Vermittlerrolle im Zuge der Orientkrise der 1870er Jahre zugunsten des Osmanischen
Reiches eingreifen würde. Zum anderen waren sich die meisten Presseorgane und
ganz besonders diejenigen der späteren Ententemächte einig, daß die deutschen
Reformer in den letzten gut 30 Jahren nichts erreicht hätten.226 Eine Einschätzung, die
reformkritische Kreise in Konstantinopel teilten.
223
Ebd., S. 23. Zum Dienst türkischer Offiziere in Deutschland auch in der Marine siehe: Römer,
Matthias: Die deutsche und englische Militärhilfe für das Osmanische Reich 1908-1914, Frankfurt am
Main (u.a.) 2007, S. 168-180. (Im Folgenden: Römer, Militärhilfe 2007.) Für die preußische Armee
lassen sich im Zeitraum von 1884-1915 154 türkische „Offizieren à la suite“ nachweisen. Römer,
Militärhilfe 2007, S. 386-391. Für die übrigen deutschen Kontingente liegen keine Zahlenangaben vor.
224
Offiziell lag der Oberbefehl über die osmanischen Truppen beim Sultan Mehmed V. Allerdings war
dieser politisch so schwach, daß der effektive Oberbefehl beim Vizegeneralissmus (stellv.
Oberbefehlshaber) Enver Pascha lag, der diesen Titel am 21.10.1914 erhielt. Pomiankowski, Der
Zusammenbruch 1928, S. 88.
225
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 287. Mühlmann, Carl: Enver Pascha, in: Deutsche
Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften (Hrsg.): Heerführer des Weltkrieges, Berlin
1939, S. 143.
226
Schulte, Vor dem Kriegsausbruch 1980, S. 28.
65
Diese kritische Bewertung soll im Folgenden überprüft werden; Grundlage dafür sind
die Berichte der wenigen deutschen Offiziere, die an den Kampfhandlungen aktiv
teilnehmen konnten und die Kooperation mit den türkischen Truppen bewerteten.
Auch während der Balkankriege arbeiteten deutsche Offiziere an der Reorganisation
der türkischen Militärausbildung und insbesondere des Heerwesens. Allerdings war
diese Tätigkeit weiterhin auf den Großraum Konstantinopel konzentriert. Die
Deutschen dienten als Instrukteure in Modelleinheiten, als Lehrer an den wenigen
Truppen- und Offizierschulen oder als Berater im Kriegsministerium. Einige
Offiziere drängten jedoch darauf, an der Front ein Kommando zu bekommen, um
Kriegserfahrungen zu sammeln. Immerhin hatte das Deutsche Reich seit 1871 keinen
großen Krieg mehr ausgefochten.227 Bedenken gegen einen solches direktes
Engagement wurden vor allem in Berlin geäußert. Der Einsatz deutscher Offiziere in
türkischen Einheiten konnte von den übrigen Großmächten propagandistisch als
offizielles Engagement zugunsten des Osmanischen Reiches gewertet werden, ein
Eindruck, den Deutschland auf jeden Fall vermeiden wollte. Zudem glaubte die
militärische Führung im Deutschen Reich nach den bisherigen begrenzten Erfolgen
der Militärberater nicht an deren wirklich effektiven Einsatz in Feldformationen auf
dem Balkan, da die Türken sicher dafür sorgen würden, daß der Einfluß auf die
Kriegführung möglichst gering bliebe.228
Als Lösung dieser Probleme sahen die leitenden Stellen im Deutschen Reich die
Annahme der türkischen Staatsangehörigkeit durch die teilnehmenden Offiziere an.
227
Es gab zwar besonders in Afrika einige kriegerische Auseinandersetzungen mit der indigenen
Bevölkerung der deutschen Kolonien. Die Eigenart solcher „Kolonialkriege“ wie auch die relativ
geringe Beteiligung deutschstämmiger Truppen machen solche Kriegserfahrung aber keinesfalls
repräsentativ für den Leistungsstand der deutschen Armeen. Generell sind diese Kämpfe auch nicht mit
Kriegen unter europäischen Großmächten und souveränen Staaten zu vergleichen. Einführend zu den
Auseinandersetzungen in Afrika siehe: Pesek, Michael: Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika –
Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt am Main 2005. Becker, Felicitas/Beez,
Jigal (Hrsg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905-1907, Berlin 2005. Kriegsgeschichtliche
Abteilung I des Großen Generalstabes (Bearb.): Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika,
Erster Band: Der Feldzug gegen die Hereros, Berlin 1906. Ders.: Die Kämpfe der deutschen Truppen
in Südwestafrika, Zweiter Band: Der Hottentottenkrieg, Berlin 1907. Nuhn, Walter: Sturm über
Südwest – Der Hereroaufstand von 1904 - Ein düsteres Kapitel der deutschen kolonialen
Vergangenheit Namibias, Augsburg 2002.
228
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 114f. Daß die deutsche Seite selbst durch die
unpräzise Auftragsformulierung und unkoordinierte Strukturen nicht unerheblich zum mangelnden
Erfolg der Reformer in Konstantinopel beigetragen hatte, blieb unberücksichtigt.
66
Diese sehr vordergündige Vorgehensweise schützte nicht gegen propagandistische
Vorwürfe, genügte jedoch formalen Anforderungen der Diplomatie und erlaubte der
Hohen Pforte das deutsche Engagement etwa gegenüber England und Russland
abzuwiegeln.229 In der Tat machte die Hohe Pforte die Annahme der türkischen
Staatsangehörigkeit sogar zur Bedingung für eine Frontverwendung. Einige Offiziere
waren bereit, diese Forderung zu erfüllen, ließen sich aber von deutscher Seite
zusichern, nach Beendigung des Krieges wieder in den jeweiligen deutschen
Bundesstaat und seine Streitmacht übertreten zu können.230
Die Offiziere aus den süddeutschen Staaten waren offenbar besonders bemüht, an den
Balkankriegen teilzunehmen. Vor allem galt dies für die beiden bereits erwähnten
Bayern Otto von Lossow und Franz Carl Endres sowie für den KavallerieOberleutnant Kaspar Graf von Preysing-Lichtenegg-Moos, der aber schon Ende
November 1912 die Türkei wieder verlassen mußte.231 So konnten speziell die
bayerischen Armeeangehörigen mit den preußischen gleichziehen, die ebenfalls drei
Offiziere auf den Kriegsschauplatz entsenden durften.232
Einigen deutschen Offizieren war somit vergönnt, erste Kriegserfahrungen mit der
osmanischen Truppe zu sammeln. Lossow diente zunächst im Stab der osmanischen
„Ostarmee“, die in mehreren Kämpfen vom 22. Oktober bis zum 1. November 1912
vernichtend geschlagen wurde, und erhielt danach das Kommando über eine
osmanische Division, die allerdings kaum zum Kampfeinsatz kam, während Endres
im Stab des späteren Kriegsministers Izzet Pascha Dienst tat.233 Die jeweiligen
229
Auf ähnlich durchschaubare, aber formal offenkundig ausreichende Art und Weise vollzog das
Osmanische Reich 1914 den Ankauf der beiden Schiffe der deutschen „Mittelmeer-Division“. Siehe
unten, S. 95-97.
230
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 116 schildert die türkische Forderung als
Vorsichtsmaßnahme gegen den möglichen Abzug der deutschen Offiziere während der laufenden
Kämpfe. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 38 sieht in der türkischen Maßnahme einen
weitergehenden Schritt gegen jedwede unliebsame Einmischung des Deutschen Reiches. Die
Erfahrungen der deutschen Soldaten untermauern diese Ansicht.
231
Graf von Preysing-Lichtenegg-Moos hatte sich auf abenteuerliche Weise selbst der türkischen
Armee zur Verfügung gestellt und besaß damit nicht offiziellen Charakter wie seine Kameraden. Die
türkischen Befehlshaber entledigten sich daraufhin zügig des „Abenteurers“. Unger, Bayerische
Militärbeziehungen 2003, S. 43. Kurzbiographien zu diesem und Carl Endres: Ebd., S. 247f. und S.
241f.
232
Ebd., S. 39. Die Namen der preußischen Offiziere finden sich bei: Wallach, Anatomie einer
Militärhilfe 1976, S. 117.
233
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 41f.
67
Erfahrungsberichte waren bei allen deutschen Kriegsministerien und Generalstäben
gefragt und wurden zwischen den Bundesstaaten ausgetauscht.234 Eine private
Veröffentlichung von Kriegserfahrungen wurde hingegen schon vorher untersagt:
„[...] Abgesehen davon, daß es uns nichts nützt, fremden Heeren ihre Fehler zum
Bewußtsein zu bringen, ungünstige Beurteilungen auch nicht zur Besserung unserer
Beziehungen zu ihnen beitragen, wird auf jeden Fall und zwar auch durch günstige
Besprechungen auf die stattgehabte Beobachtung aufmerksam gemacht, und die
Folge ist die Erschwerung künftiger Beobachtungen.“235
Die meisten der überlieferten Erfahrungsberichte an die vorgesetzten Stellen stammen
von Otto von Lossow, was um so interessanter ist, als eben dieser später als
Militärattaché in der Türkei Verwendung finden sollte. Die Berichte und Aussagen
des bayerischen Majors über die türkischen Leistungen müssen als „wenig
schmeichelhaft“ charakterisiert werden. In praktisch jedem Schriftstück, das nicht
ausschließlich mit Waffenwirkung oder ähnlichen, eher technischen Fragen zu tun
hat, beschreibt er die osmanischen Truppen als unzureichend ausgerüstet und
ausgebildet. Die Offiziere seien unfähig und vor allem unwillig, die Soldaten richtig
zu führen, zudem leisteten einige von ihnen ständig mehr oder weniger offenen
Widerstand gegen Befehle, die von ihm als Deutschem in osmanischer Uniform
kämen.236 Als Beispiel sei sein streng vertraulicher Bericht über ein Gefecht bei
Ormanli am 18., 19. und 20. November 1912 angeführt.
Er kritisiert hier, daß die türkischen Befehlshaber keinen Überblick über die
Truppenbewegungen gehabt hätten. Dadurch wären die ohnehin erschöpften und
zusammengewürfelten Verbände auf dem Weg zu ihren Einsatzräumen unnötig
umhergeschickt worden. Der einzige Effekt sei somit eine weitere Verschlechterung
der Einsatzbereitschaft der Truppen gewesen.237
234
Schreiben Nr. 24829 des Kriegsministeriums in München an den bayerischen Generalstab und den
preußischen Attaché in München vom 6.11.1912, KA München, MKr. 986.
235
Schreiben des Kriegsministeriums in München an sämtliche unmittelbar berichtenden Stellen. No.
2457 vom 16. Februar 1912, KA München, MKr. 986.
236
Diese Einschätzung des Widerstandes gegen deutschen Einfluß in der osmanischen
Kommandostruktur dient im Rahmen der Überlegungen zu einer Militärmission ebenfalls, um die
Notwendigkeit eines besonders weitgehenden Engagements im osmanischen Reich zu unterstreichen.
Siehe unten, S. 73-78.
237
Bericht des kaiserlich osmanischen Oberstleutnants und königlich bayerischen Majors v. Lossow
über ein Gefecht im Balkankrieg 1912 gegen die Bulgaren, S. 2, KA München, MKr. 986.
68
Außerdem waren die Kommunikationsverbindungen völlig unzureichend, da das
Personal der Telegraphenstationen größtenteils vor den Kämpfen geflohen war.
Telefonverbindungen mit höheren Kommandostellen konnten nur gewährleistet
werden, wenn die Stationen durch Marinesoldaten besetzt waren. Ansonsten mußte
auf Meldereiter zurückgegriffen werden. Allerdings versagten diese völlig, denn um
einen schriftlichen Befehl über eine Distanz von 6 km zu befördern, hätten die Reiter
9 Stunden benötigt.238 Wenn ein Befehl eines vorgesetzten türkischen Offiziers dann
tatsächlich einmal Lossow erreicht habe, so sei er oft „unbrauchbar“ gewesen, da
wichtige Angaben, wie etwa die Abgangszeit, fehlten.239
In Ermangelung ausreichender Feldartillerie und begünstigt durch die Küstennähe des
Gefechtsfeldes wurde Lossow – so fügte er kritisch an – als Feuerunterstützung das
türkische Linienschiff „Torgut Reis“ (früher die deutsche „S.M.S. Weißenburg“)
zugewiesen. Allerdings meldet ihm der Kommandanten des Schiffes, keinen
Signaltrupp zur Verfügung stellen zu können. Eine sachdienliche Kommunikation mit
dem Kriegsschiff oder gar eine wirksame Feuerleitung war dadurch nicht möglich.
Der bayerische Offizier bemerkt dazu: „Kaum glaublich!! Wahrscheinlich nur eine
faule Ausrede. Indolenz u. Verständnislosigkeit.“240
Aufgrund seines scharfen Protestes wird ihm vom osmanischen Armeehauptquartier
empfohlen, durch Schwenken einer Fahne das Signal zum Feuern an das Schiff zu
übermitteln. Die Unwirksamkeit eines solchen Verfahrens liegt auf der Hand.
Verschlimmert wurde die Situation dadurch, daß die „Torgut Reis“ in den
kommenden Tagen die Feuerunterstützung der Heeresverbände einstellte, als der
Kommandant glaubte, seiner Pflicht genüge getan zu haben. Dabei spielte der Stand
der Kampfhandlungen zu Lande offenbar keine Rolle. Lossow bestand deshalb
energisch auf der Entsendung eines Signaltrupps, der ihm tatsächlich kurz vor dem
Ende der Kämpfe auch zur Verfügung gestellt wurde. Jedoch nutzten die Soldaten des
Trupps die Umstände des letzten Kampftages, um sich abzusetzen, worauf Lossow
frustriert schreibt:
238
Bericht des kaiserlich. osmanischen Oberstleutnants und königlich bayerischen Majors v. Lossow
über ein Gefecht im Balkankrieg 1912 gegen die Bulgaren, S. 7f., KA München, MKr. 986.
239
Lossow kritisiert hier insbesondere den General Pertev Pascha, der ein Schüler des Freiherrn von
der Goltz war und –wie Lossow selbst bemerkt – „als der befähigste und gebildeste der türkischen
Generalstabsmänner“ galt. Ebd., S. 30f.
240
Ebd., S. 3.
69
„Eine gemeine Feigheit! Es bedurfte an den Gefechtstagen und ebenso später der
größten Energie und der gröbsten Mittel, um das aktive und passive Wiederstreben
[sic] der Flotte zu überwinden, sich meinem Befehl d.h. dem Befehl eines
Landoffiziers zu fügen!“241
Die Kämpfe endeten schließlich mit einem Rückzug der osmanischen Truppen.
Neben den beschriebenen Mißständen geht aus dem Bericht hervor, daß der
Ausbildungsstand der Offiziere und Mannschaften – offenbar nicht nur nach
deutschem Maßstab – mangelhaft war. Die Mannschaften hätten zum großen Teil vor
dem Kriege noch nie einen scharfen Schuß abgefeuert und die Offiziere wären nicht
einmal in der Lage gewesen, die Truppen zum raschen Beziehen von Stellungen zu
bewegen, von effektiven Angriffsbewegungen ganz zu schweigen.242 Um dieses
desolate Bild abzurunden, liegt dem Bericht in Anlage die Übersetzung der
Schilderungen eines türkischen Arztes bei. So seien dem ganzen Detachement, das
praktisch Divisionsumfang besaß, nur ein Arzt und ein Apotheker zugeteilt gewesen.
Der Apotheker sei zudem an Dysenterie erkrankt und direkt am ersten Tag ins
Lazarett gebracht worden. Das Sanitätspersonal bestand aus 15 Mann, die kaum über
Medizin und Verbandmaterial verfügten. Krankentragen fehlten. Ähnliche Zustände
beschreibt der Chefarzt der Sanitätskompanie der Denisli-Division in einem
geheimen Bericht.243
Der Eindruck ist verheerend und Lossow läßt auch in der Folge keine Gelegenheit
aus, um diese persönliche Einschätzung bei den höchsten Stellen im Deutschen Reich
publik zu machen.
Andere deutsche Offiziere, die an den Balkankriegen aktiv teilnehmen konnten, teilen
Lossows negatives Urteil über die militärische Leistungsfähigkeit der Türkei.
Die Auswirkungen des Mangels an Kommunikationsmitteln erlebte beispielsweise
der preußische Major Veith.244 In seinem Bericht über die „Ursachen der türkischen
241
Ebd., S. 30.
Bericht des kaiserlich. osmanischen Oberstleutnants und königlich bayerischen Majors v. Lossow
über ein Gefecht im Balkankrieg 1912 gegen die Bulgaren, S. 38 u. 40, KA München, MKr. 986.
243
Bericht des Chefarztes der Sanitätskompagnie der Denisli-Division, Kara Burnu 23.1.1913,
Geheim, KA München, MKr. 986.
244
Nach Angaben im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg handelt es sich um den preußischen Major
Veit (hier ohne „h“ geschrieben), der zuvor stellvertretender Kommandeur des Dragoner Regiments
von Wedel (Pommersches) Nr. 11 war. Von 1909-1912 hielt er sich als Kavallerie-Kommandeur und
osmanischer Oberstleutnant in Konstantinopel auf. Vgl. hierzu: MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der
242
70
Niederlage nach meinen Erfahrungen bei der Kavallerie Division Salih Pascha“ vom
10. November 1912 beklagt er das Fehlen sowohl telegraphischer Leitungen als auch
die völlige Desorganisation des Meldereiterwesens, was zu völliger Verwirrung auf
dem Schlachtfeld geführt habe.245 Die osmanische Führung charakterisiert er wie
folgt: „Der türkische Truppenoffizier ist zu alt, der Generalstab zu jung. Der
Generalstab ist bei der Truppe nicht geachtet, jedoch gefürchtet wegen seiner
politischen Einflüsse und Bestrebungen und seiner Arroganz.“246
Der bereits erwähnte „Abenteurer“ Oberleutnant Graf von Preysing schreibt in einem
Brief nach Bayern, daß nicht etwa die bulgarische Armee, sondern der Hunger die
türkische Niederlage bewirkt habe.247 Und vollkommen resigniert berichtet der
bayerische Hauptmann und osmanische Major Endres im September an das
Kriegsministerium in München:
„Allgemeine Lehren, die von Wirkung auf unsere Gesamtlehre sein könnten aus dem
Kriege zu ziehen, wird ein vergebliches Unternehmen sein. Der Krieg ist im Grossen
und Ganzen aus naheliegenden Gründen nicht lehrhaft gewesen. Die türkische Armee
war so wenig geeignet zu einer operativen Offensive, dass sie eigentlich in erster
Linie an sich selbst zu Grunde ging. [...] Endlich haben noch Klima und Boden, Natur
der Menschen und politische Verhältnisse Grundlagen geschaffen, wie sie in einem
deutsch-französischen Kriege wohl nicht vorkommen werden. [...]“248
Nur sehr vereinzelt tauchen auch anerkennende Urteile über die osmanischen
Streitkräfte auf. Der damalige türkische Oberst Back – zu diesem Zeitpunkt für die
Türkei, Blatt 6. Rangliste der Königlich Preußischen Armee und des XIII. (Königlich
Württembergischen) Armeekorps für 1909, Berlin 1909, S. 356. (Im Folgenden: Rangliste 1909.)
Deutscher Offizier-Bund (Hrsg.): Ehren-Rangliste des ehemaligen Deutschen Heeres – Auf Grund der
Ranglisten von 1914 mit den inzwischen eingetretenen Veränderungen, Bd. 1, (Neudruck der Ausgabe
Berlin 1926) Osnabrück 1987, S. 453. (Im Folgenden: Ehren-Rangliste 1914, Bd. 1.)
245
Ursachen der türkischen Niederlage nach meinen Erfahrungen bei der Kavallerie Division Salih
Pascha, Bericht des Majors Veith vom 10.11.1912, BAMA Freiburg, W 10/ 50321, S. 1f. (Im
Folgenden: W 10/ 50321, Bericht des Majors Veith.)
246
Ebd., S. 4.
247
Brief des Oberleutnants a.D. Graf von Preysing an den Kommandeur des bayr. 7. Chevauleger
Regiments vom 8.11.1912, BAMA Freiburg, W 10/ 50321, S. 2. (Im Folgenden: W 10/ 5321, Brief des
Oberleutnant a.D. Graf von Preysing.)
248
Ein Abdruck des Schreibens ist zu finden im: Schreiben Nr.1024K. Chef des Generalstabes der
Armee an den bayr. Militär-Bevollmächtigten GenMaj. Wenninger, Berlin den 1.Juli 1913, KA
München, MKr. 986.
71
Ausbildung türkischer Offiziere verantwortlich249 – schreibt: „Die Leistungen waren
unter den schwierigen Verhältnissen gute. Die Offiziere waren zwar unbeholfen aber
aufopferungsfähig. Sie bedurften natürlich immer eines gewissen Drucks und der
Kontrolle.“250 Und Graf von Preysing ist der Ansicht, man könne mit den türkischen
Soldaten die Welt erobern, immer vorausgesetzt, sie würden von deutschen
Offizieren geführt und von deutscher Intendantur versorgt.251
Diese
Aussagen
mögen
zum
einen
den
persönlichen
Erfahrungshorizont
widerspiegeln, denn Back war Ausbilder der türkischen Offiziere, die dort kämpften
und kam nicht in eine Frontverwendung, kannte daher die „wirklichen Verhältnisse“
nur bedingt. Andererseits konnte er schlechterdings kaum eingestehen, daß seine
Ausbildung versagt hätte, sondern die „widrigen Umstände“ und „Charakterfehler der
Türken allgemein“ mußten als Ursachen herhalten. Ähnlich argumentiert Graf
Preysing in dem Bericht an seinen Regimentskommandeur. In seiner Verwendung als
Führer berittener Patrouillen dürfte er kaum in Kämpfe größeren Ausmaßes
verwickelt gewesen sein.252 Allerdings deutet der Verweis auf die Notwendigkeit
deutscher Führung auf eine Empfehlung für die eigene Person hin. Nach dem
eigenständigen Übertritt in osmanische Dienste hätte eine Entsendung als offizieller
Militärberater für Preysing eine materiell reizvolle und prestigeträchtigere
Perspektive geboten.253
In diesen nicht völlig negativen Urteilen zeichnen sich bereits maßgebende
Einschätzungen der deutschen Offiziere ab, wenn es um Lehren aus den
Balkankriegen geht. Das sind zum einen Lehren für die moderne Kriegführung, die
Lossow im Gegensatz zu Endres sehr wohl aus den Kämpfen zu ziehen vermag. Er
meint damit Beobachtungen über Geschoß- und Waffenwirkung sowie über die
249
Siehe zu Generalmajor Back auch oben, S. 60.
RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 8f.
251
W 10/ 5321, Brief des Oberleutnants a.D. Graf von Preysing, S. 2.
252
Zu seiner Verwendung: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 43.
253
Der Prestigegewinn besteht dabei vor allem in dem Status als offizieller und von deutscher Seite
ausgewählter Militärberater (verbunden mit höherem Rang und besserer Bezahlung), im Gegensatz zu
dem „Ruch des Söldnerhaften“, der seiner aufdringlichen Dienstnahme in der Türkei auch nur eine
kurze Dauer bescherte. Ein Prestigegewinn in den Augen der deutschen Kameraden in der Heimat war
mit einer Entsendung in das Osmanische Reich nur selten verbunden.
250
72
Bedeutung einer intakten Truppenmoral.254 Zum anderen werden aber allgemeine
Überlegungen über den Zustand des Osmanischen Reiches und seiner Armee nach
Deutschland übermittelt, die mit Perspektiven einer zukünftigen Zusammenarbeit
verbunden werden. Lossows Ausführungen verdienen hier wieder besondere
Aufmerksamkeit, da sie in schonungsloser und die Türkei geradezu beleidigender Art
und Weise den entscheidenden Stellen in München und Berlin ein Bild von einem
möglicherweise verbündeten Osmanischen Reich aufzeigen sollten. Einen Eindruck
von den drastischen Ansichten in diesen Berichten gibt ein Schreiben an das
bayerische Kriegsministerium vom 2. April 1913:
„In der Völkerkunde, in Büchern und Schriften, in der öffentlichen Meinung der Welt
sind über die Türken 2 Leitsätze verbreitet:
1. Die Türken sind ein Herrenvolk.
2. Die Türken sind ein kriegerisches Volk.
Nichts falscheres als diese Sätze.
1. Wenn das Ideal eines „Herren“ ein faules, ungebildetes, indolentes Subjekt ist,
das, soweit irgend möglich, jede körperliche und geistige Arbeit vermeidet, -dann
sind die Türken „Herren“.
Die Türken sind ein Sklavenvolk, das nur mit eiserner Zuchtrute, mit eiserner Faust,
mit der Knute regiert und zur Ordnung, Zucht, Arbeit und Disziplin erzogen werden
kann.
2. Ich kann mir auf der ganzen Welt kein unkriegerisches Volk denken als die
heutigen Türken d.h. das Völkergemisch in Makedonien, Thrakien und Anatolien, das
die heutigen türk. Armeen geliefert hat.“255
Die türkische Armee des Balkankrieges ist seiner Meinung nach mutlos und
unkriegerisch. Ein Umstand, für den die Regierung in Konstantinopel, damit meint er
die Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, die sich im Januar 1913 an
die Macht geputscht hatte, die Verantwortung trage. Überhaupt läßt Lossow an
keinem politisch Verantwortlichen in der Türkei ein gutes Haar. Besonders der junge
254
Kriegserfahrungen, Bericht des Oberstleutnant von Lossow vom 25.1.1913, Streng Vertraulich.
Kriegserfahrungsbericht, Bericht von Lossow vom 3.2.1913, Geheim. Beide in: KA München, MKr.
986.
255
Abschrift eines Schreibens von Lossow an das kgl. bayr. KM vom 2.4.1913, Geheim, S. 15-17. KA
München, MKr. 986.
73
Enver Bey wird von ihm als kaltblütiger Mörder des früheren osmanischen
Kriegsministers dargestellt.
Der Ton in Lossows Berichten wirkt in der Tat nach dem jungtürkischen Putsch
schärfer als in den Berichten, die er direkt über seine Kriegserlebnisse geschrieben
hatte. Die sehr stark pauschalisierenden Äußerungen des bayerischen Offiziers sollten
augenscheinlich dazu beitragen, die katastrophale Niederlage einer Armee zu
erklären, die seit mehreren Jahrzehnten angeblich durch deutsche Offiziere reformiert
worden war. Um von vorneherein den Eindruck zu vermeiden, daß die deutsche
Ausbildung ineffektiv und nutzlos sei, wurde früh nach den Ursachen für die
türkische Niederlage gesucht. Dabei hielten sich die deutschen Offiziere die
zweifellos eigentümlichen Verhältnisse am Bosporus als große Hemmnisse zugute.
Die internationale Tagespresse kümmerte sich um solche Erklärungen wenig. Die
deutschen Militärreformer wurden heftig kritisiert, allen voran der preußische
Generalfeldmarschall (seit 1911) von der Goltz. Obgleich diese Kritik mehrheitlich
politisch motiviert war256, sah sich Goltz genötigt, einen Aufsatz mit dem Titel „Der
jungen Türkei Niederlage und die Möglichkeit ihrer Wiedererhebung“ zu verfassen,
in dem er sich der Anschuldigungen zu erwehren suchte.257 Er verwies darauf, daß
ihm keinerlei direkte Einflußnahme möglich gewesen sei, da er sich während der
Balkankriege nicht in der Türkei aufgehalten habe. Zudem könne die deutsche
Ausbildung des osmanischen Heeres gar nicht versagt haben, denn wenn „damit aber
der ‚preußische Drill’ – dies geheimnisvolle auch im Vaterlande noch in der
256
Neben Artikeln in der Presse der Entente-Staaten kam die schärfste Kritik offenbar aus Italien. Sehr
wahrscheinlich wirken hier Verstimmungen aus dem „Tripoliskrieg“ von 1911 nach, da auch das
Deutsche Reich die Aggression Italiens gegen das Osmanische Reich kritisiert hatte. Siehe hierzu:
Zeitungsausschnitt in BAMA Freiburg N 737 /24: Offener Brief an Freiherrn von der Goltz (von Josef
Sonntag aus Rom), in: Janus-Münchner Halbmonatsschriften, 1. Jahrgang Nr. 23, München 1912, S.
529-532. Der Autor, selbst Kritiker der „Türkeifreundlichkeit“ des Feldmarschalls, bezeichnet die
italienische Kritik als „unverschämt“, aber in der Sache richtig. Die weitere Argumentation nennt die
„innere Fäulnis“ und das „Barbarentum“ der Osmanen als ursächlich für die Niederlage. Der Artikel
mündet schließlich in dem Fazit, daß sich Deutschland besser andere Verbündete für seine Interessen
im Orient suche, da die Türken „sich immer noch an den Meistbietenden halten“ werden. Die
öffentliche Kritik bezieht sich demnach weniger auf fachliches Versagen der deutschen Reformer als
vielmehr auf das Scheitern der politischen Intentionen des Deutschen Reiches, dessen Orientpolitik auf
einer Fehleinschätzung der osmanischen Leistungsfähigkeit beruhe.
257
Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 156.
74
Phantasie vieler Leute umgehende Schreckgespenst – zusammenbrechen konnte, hätte
er zuvor erst eingeführt werden müssen, woran niemand gedacht hat“. 258
Die Anschuldigungen in der Presse, auch in den deutschen Blättern, hatten eine starke
Frustration der deutschen Offiziere zur Folge. Sowohl Lossow als auch Goltz geben
den Journalisten eine Mitschuld an der Niederlage. Lossow erklärte, daß der
„Osmanische Lloyd“, die einzige deutsche Zeitung in der Türkei, nur durch
Schmeichelei gegenüber den Jungtürken und durch falsche Siegesmeldungen auffalle,
was der „deutschen Sache“ sehr geschadet habe. Die osmanische Seite habe sich in
ihrer Kriegführung bestätigt gesehen und den Einfluß deutscher Militärberater auf
den Feldzug minimiert.259
Auch Goltz verweist schon 1909 anläßlich der Bitte des Kaisers um einen weiteren
Aufenthalt bei der türkischen Armee auf die unsachliche Berichterstattung in der
deutschen Presse. In einem Brief an seinen Sohn Friedrich äußert er die Sorge, daß
das übertriebene Lob für seine frühere Tätigkeit völlig unrealistische Erwartungen bei
den deutschen Stellen wecken könnte. Zudem werde durch eine unmäßig positive
Darstellung der Erfolge bei der Reform der türkischen Armee das Ego der nunmehr
regierenden Jungtürken ins Unerträgliche gesteigert. Die deutsche Presse zeige sich
hier aber wieder „in ihrer vollen Erbärmlichkeit“.260 In seinem Aufsatz über die
Niederlage der türkischen Armee kommt Goltz abschließend sogar zu dem Urteil:
„Wenn ich trotzdem durch halb Europa als der Verderber der armen türkischen
Armee bezeichnet worden bin, so hat mich dies um eine Erfahrung bereichert,
nämlich, daß alles was öffentliche Meinung und Urteil der Welt heißt, noch mehr
Geringschätzung verdient, als ich sie vorher schon besaß [...].“261
Die deutschen Reformer sahen sich also zu Unrecht angegriffen. Zugleich erkannten
sie aber auch, daß es der „Öffentlichkeit“ weitgehend gleichgültig war, wer en detail
258
Goltz, Colmar Freiherr von der: Der jungen Türkei Niederlage und die Möglichkeit ihrer
Wiedererhebung, Berlin 1913, S. 68. (Im Folgenden: Goltz, Niederlage 1913.)
259
Abschrift eines Schreibens von Lossow an das kgl. bayr. KM vom 2.4.1913, Geheim, S. 23f. KA
München, MKr. 986. In dieser Argumentation mag Apologetik mitschwingen, doch es wird auch
deutlich, daß die deutschen Offiziere der Ansicht waren, mit genügenden Befehlsbefugnissen die
osmanischen Armee zum Erfolg verhelfen zu können. Die „Unfehlbarkeit“ der eigenen Lehren und
deren Anwendbarkeit auf orientalische Verhältnisse werden fraglos vorausgesetzt.
260
Goltz an seinen Sohn Friedrich, Friedrichroda den 1.6.1909, BAMA Freiburg, W 10/ 50716, Blatt
151-154.
261
Goltz, Niederlage 1913, S. 70.
75
und in welchem Umfang für die Niederlage verantwortlich war. Es galt daher vor
allem, größeres Unheil von der deutsch-türkischen Kooperation und damit in erster
Linie weiteren Prestigeverlust vom Deutschen Reich abzuwenden. Endres und
Lossow verfaßten Denkschriften zu einer zukünftigen Gestaltung der militärischen
Reformen im Osmanischen Reich. Carl Endres entwickelte in seinen Ausführungen
das Modell einer vollständigen Übernahme der wichtigsten Kommandoposten in der
Türkei durch deutsche Offiziere. Es sollte ein deutscher „Generalinspekteur“
eingesetzt werden, der nicht nur finanziell unabhängig agieren könnte, sondern auch
das Recht hätte, jeden türkischen General abzusetzen, der sich als unzureichend
befähigt erwiese. Außerdem sollten die Divisionskommandeure deutsche Offiziere
sein, die direkt diesem Inspekteur unterstünden, und selbstverständlich müßten die
Militärschulen Deutschen unterstellt werden.262 Diese Überlegungen verkannten
jedoch die Position des Deutschen Reiches gegenüber dem souveränen und zu jenem
Zeitpunkt offiziell nicht verbündeten Osmanischen Reich vollkommen.
Dennoch vertrat auch Otto von Lossow ähnliche Ansichten bezüglich einer
„militärischen Vasallisierung“ der Türkei. Er sah zwei Möglichkeiten für die Zukunft
des militärischen Engagements im Orient. Einerseits konnte Deutschland die
bisherigen Anstellungsverträge der Militärberater noch einige Jahre tolerieren, um
mit deren Auslaufen auch die deutsch-türkische Zusammenarbeit ohne großes
Aufsehen zu beenden. Damit würde Deutschland ein weiteres Fiasko, wie es
unzweifelhaft bei Beibehaltung der bisherigen Beratertätigkeit zu erwarten sei,
erspart werden.
Sollte sich der Kaiser aber für eine Fortsetzung der militärischen Hilfe aussprechen,
so müsse zunächst die türkische Seite dazu gebracht werden, quasi um deutsche
Unterstützung zu betteln. Andernfalls wäre es niemals möglich, die weitgehenden
Forderungen als neues Reformwerk umzusetzen. Als wichtigste Komponente einer
solchen Reform erschien Lossow die einheitliche Führung der Reformoffiziere, die in
einer deutlich aufgewerteten Militär-Mission zusammengefasst werden sollten. Der
Missionschef sollte den höchsten türkischen Rang im Militär bekleiden und im
Notfall sogar den Kriegsminister oder den Chef des Generalstabes absetzen können.
Auch dem Missionschef sollten ähnlich dem „Generalinspekteur“ bei Endres nahezu
262
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 122.
76
unbegrenzte Vollmachten von der Ausbildung über das Eisenbahnwesen bis hin zur
Personalpolitik zugestanden werden. Die verschiedenen Ausbildungsanstalten sowie
1-2 Divisionen sollten direkt deutschen Kommandeuren unterstellt werden. Kein
deutscher Offizier dürfe dem Befehl eines Türken unterstehen. Lediglich dem
Kriegsminister und dem Generalstabschef könne man „eine Art Scheinstellung
einräumen“. Abschließende Forderungen zielten auf die Beibehaltung der Erhöhung
des Dienstgrades beim Übertritt in osmanische Dienste, da die türkischen Offiziere
im Verhältnis zu ihrer Kompetenz unangemessen hohe Ränge besäßen. Dabei könnte
sogar eine Erhöhung um 2 Dienstgrade möglich sein. Zudem wird – man mag sich
kaum wundern – eine Erhöhung des Gehaltes für längerdienende Reformoffiziere
gefordert.263
In seiner bereits erwähnten drastischen Ausdrucksweise hatte Lossow schon einige
Monate zuvor deutlich gemacht, welche Zukunft er für die deutsch-türkische
„Zusammenarbeit“ sah:
„Nur unter Vormundschaft (so etwa wie Ägypten unter England) werden die Leute
zur Arbeit, Pflicht, Disziplin und Ordnung erzogen werden können- und die noch
gesunden Elemente des Volkes werden sich dabei viel wohler befinden und
glücklicher sein, als unter der jetzigen Schweinewirtschaft.“264
Die Forderungen der Deutschen mögen nachvollziehbar sein, wenn man
berücksichtigt, wie frustrierend die Erfahrung einer solch schweren Niederlage in
Verbindung mit einem hohen Maß an öffentlicher, zum Teil unberechtigter Kritik
gewesen sein muß. Dennoch dürfte den Beteiligten klar gewesen sein, daß ihre
Forderungen in keinem Falle vom Sultan akzeptiert werden würden. Auch für jeden
anderen Staat hätten die Berichte eine völlig inakzeptable Zumutung dargestellt, doch
offenbar sah man die Türkei als so geschwächt an, daß derartige MaximalForderungen gestellt werden konnten und zwar in der Hoffnung, wenigstens einen
Teil davon umsetzen zu können. Interessanterweise ist dies ein Prinzip, daß schon
Goltz als das gängige, türkische Vorgehen beschreibt.265 Inwieweit Hoffnungen auf
263
Bericht Lossows „Gedanken über Reformen in der Türkei“, Konstantinopel den 19.5.1913, KA
München, MKr. 986.
264
Abschrift eines Berichts Lossows an das königlich bayerische Kriegsministerium vom 4.2.1913,
Geheim, S. 8f. KA München, MKr. 986.
265
In einem Brief aus Konstantinopel vom 22.8.1893 schreibt Goltz: „Der Sultan ist gewöhnt, daß man
100 fordere, um 1 zu bewilligen.“ Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 120.
77
eine eigene Verwendung als Missionschef oder „Generalinspekteur“ bei Lossow oder
Endres eine Rolle spielten, muß Spekulation bleiben.
In jedem Fall erhielten die Vorschläge der Reformoffiziere Unterstützung durch den
deutschen Botschafter in Konstantinopel und den Militärattaché. Tatsächlich gelang
es bei der nunmehr vom „Komitee für Einheit und Fortschritt“ geführten Regierung,
das Modell einer einheitlich strukturierten deutschen Militärmission mit einem
starken Missionschef durchzusetzen. Der Großwesir, zu diesem Zeitpunkt noch
Mahmud Schefket Pascha, machte allerdings die Berufung eines Offiziers ohne
Türkeierfahrung als Leiter der Militärmission zur Bedingung. Ob damit tatsächlich
die hinderliche „Cliquen-Wirtschaft“ unterbunden oder nur die Zeit gewonnen
werden sollte, die der „unerfahrene“ Chef zur Eingewöhnung brauchen würde, bleibt
dahingestellt.266 Mit dieser Einigung leiteten die beiden Ländern einen neuen
Abschnitt in ihrer militärischen Zusammenarbeit ein, denn am 22. Mai 1913 stellt die
türkische Regierung den förmlichen Antrag auf Entsendung einer deutschen
Militärmission, der ersten Mission, die diese Bezeichnung auch verdiente.267
b) Liman von Sanders und die Deutsche Militärmission vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges (1913-1914)
Otto Liman von Sanders, preußischer Generalleutnant und Mitte 1913 durch Kaiser
Wilhelm II. nobilitiert, war zum Zeitpunkt seiner Berufung „einer der ältesten
266
Jehuda Wallach beschreibt die Verhandlungen und sieht im Handeln des Großwesir die Bemühung,
eine ähnlich enge, persönliche Beziehung wie zwischen Goltz und Pertev Pascha zu verhindern.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 124.
Goltz spricht in seiner Privatkorrespondenz mit General von Kluck, dem späteren Befehlshaber der
deutschen 1. Armee, allerdings in auffallend löblicher Art und Weise von Mahmud Schefket Pascha
und es kann angenommen werden, daß Goltz auf seinen Reisen den Großwesir kennengelernt hatte, wo
er in seiner offenen Art aus seiner Wertschätzung sicher keinen Hehl gemacht hätte. Außerdem war der
preußische Generalfeldmarschall einer der Befürworter der jungtürkischen Bestrebungen im
Osmanischen Reich. Brief von Goltz an Kluck, Berlin den 24.4.1909, BAMA Freiburg, N 737/12.
Brief Goltz an Herrn Alexander vom 14.6.1913, BAMA Freiburg, W 10/ 50716, Blatt 190.
Der Großwesir mußte also eine persönliche Benachteiligung, wie er sie anführte, weniger fürchten als
die Tatsache, daß eine stärkere deutsche Einmischung von anderen bekannten und leider eben wenig
bewährten Deutschen die noch fragile neue Regierung nur schwächen und möglicherweise zu ihrem
Sturz beitragen könnte.
267
In der Forschung ist offenbar nicht geklärt, ob deutsche oder türkische Initiative für dieses Gesuch
ausschlaggebend gewesen ist; diese Frage vermag auch die vorliegende Arbeit nicht zu beantworten.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 126.
78
Kommandeure der deutschen Armee“.268 Glaubt man den Zeitangaben in Limans
Erinnerungen und bei Jehuda Wallach, so war der zukünftige Chef der Militärmission
zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme durch das Militärkabinett „noch nicht einmal“
nobilitiert.269 Da Liman in seinen Erinnerungen zudem den Absatz des Telegramms
betont, in dem ausdrücklich keine besonderen Sprach- und Landeskenntnisse
gefordert werden, ist zu vermuten, daß der General über keine „Sonderqualifikationen“ dieser Art verfügte.270 Die Gründe für die Berliner Entscheidung
sind daher kaum nachzuvollziehen, zumal der deutsche Botschafter Wangenheim in
seinem Schreiben eine „allererste militärische Kraft“ gefordert hatte, die „als Chef
des Generalstabes eines Armeekorps selbständig Generalstabsreisen geleitet“
habe.271
Mit dieser Stellenbeschreibung war sicher nicht der Kommandeur einer Division in
Kassel gemeint. Wallach wirft der deutschen Seite deswegen schwere Fehler in der
Auswahl der Mitglieder der Militärmission vor.272 Die Plausibilität dieser Aussage
wird später noch zu untersuchen sein. An dieser Stelle muß aber konstatiert werden,
daß Liman von Sanders sicher nicht zu den wichtigsten und „allerersten“
militärischen Befehlshabern im Deutschen Reich zählte. Seine Berufung verwundert
um so mehr, wenn man den Vertrag betrachtet, der mit der Hohen Pforte geschlossen
wurde.
In bewährter „Tradition“ der Verträge mit den früheren deutschen Militärberatern
wurde kein offizielles Schreiben zwischen den beiden Regierungen aufgesetzt,
sondern ein Vertrag zwischen Liman von Sanders und dem osmanischen
268
Dies ist eine eigene Aussage. Liman von Sanders, Otto: Fünf Jahre Türkei, Berlin 1920, S. 9. (Im
Folgenden: Liman, Fünf Jahre Türkei 1920.)
269
Liman gibt das Datum der Anfrage aus Berlin mit dem 15. Juni 1913 an. Liman, Fünf Jahre Türkei
1920, S. 9. Wallach nennt als Datum der Nobilitierung den 16. Juli 1913. Wallach, Anatomie einer
Militärhilfe 1976, S. 136. Auch wenn er fälschlicherweise den Tag der Nobilitierung mit dem Tag des
Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. (15.Juni 1913) gleichsetzt, so impliziert doch die Nähe der
Erhöhung Limans zum Angebot der Entsendung entweder ein „Ködern“ Limans für diesen fernen
Posten oder auch die Erkenntnis, daß in die Türkei ein Offizier von entsprechendem Stande entsandt
werden müsse, wenn schon nicht der „Fähigste“ geschickt werden würde. Siehe dazu auch Kapitel
IV.3.
270
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 10.
271
Ebd.
272
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 134.
79
Marineminister als Vertreter der Regierung geschlossen.273 Auf der politischen Ebene
war Deutschland also weiterhin bemüht, keine unnötigen Spannungen durch
offizielles Engagement am Bosporus zu erregen.
Der im Oktober von türkischer Seite und im November 1913 von Liman
unterzeichnete Geheimvertrag, der auch Regelungen für das zur Militärmission
gerechnete
Führungspersonal
enthielt,
gewährte
deutschen
Offizieren
eine
umfassende Kontrolle des osmanischen Heerwesens.274 Der größte Teil des
Abkommens betraf allerdings die Stellung des Chefs der Militärmission innerhalb der
osmanischen Hierarchie. Liman sollte Befehlshaber des I. osmanischen Armeekorps
werden und Mitglied im Obersten Kriegsrat des Sultans. Damit erhielt er
Kommandobefugnisse über dasjenige Armeekorps, dem der Schutz Konstantinopels
und der Meerengen oblag, eine Stellung, deren politische Implikationen sehr
bedeutsam werden sollten.
Als Mitglied des Obersten Kriegsrates konnte er Einfluß auf praktisch alle
Beratungen über militärische Gegenstände nehmen. Von der Organisation des Heeres
über sämtliche Bereiche der Logistik, der Kommunkations- und Beförderungswege,
der Ausbildung, bis hin zu Sanitätswesen und Mobilmachung erhielt der deutsche
Chef der Mission Mitspracherecht. Zudem erhielt er die Aufsicht über alle
Militärschulen und die Ausbildung der osmanischen Stabsoffiziere. Auch besaß er
Mitbestimmungsrecht bei der Wahl von Offizieren, die für Beförderungen und
Lehrgänge (auch im Ausland) vorgesehen waren.
Alle ausländischen Offiziere im türkischen Heer unterstanden fortan dem deutschen
General. Beinahe hätte diese Regelung auch den französischen General Baumann und
verschiedene andere nicht-deutsche Offiziere getroffen, die mit der Ausbildung der
Gendarmerie (Jandarma) befaßt waren. Mögliche Konflikte umging die Hohe Pforte
geschickt, indem die Gendarmen dem Kriegsministerium entzogen und dem
Innenministerium unterstellt wurden.275 Bei diesen Einheiten handelte es sich um eine
Art paramilitärischer Polizeitruppe, die schon früh Reputation als „Elitetruppe“
273
Die Wahl des Marineministers als Vertreter der Regierung für diese Heeresangelegenheit mag
verwundern, sie beruht jedoch auf Machtstrukturen und –positionen innerhalb der osmanischen
Regierung und „jungtürkischer“ Parteikreise.
274
Zu den folgenden Ausführungen über den Inhalt des Vertrages siehe auch die Abschrift in
ANHANG B.
275
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 24.
80
genossen hatte. Liman gibt die Personalstärke dieser Truppe mit über 80.000 Mann
an, während neue Forschungen die Zahl noch höher ansetzen.276 Im Kriege wurden
diese Einheiten immer wieder an und hinter der Front eingesetzt; das Institut der
Jandarma hat bis heute eine besondere Stellung in der modernen Türkei.277
Mit den obengenannten Vertragsbedingungen waren bereits einige der Forderungen
der deutschen Offiziere im Gefolge der Balkankriege übernommen worden. Ebenso
dürfte die Möglichkeit des Chefs der Militärmission zu umfassenden und
jederzeitigen Truppenbesichtigungen – der osmanische Kriegsminister mußte
lediglich „benachrichtigt“ werden – im Sinne der Reformoffiziere gewesen sein.
Ganz besonders gilt dies aber für die neugeregelten Besoldungsverhältnisse.
Die im Vertrag genannten Vergütungen erscheinen auf den ersten Blick geringer als
die astronomischen Summen, die noch an die „Kaehler-Mission“ gezahlt wurden. Die
Sätze reichen von 40 Ltq (ca. 741 M) für einen Oberleutnant bis zu 125 Ltq (ca. 2.316
M) für einen General. Allerdings handelt es sich bei diesen Sätzen um
Monatsgehälter, was dann bei Ersteren etwa 8.900 M und bei Letzteren ungefähr
27.800 M ausmacht, wozu noch die Verpflegungsportionen entsprechend dem
osmanischen Dienstgrad kommen. Im Vergleich dazu erhielt ein aktiver Oberleutnant
der bereits sehr großzügig bezahlten Deutschen Schutztuppe pro Jahr 7.500 M und
ein Stabsoffizier 14.100 M. Der höchstbezahlte Offizier in den deutschen Kolonien
war der Kommandeur der Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika (Namibia), der
18.915 M pro Jahr bezog.278 Zieht man nun noch den Vergleich zur Bezahlung der
aktiven türkischen Offiziere, so werden die Unterschiede noch gravierender. Im
Unterschied zu einem türkischen Oberleutnant erhielt der in die osmanische Armee
276
Liman gibt die Zahl ebenfalls auf S. 24 an. Erickson spricht hingegen von 2.397 Offizieren und
39.268 Mann, die in „mobilen Regimentern“ organisiert waren. Inklusive aller Stäbe und
Grenzschutzformationen hätten mehrere Hunderttausend Mann aufgeboten werden können. Erickson,
Ordered to Die 2001, S. 6. Diese Zahlen erscheinen möglicherweise zu hochgegriffen; zudem dürfte
unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Osmanischen Reiches die Kampfkraft der
ausgehobenen Formationen stark von der der „mobilen Regimenter“ abweichen.
277
Nähere Informationen über die Befugnisse der Jandarma und ihre geschichtliche Entwicklung gibt
die offizielle Internetpräsenz: http://www.jandarma.tsk.tr/ing/start.htm (Stand: 24.09.2008.)
278
Friedag, B.: Führer durch Heer und Flotte, Berlin 21914 (Neudruck Krefeld 1974), S. 332. Die
Gehälter der erstgenannten Offiziere beziehen sich auf die Gebiete Kamerun, Deutsch-Ostafrika und
Deutsch-Südwestafrika. Die Gehälter der Schutztruppen-Offiziere waren seit der Jahrhundertwende
unverändert geblieben. Vergleiche dazu: Das kleine Buch vom Deutschen Heere – Ein Hand- und
Nachschlagebuch zur Belehrung über die deutsche Kriegsmacht, bearbeitet von Oberleutnant Hein,
Kiel/Leipzig 1901, S. 131.
81
übergetretene Deutsche mit gleichem Dienstgrad beinahe das Zehnfache des
Monatsgehalts.279 Der finanzielle Anreiz für den Dienst am Bosporus war demnach
beträchtlich. Dies alles wird aber noch übertroffen vom Gehalt des Missionschefs, das
mit monatlich 275 Ltq (ca. 5.096 M), also 3.300 Ltq (ca. 61.150 M) jährlich
inklusiver aller Rationen veranschlagt wird. Hatten 1888 noch wesentlich niedrigere
Gehaltsforderungen für einen schweren diplomatischen Zwischenfall gesorgt, so
wurde jetzt ohne viel Aufsehen eine solche Summe mit dem nahezu bankrotten und
kriegsgeschüttelten Osmanenreich vereinbart.280 Die Deckung dieser Ausgaben
konnte daher auch nur durch einen Kredit sichergestellt werden, dessen Ansatz aber
in keinem Fall überschritten werden durfte.
Neben der sehr hohen Entlohnung der Offiziere wurde auch die Anhebung des
Dienstgrades bei Übertritt in türkische Dienste beibehalten. Der somit zum türkischen
General der Kavallerie avancierte preußische Generalleutnant Otto Liman von
Sanders ließ zu guter Letzt auch die Rangfolge der osmanischen Armee für sein
neugeschaffenes Amt „anpaßen“. Liman sollte als zweithöchster Offizier unmittelbar
hinter dem Kriegsminister rangieren und nur im Falle eines höheren Dienstalters des
Chefs des Generalstabes der Armee sollte er Platz 3 in der Rangfolge einnehmen. Die
Vertragsdauer war auf 5 Jahre festgesetzt.
Schriftlich hatte die deutsche Militärmission damit weitreichende Befugnisse im
türkischen Heer bekommen und durch die Beförderungsregelung hatte ihr Chef
zugleich ein Druckmittel gegenüber türkischen Offizieren, die noch eine Karriere
anstrebten.
Der Wortlaut des Vertrages läßt zwei Schlußfolgerungen zu. Einerseits war das
Osmanische Reich nach den bitteren Niederlagen der vergangenen Jahre eindeutig in
einer schwachen Position und erkannte dringenden Handlungsbedarf, weshalb die
Hohe Pforte bereit war, vorübergehend ein (möglicherweise unverhältnismäßig)
großes Stück ihrer Leitungs- und Kommandobefugnisse an einen fremden, vertraglich
279
Grundlage dieser Berechnung bilden die Angaben über Monatsgehälter in: Intelligence Department
Cairo (Hrsg.): Handbook of the Turkish Army, Cairo 61915, S. 120 (Im Folgenden: Handbook of the
Turkish Army 1915.) Laut dieser Aufstellung erhält ein (regulärer) türkischer Oberleutnant 500 Piaster
= 5 Ltq im Monat und zusätzlich „Rationsgeld“ in Höhe von etwa 3 Ltq. Ob die Bezahlung im Kriege
variierte geht aus den Ausführungen nicht hervor. Siehe dazu auch die Angaben zu den Währungen
bei Türk, Türkeigeschäfte 2007, S. 7 u. 54.
280
Zu der Forderung Kamphoeveners siehe oben, S. 55.
82
gebundenen Offizier als Mitbestimmenden zu delegieren. Auf der anderen Seite
offenbart er den Willen zu einem stärkeren Engagement auf deutscher Seite. Der
Vertrag war ganz auf die Person Liman von Sanders zugeschnitten, enthielt aber
ausschließlich eine Aufzählung seiner Rechte, während seine Verpflichtungen nicht
festgehalten wurden. Auch die Ziele der Militärmission werden nicht näher benannt.
So entstand eine problematische Unklarheit im Auftrag der Militärmission, denn
durch die unpräzise Formulierung der Pflichten, blieben auch die Grenzen der
zugesicherten Kompetenzen Gegenstand fortwährender Diskussion; ein Umstand, der
im Ersten Weltkrieg für zahlreiche Spannungen zwischen dem Chef der
Militärmission
und
dem
osmanischen
Verbündeten
–
insbesondere
dem
Kriegsminister Enver Pascha – sorgte.
Immerhin bildete dieser Vertrag aber die Grundlage für die Entsendung des
Generalleutnants und von etwa 42 weiteren Offizieren nach Konstantinopel. Diese
Zahl wurde bis Kriegsausbruch langsam und danach in gesteigertem Maße erweitert.
Anfang August 1914 waren der deutschen Militärmission 71 Mann unterstellt, deren
osmanische Dienstgrade zwar vom Fähnrich bis zum Marschall reichten, deren
größter Teil aber aus Stabsoffizieren bestand.281 Liman bestätigt eine Anhebung der
Personalstärke auf 70 Offiziere im Laufe der ersten Hälfte des Jahres 1914 als
geplante Friedensstärke.282 Edward Erickson ist der Meinung, daß die deutsche
Planung der Mission insgesamt 1.100 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften
vorgesehen habe.283 Eine Zahl, die möglicherweise für die Stärke im Verlauf des
Krieges zutreffen mag, aber mit Sicherheit nicht die deutschen Planungen vorher
wiedergibt284. Das Deutschen Reich hatte nämlich einen Mangel an Offizieren zu
beklagen, der im Zuge der Heeresvermehrung von 1913 noch verschärft wurde.
Wollte die militärische Führung im Reich also nicht die Qualität der eigenen
Neuaufstellungen gefährden, war eine Entsendung größerer Gruppen qualifizierter
281
Von 71 Offizieren waren 45 türkische Stabsoffiziere als Oberst (9), Oberstleutnant (16) oder Major
(20). Kannengießer, Hans: Gallipoli – Bedeutung und Verlauf der Kämpfe 1915, Berlin 1927, S. 230236. (Im Folgenden: Kannengießer, Gallipoli 1927.) Kannengießer selbst war 1914 türkischer Oberst
im Kriegsministerium in Konstantinopel.
282
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 11. Ähnlich gibt diese Zahlen der k.u.k. Militärbevollmächtigte
wieder. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 53.
283
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 12.
284
Liman selbst spricht von „über 800“ Offizieren, Sanitätsoffizieren und Beamten, die bis
Kriegsende durch die Militärmission „verwaltet“ wurden. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 32.
83
Offiziere nicht möglich.285 Ein solches Kontingent am Bosporus hätte zudem das
fragile politische Gleichgewicht empfindlich gestört. Wie bereits vorher gezeigt
wurde, war das Engagement der deutschen Außenpolitik für die Türkei bis zum
Sommer 1914 begrenzt.
So gab der Deutsche Kaiser dem Chef der neuen Militärmission ausdrücklich mit auf
den Weg, sich nur militärisch und auf keinen Fall politisch einzubringen. Die
Politisierung des türkischen Offizierkorps sei dessen größter Fehler, soll er Liman
gesagt haben.286 Wie schon bei den Offizieren um Kaehler war die deutsche Führung
besorgt, daß ihr militärisches Fachpersonal seine Kompetenzen überschreiten könnte
und das ausgerechnet an einer der sensibelsten Stellen der Weltpolitik.
Interessanterweise hatte aber offenbar in Berlin niemand in Erinnerung, wie leicht die
Reformoffiziere in politische Spiele hineingezogen werden konnten, denn es lassen
sich keinerlei Maßnahmen erkennen, die einer Vermischung der politischen und
militärischen Aspekte der Mission vorgebeugt hätten. Es wurde nicht auf
„orienterfahrenes“
Personal
zurückgegriffen,
es
fand
keine
nachweisbare
Vorausbildung der Offiziere für den Dienst am Bosporus statt und die
Vertragsklauseln enthielten – wie erwähnt – unpräzise Vorgaben. Es ist zwar fraglich
inwieweit sich „türkeierfahrene“ Offiziere wie Lossow oder Endres angesichts ihrer
extrem kritischen Berichte aus den Balkankriegen besser an die örtlichen
Gegebenheiten hätten anpassen können, doch ein „gut gemeinter Rat“ des Kaisers
allein konnte die Versäumnisse nicht ausgleichen, zumal schon zu Zeiten der
preußischen Militärberater des späten 19. Jahrhunderts Interventionen höchster
Stellen in Berlin notwendig gewesen waren, um die zahlreichen politische Fehltritte
der deutschen Offiziere zu entschärfen. Doch aus den langjährigen Erfahrungen
wurden mit der Errichtung einer mit großzügigen Vollmachten ausgestatteten
Militärmission nur unzureichende Konsequenzen gezogen und diese Problematik
sollte sich später fortsetzen.
285
Förster, Stig: Der doppelte Militarismus – Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen status quo,
Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart 1985, S. 268. Siehe hierzu auch die zum Teil
veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen des damaligen Direktors des Allgemeinen Kriegsdepartements Generalmajor Franz Wandel. Granier, Gerhard: Deutsche Rüstungspolitik vor dem
Ersten Weltkrieg – General Franz Wandels Tagebuchaufzeichnungen aus dem preußischen
Kriegsministerium, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Band 38, Freiburg i. Br. 1985, S. 142f. (Im
Folgenden: Granier, Deutsche Rüstungspolitik 1985.)
286
Ebd., S. 11.
84
Schon kurz nach der Ankunft Limans in Konstantinopel (14.12.1913) bewahrheiteten
sich denn auch die Befürchtungen der deutschen Führung zum ersten Male. Die
russische Regierung war nämlich nicht gewillt, eine mittelbare Kontrolle des
Deutschen Reiches über die Dardanellen und den Bosporus zu tolerieren. Der Vertrag
der Militärmission sah die Kommandoübernahme des Deutschen und nunmehrigen
osmanischen Generals der Kavallerie über das I. Armeekorps vor, das ausgerechnet
um Konstantinopel stationiert und gleichzeitig auch für den Schutz der Meerengen
zuständig war. Aus deutscher und osmanischer Sicht war diese Festlegung sinnvoll,
da das genannte Korps als „Vorzeige-„ und Lehrformation dienen sollte, das zudem
die kürzesten Nachschubwege hatte. In Sankt Petersburg befürchtete man, daß die
türkischen Truppen in die Lage versetzt würden, eine „Schlagader“ Russlands, die
Verbindung der Schwarzmeerhäfen zum Mittelmeer, effektiv abzuschnüren; ein
Szenario, das aufgrund der schlechten russisch-türkischen Beziehungen nicht
abwegig war. Nach dem Dardanellenvertrag von 1841 konnte der Sultan fremden
Kriegsschiffen die Durchfahrt durch die Meerengen auch im Frieden verweigern. Für
die Handelsschiffahrt kriegführender und auch neutraler Staaten konnte das
Osmanische Staatsoberhaupt ebensolche Verbote verhängen, sofern sie Häfen der
Kriegsparteien anlaufen wollten.287
Für die russische Regierung bedeutete ein deutscher Befehlshaber offenbar einen
Schritt zu militärischer „Aufrüstung“ an den Meerengen, der gegen Russland
gerichtet war. Möglicherweise befürchtete man zudem eine Schmälerung des eigenen
militärischen Drohpotentials gegenüber der Hohen Pforte in Fragen der
Durchfahrtsrechte oder wollte einen eventuellen Einfluß Deutschlands auf die
287
Der Dardanellenvertrag von 1841, der in den folgenden Jahrzehnten mehrfach novelliert wurde,
erlaubte dem Osmanischen Reich die Meerengen für Kriegsschiffe zu sperren. Wiederholte Versuche
Englands und besonders Russlands, eine Freigabe der Durchfahrt auf diplomatischem Wege zu
erreichen, scheiterten (zuletzt 1911). Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (Bd. V) 1990, S.
401-405. Kos, Orientkrise 1984, S. 238 u. 300. Diese Klausel wurde trotz mehrmaliger Versuche
Russlands auch in Nachverhandlungen nicht geändert. Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches
(Bd. V) 1990, S. 583. Die Behauptung Mühlmanns, eine Sperrung der Dardanellen liege „im
türkischen Belieben“, ist hingegen „nur“ rechtlich zutreffend, denn die Hohe Pforte riskierte mit einer
willkürlichen Sperrung internationale Sanktionen. Dennoch verfügte das Osmanische Reich durch
diese Regelung über ein Drohpotential, das vor allem in St. Petersburg ernst genommen wurde.
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 43.
85
Meerengen verhindern, zumal die politische Atmosphäre zwischen Berlin und St.
Petersburg zusehends kühler wurde.
Der russische Botschafter in Konstantinopel, Giers, protestierte entsprechend den
russischen Befürchtungen scharf bei der Hohen Pforte gegen die Ernennung Limans
zum Kommandierenden General. Türkischerseits verwahrte man sich gegen diese
Einmischung in innere Angelegenheiten. Doch als Russland nicht nachgeben wollte,
Frankreich und Großbritannien ebenfalls Protest beim Sultan einlegten und die
Gefahr eines Krieges immer näher rückte, gab die deutsche Seite nach. Aufgrund
massiven Drucks aus Berlin gab Liman von Sanders seinen Posten auf, wurde zum
preußischen General der Kavallerie befördert und die jungtürkischen Machthaber
verliehen ihm den türkischen Rang eines Marschalls. Damit verbunden war die
Ernennung zum Generalinspekteur der türkischen Armee, der keine direkte
Kommandogewalt besaß. Obwohl diese Lösung keine der Seiten wirklich befriedigte,
war die direkte Kriegsgefahr vorerst abgewendet.288 Liman hingegen sah den
Vorgang als unnötiges Nachgeben gegenüber dem Ausland an.289 Er offenbart damit
allerdings mangelndes Verständnis für die politisch wie militärisch komplizierte
Situation an den Meerengen. Die russische Führung schien nur zu bereit, einen Krieg
zu beginnen, der nicht nur die Frage der Position des deutschen Missionschefs,
sondern auch diejenige der Kontrolle über den Schwarzmeer-Zugang ein für alle Mal
zugunsten Russlands klären sollte. Das Osmanische Reich wäre jedoch nicht in der
Lage gewesen alleine einem russischen Angriff, der von den westlichen
Ententemächten zumindest toleriert, wenn nicht gar unterstützt worden wäre,
standzuhalten und es war – trotz des militärberaterischen Engagements – höchst
unwahrscheinlich, daß die Mittelmächte der Hohen Pforte in einem solchen Kriege
beistehen würden. Für Liman von Sanders spielten solche Überlegungen im
Vergleich zum Verlust seines Truppenkommandos jedoch nur eine untergeordnete
Rolle, was umso mehr verwundert, bedenkt man, daß er diese Einschätzung nach dem
Ersten Weltkrieg und vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Orient
288
Zu den Vorgängen der „Liman-von-Sanders-Krise“ siehe: Hallgarten, Imperialismus vor 1914
(Band II) 1963, S. 434-437. Hildebrand, Das vergangene Reich 1995, S. 296-299. Kröger, Martin:
Letzter Konflikt vor der Katastrophe. Die Liman-von-Sanders-Krise 1913/14, in: Dülffer, Jost/Kröger,
Martin/Wippich, Rolf-Harald (Hrsg.): Vermiedene Kriege – Deeskalation von Konflikten der
Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 1865-1914, München 1997, S. 657-671.
289
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 15f.
86
niederschrieb. Die Hohe Pforte war sich der eigenen Schwäche nur zu bewußt und
entschied für den angesprochenen Kompromiß. Die Militärmission und ihr Chef
hatten damit die erste Krise überstanden, aber weitere sollten folgen.
Diese politischen Begleiterscheinungen bei Beginn der Mission verhinderten nicht,
daß die Reformoffiziere schon bald ihre Arbeit aufnahmen. Eine Handvoll Offiziere
erhielt Kommandos über osmanische Divisionen, wurden Generalstabschefs in
türkischen Armeekorps oder übernahmen Funktionen in technischen Truppenteilen
wie Pionieren oder Artillerie.290 Von besonderer Bedeutung war die Tatsache, daß der
preußische Oberst und türkische Generalmajor Bronsart von Schellendorf, der zuvor
als Angehöriger der deutschen Militärmission das Kommando über die 3. osm.
Infanterie-Division hatte, die Funktion des 1. Souschefs (stellvertretenden Chefs) des
osmanischen Generalstabes übernahm, während Enver selbst in Personalunion
Kriegsminister und Chef des Generalstabes der Armee wurde.291 Entgegen der
Behauptung, der deutsche Missionschef hätte „für die Berufung“ gesorgt, macht es
eher den Eindruck, als hätte der türkische Kriegsminister Enver die Ernennung
Bronsarts veranlasst.292 In jedem Fall hatten die deutschen Offiziere damit die
einflußreichsten Positionen im osmanischen Heer besetzt. Wie erwähnt, blieb die
Jandarma aber dem Zugriff der Militärmission entzogen und die osmanische Marine
stand unter der Kontrolle einer britischen Mission unter Admiral Limpus, die
zahlenmäßig etwa dem deutschen Engagement entsprach.293
Die deutschen Offiziere begannen mit der Inspektion der Truppen, überarbeiteten
Ausbildungsprogramme und bemühten sich um einen Wiederaufbau der Einheiten,
290
Deutsche Offiziere hatten beispielsweise das Kommando über die 5. und 10. osm. InfanterieDivision und über das 3. Artillerie-Regiment sowie das 8. Infanterie-Regiment. Erickson, Ordered to
Die 2001, S. 11
291
De facto war Bronsart von Schellendorf mit den Aufgaben des Chef des Generalstabes betraut.
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 36.
292
Erickson betrachtet die Stellenbesetzung als Coup Limans. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 12.
Liman selbst verweist auf den Wunsch Envers. Liman, Fünf Jahre Türkei, S. 30. Da der anfangs noch
sehr einflußreiche Izzet Pascha (bis Dezember 1913 Vorgänger von Enver als Kriegsminister)
Bronsart und Liman aus Deutschland kannte, ist nicht auszuschließen, daß die türkische Seite hier
gezielt Einfluß auf die Auswahl nahm. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 127. Die
späteren Meinungsverschiedenheiten zwischen Liman und Bronsart können aber sowohl für die
Richtigkeit von Limans Behauptung als auch für eine nachträgliche Sicht Limans sprechen. Siehe
unten, S. 365f.
293
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 13.
87
die in den Balkankriegen schwere Verluste erlitten hatten. Auch wirtschaftlich waren
die deutschen Heeresreformer tätig, da sie über den Status der Militärmission Einfluß
auf Rüstungsaufträge nehmen konnten, einen Sektor, der zwischen deutschen und
französischen Firmen hart umkämpft war.294
Für die vorgesetzten Stellen im Deutschen Reich war zudem eine Einschätzung der
Bündnisfähigkeit des Osmanischen Reiches von hohem Interesse. Die Krisen der
vergangenen Jahre und zuletzt der Konflikt um die Berufung der Militärmission
hatten gezeigt, wie angespannt die Lage in Europa war. Der Zusammenhalt des
Dreibundes zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien war fraglich,
während sich die Entente zwischen Großbritannien und Frankreich als immer stärker
erwies und eine Annäherung an Russland suchte. Die strategisch wichtige Position
der Türkei rückte das Land daher in die deutsche Bündnisüberlegungen als Option
gegen die Entente. Die bisherigen Berichte über die Zustände in den türkischen
Streitkräften waren aber alles andere als hoffnungsvoll und dies sollte sich auch unter
der neuen Militärmission zunächst nicht ändern.
Liman berichtete nach Berlin in den schwärzesten Farben über die Verfassung des
Heeres. Die Truppen, die er besichtigte, waren unterernährt und seit langem nicht
mehr bezahlt worden. Von moderner militärischer Ausrüstung konnte keine Rede sein
und die Ausbildung des Offizierkorps spottete jeder Beschreibung.295 Von spürbaren
Erfolgen der vorherigen deutschen Militärberater konnte er nicht berichten. Zudem
waren die hygienischen Zustände in den Kasernen und die sanitätsdienstliche
Versorgung – gelinde gesagt – katastrophal, wie der bayerische Oberstabsarzt und
türkische Sanitäts-Oberstleutnant Prof. Dr. Georg Mayer, der ebenfalls der
Militärmission unterstand, entsetzt feststellte.296
294
Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band II) 1963, S. 436-438. Längerfristig beabsichtigte man
damit wohl auch die türkische Abhängigkeit von deutschen Rüstungslieferungen weiter zu verstärken,
die bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beständig größer wurde. Siehe hierzu Kapitel II.1.b).
295
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 19. Zum Zustand der osmanischen Streitkräfte 1914 siehe auch
auch Kapitel III.1.
296
Zu den Erfahrungen Mayers siehe S. 115-117 u. 139. Mayer, der nach seinem Wehrdienst als
einjährig Freiwilliger der bayerischen Armee zunächst ein ziviles Medizinstudium absolvierte, tat sich
besonders auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung hervor. Dadurch und durch seine in China
gesammelten „Auslandserfahrungen“ wurde er für die Stelle des obersten Sanitätsoffiziers der
Militärmission ausgewählt. Ein Überblick über den Werdegang Mayers bis zu seinem Eintritt in
türkische Dienste ist zu finden bei: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 61-64.
88
Hinzu kamen erste Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen deutschen und
türkischen Stellen. Insbesondere das schlechte persönliche Verhältnis zwischen
Liman von Sanders und Kriegsminister Enver Pascha war einer raschen und vor
allem effektiven Heeresreform nicht gerade zuträglich.297 So hatte Enver direkt nach
seinem Amtsantritt über 1.000 Offiziere unter dem Vorwand, sie seien zu alt oder
„ineffektiv“, aus der Armee entfernen lassen, wogegen Liman heftig protestierte.
Allerdings tat er dies nicht wegen möglicher Schäden für die Moral der Truppe oder
wegen der Internierung verschiedener Offiziere, sondern hauptsächlich weil er sich
bei der Beschlußfassung übergangen fühlte und eine politische Demonstration Envers
befürchtete, die seine eigene Position zu schwächen drohte.298 Für den Deutschen
ging es vorrangig um die Sicherung seiner eigenen Kompetenzen und erst danach um
den Zustand der Armee, obwohl die „Entlassungskriterien“ Envers offenbar eher vage
waren und die bewaffnete Macht mindestens kurzfristig weiter schwächten.299
Die Ansicht des Chefs des deutschen Generalstabes Helmuth von Moltke über den
Wert des Osmanischen Reichs als potentiellen Verbündeten ist dementsprechend
düster. Wie Liman berichtet, habe der General bereits im Dezember 1913 keinerlei
Hoffnung in die türkischen Fähigkeiten gesetzt und Liman mit auf den Weg gegeben:
„Ich verstehe nicht, warum wir eine Militär-Mission nach der Türkei senden.
Angesichts des Zustandes dieser Armee, der doch nicht zu helfen ist, ist dies ganz
nutzlos. – Ich habe zum wenigsten in den Contrakt aufnehmen lassen, dass Sie alle im
Falle eines Krieges zurückberufen werden können.“300
Gute drei Monate nach Beginn der Tätigkeit der deutschen Militärmission, im März
1914, hatte sich die Einstellung des Generalstabchefs nicht geändert, wie er dem Chef
des k.u.k. österreichisch-ungarischen Generalstabes Franz Freiherr Conrad von
297
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 143-145.
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 17f. Liman spricht von etwa 1.100 Offizieren und
Pomiankowski sogar von etwa 2.000 Offizieren. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 40.
299
Detaillierte Angaben über die Entlassenen liegen nicht vor. Es ist jedoch zu vermuten, daß die
jungtürkische Regierung hier „politisch mißliebige“ sowie verbliebene Offiziere des hamidischen
Regimes entfernte, um die Stellen mit Vertrauensleuten zu besetzen, die sich nicht zwangsläufig durch
höhere militärische Qualifiktation auszeichnen mußten.
300
Brief Marschall Liman von Sanders an das Reichsarchiv vom 01.08.1924. BAMA Freiburg, W 10/
51677, Der Krieg der Türkei. (Im Folgenden: W 10/ 51677, Brief Marschall Liman an das
Reichsarchiv)
298
89
Hötzendorf schrieb: „Die Türkei ist militärisch eine Null! [...] Unsere Militärmission
gleicht einem Ärztekollegium, das am Sterbebett eines unheilbar Kranken steht.“301
Der deutsche Kaiser hatte im April 1914 ebenfalls ein düsteres Bild der osmanischen
Armee gezeichnet und noch Mitte Mai brachte Moltke in einer Denkschrift zum
Ausdruck, daß mit der Hohen Pforte als Bündnispartner für das Deutsche Reich auf
absehbare Zeit überhaupt nicht zu rechnen sei.302 Am 12. Mai bekräftigte Moltke
seine Einstellung, als er gegenüber Conrad die türkische Armee als „absolut wertlos“
bezeichnete. Beide Generäle waren sich zudem einig, daß der Ausbau der
osmanischen Flotte nur eine Verschwendung von – hauptsächlich geliehenen –
Geldmitteln sei.303 Zweifellos hatten hier die Erfahrungen der deutschen
Reformoffiziere ihre Wirkung getan. Allerdings muß bedacht werden, daß bei diesen
Beurteilungen rein militärische Überlegungen im Vordergrund stehen. Die
strategische Bedeutung eines verbündeten Osmanischen Reiches, das operative
Möglichkeiten gegen „neuralgische Punkte“ der Ententemächte bot, wurden noch
außer Acht gelassen. Zwar bestand die einzige realistische und sehr wirkungsvolle
Option für die Hohe Pforte in der Sperrung der Meerengen, doch die – wie sich
erweisen sollte „utopischen“ – Pläne zum Suez-Kanal, im Kaukasus und in Richtung
Indien vorzustoßen, beschäftigten während des Krieges nicht nur die Generalstäbe
beider Seiten, sondern banden Kräfte der Mittelmächte und vor allem der Entente in
nicht zu vernachlässigendem Ausmaße.
Diese Faktoren tauchten jedoch erst im Kalkül der deutschen Führung auf, als am 28.
Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger und seine Gemahlin ermordet
wurden und „das Signal des heranziehenden Ungewitters“ gegeben war.304
301
Brief Moltkes an Conrad von Hötzendorf vom 13.3.1914. Conrad von Hötzendorf, Franz: Aus
meiner Dienstzei 1906-1918 – Dritter Band: 1913 und das erste Halbjahr 1914. Der Ausgang des
Balkankrieges und die Zeit bis zum Fürstenmord in Sarajevo, Wien/Leipzig/München 1922, S. 612.
(Im Folgenden: Conrad, Aus meiner Dienstzeit III, 1922)
302
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 150f.
303
Conrad, Aus meiner Dienstzeit III, 1922, S. 672.
304
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 69.
90
c) Die deutsch-osmanische Zusammenarbeit bis zum Kriegseintritt der Türkei
In der Phase gespannter Erwartung und diplomatischer Hektik vor Ausbruch des
Ersten Weltkrieges war das Deutsche Reich verstärkt auf der Suche nach
Verbündeten. Der Dreibund-Partner Italien ließ seit längerem wenig Bereitschaft
erkennen, aktiv in einen europäischen Krieg einzutreten, und bald wurde deutlich,
daß Deutschland und Österreich-Ungarn weitgehend isoliert waren. Das Osmanische
Reich gewann als möglicher Verbündeter an Attraktivität. In der politisch brisanten
Lage zeigte Deutschland sogar die wachsende Bereitschaft, ein formelles Bündnis mit
der Hohen Pforte einzugehen und damit endgültig jede Zurückhaltung in der
Orientpolitik aufzugeben.305 Dementsprechend war es an der Zeit, Erfolgsmeldungen
über die deutsche Reformtätigkeit zu verlautbaren. Am 23. Juli 1914 nahm der Sultan
anläßlich eines türkischen Feiertages eine Militärparade in Konstantinopel ab. Die
Truppen, die dort vorbeimarschierten, waren tadellos gekleidet, ausgerüstet und
gedrillt, wie der deutsche und der US-amerikanische Botschafter beeindruckt
berichteten. Dabei hatte Liman von Sanders diese Parade offenbar inszeniert, indem
er die besten Truppenteile aus dem ganzen Reich und sämtliche verfügbare
Ausrüstung heranschaffen ließ.306 Schon gut eine Woche später, am 31. Juli, meldete
der deutsche Botschafter Freiherr von Wangenheim nach Berlin, laut einer Aussage
des Chefs der Militärmission könne die Türkei im Kriegsfalle 4-5 einsatzbereite
Armeekorps aufbieten, deren Qualität deutlich besser sei als noch zu Zeiten der
Balkankriege.307 Auch wenn zur gleichen Zeit der k.u.k. Militärbevollmächtigte die
erfolgreiche Arbeit der deutschen Militärmission in Anbetracht der kurzen
Vorbereitungszeit ausdrücklich lobt und die osmanischen Truppen im Kriege wirklich
erstaunliche Leistungen erbrachten, so ist der plötzliche deutsche Optimismus
zumindest überraschend.308 Es steht zu vermuten, daß ein Richtungswechsel in der
305
Damit war der vollständige Bruch mit mit dem bismarckschen Grundsatz der „Peripherie-Politik“
vollzogen, der auch die wilhelminische „Weltpolitik“ noch bis Kriegsausbruch beeinflusst hatte, um
sich mit den Ententemächten – auch in anderen, europäischen Fragen – politisch zu verständigen zu
können. Schöllgen, Gregor: Imperialismus und Gleichgewicht – Deutschland, England und die
orientalische Frage 1871-1914, München 1984, S. 329-347 u. 380-392. (Im Folgenden: Schöllgen,
Imperialismus und Gleichgewicht 1984.)
306
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 135-136.
307
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 151.
308
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 41.
91
nahöstlichen Außenpolitik angesichts des drohenden Krieges die berichtenden Stellen
dazu veranlaßte, ein möglichst „ansprechendes“ Bild abzugeben. Bezeichnenderweise
hatte der deutsche Botschafter nämlich noch am 22. Juli – also einen Tag bevor er
Zeuge der „großartigen Parade“ wurde – ein Angebot Enver Paschas zu einer engeren
Zusammenarbeit, die in einem formellen Bündnis münden sollte, rundweg
abgelehnt.309
Andererseits hatten Mitglieder der türkischen Regierung Sondierungsgespräche mit
Frankreich und sogar mit Russland geführt. Allerdings wurden sämtliche
Bündnisangebote in mehr oder minder direkter Art und Weise abgewiesen.310 Das
Ziel der Gespräche war die Erhaltung des territorialen status quo in Form einer
Einigung mit Russland oder durch Schutz der Entente. Die Ententemächte
entschieden jedoch ohne längeres Zögern, daß eine Allianz mit Russland und den
damit verbundenen Interessen des Zaren am Bosporus wünschenswerter sei als ein
Bündnis mit dem Osmanischen Reich.311 Als letzte starke Verbindung zu den
westeuropäischen Großmächten blieb dem Sultan daher nur der Kontakt nach
Großbritannien über die britische Marinemission und die Flottenrüstung.312
Möglicherweise aus der Erfahrung mit den älteren Schiffen aus Deutschland
resultierend, die zu dieser Zeit bereits nicht mehr als Prestigeobjekte angesehen
werden konnten, bestimmt aber durch den wirtschaftlichen Einfluß der britischen
Marineberater, hatte die Hohe Pforte bereits einige Jahre zuvor zwei neue
Dreadnought-Schlachtschiffe in britischen Werften in Auftrag gegeben, die „Sultan
Osman I.“ und die „Reschadieh V.“.313 Die britische Regierung beschloß jedoch,
309
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 15.
Zum Angebot an das Russische Reich: Bodger, Allan: Russia and the Ottoman Empire 1984, S. 96.
Zu den Verhandlungen mit Frankreich: Fulton, Bruce L.: France and the End of the Ottoman Empire,
in: : Kent, Marian (Hrsg.): The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London 1984, S.
161f.
311
Emin, Turkey 1930, S. 66.
312
Offenbar spielten die französischen Instruktoren der Jandarma keine so gewichtige Rolle, da sie in
diesem diplomatischen Zusammenhang nirgendwo Erwähnung finden.
313
Carver, Michael: The National Army Museum Book of the Turkish Front 1914-18 – The
Campaigns at Gallipoli, in Mesopotamia and in Palestine, London 2004, S. 5. (Im Folgenden: Carver,
Turkish Front 2004.) Die beiden Schiffe wurden unter den Namen „HMS Erin“ („Reschadieh V.“)
beziehungsweise „HMS Agincourt“ („Sultan Osman I.“) in die britische Flotte eingegliedert. Jung,
Peter: Der k.u.k. Wüstenkrieg – Österreich-Ungarn im Vorderen Orient 1915-1918, Graz/Wien/Köln
1992, Anm. 13, S. 173. (Im Folgenden: Jung, Der Wüstenkrieg 1992.)
310
92
beide Schiffe für die eigene Flotte zu requirieren, da die Fertigstellung praktisch mit
der Mobilmachung am 1. August zusammenfiel. Die türkischen Besatzungen, die
extra angereist waren, um die neuen Schiffe zu übernehmen, telegraphierten ihre
Empörung nach Konstantinopel, während die offizielle britische Stellungnahme erst
am 3. August erging.314 Dort fanden – angeheizt durch von deutscher Seite finanzierte
Pressekampagnen – öffentliche Proteste in großem Ausmaße statt, hatten doch
öffentliche Anleihen und Spenden die Finanzierung ermöglicht und eine „gut
organisierte Begeisterung“ hervorgerufen.315 Ob diese beiden Schiffe militärisch
ausschlaggebend gewesen wären, erscheint zumindest fragwürdig, bedenkt man, daß
Konstantinopel ebensowenig über ausreichende Werft- und Wartungskapazitäten für
solche
moderne
Schiffe
316
Ersatzteilfabriken.
verfügte
wie
über
geeignete
Munitions-
oder
Der Prestige- und damit der politische Wert der Schiffe wurde
im Osmanischen Reich allerdings hoch eingeschätzt und daher muß konstatiert
werden, daß Großbritannien durch dieses Vorgehen die Türkei mittelbar in das Lager
der Mittelmächte trieb.
Am 2. August 1914, also einen Tag vor der offiziellen Konfiskation der Schiffe,
unterzeichneten Botschafter Freiherr von Wangenheim und Großwesir Said Halim
Pascha einen Geheimvertrag, dessen Kern ein Verteidigungsbündnis gegen Russland
darstellte. Deutschland und die Türkei verpflichteten sich zunächst zur Neutralität im
Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien. Sollte das Russische Reich jedoch
in den Krieg eingreifen und damit für Deutschland im Rahmen der Vereinbarungen
mit dem österreichischen Verbündeten den Bündnisfall auslösen, so sollte das
Osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg eintreten.317 Die
deutsche Kriegserklärung an Russland am 1. August hatte den Vertrag allerdings zu
einem hauptsächlich symbolischen Akt degradiert, da die Hohe Pforte nun nicht mehr
314
Trumpener rechtfertigt diesen Schritt nachträglich mit einem türkischen Angebot, beide Schiffe in
deutsche Häfen einlaufen zu lassen, anstatt sie nach Konstantinopel zu überführen. Trumpener,
Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 24.
315
Palmer, Alan: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, München/Leipzig 1992, S. 321f.
(Im Folgenden: Palmer, Verfall 1992.) Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 78f.
316
Der Ausbildungsstand der türkischen Marine entsprach nicht den Anforderungen moderner
Kriegsschiffe, wie auch an spätere Stelle noch zu zeigen sein wird. Siehe unten, S. 139f.
317
Eine Paraphrasierung des Vertrages ist abgedruckt bei: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 270.
93
gezwungen war, auf deutscher Seite zu kämpfen.318 Das Osmanische Reich erklärte
am 5. August seine Neutralität, die aufgrund der bereits am 2. August erlassenen
Generalmobilmachung zur „bewaffneten Neutralität“ wurde.319
Zu diesem Zeitpunkt war trotz der Geheimhaltung des Bündnisvertrages mit dem
Deutschen Reich bereits deutlich geworden, daß die Ententemächte den Großteil der
Sympathien am Bosporus verspielt hatten. Doch auch jetzt noch war ein türkischer
Kriegseintritt
auf
Seiten
der
Mittelmächte
keineswegs
sichergestellt.
Die
Beziehungen zur Wiener Hofburg waren seit der Annexion Bosnien-Herzegowinas
belastet und noch im Mai 1914 schrieb der k.u.k. Militärbevollmächtigte an Conrad
von Hötzendorf, daß der Versuch der Habsburger-Monarchie in Südanatolien eine
österreichisch-ungarische Einflußsphäre zu schaffen, das Verhältnis zur türkischen
Regierung weiter verschlechtert habe.320
Von deutscher Seite war der Versuch unternommen worden, mit Hilfe des
Geheimvertrages das „tatsächliche Oberkommando“ über die türkische Armee zu
erlangen. Der Reichskanzler hatte diese Formulierung in die Verhandlungen
eingebracht, möglicherweise rekurrierte er dabei auf die Berichte und Empfehlungen
der Offiziere aus den Balkankriegen, die eine umfassende deutsche Kontrolle
gefordert hatten, um überhaupt mit der osmanischen Armee militärisch erfolgreich
sein zu können. Die Formulierung wurde jedoch abgeändert. Da das Oberkommando
nominell beim Sultan lag, der kaum von Deutschland übergangen werden konnte,
wollte man keine Mißstimmung erzeugen.321 Der osmanische Vertragspartner konnte
sich hier geschickt eines deutschen Überrumpelungsversuches erwehren. Die
Tatsache, daß es überhaupt zu solch einer „Verteidigung“ kommen mußte, weckte
318
Zu den Kriegsplänen und dem damit verbunden Ablauf der Kriegserklärungen siehe: Strachan,
Hew: Der Erste Weltkrieg – Eine neue illustrierte Geschichte, München 22004, S. 63-71. (Im
Folgenden: Strachan: Der Erste Weltkrieg 2004.)
319
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 24. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 40.
320
Brief Pomiankowskis an Conrad vom 13. Mai 1914. Conrad, Aus meiner Dienstzeit III, 1922, S.
655. Die Donaumonarchie erwog kurzzeitig eine „Kolonisierung“ der Küstengebiete Südanatoliens,
die jedoch verständlicherweise beim Sultan auf Ablehnung stieß. Mit diesen Plänen verband die
Wiener Hofburg zugleich die Bemühungen, das Osmanische Reich wirtschaftlich soweit zu stärken,
daß es als Partner gegen die neuentstandenen Balkanstaaten fungieren und seine westlichen
Besitzungen sichern konnte. Sollte das Reich dennoch zerfallen, so hätte man sich wenigstens „ein
kleines Stück vom Kuchen“ gesichert. Bridge, F.R.: The Habsburg Monarchy and the Ottoman Empire
1900-1918, in: Kent, Marian (Hrsg.): The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, London
1984, S. 43ff.
321
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 158.
94
zugleich neues Mißtrauen gegenüber den deutschen „Helfern“. Außerdem fühlten
sich die entente-freundlichen Regierungsmitglieder, die sich am 3. August vor
vollendete Tatsachen gestellt sahen, von Enver hintergangen, was die Stellung des
Kriegsministers und indirekt auch Deutschlands in Konstantinopel schwächte.322
Wohl nicht zu Unrecht fürchtete man in Berlin eine einseitige Aufkündigung des
Vertrages durch die Hohe Pforte, sollten militärische Anfangserfolge an den
europäischen Fronten ausbleiben.323 Es setzte nunmehr hektische Aktivität auf allen
diplomatischen Kanälen ein. Die Entente bemühte sich um die Beibehaltung der
türkischen Neutralität, während die Mittelmächte – insbesondere Deutschland –
versuchten, die jungtürkischen Machthaber zum Kriegseintritt zu bewegen. Der
Großwesir war dabei sehr zurückhaltend, wohl auch aus Angst um seinen
umfangreichen Besitz im britisch kontrollierten Ägypten.324 Der Finanzminister
Djavid Bey kritisierte die weitgehende Unterstellung unter deutsche Kontrolle, die
auch den abgeschwächten Vertrag prägte, und Marineminister Djemal Pascha, der
erst nachträglich von dem Vertrag erfuhr, erhoffte sich dadurch eine Friedensperiode
für die Türkei, in der das Land durch den Krieg der übrigen Großmächte
wirtschaftlich
gewinnen
könne.
Lediglich
Innenminister
Talaat
Bey
und
Kriegsminister Enver Pascha sahen in dem deutsch-türkischen Bündnis eine Chance
für militärische Erfolge an der Seite der Mittelmächte. Talaat stand dem Abkommen
aber dennoch weit weniger enthusiastisch gegenüber als Enver.325 Damit war von den
fünf mächtigsten Männern im Osmanischen Reich zunächst nur ein einziger voll von
der Allianz mit Berlin und ihren vorhersehbaren kriegerischen Implikationen
überzeugt. Der Sultan als offizieller Herrscher des asiatischen Reiches besaß keinen
realen
Einfluß
auf
die
Entscheidungsprozesse.
Vielmehr
galt
er
als
Repräsentationsfigur, die von dem jungtürkischen Minister in der Öffentlichkeit
benötigt wurde. Politische Entscheidungen konnten von den Mitgliedern der
Regierungspartei durch die umfassenden Änderungen in der osmanischen Verfassung
im Zuge der Absetzung Abdul Hamids II. weitestgehend ohne ihn getroffen
322
Larcher, Maurice: La Guerre Turque dans la Guerre Mondiale, Paris 1926, S. 38. (Im Folgenden :
Larcher, La Guerre Turque 1926)
323
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 75.
324
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 76.
325
Emin, Turkey 1930, S. 68.
95
werden.326 Doch Enver Pascha besaß auch als Kriegsminister und Chef des
Generalstabes der Armee nicht die Machtfülle, seine politischen Gegner einfach
übergehen zu können. Dafür bot sich der türkischen Seite endlich die Gelegenheit,
aus einer vorteilhaften Verhandlungsposition heraus den europäischen Großmächten
zu begegnen. Nach Jahren offener oder verdeckter Geringschätzung war dies ein
nicht zu unterschätzender psychologischer Faktor. Ob ernsthafte Bedenken bestanden
hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Armee oder der Zustände bei der Truppe, der
Rüstungskapazitäten oder der wirtschaftlichen Folgen für die Bevölkerung darf mit
Blick auf das Verhalten der Führungsschichten am Bosporus vor und während des
Ersten Weltkrieges mit Recht bezweifelt werden. Die bessere Verhandlungsposition
sollte sich allerdings schon bald für die Türkei auszahlen.
Die deutsche kaiserliche Marine besaß im Mittelmeer ein kleines Kontingent an
Schiffen, die „Mittelmeer-Division“, bestehend aus dem Panzerkreuzer „S.M.S.
Goeben“ und dem kleineren Geschützten Kreuzer „S.M.S. Breslau“.327 Diese
„Mittelmeer-Division“ war auf sich gestellt und nicht in der Lage, den kombinierten
britischen und
französischen, deutlich überlegenen Seestreitkräfte wirksam
entgegenzutreten. Daher entschloß sich der Admiralstab in Berlin am Morgen des 4.
August 1914, den Befehlshaber des Verbandes, Konteradmiral Wilhelm Souchon,
anzuweisen, in Richtung Dardanellen zu fahren und im Hafen von Konstantinopel
anzulegen.328 Noch während der Kohlenaufnahme im neutralen italienischen Hafen
von Messina erreichte Souchon am 6. August der Gegenbefehl, der ein Einlaufen in
Konstantinopel aufgrund politischer Umstände untersagte. Der deutsche Flottenchef
entschied sich allerdings, diesen Befehl nicht zu befolgen, angeblich aus politischer
Weitsicht, vermutlich aber auch aus der Sorge, bei einem Einlaufen in die Adria
durch die defensive k.u.k. Flottenstrategie dann lediglich im Hafen von Pola
festzuliegen.329 Diese Entscheidung führte dazu, daß zwei deutsche Kriegsschiffe in
Richtung Dardanellen dampften, verfolgt von britischen Schiffen, obwohl es nicht
326
Palmer, Verfall 1992, S. 303f.
Zu technischen Daten der beiden Schiffe siehe: Lorey, Hermann: Der Krieg in den türkischen
Gewässern, Erster Band: Die Mittelmeer-Division, Berlin 1928, S. 1f. (Im Folgenden: Lorey, Krieg I,
1928)
328
Lorey, Krieg I, 1928, S. 5.
329
Ebd., S. 14f.
327
96
gesichert schien, daß den Schiffen überhaupt die Einfahrt in die Dardanellen gestattet
werden würde, zumal diese bereits mit Ausgabe der türkischen Teilmobilmachung (1.
August) für die militärische Schifffahrt gesperrt worden waren.330
Zum Glück für den Konteradmiral hatte das türkische Kabinett mittlerweile seine
Meinung wieder geändert und war bereit, die „Goeben“ und die „Breslau“ einfahren
zu lassen. Allerdings nutzte Said Halim Pascha die Gelegenheit, dem deutschen
Botschafter einige schmerzhafte Zugeständnisse abzuringen. Deutschland sollte sich
verpflichten, das Osmanische Reich bei der Abschaffung der Kapitulationen zu
unterstützen sowie bei eventuellen Friedens- oder gar Bündnisverhandlungen mit
Rumänien und Bulgarien für die Pforte Partei nehmen. Zudem forderte der Großwesir
deutschen Einsatz für eine Erweiterung der türkischen Grenzen im Kaukasus, und bei
der Rückgewinnung der Ägäischen Inseln sollte Griechenland in die Schranken
gewiesen werden. Schließlich wurde festgelegt, daß die Türkei eine angemessene
Kriegsentschädigung erhalten solle und das Deutsche Reich keinen Separatfrieden
schließen dürfe, solange noch Teile des Osmanischen Reiches besetzt wären.
Aus Angst, den deutschen Schiffen könne im letzten Moment noch die rettende
Einfahrt in die Dardanellen verwehrt werden, stimmte Freiherr von Wangenheim zu,
da die deutsche Seite kaum damit rechnete, die vertraglichen Vereinbarungen
einhalten zu müssen.331 Am 10. August 1914 gingen die Schiffe der „MittelmeerDivision“ vor Konstantinopel vor Anker.332 Schon wenige Tage später wurden beide
Schiffe durch einen fiktiven Verkauf osmanischer „Besitz“.333 Die Schiffe erhielten
türkische Namen, die Besatzungen trugen türkische Uniformen, und die HalbmondFlagge wurde gehißt. Die britischen Verfolger mußten sich mit dieser Erklärung
abfinden, da London zu diesem Zeitpunkt noch immer auf die Neutralität der
Osmanen hoffte.334 Die Öffentlichkeit in Konstantinopel feierte die beiden deutschen
Schiffe auch als Ausgleich für den Verlust durch die britische Requisition. Die
330
Emin, Turkey 1930, S. 72.
Immerhin handelte es sich bei den osmanischen Forderungen um Maximalforderungen, die nur im
Falle eines vollständigen Sieges realistisch waren. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire
1968, S. 28f.
332
Lorey, Krieg I, 1928, S. 21.
333
Im Kriegstagebuch der Mittelmeerdivision ist eindeutig vermerkt, daß die Schiffe
„selbstverständlich“ deutsch bleiben. Kriegstagebuch der Mittelmeerdivision, Eintrag 12.08.1914.
BAMA Freiburg, RM 40/ 184, Blatt 174. (Im Folgenden: RM 40/ 184, KTB Mittelmeerdivision.)
334
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 18.
331
97
jungtürkischen Führer teilten diesen Enthusiasmus in realistischer Einschätzung der
maritimen Schwäche jedoch nicht, und so stellten sie auch noch an Wien die Anfrage,
ob nicht aus der Adria einige k.u.k. Schiffe nach Konstantinopel verlegt werden
könnten.335
Dennoch kann das Einlaufen und die Übernahme der deutschen Schiffe als
richtungweisend für die türkische Bündnispolitik im Ersten Weltkrieg angesehen
werden. Unter dem wachsenden Druck aus Berlin zum sofortigen Kriegseintritt der
Osmanen hatte Enver Pascha noch am 5. August ein Bündnisangebot an Russland
gerichtet. Dieses Angebot wurde am 9. August sogar um eine mögliche Waffenhilfe
gegen Österreich-Ungarn auf dem Balkan erweitert.336 Obwohl die russische
Regierung das türkische Ersuchen abgelehnt hatte, erregten die Verhandlungen auf
deutscher Seite einige Besorgnis.
„Es war dies in der Tat ein weitgehendes Doppelspiel, sodass sogar die Vermutung
aufgetaucht ist, dass diese Sondierungen nicht nur zum Schein unternommen
wurden.“337
In jedem Fall schlug das osmanische Pendel nach dem 10. August deutlich zugunsten
der Mittelmächte aus. Am 15. August stellte die britische Marinemission offiziell ihre
Arbeit ein, verblieb aber trotz der Bitte ihres Chefs um Abberufung einstweilen in
Konstantinopel.338 Der letzte Schritt zum praktischen Abbruch der Beziehungen mit
der Entente war die Beendigung der britischen Marinemission und die Abreise der
Berater am 15. September 1914. Am 9. September hatte die Hohe Pforte einseitig die
Abschaffung der Kapitulationen verkündet. Die deutschen und österreichischungarischen Botschafter fühlten sich durch diese Maßnahme dermaßen überrumpelt,
daß sie gemeinsam mit den Botschaftern der Entente, Russlands und Italiens offiziell
dagegen protestierten.339 Dennoch mußten sich die Entscheidungsträger in Berlin und
Wien schließlich „mit recht sauren Mienen“ einverstanden erklären.340 Durch diese
335
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 74.
Manuskript von Carl Mühlmann „Der Eintritt der Türkei in den Weltkrieg“, o. Dat. BAMA
Freiburg, W 10/ 51677, S. 3. (Im Folgenden: W 10/ 51677, Manuskript Mühlmanns.)
337
W 10/ 51677, Manuskript Mühlmanns, S. 5.
338
Palmer, Verfall 1992, S. 323. Chris B. Rooney, "The International Significance of British Naval
Missions to the Ottoman Empire, 1908-1914," Middle Eastern Studies, Vol. 34, no. 1 (January 1998).
Zit. nach: http://www.library.cornell.edu/colldev/mideast/ottus.htm (Stand: 28.11.06.)
339
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 38.
340
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 78.
336
98
Maßnahme hatte die türkische Seite unmißverständlich klar gemacht, daß sie sich als
gleichberechtigter Partner sah und keineswegs gedachte, weiterhin Spielball anderer
Großmächte zu bleiben. In Deutschland war man sich dagegen bewußt, daß ein
Bündnis mit der Türkei einen wichtigen Impuls für die Kriegführung geben könnte,
war allerdings nicht bereit, jeden Preis für das Bündnis zu bezahlen. Die türkeikritischen Stimmen in Berlin wurden lauter und forderten mit Erfolg Verhandlungen
über „Ersatzprivilegien“ für die abgeschafften Kapitulationen.341
Offenbar herrschten demnach in Berlin und Konstantinopel recht unterschiedliche
Vorstellungen davon, was die Ziele eines gemeinsamen Bündnisses sein sollten. Das
Deutsche Reich tat sich dabei schwer über militärische Vorteile hinausgehende Ziele
zu formulieren, was nicht zuletzt wohl daran lag, daß die gesamte deutsche
„Weltpolitik“ keinem näher definierbaren Ziel folgte.342 Die Absichten, die
Deutschland aus strategischer Sicht mit einem Bündnis verfolgte, ergaben sich
größtenteils aus der geographischen Lage des Osmanischen Reiches. Es grenzte im
Kaukasus an das Russische Reich, bot dort eine neue Front gegen die Armee des
Zaren und konnte durch die Sperrung des Schwarzmeer-Zugangs und -Ausgangs
Druck auf St. Petersburg ausüben. Zudem bestand theoretisch die oben erwähnte
Möglichkeit, das Britische Empire am Suez-Kanal zu bedrohen.343 Sollte das nicht
möglich sein, so erhoffte man sich in Berlin zumindest, britische und russische
Truppen an anderen Fronten zu „beschäftigen“, während in Europa gekämpft
wurde.344 Neben diesen beiden – aus deutscher Sicht – „Hauptfronten“ im Schwarzen
Meer und am Suez-Kanal, erhoffte sich Berlin Auswirkungen eines Bündnisses auf
die Haltung der Balkanstaaten. So glaubten sowohl Deutschland als auch ÖsterreichUngarn zumindest an eine fortdauernde Neutralität – oder gar ein Beitrittsgesuch –
Rumäniens, Bulgariens und Griechenlands, sollte das Osmanische Reich sich den
341
Weber, Eagles on the Crescent 1970, S. 165.
Baumgart, Winfried: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus (1890-1914) – Grundkräfte,
Thesen und Strukturen, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1972, S. 50-53.
343
Der deutsche General- und der Admiralstab sahen einhellig die Bedrohung Russlands als primäre
Aufgabe und dann das „Abschneiden der britischen Lebensader“ in Ägypten als zweite Aufgabe. Brief
von Admiral Tirpitz an Admiral Souchon vom 14.08.1914, BAMA Freiburg N 156/2, Blatt 1. Wallach,
Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 160.
344
Weber, Eagles on the Crescent 1970, S. 59.
342
99
Mittelmächten anschließen.345 Von Interessen Deutschlands an einer Weiterführung
der Baghdadbahn oder von möglichen Gebietsansprüchen im Kaukasus war zunächst
keine Rede. Dies verwundert nicht, da beide Gebiete für das grundsätzliche Ziel, den
Krieg rasch zu gewinnen, kaum von Bedeutung waren und eine wirkliche
„Kriegszieldebatte“ in Deutschland erst mit zunehmender Dauer des Krieges
aufkam.346
Für das Osmanische Reich war der Kaukasus hingegen von Beginn an eines der
Hauptmotive für ein Bündnis mit den Mittelmächten. Enver Pascha, wie auch ein
beachtlicher Teil der jungtürkischen Partei sah die Teile des Kaukasus mit
überwiegend muslimischer Bevölkerung im Zuge des Panturanismus als Teil des
osmanischen Einflußbereichs an. Daher wurde noch vor dem Einlaufen der
Deutschen Mittelmeerdivison von Deutschland Unterstützung bei angestrebten
„Grenzkorrekturen“ an der russischen Grenze gefordert.347 Für die Türkei war in
jedem Falle Russland der Hauptgegner, denn das Zarenreich forderte schon seit
langem die Kontrolle über die Dardanellen und Konstantinopel fürchtete – wohl nicht
ganz zu Unrecht –, daß der Zar seine Ziele notfalls auch durch eine Zerschlagung des
als schwach emfpundenen Osmanischen Reiches durchsetzen wollte.348 Die
jungtürkische Regierung wollte jedoch die Souveränität des Reiches und die
Machtposition der Partei unbedingt erhalten und sah diese Option in der Koalition mit
den Mittelmächten am besten gewährleistet. In zweiter Linie orientierten sich die
türkischen Erwartungen in Richtung Südost-Europa. Hier hoffte man auf die
abschreckende Wirkung des Waffenbündnisses gegenüber den früheren Gegnern
Bulgarien und Rumänien, deren Haltung zu den Kriegsparteien fraglich blieb.
Außerdem erhoffte man sich deutsche Vermittlung in der Frage der Ägäischen Inseln,
welche die Türkei an Griechenland – auf das der Deutsche Kaiser einen nicht
345
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 24f. Weber, Eagles on the Crescent 1970,
S. 82.
346
Laak, Dirk van: Über alles in der Welt – Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert,
München 2005, S. 95-101. Einen vergleichenden Überblick – leider unter Ausklammerung des
Osmanischen Reiches – bietet: Soutou, Georges-Henri: Die Kriegsziele des Deutschen Reiches,
Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges: ein
Vergleich, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – Wirkung, Wahrnehmung, Analysen,
München (u.a.) 1994, S. 28 – 53.
347
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 28.
348
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 26.
100
unerheblichen Einfluß besaß – verloren hatte.349 Für ein gemeinsames Vorgehen
gegen die westlichen Ententemächte bestanden am Goldenen Horn hingegen keine
Pläne.350 Offenbar besaßen die überwiegend von den arabischen Untertanen
bewohnten südlichen Provinzen, die zugleich die möglichen Fronten mit
Großbritannien waren, in den Überlegungen der türkischen Führung nur eine
untergeordnete Rolle.
Die jeweiligen Erwartungen an die Zusammenarbeit divergierten demnach
beträchtlich, sieht man einmal von der Absicht ab, den Krieg zu gewinnen. Im Falle
eines Sieges mußten die unterschiedlichen Interessenlagen jedoch ein beträchtliches
Konfliktpotential bergen. Diese Gedanken wurden vorerst aber hintangestellt, da die
allgemeine Lage jeden noch so vagen militärischen Vorteil erforderte. Für das
Deutsche Reich erschien daher der „Waffenbund“ mit einer vor kurzem noch als
„bündnisunfähig“ bezeichneten Großmacht wie eine Notlösung.351 Allerdings gab
sich offenbar auch der türkische Bundesgenosse kaum Illusionen über die
Beständigkeit der Vereinbarung hin. Enver Pascha gab gegenüber dem USBotschafter unumwunden zu, daß beide Bündnispartner ihre eigenen Interessen
verfolgten und den jeweils anderen nur so lange unterstützen würden, wie es für sie
von Vorteil sei.352
Die Gegensätzlichkeit der Interessen sollte im Laufe des Krieges noch deutlicher zu
Tage treten. Die Fassade der „deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft“ hatte aber
bereits erste Risse, bevor das Osmanische Reich überhaupt in den Krieg eingetreten
war.
Die deutsche Seite bemühte sich unterdessen – auch unter dem Eindruck der im
Frühherbst gescheiterten Offensive in Frankreich – verstärkt um einen Kriegseintritt
Konstantinopels. Wichtige Mittel hierfür waren bekanntlich bereits unter deutschem
Einfluß. Deutsche Heeresoffiziere besetzten Schlüsselfunktionen in den osmanischen
Streitkräften und nach dem Ende der britischen Marinemission übernahm der
deutsche Admiral Wilhelm Souchon, der nun offiziell im Dienste des Sultans stand,
349
Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht 1984, S. 410.
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 23.
351
Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht 1984, S. 417.
352
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 167.
350
101
am 24. September den Oberbefehl über die türkische Flotte.353 Schon kurz zuvor hatte
Souchon in seiner Funktion als Kommandant der deutschen Schiffe unter türkischer
Flagge versucht, gegen die russischen Schiffe im Schwarzen Meer vorzugehen. Am
14. September 1914 liefen Teile der türkischen Flotte aus, mit vollem Wissen und der
Unterstützung
des
osmanischen
Kriegsministers
Enver
Pascha,
um
einen
„Zwischenfall“ mit der russischen Marine zu provozieren. Das eigenmächtige
Handeln
Envers
führte
jedoch
zu
offenem
Streit
mit
den
übrigen
Regierungsmitgliedern, was Enver dazu zwang, die Vollmacht für Admiral Souchon
zu widerrufen.354
Zur gleichen Zeit verstärkte Berlin den Druck auf seine Offiziere am Bosporus, um
ein „Mitreißen der Türkei“ in den Krieg zu erreichen.355 Der deutsche Botschafter
war von diesem rigoroseren Vorgehen keineswegs begeistert. Insbesondere fürchtete
Freiherr
von
Wangenheim,
daß
eine
verstärkte
Flottenpräsenz
vor
der
356
Schwarzmeerküste Rumäniens das Land auf die Seite Russlands treiben könnte.
Noch weniger Interesse an einem Kriegseintritt zeigte die türkische Regierung, wie
aus einem Schreiben des Botschafters an das Auswärtige Amt deutlich wird:
„Izzet Pascha sagte zu Liman: ‚Wir stehen fest zu Ihnen. Aber ein Selbstmordopfer
können Sie von uns nicht verlangen. Auch Deutschland hat sich in den Nöten des
Balkankrieges für uns nicht geopfert. Siegen Sie irgendwo, so dass wir an Ihren
endgültigen Erfolg glauben können, dann werden Bulgarien und wir losgehen.’
Admiral Souchon hat heute im Einverständnis mit Enver und Großvezir erklärt, dass
er nicht hier sei um Komödianten zu spielen. Er verlange, dass die Flotte zu
Übungszwecken ins Schwarze Meer ausfahre. Eventuell würde er ohne Befehl fahren;
wenigstens mit den deutschen Schiffen. Infolgedessen ist, wie ich vertraulich erfahre,
Kabinettskrisis ausgebrochen.“357
In der scharfen Reaktion Souchons, der schon das Einlaufen in die Adria aus Sorge
vor möglicher Untätigkeit abgelehnt hatte, wird einmal mehr deutlich, daß
maßgebliche deutsche Offiziere bestrebt waren, möglichst bald und offenbar auch
353
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 155.
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 39f.
355
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 21.
356
Lorey, Krieg I, 1928, S. 42.
357
Brief Wangenheim an Auswärtiges Amt vom 19.9.1914. BAMA Freiburg, W 10/ 50285, Blatt 81f.
354
102
ohne Zustimmung der türkischen Regierung die Neutralität der Hohen Pforte zu
beenden.
Tatsächlich sollte gut einen Monat später der deutsche Admiral und nunmehr
osmanische Marine-Oberbefehlshaber entscheidend zum Kriegseintritt beitragen.
Ende Oktober 1914 lief der Großteil der türkischen Flotte erneut aus, diesmal mit
dem erklärten und sanktionierten Ziel, durch einen Angriff auf russische Schiffe den
Kriegszustand herbeizuführen. Bronsart von Schellendorf, der als stellvertretender
Chef des türkischen Generalstabes zu einem engen Vertrauten Enver Paschas
geworden war, hatte Admiral Souchon am 25.10. mitgeteilt, daß Enver ohne
Zustimmung des Ministerrates keinen Angriffsbefehl geben könne. Allerdings sei er
bereit, ein Auslaufen zu genehmigen und danach vertraulich einen Angriffsbefehl zu
erlassen, um die Minister vor vollendete Tatsachen zu stellen.358 Noch am gleichen
Tage soll Marineminister Djemal Pascha dem Admiral diesen Geheimbefehl
übergeben haben.359
Die deutsch-freundliche Fraktion in der türkischen Regierung unter Führung des
Kriegsministers hatte es geschafft, in gut einem Monat die einflußreichsten Minister
für sich zu gewinnen, unter ihnen auch den eigentlich francophilen Djemal Pascha.
Zwei Umstände trugen wesentlich dazu bei. Zum einen das weiterhin ungeschickte
Gebaren
der
Ententemächte,
die
durch
absichtliche
oder
unabsichtliche
Provokationen die öffentliche Meinung in Konstantinopel gegen sich aufbrachten.
Nach der Beschlagnahme der Schiffe und dem unrühmlichen Ende der
Marinemission hatten britische Schiffe am 26. September ein türkisches Torpedoboot
außerhalb der Dardanellen gestoppt und zurückgeschickt mit der Bemerkung, daß
zukünftig jedes türkische Schiff, welches die Meerengen verlasse, als feindlich
betrachtet werde.360 Zum anderen hatte die Hohe Pforte am 30. September bei der
deutschen Regierung einen Kredit über 5 Millionen Ltq erbeten. Berlin war aber nur
358
Brief Bronsart von Schellendorf an Souchon vom 25.10.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 2, Blatt 2.
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 166.
360
Vgl. Ebd., S. 161 und Lorey, Krieg I, 1928, S. 44. Lorey berichtet zudem, daß britische Kräfte am
14. Oktober 1914 ein türkisches Flugzeug abgeschossen hätten. In Anbetracht der äußerst
unterentwickelten Luftstreitkräfte im Osmanischen Reich (8 Maschinen. Erickson, Ordered to Die
2001, S. 227. ) und dem damit verbundenen „Sonderstatus“ ist es verwunderlich, daß nirgendwo sonst
von diesem Abschuß berichtet wird. Er ist daher fragwürdig.
359
103
bereit, die volle Summe zu genehmigen, wenn vorher die Türkei auf deutscher Seite
in den Krieg eintreten würde. Zunächst wurde eine „Anzahlung“ von 250.000 Ltq
angeboten, die später durch Verhandlungen auf 2 Millionen Ltq angehoben wurde.
Wie Souchon am 22.10. berichtete, hatte diese Zahlung den gewünschten Erfolg am
Bosporus:
„Das verlangte Geld für kriegerische Aktion (2 000 000 Ltg.[Ltq]) ist eingetroffen.
Enver Pascha will daher losschlagen.“361
Mit dem Befehl an Souchon vom 25.10. waren alle Weichen auf Kriegseintritt
gestellt.362 Zwei Tage später lief Souchon mit den türkischen Schiffen ins Schwarze
Meer aus und am 29. Oktober beschossen die verschiedenen Verbände – ohne
vorherige Kriegserklärung – die russischen Häfen Sewastopol, Odessa, Feodosia und
Noworossisk, wobei einige Hafenanlagen beschädigt und einige russische Schiffe
versenkt wurden.363
Die Tatsache, daß Enver Pascha vorher einen Befehl zum Angriff erteilt hatte, wurde
noch einige Zeit nach Kriegsende geheimgehalten. So schreibt Bronsart in einem
Kommentar zum amtlichen Werk des Reichsarchivs über die Operation des Admirals
Souchon, er habe größte Bedenken dagegen gehabt, aber Souchon habe zum Handeln
gedrängt. Sicherlich sei es „in der Sache richtig“, daß das türkische Flottenkommando
den Kampf gesucht habe, jedoch könne man dies so nicht einräumen. In der
abgeänderten Form, die offenbar der Version von 1914 entspricht, wurde eine
Provokation durch einen russischen Minenleger „erdichtet“, die logischerweise eine
Vergeltungsaktion zur Folge haben mußte. Diese Version wird vom Reichsarchiv für
den Druck übernommen.364 In einer Abschrift seines Tagebuchs finden sich unter
dem 31.10. beziehungsweise dem 2.11. Einträge, die von der „unangenehmen
Überraschung“ Bronsarts durch die Ereignisse sprechen, obwohl er doch selbst am
24.10. bereits von dem Plan Envers für Souchon berichtet hatte.365
361
RM 40/ 184, KTB Mittelmeerdivision, Eintrag 22.10.1914, Blatt 224.
Angeblich fällt die Erstellung des Befehls genau mit dem „Zahlungseingang“ aus Deutschland, dem
22.10.1914, zusammen. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 23.
363
Eine ausführliche Darstellung der Operationen bei Lorey, Krieg I, 1928, S. 46-57.
364
Brief Bronsart an das Reichsarchiv vom 3.7.1928. BAMA Freiburg, RH 61/ 158.
365
Ebd. Bronsart war am 31.10. noch auf einer Dienstreise zur deutschen OHL und kehrte erst am
2.11. nach Konstantinopel zurück.
362
104
Auch der Überbringer des Geheimbefehls, Djemal Pascha, trug nach außen seine
Überraschung zur Schau. Als er in einem „Klub“ von der Beschießung erfuhr, soll er
gesagt haben:
„Es ist gut; aber wenn es schief geht, so ist dieser Souchon der erste, den ich hängen
lasse!“366
In jedem Fall kamen alle diese Reaktionen zu spät, um den Lauf der Dinge noch zu
beeinflussen. Schon am 30. Oktober waren der russische, britische und französische
Botschafter abgereist und am 2. November erklärte Russland dem Osmanischen
Reich den Krieg. Die britischen Schiffe vor den Dardanellen warteten ähnlich wie die
osmanische Marine eine formelle Kriegserklärung ihrer Regierung nicht ab, sondern
beschossen bereits am 3. November einige Forts an den Meerengen, ehe am 5.
November die Kriegserklärungen der Regierungen in London und Paris den Bosporus
erreichten.367
Das Osmanische Reich befand sich auf Seiten der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg.
II.3. Strukturelle Probleme der deutsch-türkischen Zusammenarbeit vor dem
Ersten Weltkrieg
Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlicht haben, waren die Erkenntnisse und
Meldungen der deutschen Offiziere aus der Türkei überwiegend negativ konnotiert.
Die Andersartigkeit von Land, Leuten und Kultur des Osmanischen Reiches stieß
nach anfänglicher Faszination mehrheitlich auf Unverständnis, das besonders in
militärischen Fragen alsbald zu harscher Kritik führte. Vor allem die Aussagen der
Offiziere, die aktiv an den Balkankriegen teilnehmen konnten, zeigen wie
überraschend die Mißstände in der krisengeschüttelten osmanischen Armee auf die
Deutschen wirkten; das ist zweifellos erstaunlich, zumal es Erfahrungen gab. So
366
Auszug aus dem Buch „Zwei Jahre in Konstantinople [sic]“ von Harry Stuermer, Lausanne 1917.
BAMA Freiburg, N 156/ 4, Blatt 1. Auch wenn der Wortlaut dieser Reaktion Djemals „in das Reich
der Legende“ (Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 166.) gehören mag, so zeigt sie doch,
wie ernsthaft die Akteure bemüht waren, die Schuld am Kriegseintritt von sich zu weisen.
367
Strachan, First World War 2001, S. 680. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 37.
105
befand sich beispielsweise der bayerische Offizier Otto von Lossow schon seit
Anfang 1911 in türkischen Diensten. Eine Anstellung, die er wie erwähnt durch
private Initiative beim türkischen Botschafter erreichen konnte. Es stellt sich daher
die Frage, welche Rahmenbedingungen die deutschen Offiziere im Orient
wahrnahmen und wie sie darauf reagierten.
Das Leben im Osmanischen Reich unterschied sich bereits im Alltag grundlegend
von dem in den Staaten des Deutschen Reiches. Die Zeitrechnung beruhte auf einem
Kalender, dessen Jahr 354 beziehungsweise 355 Tage hatte und dessen Monate um
einen Tag kürzer als im christlichen Kalender waren. Aufgrund des unterschiedlichen
Beginns der kalendarischen Zeitberechnung befand sich das Osmanische Reich zu
Anfang des christlichen 20. Jahrhunderts „erst“ im mohammedanischen 14.
Jahrhundert. Zudem wurden die Tage jeweils nach Sonnenauf- und Sonnenuntergang
eingeteilt, wobei dieses Intervall, unabhängig von der Jahreszeit, als eine Dauer von
„12 Stunden“ definiert wurde.368 Dieser unterschiedliche Zeitbegriff mußte im
militärischen Bereich zwangsläufig zu Mißverständnissen und Irritationen führen.
Erst recht aber war das türkische Pflicht- und Arbeitsethos nicht mit dem deutschen
und besonders dem preußischen vereinbar. Den türkischen Offizieren, die schnell als
Verantwortliche für viele Mißstände der osmanischen Armee ausgemacht waren, und
den Beamten wurde der – offenbar allgemein übliche369 – gemächlichere Tagesablauf
als Faulheit ausgelegt. Lossow schreibt in seinem Geheimbericht vom Februar 1913:
„Niemand will etwas von Arbeit und Pflichterfüllung wissen. In der Theorie-ja-, da
redet jeder davon mit vollem Maul. In der Praxis- da geht jeder (mit
verschwindenden Ausnahmen) der Arbeit aus dem W[e]ge.“370
Der fehlende Eigenantrieb, resultierend aus starker Bindung an Weisungen und dem
Mangel an Handlungsspielräumen, wurde häufig als Verantwortungsscheu angesehen
und mit Kismet- oder Schicksalsgläubigkeit sowie „typisch türkischem Fatalismus“ in
368
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 182.
Ebd., S. 181.
370
Kriegserfahrungsbericht, Bericht von Lossow vom 3.2.1913, Geheim, S.8. KA München, MKr.
986.
369
106
Verbindung gebracht, die tatsächlich im Osmanischen Reich recht weit verbreitet
waren.371
Schon bald war dieses „Grundübel“ der osmanischen Kultur in praktisch allen
Berichten deutscher Offiziere zu finden.
Sogar Colmar Freiherr von der Goltz, der als ausgesprochener Freund des
Osmanischen Reiches gelten kann, kritisierte die Auswirkungen der „türkischen
Arbeitsmentalität“ auf das Heerwesen. Er berichtet von „einer Verwaltung, in der von
jeher Zentralisation, schleppender Bureaukratismus und unendliches Formenwesen
vorgeherrscht hatten, niemand aber an Selbständigkeit oder gar Initiative gewöhnt
war“.372 Seine Absicht war jedoch, die türkischen Offiziere und Mannschaften in
Schutz zu nehmen. Schuld an dem Versagen der Armee in den Balkankriegen – und
anläßlich dieser Niederlagen hatte er die Schrift überhaupt verfaßt – seien
verwaltungsinterne Behinderungen der nötigen Reformen sowie politische Wirren
gewesen. Die Herrschaft Abdul Hamids II. und dessen Sturz durch die „Jungtürken“
mit der anschließenden, radikalen Umstrukturierung hätten die Armeeangehörigen
derart verunsichert, daß es verführerisch bequem gewesen sei, keine Verantwortung
zu übernehmen und sich so jeder Rechenschaft zu entziehen.373
Goltz kannte die Schwierigkeiten im Osmanischen Reich wohl am besten von allen
deutschen Offizieren. Während seiner kurzen Entsendungen an den Bosporus in den
Jahren 1909 und 1910 hatte er die Gelegenheit genutzt und seine Beobachtungen
schriftlich
zusammengefaßt
mit
dem
Ziel,
den
zukünftigen
deutschen
Militärreformern einen Leitfaden und eine Einstiegshilfe an die Hand zu geben. Diese
„Winke für die in den türkischen Dienst als Instrukteure übertretenden Offiziere“
sprechen bereits einige der Probleme an, über die sich die Militärreformer später
beschweren.374 Von der Goltz beschreibt eindrücklich den sorglosen Umgang der
türkischen Seite mit Vorbereitungen für Unternehmungen aller Art. Außerdem
forderten türkische Militärtheoretiker nicht etwa ein ausgeprägtes Organisations-,
371
Demm, Eberhard: Zwischen Kulturkonflikt und Akkulturation: Deutsche Offiziere im Osmanischen
Reich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 696. (Im Folgenden: Demm,
Kulturkonflikt 2005.)
372
Goltz, Niederlage 1913, S. 17.
373
Goltz, Niederlage 1913, S. 9.
374
Zu den folgenden Ausführungen: ANHANG A, Colmar Freiherr von der Goltz „Winke für die in
den türkischen Dienst als Instrukteure übertretenden Offiziere“, Konstantinopel 1909/10.
107
sondern ein Improvisationstalent der Soldaten. Weitere Kritikpunkte sind die
mangelnde praktische Ausbildung in allen Truppenteilen, das völlige Fehlen eines
Unteroffizierkorps und mangelnde Eigenverantwortlichkeit der Truppenführer und
Generäle. Wichtige Entschlüsse seien oft nur durch energischen Druck „von oben“
durchzusetzen. Auch bedürfte ihre Umsetzung ständiger Kontrolle und detaillierter
Anleitung.
Die Folgerungen für die Instrukteure, die Goltz aus diesen Einsichten zieht,
unterscheiden sich allerdings grundlegend von denen Lossows und Endres´ drei Jahre
später.
Der
preußische
Generaloberst
empfiehlt
seinen
Kameraden
eine
„[u]nermüdliche Ausdauer und grosse Geduld“ im Umgang mit den osmanischen
Untergebenen.375 Das Beharren auf Formalitäten im Exerzierreglement, das im
übrigen bereits weitgehend das deutsche sei, und Pedanterien in Kleinigkeiten
wirkten kontraproduktiv. Vielmehr müsse die kriegsmäßige Übung und die praktische
Ausbildung an den Waffen Vorrang haben. Ordnung und Disziplin dürften dabei
nicht zu kurz kommen, aber – mit Rücksicht auf die Mentalität der Türken – auf
keinen Fall übertrieben werden, da sonst der Lernerfolg gefährdet sei.
In einer Ergänzung vom Dezember 1910 stellt Goltz dann einen konkreten
Lösungsansatz zur Modernisierung der Streitmacht vor.
Für alle drei Waffengattungen (Infanterie, Kavallerie und Artillerie) seien
mittlerweile Modell-Regimenter geplant worden. Als Kommandeur solle jeweils ein
deutscher Instrukteur fungieren, der durch einen türkischen Stabsoffizier für den
Inneren Dienst und einen türkischen Offizier als Dolmetscher und Gehilfen
unterstützt
werde.
Diese
Regimenter
könnten
als
Ausbildungs-
und
Vorbildregimenter der jeweiligen Armeen dienen und alle Offiziere sollten
wenigstens für die Dauer von einem Jahr zu diesen speziellen Formationen
kommandiert werden. Außerdem seien Offizier-Übungslager einzurichten, in denen
jeweils 120 türkische Offiziere für die Dauer von 3 Monaten in modernen
Infanterietaktiken
ausgebildet
würden,
wobei
die
Offiziere
abwechselnd
Mannschafts- und Führungsfunktionen wahrnähmen. Diese Ausbildungslager sollten
ebenfalls von einem deutschen Instrukteur geleitet werden.
375
Goltz, Winke 1909, Blatt 58 [hier S.412.].
108
Das Bemühen um eine grundlegende Reform des osmanischen Heeres ist in den
Ausführungen des Freiherrn von der Goltz deutlich zu erkennen. Sie haben nichts mit
den späteren Forderungen nach „völliger Unterjochung“ unter deutsche Oberhoheit
zu tun, da der größte Teil der türkischen Armee unter türkischem Kommando
verbleiben sollte.
Vielleicht ahnte der alternde Goltz aber schon, daß einige der deutschen Offiziere
ernsthafte Probleme mit der Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten haben
würden, denn neben der ständigen Mahnung zur Geduld verweist er in dem Zusatz
von 1910 noch auf die „höfliche Form“, die unerläßlich sei, um das Vertrauen der
Offiziere und Mannschaften zu gewinnen. Dazu gehöre auch, daß der deutsche
Experte und Reformer stets „selbst das beste Beispiel an Pflichttreue, Pünktlichkeit,
Unermüdlichkeit und Einsicht geben muss, weil darauf geachtet wird“.376
Mit solchen Forderungen hatten die deutschen Militärangehörigen aber immer wieder
Schwierigkeiten, wie noch zu schildern sein wird.377
In der Schrift von der Goltz´ ist schließlich noch eine Passage besonders
hervorzuheben:
„Wir dürfen nicht vergessen, dass eine jahrhunderte [sic] lange konsequente
Erziehung des eigenen Heeres durch soldatische Monarchen uns viele Dinge als ganz
selbstverständlich erscheinen lässt, die es nicht sind, und deren Mangel uns in der
Fremde verwundert. Strenge Pünktlichkeit im Dienste, unbedinger Gehorsam auch
bei abweichender Meinung, sorgfältigste Pflichterfüllung nicht nur in wichtigen,
sondern auch in den kleinsten Dingen [...] sind Produkte der Erziehung.“378
Hier wird ein stark idealisiertes Bild des preußisch-deutschen Offizierkorps
gezeichnet, das so weder auf die Offiziere im Deutschen Reich noch auf diejenigen in
osmanischen Diensten zutraf. Schon in der ersten längeren Phase deutscher
Militärreformen unter General Kaehler zeigt sich wenig von „unbedingtem Gehorsam
auch bei abweichender Meinung“. Der Mangel an klaren Befehlsstrukturen bei den
deutschen Reformer verleitete offenbar eher zu „Machtkämpfen“ unter den
Offizieren. In der osmanischen Hierarchie genossen sie verhältnismäßig hohe
376
Goltz, Winke 1909, Blatt 62 [hier S. 420].
Siehe besonders Kapitel V. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Fehlverhalten und Leistungen
der Deutschen im Orient.
378
Goltz, Winke 1909, Blatt 57 [hier S. 410].
377
109
Eigenständigkeit, da jeweils einer als Reformer für Kavallerie oder Pionierwesen ein
eigenes Tätigkeitsfeld übernommen hatte. Unabhängig vom Erfolg oder auch
Mißerfolg im eigenen Aufgabenbereich wollten sich die „zuständigen Offiziere“
unter Berufung auf Fachkompetenz und daraus abgeleitete Autorität keinesfalls in
ihre Arbeit hereinreden lassen, wie die „Von-Hobe-Affäre“ sehr deutlich zeigte.379
Dabei wurde die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Sultan und damit dem
eigentlichen Dienstherren weniger Ernst genommen. Viel wichtiger war die
Möglichkeit, die Berichterstattung an den deutschen Kaiser unmittelbar beeinflussen
zu können. Offiziell waren die deutschen Militärreformer bekanntlich nur auf Zeit
abgeordnet, mit der vertraglichen Zusicherung einer Wiedereinstellung in die
deutschen Streitkräfte. Als Oberkommandierender galt ihnen weiterhin der Kriegsherr
in Berlin, der durch seine Äußerungen diese Einschätzung bestätigte. Wohl das
eklatanteste Beispiel für diese Form der „Doppelmoral“ auf deutscher Seite ist der
Befehl des Admirals Souchon, in dem deutlich gemacht wird, daß die Schiffe
„Goeben“ und „Breslau“ zwar offiziell türkisch werden, aber inoffiziell
„selbstverständlich“ (!) deutsch bleiben.380 Hier wird nicht nur ein Loyalitätskonflikt
deutlich, sondern auch ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem osmanischen
Verbündeten. Nach dem Selbstverständnis des Admirals erscheint es undenkbar, daß
der Kaiser die Schiffe einem „rückständigen Land“ wie dem Osmanischen Reich auf
Dauer überlassen könnte und die Befehle aus Berlin geben ihm in dieser Situation
Recht.
In diesem Fall sorgte jedoch eine politische Zwangslage und somit Opportunismus
für einen reibungslosen Ablauf, doch die Problematik der „doppelten Loyalitäten“
zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der deutsch-türkischen
Militärbeziehungen. Bereits im April 1914 verfaßte der deutsche Chef des türkischen
Generalstabes Bronsart von Schellendorf einen Brief an das Militärkabinett in Berlin,
in dem er sich darüber beklagt, daß niemand zwei Herren gleichzeitig dienen könne.
Zugleich betont er aber seine Treue „selbstverständlich und in erster Linie“ zur
deutschen Seite.381
379
Siehe oben, S. 58.
Siehe oben, S. 97.
381
Abschrift eines Briefes Bronsarts von Schellendorf an Freiherr von Marschall, Konstantinopel 25.
April 1914, BAMA Freiburg W 10/ 50748. (Im Folgenden: W 10/ 50748: Brief Bronsarts vom 25.
380
110
Wäre diese Haltung offiziell bekannt geworden, so hätten sich daraus zweifellos
gravierende Mißstimmungen zwischen der Hohen Pforte und Berlin ergeben.
Schließlich besaß die deutsche Militärmission einen gültigen Vertrag mit dem Sultan,
in dem eine Berichterstattung vorbei am osmanischen Dienstherrn nicht vorgesehen
war. Inoffiziell dürfte sich die osmanische Seite, hier vor allem Enver Pascha als
Kriegsminister, allerdings keinerlei Illusionen hinsichtlich der deutschen Gesinnung
hingegeben haben. Von offiziellen Protesten wurde – gemäß der landesüblichen
politischen Vorgehensweise – zugunsten einer subtileren Ausnutzung möglicher
deutscher Gewissenskonflikte abgesehen. Enver wehrte sich beispielsweise bis 1917
vehement dagegen, daß Bronsart als Chef des osmanischen Generalstabes abgelöst
werden sollte. Nach Aussage des Generalmajors Otto von Lossow, der zu diesem
Zeitpunkt deutscher Militärbevollmächtigter in Konstantinopel war, wäre Bronsarts
Ablösung zwar aus fachlichen Gründen wünschenswert, aber nicht durchzusetzen,
weil er Enver Pascha sehr „bequem“ sei.382
Die Tatsache, daß eine militär-fachliche Entscheidung aufgrund der „Befindlichkeit“
Enver Paschas verschoben werden mußte, zeigt sehr deutlich, wie sehr militärische
Tätigkeit in der Türkei mit persönlichen Beziehungen verknüpft war, die zugleich
strukturell und institutionell erhebliche Auswirkungen hatten. Wilhelm II. hatte zwar
ausdrücklich vor der „Politisierung“ in der türkischen Armee gewarnt, war sich aber
anscheinend nicht bewußt, wie allgegenwärtig politische Erwägungen im Dienst am
Bosporus waren. Bekanntlich waren die einflußreichsten Persönlichkeiten im
türkischen Militär zugleich Angehörige der Regierung (z.B. Marineminister oder
Kriegsminister) und Anhänger der herrschenden jungtürkischen Gruppierung
„Komitee für Einheit und Fortschritt“. Djemal Pascha hatte im Verlauf des Krieges
gleichzeitig das Amt des Marineministers, das Kommando der osmanischen 4. Armee
April 1914.) Umsichtigerweise hat Bronsart seinen Brief direkt an von Marschall gerichtet und mit
dem Vermerk versehen, der Brief sei nur für ihn bestimmt und ganz vertraulich zu behandeln. Der
Adressat war Oberst Freiherr Marschall gen. Greiff, der 1914 Abteilungschef im Militärkabinett war
und 1918 als Generalmajor Nachfolger des Freiherrn v. Lyncker Chef des Militärkabinetts wurde.
Ehren-Rangliste 1914, Bd. 1, S. 2. Mombauer, Annika: Helmuth von Moltke and the origins of the
First World War, Cambridge 2003, S. 33.
382
Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims zu: „Die Ursachen für den Zusammenbruch der
Palästina-Front“ bearbeitet von Generalmajor a. D. von Frankenberg und Proschlitz, Potsdam 1930,
BAMA Freiburg, W 10/ 50592, S. 12. (Im Folgenden: W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v.
Quirnheims.)
111
und den Posten des Militär-Gouverneurs der osmanischen Provinz „Syrien“ inne.383
Diese Verbindung von Streitmacht und zivilen Staatsorganen waren nach dem
jungtürkischen Staatsstreich zu einem grundlegenden Merkmal der türkischen Staatsund
Militärorganisation
sowie
zum
tragenden
Pfeiler
der
angestrebten
Modernisierung geworden. Faktisch hatte eine Gruppe junger Offiziere den alten
Sultan gestürzt und einen autoritären Ein-Parteien-Staat gegründet. Vordergründig
bedeutete dies noch keine große Änderung gegenüber dem hamidischen Regime,
denn schon in den Jahrhunderten zuvor war das osmanische Militär stets die
Klammer gewesen, die den weitläufigen Vielvölkerstaat zusammenhielt, da sie
angesichts des mangelhaften Verwaltungsapparates das effektivste Machtinstrument
des Herrschers darstellte. Der neue Sultan Mehmet V. war jedoch nur eine
Repräsentationsfigur und die Machtausübung lag realiter in den Händen der Minister
und der Angehörigen des Kommitees für Einheit und Fortschritt, dem eben jene
Militärs angehörten, die für den Umsturz verantwortlich waren. Diese wiederum
versuchten ihre Vertrauten, bei denen es sich meist ebenfalls um Offiziere handelte,
in prestigeträchtige, lukrative, aber eben auch verantwortungsvolle Positionen zu
bringen. Auf diese tradierte Weise wurde Loyalität geschaffen und gesichert. So
förderte auch Enver Pascha seinen Onkel Halil, der Kommando an der Front bei Kutel-Amara für den verstorbenen Freiherrn von der Goltz übernahm, in seiner
militärischen Karriere.384 Andererseits wurden militärisch fähige Offiziere an einem
Avancement gehindert, wenn in ihnen parteiinterne Konkurrenz gesehen wurde, wie
es bei Mustafa Kemal der Fall war.385 Die Einflußnahme der Komitee-Angehörigen
erstreckte sich aufgrund der gleichzeitig ausgeübten Staatsämter uneingeschränkt auf
die zivilen Bereiche.386 Auf diese Art war die militärische und zivile Hierarchie
durchsetzt von „Günstlingen“ oder „Aufsteigern“, die von den deutschen
383
Die Provinz „Syrien“ beinhaltete sowohl Syrien als auch Palästina und weite Teile der arabischen
Halbinsel. Pope, Stephen/Wheal, Elizabeth-Anne: Dictionary of the First World War, Barnsley 22003,
S. 134f. (Im Folgenden: Pope/Wheal: Dictionary 2003.)
384
Zu einer Kurzbiographie Halil Paschas siehe: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 219.
385
Ebd., S. 218f.
386
So machte Enver seinen Schwager zum Wali (Großgouverneur, Vorsteher eines
Wilajets/Verwaltungsbezirks) des Bezirks Khinis im Kaukasus. Interessanterweise war dieser später an
dem Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung beteiligt. Aufsatz von Georg Mayer „Die
Armeniergreuel 1914/15“, o. Dat, S. 2f., KA München HS 2049. (Im Folgenden: HS 2049, Die
Armeniergreuel 1914/15.) Zur Amtsbezeichnung und der Funktion eines Walis siehe: Matuz, Das
Osmanische Reich 1990, S. 338.
112
Verbündeten gering geachtet wurden, auch wenn sich einige als sehr fähige
Befehlshaber erwiesen.387 Die Parteinahme auf der richtigen Seite in der osmanischen
Hauptstadt blieb für türkische Offiziere das hervorstechende Mittel, um möglichst
rasch aufzusteigen; daher waren politische Erwägungen und Handlungsweisen für sie
von großer Bedeutung. Aufgrund dieser umfassenden Machtbefugnisse waren die
hochgestellten Partei- und Regierungsmitglieder bei ihren osmanischen Untergebenen
sehr gefürchtet, eine Tatsache, die sich auch für die deutschen Offiziere als
„zweischneidiges Schwert“ erwies. Einerseits erhielten sie zwar die Möglichkeit,
„widerwillige“ türkische Stellen durch den Verweis auf eine Berichterstattung an
höherer Stelle zur „Einsicht“ zu bewegen, andererseits konnte ein schlechtes
Verhältnis zu ihnen aber die Dienstgeschäfte bis zur Unmöglichkeit erschweren.
Das wohl prominenteste Beispiel in dieser Hinsicht stellt das extrem angespannte
Verhältnis zwischen Liman von Sanders und Enver Pascha dar. Die Tatsache, daß der
türkische Kriegsminister noch keine 35 Jahre alt war, jedoch schon das zweithöchste
militärische Amt nach dem Sultan innehatte, mußte für einen preußischen General
wie Liman, der eine eher unspektakuläre Karriere vorzuweisen hatte, bereits schwer
zu ertragen sein. Diesen jungen Mann als Vorgesetzten zu haben, mußte geradezu
zwangsläufig zu Friktionen führen. Läßt man „niedere Beweggründe“ wie Neid oder
persönliche Eitelkeiten einmal außer Acht, so scheinen auch auf fachlicher Ebene
unübersehbare Gegensätze geherrscht zu haben. Enver wird beispielsweise mehrfach
durch Liman eine unzureichende militärische Bildung und mangelnde Erfahrung
unterstellt.388 Zudem setzte der junge Vizegeneralissimus seine Pläne zur
Neuorganisation der bewaffneten Macht auch ohne Beratung mit dem deutschen
Missionschef um, weswegen dieser sich in seinen Kompetenzen übergangen fühlte.389
387
Der spätere Chef des türkischen Generalstabes (1917/18), Hans von Seeckt, macht in einer
Denkschrift vom November 1918 deutlich die pateipolitische „Durchseuchung der Armee“ dafür
verantwortlich, daß aus der „kleinen Zahl befähigter Generale für die wichtigsten Stellen die
ausschieden, welche abweichender Gesinnung waren oder sich von dem politischen Treiben
fernhielten“. Rabenau, Friedrich von: Seeckt – Aus seinem Leben 1918-1936, Leipzig 1940, S. 104.
(Im Folgenden: Rabenau, Seeckt 1940.)
388
In diesem Zusammenhang wird von den „etablierten Generälen“ in Konstantinopel gerne die
Anekdote kolportiert, der Sultan habe von der Ernennung Envers erst aus der Zeitung erfahren und
daraufhin entsetzt ausgerufen, daß dieser noch viel zu jung für den Posten sei. Pomiankowski, Der
Zusammenbruch 1928, S. 38f. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 17.
389
So löste Enver unter anderem den Obersten Kriegsrat auf, dessen Mitglied Liman von Sanders laut
seines Vertrages mit der Hohen Pforte war. Ohne den Missionschef darüber zu informieren, wurden
dadurch die Vertragsbedingungen geändert. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 18f.
113
Im Gegenzug ließ der deutsche Missionschef bei seinen Inspektionen alle Diplomatie
vermissen.
Der deutsche Botschafter Freiherr von Wangenheim berichtet beispielsweise an das
Auswärtige Amt in Berlin, daß Liman bei der Inspektion eines türkischen
Reiterregiments nach dem Bestand an kranken Pferden gefragt habe. Daraufhin
wurde ihm gesagt, daß es keine kranken Pferde im Regiment gäbe. Diese Auskunft
veranlaßte den Marschall jedoch erst recht zu Nachforschungen innerhalb der
Liegenschaft, bei denen er eine Tür zu einem „Eiskeller“ entdeckte. Auf Nachfragen
war kein Schlüssel für die Tür zu finden und auch ein Schlosser sei nicht aufzutreiben
gewesen. So ließ Liman die Tür schließlich mit einer Axt einschlagen und fand im
Keller etwa 20 kranke Pferde vor, von denen die Hälfte gleich erschossen werden
mußte.390
Abgesehen
davon,
daß
die
Verhaltensweise
des
türkischen
Regimentskommandeurs in dienstlicher Hinsicht eindeutig verwerflich und für die
Leistungsfähigkeit der Truppe sowie das Reformvorhaben im Ganzen schädlich war,
muß gleichzeitig die Vorgehensweise Limans als „ungeschickt“ angesehen werden.
Offenbar scheint es ihm hier eher um die Düpierung des Verantwortlichen als um
eine konstruktive Belehrung gegangen zu sein. In einer ähnlichen Situation stellte
Liman von Sanders bei der Besichtigung von Truppenteilen der 8. osmanischen
Division fest, daß die Offiziere und Mannschaften seit langer Zeit keine Gehälter und
Löhnungen mehr bekommen hatten. Die Bekleidung war zerschlissen, Schuhwerk
kaum
vorhanden
und
die
Mannschaften
aufgrund
des
schlechten
Gesundheitszustandes nicht in der Lage, irgendwelche Übungen abzuhalten.
Nachdem der türkische Divisonskommandeur Oberst Ali Risa Bey ihm diese
Zustände offen geschildert hatte, verfaßte Liman einen kritischen Bericht, den er
direkt an Enver Pascha sandte. Dieser setzte daraufhin den Divisonskommandeur ab.
Liman intervenierte sogleich gegen die Entscheidung mit der Begründung, daß er
nicht arbeiten könne, wenn jeder Offizier, der ihm die Wahrheit sage, entfernt werde.
Dieser Vorfall muß eine längere Auseinandersetzung nach sich gezogen haben, an
deren Ende Liman sich durchsetzen konnte.391
390
Streng vertraulicher Brief Freiherr von Wangenheims an Staatsekretär von Jagow, Pera 16. März
1914, BAMA Freiburg, W 10/ 50748.
391
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 19f.
114
Spätestens hier sollte man annehmen, daß Liman die unterschiedlichen Ansätze zur
„Problemlösung“ erkannt hätte. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Die dienstlichen
Differenzen zwischen Liman und Enver steigerten sich zu gravierenden persönlichen
Antipathien, die im Verlaufe des Krieges schließlich in eine regelrechte Verachtung
Limans für Enver mündeten.392
Der Chef der Militärmission war aber keineswegs der einzige Deutsche, dessen
dienstliche Differenzen sich zu persönlichen Fehden mit politischen Auswirkungen
entwickelten. Als weiteres Beispiel hierzu mag der bayerische Oberstabsarzt Prof. Dr.
Georg Mayer dienen.
Professor Mayer gehörte zusammen mit Liman von Sanders zu den ersten deutschen
Offizieren, die im Dezember 1913 als Angehörige der Militärmission in
Konstantinopel eintrafen. Er sollte als türkischer Oberstleutnant393 und Vizepräsident
der Medizinalabteilung im Kriegsministerium die Reorganisation des osmanischen
Sanitätswesens leiten.394 Auf dessen Zustand wird an anderer Stelle noch genauer
eingegangen werden.395 Hier ist zunächst von Bedeutung, daß Mayer zwar über eine
ausgezeichnete fachliche Eignung, aber offenbar nicht über die soziale Kompetenz
verfügte, die unter den lokalen Gegebenheiten für einen dauerhaften Erfolg
notwendig gewesen wäre.396 Die direkte Art, mit der er Mißstände anprangerte, führte
schon bald zum Zerwürfnis mit seinem – offenkundig weniger qualifizierten –
Vorgesetzten Suleiman Numan Pascha. In einem Falle entdeckte er zum Beispiel, daß
ein türkischer Bakteriologe gefährliche „Impfungen“ mit infiziertem Blut
durchführte, wodurch sich die Ansteckung mit Typhus dramatisch erhöhte:
„Ich ließ sofort [...] ein geharnischtes Telegramm an Enver abgehen, in dem die
unsinnigen Impfungen verboten und die Abberufung des Serwet verlangt war. Was
392
„Da Liman von Sanders nicht durchdrang, so steigerte sich seine bis zur Verachtung gesteigerte
Abneigung gegen Enver noch mehr.“ W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 17.
393
In der osmanischen Armee wurde in den Dienstgradbezeichnungen nicht zwischen Sanitätsdienst
und Felddienst unterschieden.
394
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 64.
395
Siehe Kapitel unten, S. 138f.
396
Oberstabsarzt Prof. Mayer verfügte über Auslandserfahrung in China und umfangreiche Kenntnisse
auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung. In einem Qualifikationsbericht der Militärärztlichen
Akademie in Bayern vom Januar 1913 wird er sogar als „Zierde der militärärztlichen Akademie“
bezeichnet. Hierzu und zum weiteren Werdegang Mayers: Unger, Bayerische Militärbeziehungen
2003, S. 62ff.
115
geschah? [...] Serwet und Süleiman Numan wurden als Wohltäter der Menschheit
gefeiert: Beide erhielten hohe Orden!!“397
Aus deutscher Sicht erscheint dieses Ergebnis zunächst unverständlich, ja sogar
medizinisch gefährlich, für Enver bildete sie jedoch die einzige Art sein Gesicht zu
wahren. Der deutsche Arzt hatte im dienstlichen Verkehr seinen unmittelbaren
Vorgesetzten Suleiman Pascha einfach übergangen und direkt beim Kriegsminister
interveniert. Obgleich sein Vorgesetzter offenbar tatsächlich unfähig war, wäre eine
solche Vorgehensweise (Nichtbeachtung des Dienstweges und „geharnischte“
Formulierung des Telegramms) mit Sicherheit auch im Deutschen Reich nicht
toleriert worden. Durch seine harte Reaktion hatte Prof. Mayer zudem offiziell die
Kompetenz des Suleiman Pascha in Frage gestellt und eine entsprechende Rüge durch
Enver Pascha hätte ihn darin bestätigt. So blieb Enver nach türkischer Einschätzung
und Mentalität nur der genannte Ausweg, so falsch er fachlich auch gewesen sein
mag.398
Oberstleutnant Mayer stellte nach einer Reihe ähnlicher Vorfälle fest:
„Meine Beliebtheit wuchs natürlich nicht durch dieses fortwährende Aufdecken
unhaltbarer Zustände.“399
Im Oktober 1915 hatte der bayerische Sanitätsoffizier schließlich nicht nur praktisch
sämtliche vorgesetzten Stellen brüskiert, sondern auch durch schroffste Behandlung
von Untergebenen erreicht, daß die türkische und die deutsche Seite einhellig seine
Abberufung in die Heimat durchsetzten.400
Einmal mehr zeigt sich hier, wie sehr das Verhalten oder das persönliche Verhältnis
der Agierenden mittelbaren Einfluß auf militär-fachliche Entscheidungen hatte. Ein
falscher Ton oder eine abfällige Äußerung deutscherseits führte schnell zu einer
empfindlichen Reaktion der türkischen Seite. Die Diplomaten waren dann um
Schadensbegrenzung bemüht, um das deutsch-türkische Bündnis nicht unnötig zu
belasten und zugleich einen Prestigeverlust durch deutsche Ungeschicklichkeiten zu
verhindern. Umgekehrt konnte einem die richtige Umgangsweise allerdings auch
397
Aufsatz von Georg Mayer „Der Flecktyphus in der Türkei im Weltkrieg“, o. Dat, S. 9., KA
München HS 2049. (Im Folgenden: HS 2049, Der Flecktyphus in der Türkei.)
398
Immerhin hatten die Mitglieder des „Komitee für Einheit und Fortschritt“ erst im Jahre 1913 die
Herrschaft an sich gerissen.
399
HS 2049, Der Flecktyphus in der Türkei, S. 13.
400
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 67f.
116
viele Probleme aus dem Weg räumen, wie sich im Kriege noch zeigen sollte. Dafür
mußten die deutschen Militärberater jedoch bereit sein, sich der unterschiedlichen
Mentalität bis zu einem gewissen Grade anzupassen. In jedem Fall aber verdienten
die Worte des Freiherrn von der Goltz, der zur Höflichkeit mahnte, mehr Beachtung,
als ihnen die Militärmission bis zum Kriegsausbruch einzuräumen bereit war.401
Ein wesentlicher Faktor für die anfänglichen Schwierigkeiten und Reibungen muß
allerdings auch in der Struktur der deutschen Heere und ihrer Offizierskorps gesehen
werden. Im Deutschen Reich war das Militär – besonders in den preußisch geprägten
Gebieten – eine in vielen Belangen „autonome“ Einrichtung. Militärangehörige
unterlagen beispielsweise einer eigenen Strafgerichtsbarkeit, die sie häufig der zivilen
Rechtsprechung entzog, auch wenn es sich um Konflikte mit der Zivilbevölkerung
handelte.402 Das Nebeneinander von Militär und zivilen Stellen im Reich wurde noch
dadurch unterstrichen, daß die bewaffnete Macht der ministeriellen und
parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen war. Das Parlament konnte alleine
über die Budgetierung Einfluß nehmen und das Kriegsministerium besaß keine
direkte Befehlsgewalt, sondern nahm im Wesentlichen Verwaltungs- und
Versorgungsaufgaben wahr.403 Außerdem besaßen deutlich mehr militärische als
zivile Amtsträger über das Immediatrecht einen unmittelbaren Zugang zum Kaiser.
Diese Rechte wurden während des Krieges nahezu „inflationär“ an das Militär
vergeben und festigten so seine Sonderstellung im Reich.404
Die Offizierkorps genossen zudem innerhalb des Deutschen Reichs den Ruf der
„Exklusivität“. Mit dem Beruf des Offiziers war in vielen Bundesstaaten ein
401
Goltz, Winke 1909, Blatt 62 [hier S. 419f.].
Trotz heftiger Diskussionen um eine Reform der Militärstrafgerichtsordnung in den 1890er Jahren
konnte die Öffentlichkeit weiterhin von solchen Verfahren ausgeschlossen werden, wenn der Kaiser
befand, daß dadurch dienstliche Belange oder die Disziplin betroffen werden könnten. Siehe hierzu:
Deist, Wilhelm: Militär, Staat und Gesellschaft – Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte,
München 1991, S. 21ff. (Im Folgenden: Deist, Militär 1991.)
403
Ostertag, Heiger: Bildung, Ausbildung und Erziehung des Offizierkorps im deutschen Kaiserreich
1871 bis 1918 – Eliteideal, Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurt am Main (u.a.) 1990, S.223. (Im
Folgenden: Ostertag, Offizierkorps 1990.) Auch Kaiser Wilhelm I. hatte zur Festigung seiner eigenen,
direkten Kommandohoheit die Kompetenzen des Kriegsministeriums zunehmend beschnitten. Sein
Enkel, Wilhelm II., setzte diesen Kurs energisch fort. Deist, Militär 1991, S. 23f. u. S. 132f.
404
Deist, Wilhelm: Das Militär an der „Heimatfront“ 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945, in: Thoß,
Bruno/Volkmann, Hans-Erich (Hgg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn
(u.a.) 2002, S. 377.
402
117
beträchtliches Sozialprestige verbunden, dem nicht zwangsläufig eine finanzielle oder
auch charakterliche Entsprechung zugrunde lag. Da das Gehalt der Subalternoffiziere
(Leutnante, Oberleutnante) kaum ausreichte, um ein standesgemäßes Leben zu
führen, mußten andere Förderer aushelfen, sonst drohte rasch eine Überschuldung.405
Die hervorgehobene soziale Stellung machte die Offizierlaufbahn dennoch für die
adeligen und zunehmend auch für bürgerliche Kreise attraktiv.406
Die Mehrheit der Offiziere sah sich als privilegierte Angehörige eines Standes, der
dem Monarchen verpflichtet und diesem treu ergeben war.407 Die vermehrte
Aufnahme von bürgerlichen Aspiranten408 trug zusammen mit steigenden
Anforderungen an die Schulbildung vorübergehend liberalere Anschauungen an die
Offizierkorps heran, die häufig unter dem Druck der adeligen Standes-Kameraden
aufgegeben werden mußten.409 Infolgedessen war die Mehrheit der Offizierkorps
405
In seiner Kabinettsordre vom 5. Juli 1888 ermahnt Kaiser Wilhelm II. die Offizere ausdrücklich,
den Versuchungen einer luxuriösen Lebensweise, die über ihren Verhältnissen liegt, zu widerstehen.
Er macht die Regimentskommandeure für etwaige Negativfolgen verantwortlich. Kabinettsordre
Wilhelms II. aus Anlaß der Übernahme des Oberbefehls über die Armee, 5. Juli 1888, zit. nach: MeierWelcker, Hans (Hrsg.): Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1964, S.
196. (Im Folgenden: Meier-Welcker, Offiziere 1964.) Die Gefahr einer Überschuldung aufgrund einer
luxuriösen Lebensführung nahm noch zu, da der zunehmende gesellschaftliche Wohlstand im
deutschen Kaiserreich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dazu nötigte, die selbstbeanspruchte Exklusivität nach außen zu zeigen. Demeter, Karl: Das deutsche Offizierkorps in
Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt am Main 41965, S. 230ff.. (Im Folgenden: Demeter, Das
deutsche Offizierkorps 1965.) Zur Finanzlage der Offiziere siehe: Schmidt-Richberg, Wiegand: Die
Regierungszeit Wilhelms II., in: Meier-Welcker, Hans/Groote, Hugo von (Hrsg.): Handbuch zu
deutschen Militärgeschichte 1648-1939, Bd. V, Von der Entlassung Bismarcks bis zum Ende des
Ersten Weltkrieges (1890-1918), Frankfurt am Main 1968, S. 88. (Im Folgenden: Schmidt-Richberg,
Die Regierungszeit Wilhelms II. 1968. ) Ostertag,, Offizierkorps 1990, S.61-69.
406
Die gesellschaftliche Bevorzugung wurde als „nutzbringend angelegtes Kapital“ angesehen, denn
wer befehlen solle, müsse „einen gewissen Stolz auf seine Stellung besitzen“. Goltz, Colmar Freiherr
von der: Das Volk in Waffen – Das Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit, Berlin
6
1925, S. 78.
407
„Die Armee verstand sich selbst als den Hauptträger des monarchischen Gedankens, der Offizer
trat auf als Königsdiener, nicht als Staatsdiener.“ Meier-Welcker, Hans (Hrsg.): Offiziere im Bild von
Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1964, S. 68. Diese Einstellung kann nicht verwundern,
leisteten deutsche Offiziere ihren Diensteid doch in doppelter Verpflichtung auf die Person des
jeweiligen Monarchen oder Landesfürsten und dazu auf den Deutschen Kaiser. Schaible, C.: Standesund Berufspflichten des deutschen Offiziers, Berlin 61908, S. 82. (Im Folgenden: Schaible,
Standespflichten 1908.)
408
Der Adel war aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und der Heeresvermehrungen nicht mehr in
der Lage, den gestiegenen Bedarf an Offizieren zu decken. Messerschmidt, Manfred: Militär und
Politik in der Bismarckzeit und im wilhelminischen Deutschland, Darmstadt 1975, S. 59.
409
Deist, Wilhelm: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918 – Erster Teil, Düsseldorf 1970, S.
XVIf. (Im Folgenden: Deist, Militär und Innenpolitik 1970.) Karl Demeter bezeichnet die weitgehende
Abschottung des Offizierkorps als ursächlich für diese Anpassung, die er „geistige Inzucht“ nennt.
Demeter, Das deutsche Offizierkorps, S. 228. Detlef Bald formuliert positiver und sieht die
Assimilierung als eine wichtige Form der „Selbstregeneration“ des Offizierkorps, die zu einer engen
118
nicht nur eine Stütze der Monarchie, sondern vordergründig auch eine „unpolitische“
Einrichtung. Fragen der Reichstags- oder Parteipolitik wurden von vorneherein aus
der höheren Offizierbildung ausgeklammert, zumal die Offiziere kein aktives
Wahlrecht besaßen.410
Stattdessen beschränkte man die Ausbildung der Stabsoffiziere in Preußen auf
militär-fachliche Gegenstände und „nutzbringende Fächer“ (z.B. europäische
Fremdsprachen, Geometrie oder auch Physik für die Pionierausbildung),411 eine
Selbstbegrenzung, die beispielsweise in Bayern nicht in diesem Ausmaße stattfand.
Hier lehrte man an der Kriegsakademie ein eher breitgefächertes und weniger
militärisch spezialisiertes Wissen als in Preußen.412 Zudem wurde in Bayern das
Abitur als Zugangsvoraussetzung zum Offizierberuf gefordert, was zur damaligen
Zeit eine nicht unwesentliche Bildungsschranke darstellte.413
Beide
Grundlinien
Schwerpunktsetzungen
der
Ausbildung
kritisiert
wurden
und
in
der
von
Zeitgenossen
Tat
näherten
ob
sich
ihrer
die
Ausbildungsgrundlagen bis zum Ersten Weltkrieg in Teilen einander an. So bekam
beispielsweise in beiden Staaten die „charakterliche Erziehung“ des Offiziers ein
größeres Gewicht, was als Zeichen der „inneren Aristokratisierung“ gedeutet wird.414
Als Folge dieser strukturellen Gegebenheiten wurde eine große Zahl an fachlich gut
ausgebildeten, aber auch einseitig militärisch sozialisierten und geschulten Offizieren
herangezogen.415 Ihr besonderer gesellschaftlicher Status, ein herrschernahes
Verzahnung der alten Oberschicht und des aufstrebenden Bürgertums im Militär führte. Bald, Detlef:
Der deutsche Offizier – Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20.
Jahrhundert, München 1982, S. 87f. Ostertag, Offizierkorps 1990, S.40-57 u. S. 81f.
410
Demeter, Das deutsche Offizierkorps 1965, S. 161. Der preußische Oberst a. D. Schaible warnte in
seinem mehrfach neuaufgelegten Leitfaden für das Offizierkorps: „Politische Parteiungen zersetzen
die Armee, sie sind das Grab der Kameradschaft und des Korpsgeistes.“ Schaible, Standespflichten
1908, S. 83.
411
Diese Entwicklung beginnt in Preußen mit der Umstrukturierung der Ausbildungspläne für
Offiziere an der Kriegsakademie in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Bald, Detlef: Der deutsche
Generalstab 1859-1939 – Reform und Restauration in Ausbildung und Bildung, München 1977, S. 46.
412
Bald, Detlef: Die bayerische Kriegsakademie – Konzeption der Ausbildung im Wandel der Zeit von
1867 bis 1914, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 43, München 1980, S. 223-245.
413
Rumschöttel, Hermann: Das bayerische Offizierkorps 1866-1914, Berlin 1973, S. 54f. u. S. 60. (Im
Folgenden: Rumschöttel, Das bayerische Offizierkorps 1973.) In Preußen konnten die Bildungsanforderungen zugunsten praktischer Fähigkeiten und charakterlicher Eignung häufig geringer betont
werden. Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II. 1968, S. 88.
414
Rumschöttel, Das bayerische Offizierkorps 1973, S. 56.
415
Allerdings hatten verfügten auch militärische Liegenschaften oder Bildungsanstalten über teilweise
umfangreiche Bilbiotheken. Der Schwerpunkt lag dabei zwar auf militärischer/militärgeschichtlicher
Literatur, doch waren hier auch Werke der Philosophie, Bellestristik oder der Religionswissenschaften
119
Autostereotyp sowie eine – zumindest idealiter – anerzogene aristokratische
Geisteshaltung und Pflichterfüllung auch in kleinsten Dingen bargen die Gefahr, daß
Offiziere
ein
Überlegenheitsdünkel
gegenüber
allem
„Unstandesgemäßen“
entwickelten.416 Sie verstanden sich als eine dienende „Funktionselite“ im Reich.
Dies wird einerseits in der zunehmenden Professionalisierung der Ausbildung
deutlich, in deren Verlauf sie oftmals exklusiv mit neuesten technischen
Entwicklungen – wie etwa Flugzeugen, Luftschiffen, drahtlosen Kommunikationsmitteln oder U-Booten – arbeiteten. Die Erfolgs- und vor allem Beförderungskriterien
orientierten sich hier rigoros am militärfachlich Zweckmäßigen. Charakterliche
Beurteilungen wurden oftmals der militärischen Leistung untergeordnet.417 Zum
anderen zeigte der „Elite-Gedanke“ sich in im Dienstverständnis der Offiziere. Heiger
Ostertag formuliert dies: „Der Dienst war derart kein Dienst für das Land, kein
Staatsdienst, kein Dienen am Volk, sondern eine Treuepflicht einzig und allein
gegenüber dem König, dem deutschen Kaiser.“418 Damit kam den Offizieren eine
systemstablisierende Funktion zu, mußten sie doch in höchstem Maße an der
Erhaltung der sozialen und politischen Ordnung interessiert sein. Dem politischen
„Staatsgebilde“ fühlten sie sich nicht verpflichtet. Dazu gehörte gleichzeitig eine
Absonderung von den Diskursen und Idealen der zivil-bürgerlichen Gesellschaft, mit
der
die
Armee
über
Wehrdienstleistenden
und
die
Wehrpflicht
weiterhin
Reserveoffizieranwärter
verknüpft
wurden
blieb.
allerdings
Die
durch
Offizierkorps und Militärgeistlichkeit im konservativen Sinne ausgebildet und
erzogen.419 Christliche und patriotische Gesinnung waren 1890 von Wilhelm II.
gleichermaßen als Anforderungen an die Offiziere formuliert worden, und doch
besaßen diese meist nur eine oberflächliche und indifferente Haltung zur Religion.420
vorhanden. In welchem Umfange diese Möglichkeiten genutzt wurden, läßt sich aber nicht feststellen.
Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 164-196.
416
Solche Tendenzen wurden im Reich allerdings gefördert, da den Monarchen an einem
geschlossenen und loyalen Offizierkorps als Gegengewicht zu innenpolitischer Opposition gelegen
war. Meier-Welcker, Offiziere 1964, S. 80. In ähnlicher Weise war das Großbürgertum daran
interessiert, im Offizierkorps einen Verbündeten gegen die „gefürchtete“ Sozialdemokratie zu haben.
Schmidt-Richberg, Die Regierungszeit Wilhelms II. 1968, S. 86.
417
Deist, Militär und Innenpolitik 1970, S. XVIII.
418
Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 216.
419
Vogt, Arnold: Religion im Militär – Seelsorge zwischen Kriegsverherrlichung und Humanität. Eine
militärgeschichtliche Studie, Frankfurt am Main (u.a.) 1984, S. 168f. (Im Folgenden: Vogt, Religion
im Militär 1984.) Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 236.
420
Vogt, Religion im Militär 1984, S. 39 u. S. 206.
120
Eine christliche Komponente in der militärischen Erziehung war eher als Schutz vor
dem „gott- und vaterlandslosen“ Sozialismus – sowie der nicht minder als
„verwerflich“ empfundenen Sozialdemokratie – gedacht, der durch Rekruten in die
bewaffnete Macht einzudringen drohte. Allerdings waren dies für die meisten
Offiziere nur Schlagworte und „Parolen“, denn genaue Vorstellungen von den
gesellschaftlichen
Veränderungen
und
Neuerungen,
die
mit
der
rasanten
wirtschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches einhergingen, hatten sie nicht.
Ihr Erfahrungshorizont blieb auf das militärische Umfeld begrenzt.421 Von einer
Sensibilisierung
gegenüber
als
„anrüchig“
empfundenen
außenpolitisch-
422
diplomatischen Feinheiten konnte erst recht keine Rede sein.
Daß die deutschen Offiziere auch dem Anspruch als Funktionselite nur in begrenztem
Umfange gerecht werden konnten, zeigte sich bald nach Kriegsausbruch. Die
Anforderungen des „modernen Krieges“ an Strategie, Taktik, Logistik, Mensch und
Maschine waren andere als erwartet und es dauerte (zu) lange, bis die militärische
Führung, die in ihrer Mehrheit auf Tradition beharrte und modernisierende Elemente
übersah oder gar ignorierte, versuchte, sich den geänderten Gegebenheiten
anzupassen.
Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für das kaiserliche Seeoffizierkorps
beibringen.
Die
soziale
Zusammensetzung
und
die
Bildungsanforderungen
unterschieden sich zwar deutlich von denen des Heeres, jedoch war die Ausbildung
ebenso je nach Verwendung und Laufbahn fachbezogen und fand unter
Ausklammerung „der Politik“ statt.423
Das Ideal des Offiziers im Kaiserreich, und da waren sich die Landesherren
weitgehend einig, stellte der militärische Fachmann dar, der sich durch
standesbezogene Lebensführung, Ehr- und Pflichtgefühl und Loyalität gegenüber
seinem
Monarchen
auszeichnete.
Eine
421
partei-politische
Orientierung
oder
Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 305f.
Wilhelm Deist bemerkt einschränkend, daß sich vor allem inaktive Offiziere in der Innenpolitik
sehr wohl engagieren konnten. Allerdings nicht in den Parteien der Volksvertretungen, sondern eher in
nationalgesinnten Vereinen und Verbänden, deren innenpolitischer Einfluß recht beträchtlich sein
konnte. Deist, Militär 1991, S. 107.
423
Scheerer, Thomas: Die Marineoffiziere der kaiserlichen Marine – Sozialisation und Konflikte,
Bochum 2002, S. 83-87.
422
121
Beschäftigung mit der „Tagespolitik“ war unerwünscht.424 Schriftstellerische
Tätigkeiten, in denen Kritik am Militärsystem öffentlich geäußert wurde, waren unter
den Offizieren streng verpönt.425 Für den Großteil seiner Offiziere blieb Wilhelm II.
als Oberbefehlshaber bis zu seiner Abdankung die unangefochtene Autorität, doch die
„Verehrung“ für den Kaiser nahm mit den ausbleibenden Erfolgen an der Westfront
zusehends ab.426
Wegen dieser überwiegend internalisierten Einstellung brachten die meisten Offiziere
sicherlich keine besonderen Befähigungen für den Einsatz im Osmanischen Reich
mit. Ganz im Gegenteil zeigte sich hier bereits ein wesentlicher Grund für eine
Vielzahl späterer Konflikte mit den türkischen Bundesgenossen. Während im
osmanischen Militär die politische Orientierung und Nähe geradezu eine
Grundvoraussetzung für jeden „erfolgreichen“427 Offizier war, sahen die deutschen
Offiziere darin eine Verletzung der Standesmaximen. Außerdem wurde rasch
deutlich, daß Loyalität türkischer Militärs gegenüber dem greisen Sultan nur sehr
eingeschränkt vorhanden war, da ein schnellerer Aufstieg nach dem Umsturz nur über
Gönner in der regierenden jungtürkischen Partei zu erreichen war. Türkische
Offiziere geringen Dienstalters, die aufgrund enger Beziehungen zur (de facto)
regierenden Partei einen hohen Rang bekleideten, für den sie nach deutschen
Maßstäben kaum die nötige Ausbildung und militärische Erfahrung besaßen, wurden
als Exempel eines „politisierten“ Offizierkorps angesehen, wie es die deutsche
militärische Führung ablehnte. Viele Deutsche begegneten ihren osmanischen
Kameraden daher voreingenommen und reserviert. Jedoch gab es auch Ausnahmen,
wie etwa den Freiherrn von der Goltz, der rasch lernte, sich diesen äußeren
424
Ostertag, Offizierkorps 1990, S. 220.
Karl Demeter unterstreicht diese Haltung durch ein Zitat General Constantin von Alvenslebens:
„Der preußische General stirbt, aber er hinterläßt keine Memoiren“. Demeter, Das deutsche
Offizierkorps 1965, S. 163. Die zahlreichen überlieferten Memoiren bezeugen allerdings, daß sich
nicht alle Offiziere an diese Auslegung gehalten haben.
426
Walter Görlitz bezeichnet den Kaiser in der Einleitung zu den Aufzeichnungen des Admirals von
Müller als „sakrosankt“. Görlitz, Walter (Hrsg.): Der Kaiser... – Aufzeichnungen des Chefs des
Marinekabinetts Admiral Georg Alexander v. Müller über die Ära Wilhelms II., Göttingen (u.a.) 1965,
S. 9. Diese Einschätzung ist in ihrer absoluten Form jedoch nicht haltbar und bedarf der Relativierung,
wie sie etwa bei Wilhelm Deist zu finden ist. Deist, Militär 1991, S. 103f.
427
Der Grad des „Erfolges“ wurde dabei nicht zwingend im militärischen Bereich, sondern am
gesellschaftlichen Rang und Sozialprestige gemessen. Für einen Mann wie Djemal Pascha war etwa
seine angesehene und gefürchtete Stellung als Gouverneur der osmanischen Provinz Syrien sowie als
Marineminister (originär zivile Dienststellungen) wichtiger als seine militärischen
Kommandofunktionen, die er zeitgleich bekleidete.
425
122
Gegebenheiten anzupassen und – interessanterweise wie die türkischen Führer –
größeren Wert auf eine eigene Beurteilung der Persönlichkeit der Offiziere zu legen
als auf den militärischen Werdegang.
Eine weitere Schwierigkeit für die Militärreformer bestand darin, daß der
diplomatische und insgesamt der außenpolitische Bereich des Deutschen Reiches
strikt vom militärischen Bereich getrennt war. Dienstliche Einblicke in die komplexe
Materie der internationalen und interkulturellen Kooperation blieben daher
weitgehend den Militärattachés oder Militärbevollmächtigten vorbehalten.428 Die
Reformer
wurden
vor
ihrer
Entsendung
nicht
darin
unterwiesen,
welch
diplomatisches Gewicht ihren Handlungen beigemessen werden konnte. Die
Vorgeschichte der Deutschen Militärmission und auch die Zuspitzung der politischen
Situation am Bosporus bis zum Kriegseintritt der Türkei lassen zudem darauf
schließen, daß eine besondere Vorbildung der deutschen Soldaten für den Einsatz in
Kleinasien weder für notwendig gehalten wurde, noch überhaupt erwünscht war. Den
wohl eindeutigsten Hinweis darauf gibt das Schreiben des deutschen Botschafters von
Wangenheim, welches der Entsendung Limans vorausgeht. Darin werden
ausdrücklich Sprach- und (!) Landeskenntnisse als unnötig bezeichnet, da eine
entsprechende Unterweisung durch das Botschaftspersonal erfolgen könnte.429
Mit überraschender Klarheit wird hier ein Anforderungsprofil formuliert, das aus
Sicht des Botschafters auch für die Stellung des gesamten deutschen Engagements
galt. Die Militärs sollten sich ausschließlich um ihren Fachbereich kümmern und im
übrigen vom Knüpfen sozialer und politischer Kontakte sowie einer Verstrickung in
428
Militärattachés waren den Botschaften zugeteilt, um dem Botschafter in militärischen Fragen zu
beraten. Sie waren damit Teil der Hierarchie der Botschaft, wo sie direkt nach dem stellvertretenden
Botschafter rangierten. Militärbevollmächtigte hingegen waren beim jeweiligen Empfangsstaat
„akkreditierte“ Offiziere (meist hohe Stabsoffiziere oder Generale), die über weitgehende
Eigenständigkeit verfügten und weder dem Botschafter noch einem Ministerium unterstanden, sondern
direkte Vollmachten vom jeweiligen Monarchen besaßen. Innerhalb der deutschen Staaten wurden
schon früh Militärbevollmächtigte gesandt, wie beispielsweise der bayerische Militärbevollmächtigte
in Berlin, während im internationalen Bereich nur der Militärbevollmächtigte am Hofe des Zaren als
eigenständiger „Militärdiplomat“ gelten konnte. Die „Militärbevollmächtigten“ in Sofia und
Konstantinopel führten lediglich den Titel, hatten aber realiter den Posten des Militärattachés inne.
Meisner, Heinrich Otto: Militärattachés und Militärbevollmächtigte in Preußen und im Deutschen
Reich – Ein Beitrag zur Geschichte der Militärdiplomatie, Berlin 1957, S. 67f. Zu Lossow: Unger,
Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 126.
429
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 10.
123
die „Abgründe osmanischer Sitten“ abgehalten werden. Aus einem Schreiben des
preußischen
Staatsekretärs
von
Jagow
an
das
„Königlich
bayerische
Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern“ vom Dezember 1913
geht hervor, daß das Auswärtige Amt in Berlin großen Wert darauf legte „[...] alle
Bestimmungen zu entfernen, die geeignet gewesen wären, die deutschen Offiziere in
künftig etwa eintretende innerpolitische Verwicklungen in der Türkei hineinzuziehen“.430
Dies verdeutlicht zwar die Forderung nach „unpolitischem“ Verhalten der
Militärreformer, allerdings beabsichtigte das Auswärtige Amt offenbar auch eine
„überparteiliche“ Stellung der Militärmission zu schaffen, damit diese nach einem
eventuellen Regierungsumsturz am Bosporus ihre „rein fachliche Arbeit“ fortsetzen
könnten und der deutsche Einfluß in Kleinasien gewahrt bliebe. Der Botschaft in
Konstantinopel wäre es – als „Außenstelle“ des Auswärtigen Amtes – damit
zugefallen über diese Überparteilichkeit der Militärberater zu wachen. Dadurch
wollte sich die deutsche Botschaft weiter Einfluß auf die Offiziere der Mission
bewahren, die ihr rein rechtlich nicht unterstanden. Zweifellos war dies ebenfalls ein
Versuch außenpolitischen Einfluß des Militärs zu verhindern. Liman verbat sich
jedoch von vorneherein eine solche Einmischung der Diplomaten in militärische
Angelegenheiten in strikter Auslegung seines Dienstvertrages mit der Hohen Pforte.
Es zeigt sich, daß der Ressortegoismus beinahe zwangsläufig zu Konflikten zwischen
der Botschaft und der Militärmission führen mußte.431
Festzuhalten bleibt, daß offenbar weder im Deutschen Reich noch bei den
entsprechenden Stellen im Ausland eine Nachfrage nach speziell geschultem
militärischem Personal für die Auslandsverwendung bestand.
Aus diesem Grunde mußten die deutschen Militärangehörigen „in der Fremde“ selbst
Erfahrungen
sammeln
und
danach
ihr
Handeln
ausrichten.
Eine
solche
Verfahrensweise erforderte gerade im Osmanischen Reich mit seinen nicht geringen
und wohl auch nicht unberechtigten Vorbehalten gegenüber den europäischen
Mächten eine umfangreiche Einarbeitungsphase. Die Bereitschaft von deutscher Seite
430
Schreiben Nr. 763 von Staatsekretär von Jagow an Freiherrn von Hertling vom 22.12.1913. HStA
München Abt. II., MA 95027.
431
Siehe hierzu auch unten, S. 374f.
124
zu solch mühevollem Vorgehen erweist sich dabei jedoch als sehr gering und bis zum
Kriegsbeginn nimmt sie sogar noch weiter ab. Unter den älteren Reformern kann nur
bei Goltz das Bemühen beobachtet werden, sich dem neuen Arbeitsumfeld
anzupassen. Dabei genoß Freiherr von der Goltz den Vorteil, daß er zunächst in die
Türkei reisen konnte, um sich vor Ort mit Hilfe der bereits anwesenden deutschen
Reformoffiziere ein Bild von seinem Aufgabenbereich zu machen und danach zu
entscheiden, ob er die Stelle annehmen wollte.432 Er hatte es sich auch nicht nehmen
lassen, vor (!) seinem Dienstantritt in der Türkei ausführliche Erkundigungen über die
türkische Armee und die politische Lage in Konstantinopel einzuholen.433
Möglicherweise hängen diese Freiheiten mit dem großen Bekanntheitsgrad Goltz´
und einigen Fürsprechern in höheren Positionen zusammen.434
Es liegt allerdings auch der Verdacht nahe, daß die meisten deutschen Offiziere ihre
dienstlichen Verpflichtungen nicht allzu ernst nahmen. In den 1880er und 1890er
Jahren stand vermutlich die gute Bezahlung und für später entsandte Offiziere
offenbar
die
Hoffnung
auf
eine
karrierefördernde
Wirkung
eines
Auslandsdienstpostens im Vordergrund und weniger das ernsthafte Bemühen um eine
Modernisierung der Streitmacht des Sultans.435
Die Offiziere berichteten zwar von der Verärgerung, die sie aufgrund ständiger
Obstruktion der türkischen Seite gegen die Reformmaßnahmen empfanden, jedoch
gibt es an keiner Stelle Hinweise darauf, daß sich die Militärberater um Vermittlung
bemüht hätten. Stets ist davon die Rede, daß die preußischen (!) Reformvorstellungen
gescheitert seien. Über Lösungen, die Struktur und Mentalität des Osmanischen
Reiches zu berücksichtigen suchten, finden sich so gut wie keine Aufzeichnungen.
432
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 55.
Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 94. Seine Aufzeichnung finden sich ebenda
abgedruckt auf den Seiten 95-104.
434
Goltz genoß offenkundig bei Generalfeldmarschall von Moltke (d.Ä.) und dem Prinzen Friedrich
Karl ein recht hohes Ansehen. Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 81 u. S. 94.
435
Ein Beispiel hierfür ist Otto von Lossow, der sich auch um einen Dienstposten in China beworben
hatte, doch aufgrund besserer „Verbindungen“ in die Türkei entsandt wurde. In diesem
Zusammenhang sind auch seine scharfen Forderungen nach einem starken Führer einer deutschen
Militärmission zu sehen. Ein Posten, für den er sich selbst sicher als qualifiziert erachtete. Spätere
Spannungen zwischen ihm und Liman von Sanders unterstreichen die gegensätzlichen
Führungsansprüche. Auch Liman von Sanders gelang durch seine rasche Beförderung zum
preußischen General der Kavallerie und türkischen Marschall ein sozialer Aufstieg, wie er ihm im
Deutschen Reich kaum möglich gewesen wäre.
433
125
Die große Ausnahme bildete nur Freiherr von der Goltz, wenn auch viele
Schilderungen in seiner Biographie eher beschönigen und deswegen kritisch zu
betrachten sind.436 Goltz hatte in seinen „Winken“ den zukünftigen deutschen
Instrukteuren die Notwendigkeit der Improvisation ans Herz gelegt. Dazu gehörten
auch Zugeständnisse in der soldatischen Ausbildung. Für alle drei Waffengattungen
machte er geltend, daß besonders das Material und der niedrige Bildungsstand in der
Osmanischen Armee eine Ausbildung exakt nach deutschem Vorbild unmöglich
machen
und
diese
daher
„aus
dem
Mechanischen
in
das
durchdacht
Zweckmässige“437 übertragen werden sollte. Zwar würde den deutschen Offizieren
ihre Tätigkeit dadurch erleichtert, daß bei Infanterie und Artillerie weitgehend
deutsche Reglements und Vorschriften eingeführt wären, aber ein wortgetreues
Befolgen dieser Vorschriften hätte schon in Deutschland nicht die gewünschten
Ergebnisse gebracht und müßte somit in der Türkei von vorneherein unterbleiben.438
Goltz sah die Notwendigkeit, auf die Verhältnisse vor Ort einzugehen, und zugleich
deutet sich bereits an, daß er bereit war, das eigene System kritisch zu betrachten.
Eine wichtige Erkenntnis war die Tatsache, daß mitteleuropäische Maßstäbe nicht
ohne weiteres auf das Osmanische Reich angewandt werden konnten. Nach der
katastrophalen türkischen Niederlage in den Balkankriegen bringt er diese
grundsätzliche Einsicht, „[d]aß deutsche Taktik in der ihrer inneren Natur nach ganz
anders gearteten türkischen Armee gar nicht betrieben werden kann“439, auch in aller
Öffentlichkeit vor. Seine berechtigten Mahnungen wirkten sich aber kaum auf das
Verhalten der übrigen deutschen Offiziere aus.440 Zorn und Enttäuschung über
436
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 54f.
Goltz, Winke 1909, Blatt 59 [hier S.414].
438
Ebd., Blatt 59 und 60 [hier S. 414-416.]. Goltz verwirft für die türkische Kavallerie auch die
Doktrin der geschlossenen Kavallerieattacke, an der im Deutschen Reich zu dieser Zeit noch
festgehalten wurde, obwohl sich die Stimmen mehrten, die diese Kampfformation als Anachronismus
bezeichneten. Schulte, Bernd F.: Die deutsche Armee 1900-1914 – Zwischen Beharren und Verändern,
Düsseldorf 1977, S. 479-483. (Im Folgenden: Schulte, Die deutsche Armee 1977.) Storz, Dieter:
Kriegsbild und Rüstung vor 1914 – Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford
(u.a.) 1992, S. 269-272. (Im Folgenden: Storz, Kriegsbild 1992.)
439
Goltz, Niederlage 1913, S. 68.
440
Goltz hatte sich mit seiner oft ausgesprochen kritischen Haltung gegenüber den Verhältnissen im
preußischen Militär auch Antipathien bei vorgesetzten Stellen geschaffen. So wurde er 1902 zum
kommandierenden General des I. Armeekorps mit Sitz in Königsberg (Ostpreußen) ernannt. Mudra,
Bruno von: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, in: Goltz, Colmar Freiherr von der:
Das Volk in Waffen – Das Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit, Berlin 61925, S.
XXIf. Goltz selber fühlte sich offenbar dorthin abgeschoben und bemühte sich, durch „Verbesserungs437
126
fehlgeschlagene Bemühungen und die militärische Niederlage, die eine breite
Mehrheit der Presse den deutschen Reformern ankreidete, sprechen aus den
drastischen Forderungen eines Otto von Lossow oder Franz Carl Endres. Nur mit
„eiserner Zuchtrute“ sollte das Osmanische Reich überhaupt zu retten sein.
Wohlgemerkt sollte diese Gewalt dazu dienen, einem souveränen Staat „deutsche
Ordnung“ aufzuzwingen. Eine übertriebene und realitätsferne Forderung, die das
mangelnde Einfühlungsvermögen und die fehlende „politische Bildung“ von
Offizieren unterstreicht, deren Berichte als „Expertenmeinungen“ bei den
entsprechenden Stellen im Deutschen Reich durchaus Gewicht haben mußten. Im als
„kulturell rückständig“ erachteten Reich des Sultans glaubten deutsche Offiziere sich
solcher Töne bedienen zu können, wenn auch in ihren Berichten an die heimischen
Dienststellen der Ton schärfer war als im direkten dienstlichen Verkehr mit
türkischen Stellen. Diese Äußerungen waren jedoch nur geeignet, sollten sie der
türkischen Seite bekannt werden, die deutsch-türkische Zusammenarbeit endgültig
scheitern
zu
lassen.
Diese
Feststellung
mutet
heutzutage
dermaßen
„selbstverständlich“ an, daß es verwundert, warum bis 1914 als einziges bekanntes
Beispiel für die positive Wirkung von Höflichkeit und einem „freundlichen Wort“
gegenüber Untergebenen stets Colmar Freiherr von der Goltz angeführt werden muß.
Besonderen Eindruck machte von der Goltz auch durch die Beherrschung der
türkischen Sprache.441 Darin unterschied er sich von fast allen seinen Kameraden, und
gerade das Sprachenproblem sorgte im dienstlichen Bereich häufig für Reibungen
und Mißverständnisse. Die sprachlichen Verhältnisse im Osmanischen Reich waren
äußerst kompliziert. Die drei wichtigsten Sprachen waren Türkisch, Arabisch und
eine Mischform aus türkischen, arabischen und persischen Anleihen, die auch als
„Hochsprache“ oder „Osmanisch“ bezeichnet wurde.442 Außerdem wurden die
vorschläge“ zu Dienstvorschriften oder dem militärischen Ausbildungswesen allgemein beim
preußischen Kriegsministerium den Kontakt nach Berlin zu halten. Die Reaktion, die er darauf beim
Kriegsminister erwartet, formuliert er in einem Brief an Mudra: „Na, ich hab´ es ja gleich gesagt, daß
niemand mit ihm auskommen kann; nun geht der Krakehl auch da schon los.“
Brief Goltz an Mudra vom 12.02.1902, BAMA Freiburg, W 10/ 50716, Blatt 74.
441
Pertev, Goltz Lebensbild 1960, S. 17.
442
Endres, Franz Carl: Die Türkei – Mit 215 Abbildungen, München 1916, S. XIII. (Im Folgenden:
Endres, Die Türkei 1916.) Daneben gab es selbstverständlich noch weitere Sprachen und Dialekte, wie
etwa Armenisch, Albanisch, Hebräisch, Ägyptisch oder auch Griechisch im Osmanischen Reich. Dies
führte zum Teil dazu, daß sich Angehörige der herrschenden Volksgruppe der Türken nicht mit
Untertanen albanischer Abstammung verständigen konnten. Jäckh, Ernst: Der aufsteigende Halbmond
127
arabischen Schriftzeichen verwendet, was für die an das lateinische Alphabet
gewöhnten Europäer eine zusätzliche Schwierigkeit bedeutete.443 Die deutschen
Offiziere, die nicht einer der Landessprachen mächtig waren, kommunizierten daher
in französischer Sprache mit höheren türkischen Offizieren. Allerdings beherrschten
nur wenige osmanische Militärs die französische Sprache, wobei die Mannschaften
vollkommen ausgeklammert werden können. Es war daher stets ein Dolmetscher
notwendig, dessen Qualitäten sehr unterschiedlich sein konnten. Viele Dolmetscher
gehörten selbst einer Minderheit im Osmanischen Reich an, sie beherrschten zwar
europäische Sprachen, aber dafür das Türkische nicht besonders gut. Schon kleinste
Verwechselungen in der Begrifflichkeit konnten jedoch das Ehrgefühl des
Gegenübers empfindlich verletzten und zu ernsten Verstimmungen führen.
Einheimische und mit den Sitten vertraute Dolmetscher, die den Europäern
gleichzeitig Hilfestellung bei kulturellen Fragen liefern konnten, sogenannten
„Dragomane“, waren nur in begrenzter Anzahl vorhanden und blieben zumeist dem
diplomatischen Dienst vorbehalten.444
Zusammenfassend müssen für die deutschen Reformoffiziere von der „KaehlerMission“
bis
zum
Ausbruch
des
Ersten
Weltkrieges
demnach
folgende
Grundprobleme konstatiert werden:
-
Die deutschen Offiziere wurden in einen ihnen vollkommen fremden
Kulturkreis entsandt. Schon in ganz alltäglichen Dingen, wie Zeitrechnung
oder Sprache, zeigten sich Hürden für die Kooperation.
-
Die Ausbildung der Offiziere gab keine Hilfestellung für die Anpassung an
einheimische Gegebenheiten.
-
Erfahrungswerte
anderer
Offiziere
stellten
die
einzige
zuverlässige
Hilfestellung für neue Instruktionsoffiziere dar. Interessanterweise sind in
schriftlicher Form lediglich die Winke des Freiherrn von der Goltz erhalten,
– Beiträge zur türkischen Renaissance, Berlin 1911, S. 175. (Im Folgenden: Jäckh, Der aufsteigende
Halbmond 1911.)
443
So kam es zu der interessanten Erscheinung, daß zwar die türkische Sprache gelehrt wurde, aber die
Schriftsprache dabei ausgeklammert blieb. Edib Bej, Habib: Türkisch – Praktische Türkische
Sprachlehre für Anfänger, Weimar 1916, S. VII. (Im Folgenden: Edib Bey, Türkisch 1916.)
444
Zu diesen sprachlichen und organisatorischen Schwierigkeiten: Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 695.
128
die 1909/10 und damit 15 Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Osmanischen
Reich entstanden sind.
-
Das
anerzogene
und
von
den
deutschen
Monarchen
gewünschte
Selbstverständnis des Offizierkorps erwies sich als ernstzunehmendes
Hindernis. Im Umgang mit als „zivilisatorisch und militärisch rückständig“
angesehenen Kulturen wie dem Osmanischen Reich führte es oft zu
überzogenem Selbstbewußtsein und „Überlegenheitsdünkel“.
-
Die
Rahmenbedingungen
im
Osmanischen
Reich
erforderten
eine
Koordinierung deutscher Reformbemühungen und einen präzise formulierten
Auftrag. Die Militärmission erfüllte diese Anforderungen jedoch nicht,
sondern diente zur Schaffung der Position eines priviligierten Missionschefs,
dessen
weitreichenden
Kompetenzen
lediglich
eine
vage
umrissene
Aufgabenstellung gegenüber stand.
-
Das bereits im Deutschen Reich zu beobachtende Nebeneinander von
politischen Führungsansprüchen und militärischer Autonomie setzte sich am
Bosporus fort und erschwerte die Arbeitsverhältnisse zusätzlich.
-
Die deutschen Ausbildungsgrundsätze und mitteleuropäischen Maximen der
Kriegführung waren nur begrenzt auf den nahöstlichen Kriegsschauplatz
übertragbar.
Eine kritische Analyse strukturbedingter Probleme der deutschen Reformoffiziere, die
in den Balkankriegen zum Teil eben nicht nur als Beobachter fungierten, sondern
Erfahrungen in Kommandofunktionen sammelten, fand im Reich vor 1914 nicht statt.
Dabei spielte sicherlich die Verteidigung gegen die publizistischen Vorwürfe einer
deutschen Mitschuld an der türkischen Niederlage eine Rolle. Die deutschen Militärs
konnten ein Scheitern ihrer „überlegenen Taktik und Ausbildung“ nicht eingestehen,
wenn sie ihr Ansehen in Europa nicht schmälern wollten. Dabei waren diese Taktiken
offenbar nicht einmal ansatzweise in die osmanische Kriegführung übernommen
worden. Die langjährige Präsenz deutscher Militärberater dokumentierte nach außen
jedoch deren starken Einfluß auf türkische Heeresreformen, und weder die deutsche
noch die osmanische Seite hätten die Erfolglosigkeit dieses Engagements zugeben
können, ohne einen bedeutenden Gesichtsverlust hinzunehmen.
129
Spätestens mit dem Eintreffen der Militärmission und laufender, kritischer
Berichterstattung erfuhren die entsprechenden Stellen im Reich beinahe regelmäßig
von Mißständen und Reibungen in deren Dienstbetrieb. Daß man sich im Großen
Generalstab zu diesem Zeitpunkt keinen Illusionen hingab, was die militärische
Leistungsfähigkeit des Osmanischen Heeres und die Schwierigkeiten einer
erfolgreichen Reform angeht, zeigen die Äußerungen Moltkes.445 Reaktionen des
Generalstabs auf die Probleme vor Ort oder gar Bemühungen um eine eingehende
Vorbildung der deutschen Instruktionsoffiziere lassen sich aber nicht erkennen.446
Die Haltung Berlins änderte sich jedoch schlagartig mit dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges. Plötzlich war das Osmanische Reich dank seiner strategisch günstigen
Lage ein gefragter Bündnispartner und Kritik an dem militärischen Wert der
osmanischen Truppen war nicht mehr erwünscht. Da die deutsche Militärmission aber
erst kurz vor dem Ausbruch des Krieges in Konstantinopel eintraf, konnten
tiefgreifende Verbesserungen im osmanischen Heerwesen in realistischer Betrachtung
schwerlich erwartet worden sein. Dennoch mußten Erfolge her. Zunächst sollte dafür
Sorge getragen werden, daß die Türkei nach außen als schlagkräftiger Bündnispartner
in Erscheinung treten konnte. Ziel war die Bindung möglichst starker russischer und
britischer Kräfte an den Grenzen des Osmanischen Reiches.
Für die Hohe Pforte war ein Bündnis mit den Mittelmächten jedoch mit existenziellen
Überlegungen verbunden. Ein militärischer Erfolg hätte die jungtürkische Herrschaft
sichern und zugleich die Niederlage auf dem Balkan ausgleichen können.
445
Siehe oben, S. 89.
Eine Ausnahme bilden diejenigen Fälle, in denen die diplomatischen Beziehungen oder gar die
Wirtschaftsinteressen betroffen sind. Siehe hierzu Kapitel V.2.
446
130
III. Die deutschen Soldaten und ihre türkischen „Waffenbrüder“ im
Ersten Weltkrieg
Mit dem Eintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutschlands und ÖsterreichUngarns in den Ersten Weltkrieg erreichte die deutsch-türkische Zusammenarbeit
eine neue Qualität. Wollte man eine Niederlage der Türkei gegen die technisch
überlegenen Streitkräfte Großbritanniens, Frankreichs und Russlands verhindern,
mußte die Unterstützung durch die Mittelmächte deutlich über eine Militärmission
zur Ausbildung der Armee und die Entsendung der „S.M.S. Goeben“ und „S.M.S.
Breslau“ hinausgehen.
Tatsächlich stieg die Zahl der deutschen Soldaten, die im Osmanischen Reich oder in
türkischen Formationen Dienst taten, im Kriegsverlauf deutlich an. Da ereignisgeschichtliche Darstellungen bereits in ausreichender Menge vorliegen, wird der
Kriegsverlauf im Folgenden nur in dem Umfang dargestellt, wie es geboten ist, um
die Berichte und Eindrücke der deutschen Soldaten in den Gesamtzusammenhang des
Geschehens einzuordnen.447
III.1 Die bewaffnete Macht des Osmanischen Reiches bei Kriegsausbruch 1914
Bei Kriegseintritt verfügten die mobilen türkischen Landstreitkräfte im November
1914 über eine effektive Stärke von etwa 470.000 bis 500.000 Mann.448 Die
kaiserlich osmanische Marine bestand überwiegend aus Schiffen älteren Typs und
zählte gut 40 Kampffahrzeuge. Über nennenswerte Luftstreitkräfte verfügte das
Osmanische Reich nicht.
Der Oberbefehl lag nominell bei Sultan Mehmet V., wurde in Wahrheit jedoch durch
Enver Pascha als Chef des Generalstabes, Kriegsminister und Vizegeneralissmus
geführt. Der Kriegsminister war zugleich Vorsitzender des Obersten Kriegsrates, dem
447
Obwohl einzelne Kriegsschauplätze im Osmanischen Reich sehr umfassend erforscht sind, wurden
andere – wie etwa der Kaukasus – bisher operationsgeschichtlich vernachlässigt. Im diesem Sinne ist
die „ausreichende Menge“ durchaus noch ergänzungsbedürftig.
448
Diese höhere Zahl enthält zusätzlich die mobilen Formationen der Jandarma, die für bestimmte
Aufgaben im Kriege genutzt werden konnten und wurden. Vgl. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 7
und Handbook of the Turkish Army 1996, S. 8-10. Sie beinhaltet nicht die Garnisons- und
Festungstruppen sowie Versorgunsgstruppenteile.
131
später auch Feldmarschall von der Goltz als sellvertretender Vorsitzender, der Chef
des Generalstabes sowie alle Kommandierenden Generale der osmanischen
Streitkräften angehörten, wobei letztere ihre Aufgaben nur wahrnahmen, wenn sie in
Konstantinopel waren.449 Der Kriegsrat hatte jedoch nur beratende Funktion und
keine wesentlichen Einflußmöglichkeiten auf die Operationen, denn diese Aufgabe
nahm der türkische Generalstab war. Dessen Chef war ebenfalls Enver Pascha, der
später den preußischen Oberst (später Generalmajor) Bronsart von Schellendorff und
–
seit Ende 1917 – Generalmajor von Seeckt als 1. Stellvertreter und einen
türkischen Offizier als 2. Stellvetreter hatte. Diese deutschen Offiziere nahmen de
facto die Tätigkeiten des Chefs während des Krieges wahr, da Envers Ämterfülle ihm
nicht genug Zeit für alle Aufgaben ließ. Der Generalstab besaß nach der
Mobilmachung 7 Abteilungen:
-
Operationen
-
Aufklärung (dazu gehörend die Jandarma)
-
Eisenbahn- und Kommunikationslinien
-
Allgemeine Aufgaben (Logistik, Bewaffnung, Verwaltung, Telegraphie)
-
Sanitätswesen
-
Hauptquartier-Verwaltung
-
Kartographie
Im Kriegsverlauf kam noch eine Abteilung für die Fliegertruppen hinzu.450
Die Landstreitkräfte des Sultans waren im Frieden in Armeekorps (A.K.) aufgeteilt,
die sich in je 3 Infanterie-Divisionen (I.D.) á 3 Infanterie-Regimentern (I.R.)
untergliederten, die wiederum 3 Infanterie-Bataillone besaßen.451 Durch diese
„Dreiteilung“, die offenbar auf Anregung des Freiherrn von der Goltz zurückgeht,452
449
Handbook of the Turkish Army 1996, S. 15f.
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 223. MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen
Luftstreitkräfte, Anhang „Organisation u. Stand d. Türkischen Luftstreitkräfte am 1.7.1918“, o.
Seitenzahl.
451
Neben diesen Infanterieformationen waren für eine osmanische Division noch verschiedene
Unterstützungsformationen vorgesehen. So war jedem Infanterie-Regiment eine MaschinengewehrKompanie mit 4 Maschinengewehren zugeteilt. Außerdem sollte eine Division über 24 Feldgeschütze
(Kaliber 7,5 cm – 8,7 cm) verfügen, die in 3 Artillerie-Abteilung aufgeteilt waren. Hinzu kamen
ebenfalls eine Kavallerie-Schwadron pro Regiment, eine Genie-Kompanie (Pionierformation) für die
Division und verschiedene logistische Truppenteile. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 69.
452
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 10.
450
132
hatte die Türkei eine Entwicklung vorweggenommen, die sich im Deutschen Reich
erst im Jahre 1915 durchsetzte, nachdem man führungstechnische und logistische
Probleme mit der bisherigen Divisionsgliederung zu zwei Infanterie-Brigaden mit
jeweils zwei Infanterie-Regimentern erfahren hatte.453
Ein osmanisches A.K. sollte 1914 über ein eigenständiges Artillerie-Regiment mit 24
10,5cm Haubitzen und eine eigenständige Kavallerie-Brigade verfügen.454 Diese
„Korpstruppen“ sollten im Kriege auf die Divsionen verteilt werden, die im
Schwerpunkt der Operationen lagen.
In der Armee galt das strikte Prinzip der Befehlstaktik. Die Einhaltung dieses
Frührungsgrundsatzes wurde scharf überwacht und eigenmächtiges Handeln wurde –
besonders natürlich bei schlechtem Ausgang – hart sanktioniert.
Soweit die Konzeption, die auf den ersten Blick kaum problematisch erscheint. Bei
näherer Betrachtung offenbarten sich in der Praxis allerdings deutliche Schwächen.
Im Osmanischen Reich galt prinzipiell die allgemeine Wehrpflicht. Die männliche
Bevölkerung wurde zum 1. März desjenigen Jahres dienstpflichtig, in dem der
Betreffende das 20. Lebensjahr vollendete. Danach bestand eine 25jährige
Dienstpflicht. Die aktive Dienstzeit wurde 1914 um jeweils ein Jahr auf 2 Jahre für
die Infanterie und die Kavallerie sowie 3 Jahre für die Artillerie und die technischen
Truppenteile verkürzt. An den Dienst in den aktiven Formationen455 schloß sich eine
16jährige Wehrbereitschaft in der Reserve (Ihtiyat) an. Für die verbleibenden sieben
Jahre wurden die Wehrpflichtigen der Müstahfiz zugeteilt, einer Art „territorialer
Verteidigungstruppe“, die wohl am ehesten mit dem Landsturm in Preußen
vergleichbar ist. Für die Mobilmachung und die Neuformation von Einheiten im
Krieg wirkte sich besonders die Tatsache nachteilig aus, daß das „Redif-System“ seit
1913 praktisch aufgegeben worden war. Jetzt wurden die Soldaten mit ihrem
Übergang in die Reserve nicht mehr in zusammenhängende Reserve-Formationen
453
Die Infanterie-Divisionen erhielten in der Folge nur noch 1 Brigade mit 3 Regimentern; hinzu
kamen weitere Kampf- und Unterstützungstruppen. Lezius, Martin: Die Entwicklung des deutschen
Reichsheeres vom Dreißigjährigen Kriege bis zum Weltkrieg, in: Cron, Hermann, u.a. (Hrsg.):
Ruhmeshalle unserer alten Armee, Bd. 1, Berlin 5[1934], S. 220.
454
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 225.
455
Im Türkischen heißt die aktive Armee „Nizamiye“. Dieser Begriff taucht ebenfalls in
Schilderungen deutscher Soldaten auf, die mit „Nizamtruppen“ meist Formationen meinen, die
verhältnismäßig gut ausgebildet und ausgerüstet waren. Der Status als „Nizam“ entwickelte sich im
Verlaufe des Krieges also auch zu einer Art „Qualitätsprädikat“ für türkische Einheiten.
133
überstellt, sondern ihnen wurde nur noch ein nahegelegenes Depot als Sammelpunkt
im
Mobilmachungsfalle
Truppenteile
war
der
zugewiesen.456
osmanische
Zur
Vermehrung
Generalstab
daher
der
kämpfenden
auf
vollständige
Neuaufstellungen angewiesen. Damit wich die osmanische Heeresorganisation bereits
in einem wesentlichen Punkt von der europäischer Großmächte und auch der des
Deutschen Reiches ab.457 Zudem herrschten bei der Auswahl der neuen Rekruten
mannigfache Ausnahme- und Sonderregelungen. So waren zum Dienst an der Waffe
generell nur Muslime verpflichtet. Christen, Juden und andere religiöse Gruppen
wurden statt dessen mit einer entsprechenden Steuer belegt, wobei auch in einigen
Bezirken der muslimischen Bevölkerung die Befreiung vom Wehrdienst durch
entsprechende Geldzahlung erlaubt war.458 Aus den kurdischen Stammesangehörigen
im Gebiet des Kauskaus und in Nord-Mesopotamien wurden ausschließlich
„irreguläre“ Kavallerie-Einheiten gebildet.459 Ähnliches geschah mit arabischen
Wehrpflichtigen, die den nomadisch lebenden Stämmen angehörten und entweder zu
Kavallerie- oder zu Kamelreiter-Formationen zusammengefaßt wurden.460 Der
456
Zur Rekrutierungspraxis siehe Erickson, Ordered to Die 2001, S. 8f.
Im Deutschen Reich wurden im Falle der Mobilmachung die Reserveangehörigen zum „Auffüllen“
der aktiven Verbände genutzt. Daneben gab es Reserveformationen in großer Zahl, die einen Kader
aus aktivem Personal besaßen und ansonsten Reservisten enthielten Im Ersten Weltkrieg gewannen
darüber hinaus auch die Verbände der Landwehr I. und II. Aufgebots an Bedeutung für den
Fronteinsatz. Hierzu, wie auch zum Landsturm siehe: Elze, Walter: Das Deutsche Heer von 1914,
(Neudruck der Ausgabe 1928) Osnabrück 1968, S. 4.
458
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 65. Bereits kurz nach Kriegseintritt des Osmanischen Reiches
wurden solche Exemtionen aufgehoben. Fortan mußten auch nicht-muslimische Bevölkerungsteile
Wehrdienst leisten. Allerdings wurden solche Rekruten oft mit erhöhtem Mißtrauen durch ihre
Vorgesetzten bedacht und daher zum größten Teil zu unbewaffneten Arbeits-Bataillonen überstellt, die
im Straßen-, Feldlagerbau oder ähnlichen Funktionen eingesetzt waren. Intelligence Section , Cairo
(Hrsg.): Handbook of the Turkish Army, (Neudruck der Ausgabe Cairo 81916) Nashville 1996, S. 3.
(Im Folgenden: Handbook of the Turkish Army 1996.)
459
Der Begriff „irregulär“ kennzeichnet hier Formationen, die weitgehend ohne Uniformierung,
einheitliche Ausrüstung, standardisierte Struktur und taktisch außerhalb der Reglements der
osmanischen Armee operierten.
460
Die Unterscheidung der arabischen Bevölkerung des Reiches in „seßhafte Araber“ und
„Nomaden/Beduinen“ ist von großer Bedeutung. Die „seßhaften Araber“, die hauptsächlich in den
Siedlungen der osmanischen Provinzen Syrien und Mesopotamien wohnten, wurden auch zum Dienst
in „strenger regulierten Formationen“ - wie Infanterie-Regimentern – herangezogen. Besonders gegen
Kriegsende, als viele arabischen Nomadenstämme sich gegen die türkische Herrschaft auflehnten,
gewann diese Unterscheidung noch an Bedeutung. Zu der Rekrutierung solcher Kavallerie-Verbände
siehe: Handbook of the Turkish Army 1996, S. 64f.
457
134
Gefechtswert solcher Formationen variierte naturgemäß je nach Gefechtsszenario
beträchtlich. Außerdem war ihr Einsatz faktisch auf ihre Heimatgebiete begrenzt.461
Wie aus den vorhergehenden Kapiteln ersichtlich wurde, litt das türkische Heer vor
und nach den verlustreichen Niederlagen im Ersten Balkankrieg an gravierenden
strukturellen Problemen. Als die Hohe Pforte am 2. August die Mobilmachung
verkündete, mußten zunächst die aktiven Formationen auf ihre kriegsmäßige Stärke
gebracht werden, da sie im Frieden, wie in den meisten Ländern üblich, aus
Kostengründen einen verringerten Personalbestand hatten. Außerdem mußten aus den
vorhandenen dienstpflichtigen Reservisten neue Verbände zusammengestellt werden,
für die allerdings erfahrene Führer und Unterführer sowie hinreichende Ausrüstung
fehlten und deren Kampfwert daher gering war. Im August 1914 bedeutete dies, daß
die
22
vorhandenen
Infanterie-Divisionen
von
der
durchschnittlichen
Friedenspräsenzstärke von etwa 4.000 Mann auf eine Kriegsstärke von 11.000-12.000
Mann gebracht und gleichzeitig 13 neue Divisionen aufgestellt werden mußten.462
Das Osmanische Reich besaß 1914 eine geschätzte Einwohnerzahl von etwa 20-25
Millionen, wovon aber weniger als die Hälfte (9-10 Millionen Menschen) ethnisch
gesehen Türken waren und damit dem Teil der Bevölkerung angehörten, der
bevorzugt zum Militärdienst herangezogen wurde. Von diesen waren allerdings nur
circa 1.200.000 Männer überhaupt zum Dienst an der Waffe geeignet.463 Allein um
die aktiven Divisionen auf volle Stärke zu bringen, benötigte die osmanische
Heeresleitung bereits knapp 480.000 Mannschaften und 12.500 Offiziere.464 Zudem
sollten bis zum Ende des Jahres 1914 weitere 600.000 Reservisten einberufen
werden.465
461
Felix Guse, der ehemalige Chef des Generalstabes der 3. osmanischen Armee findet in seinem
Werk über die Kaukasusfront einige wenig schmeichelhafte Formulierungen für solche „irregulären“
Einheiten, die er als „militärisch völlig wertlose Horde“ ansieht. Guse, Felix: Die Kaukasusfront im
Weltkrieg bis zum Frieden von Brest, Leipzig 1940, S. 15. (Im Folgenden: Guse, Die Kaukasusfront
1940.)
462
Hierbei sind unterschiedliche Zahlen zu beachten. So gibt Maurice Larcher eine Gesamtzahl von 38
Infanterie-Divisionen bei der Mobilmachung an, während Erickson nur 37 Infanterie-Divisionen zählt.
Die fragliche 38. osmanische I.D. führt Erickson erst für den November 1914 an.
Vgl. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 62 und Erickson, Ordered to Die 2001, S 38 u. 43.
463
Vgl. dazu: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 15f. und Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 65 sowie
Emin, Turkey 1930, S. 78-80.
464
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 7.
465
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 66.
135
Für die Mobilmachung seines Feldheeres rechnete der türkische Generalstab mit
einem Zeitraum von 40-45 Tagen. Diese Schätzung berücksichtigte schon
verschiedene Verzögerungen und logistische Schwierigkeiten, da idealiter nur die
Hälfte der Zeit vorgesehen war. In der Realität waren bei einigen Korps allerdings
auch diese großzügigen Schätzungen unhaltbar. So brauchte das X. osmanische A.K.
(Sitz in Ersingjan) 55 Tage und das I. osmanische A.K. (Konstantinopel)
erstaunlicherweise sogar ganze 64 Tage, um seine Truppen zu mobilisieren. Zu allem
Überfluß waren auch nach dem offiziellen Ende der Mobilmachung in allen Korps
erhebliche Ausrüstungsmängel zu beklagen. Überall fehlten Transportmittel, Zugtiere
oder gar ganze Versorgungseinheiten. Diese Mängel betrafen alle Armeekorps, egal
ob sie in infrastrukturell besser erschlossenen Gebieten stationiert waren oder nicht,
wenn auch die Probleme bei den abgelegeneren Formationen gravierender
ausfielen.466
Zu den bereits erwähnten Schwierigkeiten kommen noch zwei wesentliche Umstände
hinzu. Erstens besaß das osmanische Heer keine einheitliche Bewaffnung. Der
wirtschaftliche Wettstreit der europäischen Großmächte um den „Absatzmarkt
Kleinasien“ machte sich nun (zum zweiten Male nach den Balkankriegen) negativ
bemerkbar.
Die
Infanteriebewaffnung
bestand
aus
einer
Vielzahl
von
Handfeuerwaffen verschiedenster Provenienz. Man verwendete ältere amerikanische,
britische und deutsche Gewehre, die zum Teil bereits in den 70er und 80er Jahren des
19. Jahrhunderts eingeführt worden waren.467 Zwar überwogen mittlerweile die
Gewehre des deutschen Herstellers Mauser, aber auch hier variierten die Typen. So
waren viele Gewehre noch vom Typ Mauser 71/84, also aus der Frühphase des
deutschen Kaiserreiches, oder gar noch älter.468 Insgesamt gab es etwa 1,5 Millionen
Gewehre in den Beständen der osmanischen Armee.469 Durch die hohe Zahl veralteter
Gewehrtypen relativierte sich die Zahl brauchbarer Waffen jedoch, so daß Erickson
sogar von einem Mangel von 200.000 Gewehren spricht.470 Außerdem war die
466
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 40f.
Türk, Türkeigeschäfte 2007, S. 134.
468
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 17.
469
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70.
470
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 8.
467
136
Munitionsversorgung der Truppen keineswegs gewährleistet, da die einzige
Munitionsfabrik des Osmanischen Reiches einen ungenügenden Produktionsausstoß
hatte.471
Beim Geschützmaterial der Artillerie war die Situation ähnlich. Die türkische
Feldartillerietruppe verfügte bei Kriegsausbruch über etwa 900 Geschütze und hätte
280 Geschütze mehr gebraucht, um die kriegsmäßige Stärke zu erreichen.472
Dank verschiedener Verträge mit europäischen Handelspartnern konnte die türkische
Armee auch hier eine bunte Mischung aus veralteten Geschütztypen verschiedener
Hersteller und Kaliber vorweisen.473
Zum Zweiten waren die rückwärtigen Dienste und Unterstützungsformationen nicht
auf
die
Anforderungen
eines
größeren
Krieges
vorbereitet.
Moderne
Nachrichtenmittel wie etwa Feldtelefone waren – wenn überhaupt – nur bei höheren
Stäben eingeführt.474 Ein öffentliches Telefonnetz existierte nur im Raum
Konstantinopel und drahtlose Kommunikation war gänzlich unbekannt.475 Die
Befehlsübermittlung über die weiten Entfernungen des Orients gestaltete sich daher
ebenso schwierig wie Truppentransport und -versorgung. Das Schienennetz war auch
noch 1914 völlig unzureichend und das vorhandene rollende Material reichte nicht
aus, um die rasche Verlegung von Personal und Material zu gewährleisten. Während
des Krieges waren Einheiten oft auf tage- oder wochenlange Märsche angewiesen,
um von den Bahnendpunkten zu ihren Einsatzräumen zu gelangen. Auch der
Nachschub mußte – abhängig vom Kriegsschauplatz – durch Ochsengespanne oder
Karawanen (in seltenen Fällen per Flußboot) angeliefert werden, die lange Strecken
auf kaum ausgebauten Wegen zurücklegten und zudem nur sehr begrenzte
471
Für jeden Soldaten waren gerade einmal 150 Patronen vorhanden und die Fabrik produzierte
lediglich 300.000 Patronen am Tag. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70. Über die Qualität der
gefertigten Handwaffenmunition liegen keine negativen Berichte vor. Eine eigene Fertigung für
Artilleriemunition und Zünder besaß das Osmanische Reich vor dem Kriege nicht. Zur
Munitionsproblematik siehe auch unten, S. 207f.
472
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 7f.
473
Neben Geschützen der Firmen Krupp und Schneider-Creuzot waren auch österreichisch-ungarische
Skoda-Geschütze vorhanden. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70. Zu den Lieferzahlen der Firma
Krupp und zum Wettstreit mit anderen Herstellern siehe: Türk, Türkeigeschäfte 2007, S. 164-169 u. S.
182f. sowie Hallgarten, Imperialismus vor 1914 (Band II) 1963, S. 164-173.
474
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 70. Römer, Militärhilfe 2007, S. 358.
475
Emin, Turkey 1930, S. 90f.
137
Ladekapazitäten hatten.476 Im Verlauf des Ersten Weltkrieges kam es so immer
wieder zu Versorgungsengpässen mit zum Teil verheerenden Auswirkungen auf die
Einsatzfähigkeit osmanischer Einheiten. Doch nicht nur die „mobilen“ Truppenteile
waren von schweren Ausrüstungsmängeln betroffen. Die Befestigungen des
Osmanischen Reiches, die sich fast ausschließlich an den Meerengen befanden,
waren
größtenteils
veraltet,
ebenso
deren
Artillerie.
Zudem
waren
Festungsbauspezialisten oder ausgebildete Pioniere im türkischen Heer kaum
vorhanden, was dazu führte, daß deutsche Offiziere in diesen Bereichen die
Führungsaufgaben wahrnahmen.477
Daneben war das Sanitätswesen im osmanischen Heer unterentwickelt. Schon in den
Balkankriegen hatten sich hier gravierenden Mängel gezeigt, die bis zum
Kriegseintritt der Türkei nur teilweise behoben werden konnten.
So gelang es nicht, die Zahl ausgebildeter Sanitätsoffiziere angemessen zu erhöhen.
Für ein Infanterie-Bataillon waren lediglich drei Sanitätsdienstgrade geplant: Ein
medizinischer Offizier, ein Chirurg und ein Apotheker; daneben wurde eine Handvoll
Mannschaften
als
Sanitätshelfer
und
Krankenträger
eingesetzt.478
Der
Ausbildungsgrad dieser Offiziere unterlag beträchtlichen Schwankungen und die
Mannschaften wurden wohl überhaupt nicht speziell ausgebildet.479 In diesem
Bereich wirkten sich offenbar die Vorstellungen von medizinischer Versorgung im
Zivilbereich aus, denn auch hier wies das Osmanische Reich gravierende Defizite auf.
Es gabe nur wenige Krankenhäuser und noch weniger ausgebildete Ärzte für die
Bevölkerung, so daß eine angemessene medizinische Versorgung nach europäischen
Vorstellungen nur für wenige Menschen zugänglich war.480
Als vordringliches Problem erwiesen sich auch die hygienischen Zustände in der
Armee. Zu dieser Zeit waren die hygienischen Bedingungen – gemessen an
europäischen Standards – im gesamten Osmanischen Reich äußerst schlecht. 60
476
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 12 u. S. 31-35.
Erickson, Edward J.: Strength Against Weakness: Ottoman Military Effectiveness at Gallipoli,
1915, in: The Journal of Military History, Vol 65, No. 4, Lexington 2001, S. 991. (Im Folgenden:
Erickson, Strength Against Weakness 2001.)
478
Handbook of the Turkish Army 1915, S. 76.
479
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 116.
480
Siehe hierzu: Becker, Helmut: Äskulap zwischen Reichsadler und Halbmond – Sanitätswesen und
Seuchenbekämpfung im türkischen Reich während des Ersten Weltkriegs, Herzogenrath 1990, S. 336367. (Im Folgenden: Becker, Äskulap 1990.)
477
138
Prozent der Ortschaften wiesen gesundheitlich bedenkliche Zustände auf. Seuchen
wie Malaria, Typhus oder auch Syphilis waren weit verbreitet. 72 Prozent der
Haushalte hatten Probleme mit krankheitsübertragenden Tieren, wie Ratten oder
wilden Hunden, und nur 57 Prozent der Häuser verfügten überhaupt über sanitäre
Einrichtungen, wie etwa Waschmöglichkeiten, Aborte oder zumindest ausreichende
Wasserversorgung.481
Es verwundert daher nicht, daß auch die bewaffnete Macht unter zahlreichen
Epidemien litt. Professor Georg Mayer berichtet anläßlich der Besichtigung von
mehreren Kasernen im Raum um die osmanische Hauptstadt von nahezu
verheerenden Lebensbedingungen in den militärischen Liegenschaften. Die Soldaten
müßten teilweise auf feuchtem Stroh schlafen, das sie sich mit anderen Kameraden
teilten. In einer Kaserne bestanden die Aborte aus Gefäßen, die wegen
unregelmäßiger Leerung häufig überliefen. Daher sollten die Soldaten vor dem
Betreten des Raumes hölzerne „Stöckelschuhe“ (Nalen) anziehen, um den Kontakt
mit dem verunreinigten Boden zu vermeiden. Allerdings waren solche Holzschuhe
nicht vorhanden.482 Bis zur ersten Jahreshälfte 1914 gelang es unter erheblichen
Anstrengungen und durch eine harte Vorgehensweise Mayers, diese Zustände in den
Kasernen weitgehend abzustellen und durch Impfungen die schlimmsten Seuchen zu
bekämpfen. Die Aussage, daß die „Armee als seuchenfrei gelten könne“, ist jedoch
dahingehend zu relativieren, daß die Einflußmöglichkeiten Mayers und der deutschen
Militärreformer sich praktisch auf den Raum um Konstantinopel beschränkten.483
Auch die zweite türkische Teilstreitkraft, die Marine, wies erhebliche Probleme auf.
Von ihren rund 40 Schiffen hatten 8 ihren Stapellauf noch im 19. Jahrhundert gehabt,
darunter die beiden Panzerschiffe „Torgut Reis“ und „Haireddin Barbarossa“ (beide
1891). Auch bei der Marine zeigten sich der „Erfolg“ der zahlreichen
Handelsverträge
mit
europäischen
Mächten
481
und
das
Fehlen
eigener
Emin, Turkey 1930, S. 79f.
Bericht von Georg Mayer „Die Reorganisation des türk. Sanitätswesens“, o. Dat., S. 10-13, KA
München HS 2049. (Im Folgenden: HS 2049, Die Reorganisation des türk. Sanitätswesens.)
483
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 115 zitiert hier eine Aussage Mayers aus dem
obengenannten Bericht. Neben der tatsächlichen räumlichen Einschränkung für die Reformer muß
dabei auch die rechtfertigende Absicht Mayers bei diesem Bericht berücksichtigt werden. Sicherlich
sollten hier die eigenen Erfolge entsprechend hervorgehoben werden.
482
139
Produktionsstätten in den vielfältigen Herkunftsländern der Kriegsschiffe. So waren
1914 neben Schiffen aus deutscher Fertigung überwiegend französische und britische
Fahrzeuge sowie ein amerikanisches Schiff im Dienst. Der größte Teil der Flotte
bestand aus kleineren Torpedobooten oder Kanonenbooten und Zerstörern.484
Während die kleineren Fahrzeuge in den beiden vorhandenen Werftanlagen, der
Stenia Werft und dem Marinearsenal, gewartet werden konnten, waren die
vorhandenen Einrichtungen für Kriegsschiffe moderner Bauart unzureichend.
Die
Stenia
Werft,
die
vor
dem
Kriege
einer
französisch-italienischen
Aktiengesellschaft gehörte, verfügte zwar über recht moderne Ausstattung (z.B.
Preßluftanlagen, autogene Schweiß- und Schneidapparate), war aber zu klein, um
große Schiffe, wie etwa die „S.M.S. Goeben“ aufnehmen zu können. Im
Marinearsenal am Goldenen Horn waren gar nur 3 Trockendocks vorhanden, die
lediglich von kleineren Booten genutzt werden konnten. Die Versorgung und
Wartung großer Schiffe hing zudem von der – in der Regel unzureichenden –
Versorgung
mit
Großkampfschiffe
Ersatzteilen
begrenzt
ab,
485
blieb.
wodurch
Damit
die
Anzahl
einsatzfähiger
war der Aufgabenbereich
der
osmanischen Marine de facto auf Küstenschutz und die Sicherung der Zufahrt zum
Schwarzen Meer eingeengt. Die Eignung zum Hochseeeinsatz war jedenfalls
fragwürdig. An dieser Ausrichtung der osmanischen Seestreitkräfte konnte auch die
Eingliederung der deutschen Schiffe „Goeben“ und „Breslau“ grundsätzlich nichts
ändern, wenngleich die Schiffe moderner und besser waren als beinahe jedes Schiff,
das die russische Schwarzmeerflotte aufbieten konnte.486
Der Erfolg der britischen Marinemission bei Ausbildung und Reform der
Seestreitkräfte war nach Einschätzung der britischen Offiziere nur sehr mäßig.
Offenbar hatte die Marine im Osmanischen Reich nie die Bedeutung bei den
führenden Stellen erlangen können wie die Landstreitkräfte.487
484
Zu den Zahlen und Daten der Schiffe siehe die tabellarische Aufstellung bei: Römer, Militärhilfe
2007, S. 380-383. Vergleiche hierzu auch: Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 164f.
485
Detaillierte Beschreibungen der Werftanlagen im Osmanischen Reich bei: Lorey, Krieg I, 1928, S.
404-407.
486
Einzig der russische Kreuzer „Katarina II.“, der 1914 fertiggestellt wurde, war neueren Baujahres
als die deutschen Schiffe. Zu den wichtigsten Daten und Zahlen der russischen Schwarzmeerflotte
siehe: Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 168f.
487
Römer, Militärhilfe 2007, S. 362f.
140
Die junge Einrichtung der Fliegerei hatte in den osmanischen Streitkräften noch nicht
Fuß gefaßt. Damit wich die Hohe Pforte allerdings kaum von den Verhältnissen in
den Armeen der anderen Mächte ab, denn auch hier befand sich die Fliegerei zu
Kriegszwecken noch im Anfangsstadium. Erst um 1910 hatte bei den europäischen
Großmächten die Einführung von Flugzeugen in größerem Umfange begonnen.
Beispielsweise verfügten Frankreich, Russland und Deutschland bis 1914 jeweils
über 250-300 Flugzeuge und Flugzeugführer, während Österreich-Ungarn nur 39
Maschinen aufbieten konnte.488 Außerdem herrschte in den Armeen noch eine heftige
Diskussion über die Einsatzgrundsätze und Möglichkeiten des Flugzeugs.489
Das Osmanische Reich verfügte 1914 hingegen nur über sechs einsatzbereite
Maschinen, die auf die Armeen oder Armeekorps verteilt wurden und deren
Kommando unterstanden.490 Eine eigenständige Kommandostelle für die Flieger gab
es nicht, so daß der deutsche Oberleutnant Serno, beauftragt mit dem Auf- und
Ausbau der türkischen Fliegerkräfte, in einem seiner Berichte schrieb:
„Bei ihrem Kriegseintritt am 29. Oktober 1914 besass die Türkei noch keine
Fliegerkräfte.“491
In Anbetracht dieser Umstände muß die Einsatzbereitschaft der türkischen
Streitkräfte für einen „modernen Krieg“, wie er bei Kämpfen gegen die europäischen
Großmächte trotz gewisser Abstriche auf den nahöstlichen Kriegsschauplätzen zu
erwarten stand, bezweifelt werden. Eine realistische Einschätzung der deutschen
Offiziere hätte ohne Zweifel zu dieser Erkenntnis führen müssen und auch die
militärischen Gegner hatten hinreichende Gelegenheit, sich ein klares Bild von den
Schwächen der osmanischen Truppen zu machen. Dennoch sollte der Kriegsverlauf
in Kleinasien noch einige „Überraschungen“ für die Beteiligten bereit halten.
488
Storz, Kriegsbild 1992, S. 348f. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 152.
Beispielgebend die Diskussion im Deutschen Reich und Frankreich in: Schulte, Die deutsche
Armee 1977, S. 351-359.
490
Insgesamt waren es 8 Flugzeuge und 4 Schulmaschinen. Welchen Typs die Maschinen der
Vorkriegszeit waren, konnte nicht festgestellt werden. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 227.
491
Serno, Erich: Ausbau, Organisation und Tätigkeit der türkischen Luftstreitkräfte im 1. Weltkrieg,
o.J., BAMA Freiburg, MSg 1/231, S. 1. (Im Folgenden: MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen
Luftstreitkräfte.)
489
141
III.2. Die deutsch-osmanische Kriegführung im Orient
Das Osmanische Reich hatte an sehr ausgedehnten „Fronten“492 zu kämpfen. Jedoch
waren nicht überall deutsche Soldaten eingesetzt, so daß sich die folgenden
Ausführungen auf die drei wichtigsten Schauplätze konzentrieren können:
-
die Meerengen und Konstantinopel,
-
den Kaukasus,
-
Palästina, Syrien und Mesopotamien.
Abgesehen vom Kaukasus umfassen die Abschnitte demnach mehrere, teilweise
räumlich deutlich voneinander entfernte Fronten. Jedoch sind die Meerengen
logistisch durch verhältnismäßig kurze und funktionierende Versorgungswege
gekennzeichnet, was Auswirkungen auf die Art der Kriegführung und damit den
deutschen Erfahrungshorizont hatte. Zudem fanden die Kämpfe nahe an
Konstantinopel, dem Sitz des Sultans, der osmanischen Regierung und praktisch der
gesamten Rüstungsindustrie, also dem „Herzen des Osmanischen Reiches“, statt. Das
bedeutete, daß sich der Einsatz hier mehr als andernorts unter den Augen der
Öffentlichkeit abspielte und dementsprechend immense Bedeutung für das deutschtürkische Bündnis hatte.
Der Kaukasus, die wichtigste Front mit dem Russischen Reich, erforderte hingegen
anspruchsvolle Gebirgs- und Winterkriegführung. Zudem kreuzten sich dort die
politischen Interessen des Deutschen Reiches und des Osmanischen Reiches, was sich
ebenfalls auf die gemeinsamen Operationen auswirkte.
Das Gebiet zwischen Suez-Kanal und Persischem Golf, die „Front“ gegen
Großbritannien493, war ein von wüstenartigen Klimabedingungen geprägtes,
vegetationsarmes Gebiet. Die Umweltbedingungen führten in Verbindung mit den
Härten
des
Krieges
zu
Hungersnöten,
492
Armut
und
Krankheiten
in
der
Der Begriff „Front“ ist streng genommen für die hier genutzte Einteilung nicht zutreffend, da sich
die Schauplätze realiter in mehrere Fronten unterteilen. Zur Vereinfachung und zur Unterscheidung
von den Fronten im strategischen Sinne wird der Begriff daher in Anführungszeichen gesetzt, wenn
damit die umfassenderen Kriegsschauplätze gemeint sind.
493
Die irregulären Truppen der arabischen Stämme, die später an der Seite der Briten kämpften,
können hier ausgeklammert werden, da ihr militärischer Wert für größere Operationen sehr begrenzt
war.
142
Zivilbevölkerung. Diese war überwiegend arabischer Abstammung und gehörte damit
einer von der türkischen Herrscherelite differierenden Kultur an. Außerdem lagen
dort religiös bedeutsame Städte, wie etwa Jerusalem, Bethlehem oder die alte
Kalifenstadt494 Baghdad. Die infrastrukturellen Bedingungen waren für Operationen
unzureichend und die militärische Versorgungslage daher schwierig.
Nicht näher behandelt werden die Unternehmungen in Persien und Afghanistan sowie
die Ereignisse im Hedjas oder Jemen. Diese Kriegsschauplätze spielten für den
eigentlichen Kriegsverlauf eine untergeordnete Rolle und deutsche Soldaten fanden
dort nur in sehr geringem Umfange Verwendung.495
Dagegen müssen die Seestreitkräfte und die Fliegertruppe aufgrund der
unterschiedlichen strukturellen Bedingungen gesondert untersucht werden.
a) Die Kämpfe an den Meerengen496
Nach der Beschießung der russischen Schwarzmeerhäfen durch die türkische Flotte
hatten Russland, Frankreich und Großbritannien dem Osmanischen Reich Anfang
November 1914 den Krieg erklärt. Die militärische Planung des osmanischen
Generalstabes
sah
nach
dem
Kriegsausbruch
in
Europa
zunächst
Truppenkonzentrationen um Konstantinopel, an den Meerengen und im europäischen
Teil der Türkei, an der Grenze zu Griechenland und Bulgarien vor. Dazu wurden
auch Kontingente aus den südlichen Provinzen des kleinasiatischen Reiches
abgezogen. Diese Einheiten sollten dem Schutz der Hauptstadt dienen, da deren
Verlust das türkische Engagement rasch beendet hätte.497 Die Hohe Pforte traute den
benachbarten Balkanstaaten nach den Kriegen der vergangenen Jahre nur wenig,
494
Der Kalif war das Oberhaupt der sunnitischen Muslime. Der Begriff leitet sich vom arabischen
Wort für „Nachfolger/Stellvertreter“ ab und meint damit den „Nachfolger des Propheten Mohammed“.
Matuz, Das Osmanische Reich 1990, S. 7.
495
Zu den deutschen Expeditionen nach Persien und Afghanistan siehe: Niedermayer, Oskar Ritter
von: Unter der Glutsonne Irans - Kriegserlebnisse der deutschen Expedition nach Persien und
Afganistan, Dachau 1925. Gehrke, Ulrich: Persien in der deutschen Orientpolitik während des Ersten
Weltkrieges, Stuttgart 1960. Vogel, Renate: Die Persien- und Afghanistanexpedition Oskar Ritter v.
Niedermayers 1915/16, Osnabrück 1976.
Zum Kriegsverlauf im Hedjaz siehe: Brémond, Édouard: Le Hedjaz dans la guerre mondiale, Paris
1931.
496
Siehe hierzu Karte 3.
497
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 37.
143
während das Deutsche Reich darauf hoffte, Bulgarien und Rumänien durch
militärische Erfolge auf seine Seite ziehen zu können. Für die türkischen Planungen
waren die Verteidigung der Durchfahrt zum Schwarzen Meer und Konstantinopels
voneinander abhängig. Zwar war es möglich, die Hauptstadt auch durch einen
Einmarsch zu Lande zu erobern, doch würde ein Angreifer stets den Bosporus
überqueren müssen, um beide Hälften der Stadt besetzen zu können. Sollte es
britischen oder russischen Schiffen jedoch gelingen, die Dardanellen oder den
Bosporus zu nehmen, wäre das „Herz“ des Reiches weitgehend schutzlos dem
Beschuß der Schiffsgeschütze ausgeliefert.
Ähnliche Überlegungen stellte bereits die britische Admiralität an. Winston
Churchill, seit 1911 britischer Marineminister498, hatte die Möglichkeit eines
Durchbruchs durch die Dardanellen bereits kurz nach seinem Amtsantritt erwogen. Er
war jedoch zu der Auffassung gelangt, daß eine Forcierung der Dardanellen für die
britische Flotte zu gefährlich und daher nicht zu empfehlen sei.499 Im Januar 1915
erreichte London ein Schreiben des russischen Großfürsten Nikolai, in dem dieser vor
dem Hintergrund einer türkischen Offensive im Kaukasus500 um eine britische
„Macht-Demonstration“ vor der türkischen Küste bat.501 Sie sollte die osmanischen
Truppen ablenken und die Hohe Pforte verunsichern. Die britische Seite nahm den
„Hilferuf“ aus Russland jedoch zum Anlaß, mit den Planungen einer großen
Operation gegen die Meerengen zu beginnen. Obwohl die Gefahren einer rein
maritimen Aktion bekannt waren, stimmte die britische Führung am 28. Januar 1915
einem Flottenvorstoß zu, der allerdings ohne Landungstruppen auskommen sollte.502
Die Verantwortlichen des britischen War Council503 rechneten zu diesem Zeitpunkt
damit, daß etwa 129.000 Soldaten nötig wären, um eine erfolgreiche Landung an den
498
Im Englischen: „First Lord of the Admiralty”. Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 113.
Strachan: Der Erste Weltkrieg 2004, S. 147.
500
Siehe Abschnitt III.2.1. b).
501
Travers, Tim: Gallipoli 1915, Stroud 32004, S. 19. (Im Folgenden: Travers, Gallipoli 2004.)
502
The Stationery Office (Hrsg.): Defeat at Gallipoli - The Dardanelles Commission Part II, 1915-16,
(Neudruck der Ausgabe London 1918) London 2000, S. 1. (Im Folgenden: Stationery Office, Defeat at
Gallipoli 2000.) Churchill hatte makabererweise in einem Planungsgespräch empfohlen, eine Flotte
aus älteren Schlachtschiffen einzusetzen, die von Minenräumbooten begleitet werden sollten. Travers,
Gallipoli 2004, S. 20.
503
Zu Aufgaben und Funktion sowie Zusammensetzung des War Council siehe: The Stationery Office
(Hrsg.): Lord Kitchener and Winston Churchill – The Dardanelles Commission Part I, 1914-15,
(Neudruck der Ausgabe London 1917) London 2000, S. 17-34. (Im Folgenden: Stationery Office,
Kitchener and Churchill 2000.)
499
144
Dardanellen zu gewährleisten.504 Der Kriegsverlauf an der europäischen Westfront
verlangte allerdings dort den Einsatz aller verfügbaren Landstreitkräfte. Ein größeres
britisches Engagement im Mittelmeer wäre demnach einer Schwächung der Front
gegen Deutschland gleichgekommen, worauf die deutsche Seite bei Abschluß des
Bündnisses mit der Hohen Pforte gehofft hatte. Dennoch verfügte London bereits am
16. Februar die Verlegung von Landeinheiten auf die Insel Lemnos.505 Gleichzeitig
beorderte das französische Oberkommando das Corps Expéditionaire d´Orient zur
Unterstützung auf die Insel. Diese Truppen sollten zunächst nur kleinere Einsätze zur
Beunruhigung des Gegners durchführen und keine große Landungsoperation.506 Der
britische Kriegsminister Lord Kitchener hielt die Truppen noch zurück, da er hoffte,
die
Marine
könne
den
Durchbruch
durch
die
Dardanellen
eigenständig
507
bewerkstelligen.
Bis zum 18. März 1915 beschossen britische Schiffe mehrmals die türkischen
Befestigungen an den Dardanellen. Hierdurch sollte die Verteidigung – insbesondere
die Reichweite und Effektivität der Festungsartillerie – getestet werden. Ebenso
landeten kleinere Einheiten der Royal Marines, um im Handstreich einige türkische
Forts zu nehmen und Geschütze zu zerstören. Diese Unternehmungen wurden jedoch
für die Briten verlustreich abgewiesen.508 Der „Erfolg“ dieser britischen Aktionen
war eine erhöhte Alarmbereitschaft der Verteidiger.509 Die Munitionsvorräte der
Festungsgeschütze wurden aufgestockt und größere Anstrengungen unternommen,
um die Durchfahrt zu verminen. Diese Minensperren waren es, die dem britischfranzösischen Flottenverband beim eigentlichen Durchbruchsversuch am 18. März
zum Verhängnis wurden.
Die Flotte, bestehend aus 18 Großkampfschiffen und einer Vielzahl kleinerer
Begleitfahrzeuge, fuhr an diesem Tag in zwei Wellen in die Meerengen ein und
504
Davon sollten immerhin knapp 48.000 Mann russische Soldaten sein. Diese waren an den späteren
Operationen allerdings nicht beteiligt. Stationery Office, Defeat at Gallipoli 2000, S. 13.
505
Ebd., S. 39.
506
Carver, Turkish Front 2004, S. 17.
507
Travers, Gallipoli 2004, S. 31.
508
Carver, Turkish Front 2004, S. 17f. Rhodes, Robert James: Gallipoli, London 1965, S. 45. (Im
Folgenden: Rhodes, Gallipoli 1965.)
509
Mühlmann, Carl: Der Kampf um die Dardanellen 1915, Berlin 1927, S. 64. (Im Folgenden:
Mühlmann, Dardanellen 1927.) Lorey, Krieg I, 1928, S. 87.
145
belegte die osmanischen Geschützstellungen mit schwerem Feuer.510 Obwohl die
Schiffsgeschütze der Artillerie der Verteidiger deutlich überlegen waren, gelang es
nicht, die Dardanellenforts auszuschalten. Allerdings mußten die osmanischen
Kanoniere sparsam mit der Munition umgehen, da der Vorrat trotz aller Bemühungen
klein und der Nachschub durch die andauernden Kämpfe in Serbien nicht gesichert
war.511 Trotzdem entwickelte sich ein harter Kampf zwischen den Schiffs- und den
Festungsbatterien. Mehrere Schiffe der Entente wurden dabei beschädigt, wobei das
französische Schlachtschiff „Gaulois“ so schwer getroffen wurde, daß es das Gefecht
abbrach.512 Als die großen Schiffe jedoch wendeten, um den Minenräumern Platz zu
machen, liefen sie direkt in ein neuangelegtes Minenfeld. Das französische Schiff
„Bouvet“ sank innerhalb von 45 Sekunden und nahm dabei fast 600 Mann Besatzung
mit in die Tiefe.513 Auch die beiden britischen Schiffe „Irresistible“ und „Ocean“
versanken aufgrund von Minentreffern, doch die Besatzungen konnten größtenteils
gerettet werden.514 Zwei weitere Schiffe der Flotte wurden schwer beschädigt,
konnten sich aber zurückziehen.515 Der Angriff wurde abgebrochen und der
Durchbruchsplan am 19. März schließlich komplett aufgegeben.516 Im Gegensatz zu
den katastrophalen Verlusten auf Seiten der Entente waren die türkischen Schäden
gering. Von den 176 Geschützen fielen gerade einmal 9 aus und von diesen konnte
sogar ein Teil wieder instandgesetzt werden.517
510
Rhodes, Gallipoli 1965, S. 60.
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 70f. Travers gibt an, daß am Ende des 18. März noch größere
Munitionsmengen bei den türkischen Batterien vorhanden waren, also von Munitionsknappheit keine
Rede sein könne. Travers, Gallipoli 2004, S. 36. Es muß jedoch berücksichtigt werden, daß die
türkische Führung und ihre deutschen Verbündeten von mehrtägigen Angriffen ausgehen mußten und
daher Reserven bildeten.
512
Rhodes, Gallipoli 1965, S. 61.
513
Travers, Gallipoli 2004, S. 34.
514
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 73.
515
Travers, Gallipoli 2004, S. 35.
516
Für die kommenden Tage waren weitere Angriffe geplant. Offenbar machte schlechtes Wetter ein
erneutes Vorgehen unmöglich. Carver, Turkish Front 2004, S. 19. Strachan: Der Erste Weltkrieg 2004,
S. 152.
517
Die Zahl der Personalverluste (Tote und Verwundete) variiert zwischen 114 und 132 Mann. Vgl.:
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 73; Rhodes, Gallipoli 1965, S. 64; Erickson, Ordered to Die 2001, S.
79f. Mühlmann gibt zusätzlich die Zahl der deutschen Verwundeten und Toten mit 22 Mann an. Eine
verläßliche Zahl der Verluste unter den britischen Besatzungen ließ sich nicht ermitteln. Das
australische amtliche Werk gibt immerhin für die schwerbeschädigte „Inflexible“ einen Verlust von 30
Mann an. Bean, C.E.W.: The Story of ANZAC – From the Outbreak of War to the End of the First
Phase of the Gallipoli Campaign, May 4, 1915, Sydney 111941, S. 198. (Im Folgenden: Bean, Story of
ANZAC, Bd. 1 1941.)
511
146
Nach dem Scheitern der Flottenoperation wurde doch eine Aktion von Bodentruppen
im Schutze der Marine vorbereitet. Am 25. April landeten die britischen und
französischen Truppen von Lemnos aus an verschiedenen Punkten der GallipoliHalbinsel, benannt nach der Ortschaft518 im Nordosten der Halbinsel, und auf dem
kleinasiatischen Festland. Truppen des Australian and New Zealand Army Corps
(ANZAC) gingen bei Ari Burnu519, die britische 29th Division und Teile der Royal
Naval Division an fünf Punkten an der Südspitze der Halbinsel an Land. Das
Einsatzgebiet des französischen Expeditionskorps lag bei Kum Kale520 auf dem
Festland.521 Insgesamt waren an den Landungsoperationen Ende April auf Seiten der
Entente etwa 75.000 Mann beteiligt.522
Ihnen gegenüber standen die Verbände der neugeschaffenen 5. osmanischen Armee,
deren Oberbefehl Liman von Sanders innehatte.523 Bemerkenswert ist, daß die
Bildung der neuen Armee, die ausdrücklich zur Verteidigung der Meerengen gedacht
war, kaum eine Woche nach dem gescheiterten Flottenangriff der Briten und
Franzosen befohlen wurde.524 Zuvor waren die 1. Armee und die 2. Armee im Gebiet
um die Meerengen und Konstantinopel disloziert gewesen mit dem Auftrag, sowohl
gegen eine Landung vom Mittelmeer her als auch gegen eine mögliche russische
Invasion über das Schwarze Meer zu sichern. So waren die türkischen Verbände auf
eine mehr als 200 km lange Küstenlinie verteilt worden, während die Verteidigung
der Halbinsel den Festungen und dem III. osmanischen Armeekorps überlassen
war.525 Die 5. Armee stand nunmehr neben dem ohnehin an den Dardanellen
stationierten III. Armeekorps (7., 9. und 11. I.D.), das XV. Armeekorps (3. und 11.
518
Heute Gelibolu genannt.
Zeitgenössische Kartenwerke schreiben auch „Ari Burun“. Es scheint sich hierbei jedoch um einen
Fehler zu handeln, da in den Texten der Zeitgenossen stets von „Ari Burnu“ die Rede ist.
520
Auch hier unterscheidet sich der Ortsname in der Literatur von den zeitgenössischen Karten. Um
Mißverständnisse zu vermeiden, wird, abweichend vom Kartenwerk, die gebräuchliche Form „Kum
Kale“ verwendet.
521
Rhodes, Gallipoli 1965, S. 96.
522
Travers, Gallipoli 2004, S. 47. Die alliierten Truppenstärken waren ungefähr:
ca. 11.000 Mann Royal Naval Division; ca. 30.000 Mann ANZAC; ca. 18.000 Mann 29th Division; ca.
18.000 Mann des französischen Expeditionskorps. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 214, Anm. 1.
523
Liman befehligte zuvor die 1. Armee. Sein Nachfolger wurde Generalfeldmarschall Colmar
Freiherr von der Goltz, der bereits am 12.12.1914 als Generaladjutant des Sultans nach Konstantinopel
gekommen war. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 66f. und S. 77.
524
Laut Liman wird der Entschluß zur Bildung der Armee am 24. März 1915 gefasst. Liman, Fünf
Jahre Türkei 1920, S. 76.
525
Vergleiche hierzu: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 42ff; Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 185;
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 72f.
519
147
I.D.)
auf
dem
kleinasiatischen
Festland;
hinzu
kam
eine
unabhängige
Infanteriedivision (5. I.D.) sowie eine unabhängige Kavalleriebrigade, die am
nördlichen Ende der Halbinsel am Golf von Saros positioniert waren.526 Die
türkischen Truppen vor Ort umfaßten insgesamt etwa 60.000 Mann, die aber zur
Abwehr auf eine größere Zahl möglicher Landungsstellen verteilt waren.527
Als die Ententetruppen am 25. April 1915 an verschiedenen Punkten der Halbinsel
landeten, hatte die türkische Seite vier Wochen Zeit gehabt, sich auf einen Angriff
vorzubereiten. Zwar herrschte im Hauptquartier Limans zunächst Unsicherheit über
die wahren Absichten des britischen Oberbefehlshabers Sir Ian Hamilton, zumal ein
Ablenkungsmanöver im Golf von Saros gestartet wurde, jedoch ließen die heftigen
Kämpfe an der Südspitze des Halbinsel bald keinen Zweifel daran, daß dort der
Schwerpunkt der Invasion lag.528
Trotz der Abwesenheit des Oberbefehlshabers und der anfangs unklaren Lage
konnten die türkischen Truppen ein größeres Vordringen der angreifenden Briten
zunächst verhindern. Die britische Landung bei „Y Beach“, etwa 3 Kilometer
südwestlich der später hartumkämpften Ortschaft Krithia, scheiterte aufgrund einer
Mischung
aus
Führungsfehlern
und
türkischem
Widerstand,
529
Landungstruppen am 26. April evakuiert wurden.
worauf
die
Auch der französische
Landungsversuch bei Kum Kale, offenbar von Anfang an ebenfalls als Ablenkung
geplant, wurde nach dem Versteifen des türkischen Widerstandes abgebrochen, die
Truppen wurden in der Nacht vom 26. auf den 27. April wieder verladen und auf die
Gallipoli Halbinsel verlegt.530 Die französischen Verluste werden mit 778 Mann
angegeben, während die türkischen Verluste, nicht zuletzt durch schweren Beschuß
526
Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 993.
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 80. Die Einheiten, die auf der Halbinsel selbst stationiert waren,
hatten noch im Februar (inklusive der Festungstruppen) 39.500 Mann, 34.500 Gewehre, 16
Maschinengewehre und 313 teils veraltete Geschütze zur Verfügung. Erickson, Strength Against
Weakness 2001, S. 992.
528
Liman selbst hielt sich bei Beginn der Landungen in der Nähe von Bulair, also im Norden der
Halbinsel auf, wo das britische Ablenkungsmanöver durchgeführt wurde. Erst am Morgen des 26.
April war er sich sicher, daß der wahre Angriff im Süden stattfand und verließ Bulair, wie auch sein
Adjutant, der damalige Hauptmann Mühlmann, bestätigte. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 86 u. S.
89. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 94f.
529
Siehe zum Verlauf der Landung: Aspinall-Oglander, Cecil F.: Military Operations: Gallipoli – Vol
I, Inception of the Campaign to May 1915, London 1929, S. 201-215. (Im Folgenden: AspinallOglander, Gallipoli Volume I, 1929.)
530
Travers, Gallipoli 2004, S. 78. Diese Landung ist die einzige, bei der auch die russische Seite mit
einem leichten Kreuzer unterstützend engagiert war.
527
148
der Kriegsschiffe und durch das „Überlaufen“ oder auch „frühzeitiges Kapitulieren“,
fast 2.000 Mann betrugen.531
Schon an diesem „Nebenschauplatz“ wird die Härte der Kämpfe deutlich. An fast
allen Frontabschnitten versuchten die Landungstruppen verbissen, auf die
weitgesteckten Operationsziele, die zum Teil 7-8 km von den Ausgangspunkten
entfernt lagen – und realiter während des ganzen Feldzuges nie erreicht wurden –
vorzustoßen. Ebenso verbissen versuchten die türkischen Verteidiger die Invasoren
wieder „ins Meer zu werfen“.
Bis zum 27. April hatte die britische 29th Division bereits 187 Offiziere und 4.266
Mann (von knapp 18.000) verloren und am 28. April waren die Verluste des
Angreifers auf etwa 6.000 Mann gestiegen.532 Genaue Verlustzahlen der türkischen
Truppen für den gleichen Zeitraum liegen nicht vor. Die Ausfälle dürften allerdings
höher gewesen sein als die der Entente, da sich die artilleristische Überlegenheit der
britischen Schiffsgeschütze verheerend auf die türkischen Soldaten auswirkte, die nur
über unzureichende Feldbefestigungen oder Gräben verfügten. So hatten zwei
türkische Regimenter, die im Süden der Halbinsel gegen die Briten kämpften, bis
zum Abend des 26. April etwa 2.000 Mann verloren, also die Hälfte ihrer
Personalstärke.533 Diese Einbußen der Osmanen mußten sich allerdings viel
gravierender auswirken, da aufgrund der anfänglichen Unklarheit über die
eigentlichen Landungsorte eine Vielzahl der Truppen noch auf dem Marsch war. An
der Südspitze bei Seddil Bahr534 standen 6.300 Türken einer Übermacht von mehr als
20.000 Ententensoldaten gegenüber und weiter nördlich bei Ari Burnu waren
lediglich 500 Verteidiger gegen 8.000 australische und neuseeländische Truppen
eingesetzt.535
531
Aspinall-Oglander, Gallipoli Volume I, 1929, S. 263. Vgl. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 101f.
und Travers, Gallipoli 2004, S. 77, der die französischen Verluste mit lediglich 250 Mann angibt.
532
Die Angaben beinhalten Tote, Verwundete und Vermißte. Carver, Turkish Front 2004, S. 37.
Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 186.
533
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 103. Fewster, Kevin/Başarın, Vecihi/Başarın, Hatice Hürmüz:
Gallipoli – The Turkish Story, Crows Nest 22003, S. 74. (Im Folgenden: Fewster/Başarın, Gallipoli
2003.)
534
Für diese Ortschaft gibt es in der Literatur wieder eine Vielzahl verschiedener Schreibweisen. Zur
Vereinfachung wird hier die Schreibweise des zeitgenössischen Kartenwerkes gewählt. Andere
Formen sind zum Beispiel: Sedd ul Bahr, Sedd-el-Bahr oder Sedd-el-Bahir.
535
Rhodes, Gallipoli 1965, S. 138. Fewster/Başarın, Gallipoli 2003, S. 63.
149
Die alliierten Landungen konnten Brückenköpfe sichern und weitere Truppen
heranführen. In blutigen Kämpfen gelang es, einige Bodengewinne gegen die
Verteidiger zu erzielen und eine zusammenhängende Frontlinie zu schaffen. Ein
britischer Angriff am 28. April gegen die im Süden der Halbinsel gelegene Ortschaft
Krithia wurde unter schweren Verlusten für beide Seiten abgewiesen.536
Anfang Mai hatte Liman von Sanders seiner Ansicht nach ausreichende Kräfte für
einen Gegenangriff gesammelt. Er wollte die gegnerischen Linien durchbrechen und
die Entente zur Aufgabe des Unternehmens zwingen. Mit der Durchführung wurde
der deutsche Befehlshaber der neugeschaffenen „Südgruppe“ beauftragt, Oberst von
Sodenstern.537 Um dem Feuer der gegnerischen Marine zu entgehen, sollten die
Angriffe im Schutze der Dunkelheit stattfinden. Die türkischen Truppen und ihre
Führer waren jedoch für solch anspruchsvolle Operationen weder ausgerüstet noch
ausgebildet. Zudem warnte eine „halbherzige“ Artillerievorbereitung den Gegner vor
dem bevorstehenden Unternehmen.538 Schon der erste Angriff in der Nacht vom 1.
auf den 2. Mai scheiterte unter schweren Verlusten für das osmanische Heer.
Dennoch wurden die Nachtangriffe in den beiden folgenden Nächten wiederholt,
allerdings ohne den erhofften Durchbruch zu erzielen.539 Wieder waren die Verluste
auf beiden Seiten schwer, wenn auch die türkischen Verluste deutlich höher
ausfielen.540
Nach diesem Fehlschlag ordnete Liman den Übergang zur Defensive an. Nur wenige
Tage später, am 6. Mai, begannen daraufhin die Ententeverbände mit einer Reihe
großer Angriffe gegen Krithia. Aber auch den britischen Truppen blieb ein
536
Carver, Turkish Front 2004, S. 37. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 141.
Von Sodenstern war deutscher Oberstleutnant. Seine „Südgruppe“ bestand im Wesentlichen aus
den Resten von zwei Divisionen, die kurzfristig durch einige Regimenter verstärkt wurden. Erickson,
Ordered to Die 2001, S. 85. Die “Nordgruppe” stand unter dem Befehl des türkischen Generals und
früheren Befehlshabers des III. Korps, Essad Pascha. Diese verteidigte bei Ari Burnu. Mühlmann,
Dardanellen 1927, S. 122.
538
Ebd.
539
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 115-119. Die neuere, englische Forschung spricht allerdings nur
von 2 Nachtangriffen. Travers, Gallipoli 2004, S. 115.
540
Genaue Zahlen liegen nicht vor. Mühlmann, der zum Zeitpunkt der Angriffe der Generalstabschef
von Oberst von Sodenstern war, gibt jedoch allein für eine türkische Division (15. I.D.) die Verluste
mit 4000 Mann an. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 113 und S. 119. Auf alliierter Seite traf es die
französischen Kolonialtruppen besonders schwer. Zeitweilig drohten diese Formationen gar zu
zerbrechen, das Ende der Angriffe und Verstärkung durch britische Truppen klärten die Situation
jedoch rechtzeitig. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 147.
537
150
durchschlagender Erfolg versagt. Die Vorstöße wurden unter empfindlichen
Verlusten abgewiesen.541
Nach den vergeblichen Angriffen gingen beide Seiten Anfang Mai zur Verteidigung
und damit zum Stellungskrieg über.542 Beide Seiten nutzten die Gelegenheit,
Stellungen
auszubauen
und
Verstärkungen
heranzuführen.
Der
britische
Oberbefehlshaber General Sir Ian Hamilton hatte in London jedoch die größeren
Widerstände zu überwinden. Großbritannien und Frankreich brauchten ihre Truppen
in Europa für den Kampf gegen das Deutsche Reich. Sie konnten sich daher nur zu
verhältnismäßig geringen Verstärkungen durchringen.543
Ähnlich der Kriegführung in Frankreich und Belgien waren die Kämpfe auf der
Gallipoli Halbinsel von einem Ausbau der Verteidigungsanlagen und gelegentlichen
blutigen, aber erfolglosen Angriffen gekennzeichnet. Die Versenkung von drei
britischen Großkampfschiffen durch ein deutsches U-Boot und ein türkisches
Torpedoboot Mitte und Ende Mai führte zu einem Abzug der britischen Flotte und
damit vorübergehend zur Unterbrechung der Feuerunterstützung für die gelandeten
Ententeverbände.544 Obwohl die britischen Schiffe nach etwa einem Monat ihre
Positionen wieder einnahmen, bekamen die osmanischen Verteidiger eine dringend
benötigte Verschnaufpause nach dem ständigen Beschuß durch schwerste
Schiffskaliber, die den Ausbau der Stellungen der Verteidiger ermöglichte.545
Die Situation in den nächsten Monaten wurde für die Soldaten beider Seiten schwer
erträglich. Das heiße und trockene Klima sorgte bald für Wasserknappheit, von der
besonders die Invasoren betroffen waren, da die von ihnen besetzten Küstengebiete
kaum Quellen aufwiesen und die wenigen vorhandenen Wasserläufe austrockneten.
So mußte der Nachschub auf dem Seewege herangeschafft werden. Die Verhältnisse
541
Reichsarchiv (Hrsg.): Die Operationen des Jahres 1915 – Die Ereignisse im Westen und auf dem
Balkan vom Sommer bis zum Jahreswechsel, Berlin 1933, S. 181. (Im Folgenden: Reichsarchiv,
Operationen 1933.) Detaillierte Informationen zu den britischen Angriffen bei: Bean, C.E.W.: The
Story of ANZAC – From 4 May, 1915, to the Evacuation of the Gallipoli Peninsula, Sydney 1941, S.
1-43. (Im Folgenden: Bean, Story of ANZAC, Bd. 2, 1941.)
542
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 123. Reichsarchiv, Operationen 1933, S. 181.
543
Erst Mitte Juni 1915 genehmigte London Verstärkungen für die Gallipoli-Front und dann auch nur
widerstrebend. Ausschlaggebend hierfür war allerdings die öffentliche Meinung, die sich zunehmend
für diesen Schauplatz interessierte. Besonders in Australien und Neuseeland, beide Staaten Angehörige
des britischen Commonwealth, war das öffentliche Interesse an den Kämpfen der „eigenen ANZAC
Truppen“ an den Dardanellen groß. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 215ff.
544
Zu den Aktionen der Marine siehe Kapitel III.2.d).
545
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 133.
151
auf türkischer Seite waren allerdings kaum besser, denn aufgrund der hohen
Truppenzahl auf der kargen Halbinsel mußte auch hier der Nachschub per Schiff über
das Marmarameer transportiert werden. Dort gefährdeten alliierte Unterseeboote, die
es durch die gesperrten Meerengen geschafft hatten, die Transporte.546 Zudem nahm
aufgrund der unhygienischen Verhältnisse die Zahl des Ungeziefers zu. Besonders die
sommerliche Fliegenplage auf der Halbinsel ist legendär.547 Durch die zahlreichen
unbeerdigten Toten im „Niemandsland“ zwischen den Fronten konnten sie sich
exponentiell vermehren.548 Solche Verhältnisse begünstigten in hohem Maße die
Verbreitung von Krankheiten.549
Anfang August traten die britischen und französischen Einheiten, mittlerweile durch
frische Truppen verstärkt, zu einer neuen, großen Offensive an. Am Abend des 6.
August wurden die ersten beiden Divsionen (11. und 13.) des britischen IX. Corps in
der Suvla Bucht, etwa 9 Kilometer nördlich von Ari Burnu, angelandet.550 Schon
vorher hatten an den anderen Frontabschnitten große Angriffe der Entente
begonnen.551 Auf türkischer Seite hatte man mit einer neuen Landung an anderer
Stelle gerechnet, denn der Chef des Großen Generalstabes, General Erich von
Falkenhayn, hatte Liman von Sanders bereits am 22. Juli eine entsprechende
Warnung zukommen lassen.552 Da man jedoch den genauen Ort der britischen
Operation nicht kannte, wurden die türkischen Truppen so verteilt, daß sie die
möglichen Landungspunkte rasch erreichen konnten. Dadurch waren die Fronten nur
dünn besetzt und so kam es, daß in der Suvla Bucht nur etwa 3.000 türkische
546
Lorey, Krieg I, 1928, S. 181f. Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 134.
In dem von Teilnehmern des Feldzuges herausgegebenen „ANZAC Book“ finden sich
mannigfaltige Verweise auf die Insektenplagen. Etwa in dem Gedicht „Flies and Fleas“ oder im
„ANZAC Alphabet“. The Anzac Book – Written and Illustrated in Gallipoli by The Men of Anzac,
London (u.a.) 1916, S. 44 u. S. 115f. (Im Folgenden: Anzac Book 1916.)
548
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 132.
549
Larcher gibt die Zahl der Krankheitsfälle für die Entente mit 120.000 Mann an. Larcher, La Guerre
Turque 1926, S. 236. Diese Zahl beinhaltet jedoch nur die behandelten Fälle und nicht die Zahl der
dauerhaften Ausfälle. Für die türkische Seite nennt Erickson 64.000 Krankheitsfälle. Erickson,
Ordered to Die 2001, S. 95. Beide Angaben können höchstens als „Annährungswerte“ betrachtet
werden, da eine zuverlässige Datenerhebung fehlt.
550
Travers, Gallipoli 2004, S. 179.
551
Carver, Turkish Front 2004, S. 62.
552
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 106. Falkenhayn warnte vor möglichen Landungen im Golf von
Saros, nördlich von Gallipoli.
547
152
Verteidiger unter dem bayerischen Major Willmer553 den dortigen Abschnitt gegen
zwei britische Divisionen mit etwa 16.000 Mann, die zudem über zwei weitere
Divisionen in Reserve verfügten, halten mußten.554
Als die ersten Berichte über die neue Front eintrafen, entsandte die türkische 5.
Armee sofort Verstärkungen in den bedrohten Abschnitt, um den befürchteten
Durchbruch zu verhindern. Die vorgesehen Divisionen brauchten auf den schlechten
Wegen der Halbinsel allerdings fast 24 Stunden länger als erwartet und waren durch
die Gewaltmärsche in großer Hitze bei ihrem Eintreffen nicht sofort einsatzfähig.555
Zum Glück für die Verteidiger gingen die britischen Truppen nur zögerlich vor.
Aufgrund verschiedener Schwierigkeiten in der Kommunikation und wohl auch durch
Fehler der britischen Führung machten sich die gelandeten Truppen nicht sofort
daran, die operativ bedeutsamen Höhen um die Bucht zu nehmen, sondern richteten
zunächst ihr Lager ein.556
„Man glaubte dem Auge nicht trauen zu dürfen, das immer wieder über das friedliche
Bild englischen Lagerlebens an der Suvla-Bucht schweifte und suchend dann nach
hinten sich wandte, von wo die sehnsüchtig erwarteten türkischen Divisionen kommen
mußten.“557
Erst am 9. August kam es zu ernsthaften Kämpfen zwischen den mittlerweile
angreifenden
Landungstruppen
und
den
eben
eingetroffenen
türkischen
Verstärkungen. Bei dieser Gelegenheit zeichnete sich der osmanische Oberst Mustafa
Kemal Bey, der spätere Gründer der türkischen Republik, besonders aus. Liman
übergab ihm den Befehl über den Frontabschnitt, nachdem sich der vorherige
türkische Befehlshaber der sogenannten „Anaforta-Gruppe“558 nicht in der Lage
gesehen hatte, den Angriffsbefehl zeitgerecht auszuführen. Der deutsche Armeechef
ging davon aus, daß der energische Oberst mit allen Mitteln versuchen werde, den
britischen Vormarsch zu stoppen, und er sollte nicht enttäuscht werden. Mustafa
553
Zu einem knappen Lebenslauf siehe: Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 251f.
Travers, Gallipoli 2004, S. 188.
555
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 151.
556
Das britische amtliche Werk macht den Truppenführern vor Ort schwere Vorwürfe und sieht die
Hauptverantwortlichkeit für das Scheitern des späteren Angriffs bei diesen Offizieren. AspinallOglander, Cecil F.: Military Operations: Gallipoli – Vol II, May 1915 to the Evacuation, London 1932,
S. 268-284. (Im Folgenden: Aspinall-Oglander, Gallipoli Volume II, 1932.)
557
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 152.
558
Die Gruppe ist benannt nach der Ortschaft in der Nähe der Landungsstelle.
554
153
Kemal gelang es unter großem persönlichen Einsatz und mit größtmöglicher
Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen eigenen Truppen, den Vormarsch aufzuhalten
und am 10. August die Schlüsselpositionen des Frontabschnitts zu besetzen.559 Die
Schlacht um die Landungszone an der Suvla-Bucht dauerte noch bis zum Ende des
Monats August an. Britische Angriffe am 12., 15. und 21. August schlugen fehl und
die Angriffe an den anderen Frontabschnitten hatten schon vorher keine
durchschlagenden Erfolge gezeitigt.560 Danach setzte erneut Stillstand und
Grabenkrieg ein. Das Scheitern dieser Operation führte in London zu einem
Überdenken des gesamten Unternehmens. Zudem ordnete Bulgarien am 22. 9. 1915
die Mobilmachung an und trat auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg ein. Serbien
wurde durch die von mehreren Seiten vorgetragenen Angriffe bald besetzt. Der
Versorgungsweg von Deutschland in das Osmanische Reich war damit offen. Die
Ententemächte kamen darin überein, dem angeschlagenen Balkanstaat zu helfen. Sie
planten daher in Saloniki, das zum eigentlich noch neutralen Griechenland gehörte,
Truppen zu landen.561 Dazu sollten auch Einheiten von der Dardanellenfront
abgezogen werden. Am 14. Oktober beschloß die Regierung in London General
Hamilton, den Oberbefehlshaber der Mediterranean Expeditonary Force, abzulösen
und durch General Sir Charles Monro zu ersetzen. Ihm oblag jetzt die Aufgabe, die
abgekämpften Truppen auf der Halbinsel zur Evakuierung vorzubereiten.562
Zeitgleich mit den Verlegungen vor allem französischer Truppen von Gallipoli nach
Griechenland zog die osmanische Führung Formationen aus dieser Front, die der 5.
Armee (Liman) im Laufe des Sommers von anderen Armeen zugeführt worden
559
Mustafa Kemal war bereits vorher durch seine harte Vorgehensweise aufgefallen. Schon bei den
Abwehrkämpfen am 25. April soll er gesagt haben: „Ich befehle euch nicht anzugreifen, ich befehle
euch zu sterben. In der Zeit, die vergeht bis wir sterben, können andere Truppen und Befehlshaber
nach vorne kommen und unsere Plätze einnehmen.“ Erickson, Ordered to Die 2001, S. XV. Auch
wenn solch ein Zitat höchstwahrscheinlich dem Reich der Legendenbildung um den späteren “Atatürk”
entspringt, so verdeutlicht es seine Einstellung zum Kampf offenbar zutreffend. Liman selbst äußert
sich beeindruckt von dem entschlossenen Vorgehen und der Leistung des Obersten, der die
Entscheidung durch einen verlustreichen Sturmangriff erzwang. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S.
112.
560
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 91.
561
Die komplizierten politischen Vorgänge in Griechenland können hier nicht näher erläutert werden.
Die britisch-französischen Truppen kamen jedoch auf „Einladung“ des griechischen Premierministers,
der daraufhin vom deutschfreundlichen König Konstantin II. abgesetzt wurde. Einführend dazu siehe:
Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 418f.
562
Travers, Gallipoli 2004, S. 275.
154
waren.563 Dennoch planten die Mittelmächte, offenbar auf Betreiben des Generals
von Falkenhayn, eine Offensive, welche die hartumkämpfte Halbinsel von den
Ententeverbänden befreien sollte.564 Deutschland und Österreich-Ungarn kündigten
großzügige Material- und Truppenlieferungen für die Offensive an, die jedoch nur
sehr zögerlich in Gang kamen. Als erste geschlossene Formationen trafen zwei k.u.k.
Artillerie-Batterien Ende November und Dezember 1915 an der Front ein.565
Im Laufe des Novembers diskutierte das Kabinett in London über eine mögliche
Evakuierung. Die Entscheidungsfindung zog sich hin, wurde aber schließlich durch
schwere Unwetter beschleunigt, bei denen Ende November 280 Soldaten in den
Schützengräben ertranken oder erfroren.566 Am 7. Dezember 1915 entschied man, die
Landungsabschnitte in der Suvla-Bucht und den Abschnitt der ANZAC-Truppen, auf
deutscher Seite als Anaforta- und Ariburnufront bezeichnet, zu räumen. In der Nacht
vom 18. auf den 19.12. wurden die Truppen völlig überraschend für die türkische
Seite eingeschifft.567 Die südliche Front gab man in der Nacht zum 9. Januar 1916
auf.568 Einen Tag zuvor hatte Liman von Sanders einen Angriff befohlen, um die
verblieben Briten und Franzosen doch noch zu stellen. Dieser Versuch scheiterte
jedoch unter schweren Verlusten für die eingesetzten türkischen Verbände.569
Die evakuierten Truppen ließen buchstäblich Berge von Kriegsmaterial an den
Landungsabschnitten zurück. So zählte man 15 unbrauchbar gemachte Geschütze und
1.590 Fahrzeuge. 508 Maultiere, die nicht transportiert werden konnten, wurden
erschossen.570 Zudem fielen den türkischen Soldaten zahlreiche persönliche
Ausrüstungsgegenstände, Uniformteile und Nahrungsmittel in die Hände, was ihnen
sehr gelegen kam.571
563
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 123.
Mühlmann, Dardanellen 1927, S. 165.
565
Es handelt sich im eine 15-cm-Haubitzbatterie und eine 24-cm-Mörserbatterie mit insgesamt 84
Mann artilleristischem Personal. Durch die schlechten Wegeverhältnisse und verschiedene
„protokollarische“ Verpflichtungen brauchte die Mörserbatterie ganze 2 Monate, um ihr Einsatzgebiet
zu erreichen (22.10.-23.12.). Sie kam damit praktisch zu spät, um Wirkung zu zeigen, da die Briten
bereits mit dem Truppen-Abzug begonnen hatten. Jung, Der Wüstenkrieg 1992, S. 38f.
566
Zusätzlich mußten etwa 16.000 Erfrierungsfälle von der Halbinsel evakuiert werden. Stationery
Office, Defeat at Gallipoli 2000, S. 189-192.
567
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 127f.
568
Travers, Gallipoli 2004, S. 277.
569
Rhodes, Gallipoli 1965, S. 345.
570
Aspinall-Oglander, Gallipoli Volume II, 1932, S. 478.
571
Rhodes, Gallipoli 1965, S. 347.
564
155
Die Kämpfe um die Dardanellen hatten damit ein Ende gefunden. Die Verluste auf
beiden Seiten waren horrend, berücksichtigt man den verhältnismäßig kleinen Raum,
auf dem gekämpft worden war. Die Zahlen der eingesetzten alliierten Truppen
variieren von 489.000 Mann bis zu 549.000 Mann.572 Die Zahl der eingesetzten
osmanischen Soldaten ist nicht genau bekannt. Neueste Untersuchungen gehen
jedoch davon aus, daß knapp 500.000 Soldaten auf die Halbinsel geschickt wurden.573
Dies entspräche ungefähr der Hälfte der gesamten osmanischen Streitkräfte und etwas
mehr als einem Sechstel der Gesamtzahl der während des Krieges mobilisierten
Soldaten des Osmanischen Reiches.574
Die gesamten Personalausfälle (Tote, Verwundete, Vermißte und Kranke) umfaßten
circa:
-
205.000 britische Soldaten
-
47.000 französische Soldaten
-
250.000 osmanische Soldaten575
Die Zahl der Toten und Vermißten, wobei der Terminus „vermißt“ häufig
gleichbedeutend mit „tot“ war, betrugen auf Seiten der Entente zwischen 47.000 und
50.000 Mann.576 Die Gefallenen der türkischen Verteidiger werden heute auf etwa
68.000 Mann geschätzt, zu denen möglicherweise noch eine große Zahl von
Todesfällen in den Lazaretten hinzutritt.577 Exakte Zahlen für die Verluste werden
sich kaum jemals ermitteln lassen, jedoch erscheint dies auch als unnötig, zeigen
572
Erstere Zahl bei Erickson, Ordered to Die 2001, S. 94. Maurice Larcher gibt hingegen 469.000
Briten und 80.000 Franzosen für die Dardanellenkämpfe an. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 236.
573
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 94.
574
Die Gesamtzahl der mobilgemachten Soldaten wird mit etwa 2,8 Millionen angegeben. Larcher, La
Guerre Turque 1926, S. 540. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 243. Emin spricht sogar von knapp 3
Millionen Soldaten. Die Heeresstärke hätte jedoch zu keinem Zeitpunkt mehr als 1,2 Millionen Mann
betragen. Emin, Turkey 1930, S. 252.
575
Travers, Gallipoli 2004, S. 311. Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 184.
576
Das „Dardanellen-Komitee“ der britischen Regierung gab die eigenen Verluste mit 31.389 getöteten
und 9.708 vermißten Militärpersonen an, was einer Zahl von 41.097 Gefallenen auf der britischen
Seite entspräche. Stationery Office, Defeat at Gallipoli 2000, S. 289. Andere Autoren „korrigieren“
diese Zahlen nach unten auf 39.000 oder 37.000 britischen Gefallene, inklusive der australischen und
neuseeländischen Toten. Fewster/Başarın, Gallipoli 2003, S. 6. Carver, Turkish Front 2004, S. 101. Zu
diesen Verlusten kommen etwa 11.000 französische Armeeangehörige hinzu. Erickson, Strength
Against Weakness 2001, S. 1009.
577
Edward Erickson gibt hier wohl die genauesten Werte an, wenn auch eine gewisse Tendenz
zugunsten der türkischen Seite nicht zu übersehen ist. Immerhin verweist er darauf, daß türkische
Autoren von weiteren 21.000 Verstorbenen in den Lazaretten sprechen, was die Zahl der Toten auf
89.000 erhöhen würde. Gleichzeitig verwirft er die Zahl von Rhodes, der die türkischen Verluste mit
86.692 angibt, als „überschätzt“. Vgl.: Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 1009. Erickson,
Ordered to Die 2001, S. 94 u. 237. Rhodes, Gallipoli 1965, S. 348.
156
doch die bisherigen Schätzungen bereits deutlich, mit welcher Härte und
Entschlossenheit beide Seiten um die Herrschaft über die Schlüsselstellung an den
Meerengen kämpften.
b) Die Kämpfe im Kaukasus578
Eine unmittelbare Bedrohung der Grenzen des Osmanischen Reiches zu Lande
bestand
vor
dem
Ausbruch
des
Weltkriegs
nur
durch
eine
russische
Truppenkonzentration im Kaukasus. Russland hatte bereits in den Jahren vor dem
Kriege seine militärische Infrastruktur im Kaukasus ausgebaut und verfügte dort über
eine beachtliche Truppenpräsenz.579 Die türkische Führung hatte die 3. Armee580 im
Kaukasus stationiert. Sie sollte einem russischen Vorstoß in Richtung Erserum
(Erzurum)
–
der
größten
Stadt
der
Region
und
zugleich
wichtigem
Verkehrsknotenpunkt – entgegentreten. Die Infrastruktur in dem rauhen Gebirgsland
war allerdings mehr als dürftig und so scheiterte bereits der Versuch, die vorhandenen
Truppenteile auf ihre kriegsmäßige Stärke zu bringen. Eisenbahnverbindungen zur
späteren Front waren nicht vorhanden. Die nächstgelegenen Bahnendpunkte lagen
von der Stadt Erserum 400 beziehungsweise 700 Kilometer entfernt.581 Daher wurden
die Transporte mit Hilfe von Zug- und Lasttieren durchgeführt. Aber auch sie hatten
mit dem ungenügenden Wegenetz zu kämpfen. Der Zustand der wenigen ausgebauten
Strassen machte die Benutzung für die Zugtiere der Kolonnen meist so gefährlich,
daß sie neben den Strassen her geführt werden mußten.582 Außerdem hatte man auf
dem Weg zur Front zahlreiche Gebirgspässe zu überqueren. Bei starkem Regen oder
andauerndem Schneefall, wie er im kaukasischen Winter die Regel ist, waren sie nur
578
Siehe hierzu Karte 4.
Im August 1914 waren dort drei Armeekorps stationiert sowie eine reguläre Kavallerie-Division,
einige Grenzschutzverbände und irreguläre Kosaken-Einheiten. Obwohl die russischen A.K. lediglich
aus zwei Divisionen bestanden, so waren diese mit je 12.000 bis 16.000 Mann deutlich stärker als die
osmanischen Divisionen. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 375f.
580
Sie bestand zunächst aus den IX. und XI. türkischen A.K., die jeweils drei Infanterie-Divisionen
umfaßten. Bis zum November 1914 traten noch das X. türkische A.K. und ein Reserve-KavallerieKorps hinzu sowie Formationen der Jandarma und irreguläre Kavallerieformationen aus kurdischen
Stammesangehörigen. Vgl. hierzu: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 42ff. und Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 14f.
581
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 32.
582
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 8f.
579
157
selten passierbar und zwangen zu langen Umwegen. Eine halbwegs brauchbare
Etappenstrasse vom Bahnhof Ulu Kischla583 über Siwas nach Erserum – eine Strecke
von knapp 900 Kilometern – wurde erst im Frühjahr 1915 fertiggestellt.584 Die
Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Kriegführung waren demnach denkbar
ungünstig und der osmanische Generalstab konnte zudem nur eine begrenzte Anzahl
von Truppen für diese Front zur Verfügung stellen. Erst als „Goeben“ und „Breslau“
die russischen Häfen beschossen hatten und damit der Kriegseintritt der Türkei
feststand, wurde der 3. Armee ein weiteres Korps (X. A.K.) unterstellt.585 Damit
erreichten die türkischen Truppen im Kaukasus eine Gesamtstärke von fast 120.000
Mann, von denen allerdings nur etwa 75.000 Mann für eine mögliche Offensive zur
Verfügung standen.586 Für die jungtürkische Führung war eine hohe Truppenpräsenz
im Grenzbereich zu Russland von größter Wichtigkeit. Zum einen wurde das
Zarenreich als traditionelle Bedrohung empfunden, denn die Frage der Kontrolle
über die Meerengen und damit den Zugang zum Schwarzen Meer hatte in der
Vergangenheit oft zu Konflikten geführt. Zum anderen strebten die Jungtürken
expansionistische Ziele im Kaukasus an, wo sie hofften, die „turkotartarischen
Völkerschaften“ im Sinne des Panturanismus in das Osmanische Reich einzugliedern.
Der deutsche Bündnispartner hegte hingegen zu Kriegsbeginn nur sehr begrenztes
Interesse an diesen Gebieten. Sein Schwerpunkt lag in Europa und dort in der raschen
Niederwerfung Frankreichs. Türkische Offensiven konnten der deutschen Ostfront
durch
Bindung
russischer
Verbände
jedoch
Entlastung
bieten.
Daß
Angriffsoperationen unter den schwierigen Rahmenbedingungen kaum Erfolg
versprachen, wurde in Berlin als „vertretbares Risiko“ betrachtet.587
583
Über die genaue Lage des Bahnhofs werden keine Angaben gemacht. Es ist jedoch wahrscheinlich,
daß es sich um den Endbahnof der Strecke Bulgurlu – Ulukişla aus dem Jahre 1911 handelt, die von
der Hauptstrecke der Bagdadbahn abzweigte und auch heute noch genutzt wird. Karten zum
Weltkriege: Der Orient, Bielefeld/Leipzig 4[1915], Karte II, E 7. Siehe dazu auch die Internetseite der
türkischen Eisenbahngesellschaft TCDD: http://www.tcdd.gov.tr/genel/acilistarihleri.htm (Stand:
25.09.2008).
584
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 13.
585
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 27.
586
Erickson gibt die Gesamtstärke der regulären Verbände mit 75.660 Mann an. Allerdings führt er
noch die Rubrik „andere Kombattanten“ (37.000 Mann) an ohne zu erklären, wen er damit meint, und
zählt noch die „verfügbaren Verstärkungen“ hinzu. Die Zahlen erscheinen daher sehr zu Gunsten der
osmanischen Seite ausgelegt. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 57.
587
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, 98f.
158
Die russische Führung hatte ihre Truppen in der Region dadurch geschwächt, daß sie
nach dem Ausbruch der Kämpfe in Ostpreußen zwei Armeekorps und einen großen
Teil der unabhängigen Verbände aus dem Kaukasus abzog und die erfahrenen
Verbände durch frischausgehobene Truppen ersetzte. So blieb die zahlenmäßige
Überlegenheit mit insgesamt 160.000 Soldaten zwar erhalten, doch die Offensivkräfte
(ca. 80.000 Mann) waren weniger erfahren als die vorherigen Verbände.588
Die russische Offensive, die bereits am 1. November 1914 – also am Tage vor der
offiziellen
russischen
Kriegserklärung
–
begann,
endete
nach
kleineren
Kampfhandlungen schon Mitte des Monats mit einem russischen Rückzug.589 Die
türkischen Truppen rückten jedoch nur langsam nach, da mittlerweile Schneefall auf
der ganzen Front eingesetzt hatte und die Temperaturen deutlich unter den
Gefrierpunkt gefallen waren. Die Befehlshaber zögerten aus Sorge, die ohnehin stark
beanspruchte Truppe aufzureiben.590 Von einem glänzenden Sieg der osmanischen
Armee konnte demnach kaum die Rede sein. Dennoch gewann der türkische
Generalstab in Konstantinopel offenbar den Eindruck, daß im Kaukasus der Zeitpunkt
für eine großangelegte Angriffsoperation gegen die augenscheinlich schwachen
Russen gekommen sei. Enver Pascha entsandte seinen zweiten stellvertretenden
Generalstabschef Oberst Hafiz Hakki Bey591 zur 3. Armee, um dort die
Möglichkeiten für einen solchen Angriff zu erkunden. Der Offensivgedanke wurde
auch von den wenigen deutschen Offizieren an der Kaukasusfront gestützt. Vor
Beginn der Feindseligkeiten befanden sich gerade einmal zwei Deutsche im Bereich
der 3. Armee, der preußische Major Guse und der preußische Hauptmann Vonberg,
die als Angehörige der deutschen Militärmission einen entsprechend erhöhten
türkischen Dienstgrad besaßen. Zudem bekleidete Felix Guse als Chef des
Generalstabes der 3. osmanischen Armee einen äußerst wichtigen und einflußreichen
Posten an der Front. Kurz vor Ausbruch der Kämpfe im Kaukasus waren noch fünf
588
Auch die russischen Zahlenangaben sind nicht genau. Zwar geben Larcher und Guse die gleiche
Gesamtzahl an, aber Larcher spricht von 70.000 und Guse von 90.000 russischen Kombattanten.
Vgl. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 375-377 und Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 28.
Beide Angaben erscheinen im Kontext jeweils für die eigene Argumentation „angepaßt“ zu sein,
weshalb in dieser Arbeit auf den Mittelwert zurückgegriffen wird.
589
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 28-31. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 54.
590
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 31f.
591
Hafiz Hakki Bey wird bei Guse fälschlicherweise als „Ismael Hacki“ bezeichnet. Vgl. Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 36 und Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 64 sowie Erickson, Ordered to
Die 2001, S. 54.
159
weitere Deutsche nach Erserum versetzt worden. Sie hatten den Auftrag, die
Befestigungen der Stadt zu modernisieren, damit sie einem eventuellen russischen
Vorstoß standhalten konnten.592 Bis auf einen von ihnen, den preußischen
Artilleristen Major Stange, dem ein Detachement aus zwei osmanischen InfanterieBataillonen und zwei Artillerie-Batterien zugeteilt wurde, hatten diese jedoch keinen
Einfluß auf die militärischen Operationen der 3. Armee.593
Trotz der grundsätzlichen Zustimmung der Deutschen zu einem Angriff erschien
ihnen der Plan zur Durchführung nach den bisherigen Erfahrungen mit der
Leistungsfähigkeit der Truppe zu gewagt.594 Doch Enver Pascha – der mittlerweile
zum Stab der Armee gereist war – übernahm am 19. Dezember selbst den Oberbefehl
über die 3. Armee, nachdem der bisherige Oberbefehlshaber aus Angst vor einem
Fehlschlagen der Offensivpläne um seine Ablösung ersucht hatte.595 Enver ersetzte
zudem die bisherigen Kommandeure des IX. und X. A.K. durch ihm genehmere
Generäle.596 Der deutsche Chef des türkischen Großen Generalstabes Bronsart von
Schellendorff übernahm die Aufgaben als Chef des Generalstabes der 3. Armee,
während Guse nunmehr der Stellvertreter Bronsarts wurde.597 Insgesamt befanden
sich bei Beginn des Feldzuges etwa ein Dutzend deutscher Offiziere im Bereich der
3. Armee, von denen etwa die Hälfte in Stabsverwendungen bei der Armee und den
Korps, drei in der Festung Erserum und weitere drei als Regimentskommandeure
eingesetzt waren.598
Die türkischen Truppenbewegungen begannen am 22. Dezember 1914. Ohne auf
größeren russischen Widerstand zu stoßen, überquerten die osmanischen Verbände
die Grenze und stießen in Richtung auf Sarikamisch (Sarikamiş) etwa 20-25
Kilometer jenseits der russischen Grenze vor, das sie in der Nacht vom 25. auf den
592
Kommandant der Festung wurde der preußische Oberst/osmanische Generalmajor Posseldt, dem
vier weitere Offiziere (ein Fußartillerist, ein Pionier, ein Zeug- und ein Feuerwehroffizier) zugeteilt
wurden. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 26.
593
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 54f.
594
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 64.
595
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 37.
596
So machte er beispielsweise den oben erwähnten Oberst Hafiz Hakki Bey zum Kommandeur des X.
Armeekorps. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 55.
597
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 38.
598
Die Angaben zur Verwendung der deutschen Offiziere sind vage und auch die genaue Zahl wird
nicht genannt. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 26 u. 55.
160
26. Dezember erreichten.599 Ein Nachtangriff auf die Ortschaft wurde jedoch auf den
27. Dezember verlegt. Die Ausführung des Angriffs machten dann aber heftige
Schneefälle und das Absinken der Temperaturen auf –26° C unmöglich. Die
türkischen Soldaten, die bei diesen Verhältnissen zum Großteil ohne Zelte und
passende Winterbekleidung biwakieren mußten, waren zu irgendeiner Offensivaktion
gegen die mittlerweile verstärkten russischen Stellungen nicht mehr in der Lage.
Zudem unterbrach der heftige Schneefall die Nachschublinien, weshalb die Truppe
und auch das Armee-Oberkommando nur über unzureichende Verpflegung – Brot
und getrocknete Oliven – verfügten. Die Zahl der Desertionen stieg sprunghaft an.600
Die Kraft der osmanischen Offensive war gebrochen, auch wenn an der Front noch
kleinere Störaktionen gegen russische Truppenbewegungen ausgeführt wurden.
Bereits am 27. Dezember meldete der Kommandeur des X. A.K., der nunmehr zum
General und Pascha ernannte Hafiz Hakki, daß seine Kampfkraft nur noch etwa der
von 2 Bataillonen entspräche, also auf etwa 7% der Nominalstärke gefallen sei.601
Um die Jahreswende wurden die Witterungsbedingungen noch schlechter und die
Temperaturen in der 2000 bis 3000 Meter hoch gelegenen Gebirgsregion sanken bis
auf –36° C ab.602
Die russische Gegenoffensive, die am 2. Januar 1915 begann, verwandelte die bereits
gescheiterte türkische Offensive in ein Desaster. Obwohl auch die russische Seite
unter den Bedingungen des Winters sehr schwere Verluste erlitten hatte, war sie
zahlenmäßig überlegen und besser versorgt. Um einer drohenden Einkesselung der
gesamten 3. Armee zu entgehen, befahl Enver zwei Tage später den Rückzug. Dem
osmanischen IX. A.K. gelang es als Nachhut, den russischen Vormarsch eine zeitlang
aufzuhalten, bevor es umzingelt und völlig aufgerieben wurde. Die Reste des Korps
sowie das Hauptquartier kamen in Gefangenschaft.603 Mitte Januar 1915 verebbten
die Kämpfe und an der Kaukasusfront trat weitgehend Waffenruhe ein, während sich
beide Seiten von den schweren Verlusten zu erholen suchten.
599
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 58.
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 40-42.
601
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 46. Auch wenn diese Angabe nur ein Schätzung darstellt und
außerdem keine Aussage über den tatsächlichen Mannschaftsbestand ermöglicht, zeigt sie doch, daß
sich die türkischen Führer nicht mehr in der Lage sahen, die vorgegeben Ziele zu erreichen.
602
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 53.
603
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 59.
600
161
Obwohl für keine der Parteien wirklich zuverlässige Zahlen vorliegen, werden die
Verluste der russischen Armee niedriger eingeschätzt als die der türkischen. Die
russischen Verluste sollen etwa 14.000 Mann (Tote, Verwundete und Kranke)
betragen haben, wobei die Ausfälle der ersten gescheiterten Offensive im November
hinzugezählt sind. Die Kampfstärke hatte durchschnittlich um 20-30% abgenommen
und
einige
Einheiten
waren
sogar
auf
unter
20%
der
Sollstärke
zusammengeschrumpft.604 Die türkische Seite hatte noch weitaus gravierendere
Verluste. Die Zahlenangaben gehen recht weit auseinander. Sie reichen von 50.000
Mann bis zu 90.000 Mann Gesamtverlusten, zu denen je nach Autor noch eine
Anzahl von Gefangenen gezählt werden muß. Felix Guse gibt an, daß von der 3.
Armee nur 30.000 Mann auf die eigenen Linien zurückgebracht werden konnten,
während Liman von Sanders davon spricht, daß von den eingesetzten 90.000 Soldaten
nur 12.000 den Rückzug überstanden.605 Unabhängig von den genauen Zahlen stellte
die Offensive im Raum Sarikamisch das vorläufige Ende der 3. Armee als
Kampfverband dar. Das IX. A.K. war vernichtet und die Gefechtsstärke des X. A.K.
bei Ende der Kämpfe betrug nur noch etwa 2.500 Gewehre und 16 Geschütze von
ursprünglich 28.000 Gewehren und 56 Geschützen.606 Allerdings sollte bei den
Verlustzahlen berücksichtigt werden, daß eine beachtliche Anzahl der Soldaten
desertiert war und später wieder der Truppe zugeführt werden konnte.607
Die türkische Offensive im Kaukasus hatte einen weiteren wesentlichen Nebeneffekt,
denn am 2. Januar 1915 schickte bekanntlich Russland ein Telegramm nach London
mit der Bitte um eine Aktion der Westmächte gegen die Türkei, um die russischen
Truppen zu entlasten.608 Obwohl dieses Telegramm keineswegs der alleinige Grund
604
Bei der russischen 39. I.D. betrug die Personalstärke nach den Kämpfen noch 700 Mann von
ursprünglich 4.000. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 390.
605
Zu den unterschiedlichen Verlustzahlen vergleiche: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 53;
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 54; Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 389; Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 49f; Erickson, Ordered to Die 2001, S. 59f. u. 237.
606
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 57 u. 59. Für das XI. A.K. liegen keine Zahlenangaben vor, unter
Berücksichtigung der Gesamtzahl der Überlebenden wird dieses aber im Vergleich zu den anderen
Korps die geringsten Verluste erlitten haben.
607
Guse spricht von 12.000 Deserteuren, die wieder zum Dienst eingezogen werden konnten. Guse,
Die Kaukasusfront 1940, S. 50. Die Gesamtzahl der Deserteure kann unter Umständen noch höher
gewesen sein.
608
Siehe oben, S. 144f.
162
für die späteren britisch-französischen Landungen an den Dardanellen war, so floß
das Ersuchen doch mit in die Überlegungen zu einem Angriff ein.609
Im Kaukasus hingegen kam es während des Jahres 1915 nicht mehr zu einer
vergleichbaren Großoffensive. Russische Verbände versuchten zwar in kleineren
Vorstößen Geländegewinne zu erzielen – was ihnen in gewissem Umfange auch
gelang –, doch der Vorstoß in Richtung Erserum und damit auf das Zentrum der
türkischen Front blieb aus. Die Verstärkung der osmanischen Truppen konnte so
vorangehen. Allerdings betrug die Kopfstärke der 3. Armee auch Ende März nur etwa
25.000 Mann, da in den Wintermonaten der Personalersatz nur langsam herangeführt
werden konnte und zudem Krankheiten und Seuchen unter den entkräfteten
Überlebenden des Winters wüteten.610 Zu allem Überfluß begann Mitte April ein
Aufstand der armenischen Bevölkerung in der Stadt Wan, der rasch die Gegend um
den Wansee ergriff. Teile der osmanischen Truppen und der Verstärkungen mußten
dorthin verlegt werden, um den Aufstand niederzuschlagen.611 Russische Einheiten
versuchten die verworrene Situation durch Angriffe auszunutzen, was ihnen jedoch
nur bedingt gelang. Mitte Juli hatte die türkische Seite die Situation wieder unter
Kontrolle. Sie schlug die Aufstandsbewegungen rücksichtslos nieder und begann mit
der Ausweisung der armenischen Bevölkerung aus dem Kaukasus.612 Die
zahlenmäßige Stärke der 3. Armee war im Juni auf etwas über 52.000 Mann und im
Juli auf etwa 65.000 Mann angewachsen.613 Auf der Gegenseite hatten die russischen
Formationen mittlerweile eine Stärke von ungefähr 188.000 Soldaten erreicht.614
Eine größere russische Offensive, die am 10. Juli 1915 in Richtung auf den Wansee
zielte, scheiterte nach sechs Tagen ohne größere Geländegewinne. Die türkische
Gegenoffensive konnte hingegen den noch unorganisierten Gegner zurückwerfen.
Kurze Zeit später mußte aber auch die türkische Führung den Angriff abbrechen, weil
die vorderen Truppenteile durch einen Flankenangriff bedroht wurden und nur mit
609
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 65. Travers, Gallipoli 2004, S. 19f.
Zu Stärkeangaben siehe: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 64. Zum Krankenstand siehe: Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 58f.
611
Zur Armenierproblematik siehe Exkurs: Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher
Soldaten.
612
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 63.
613
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 106. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 68.
614
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 393.
610
163
knapper Not entkommen konnten.615 Die Operationen waren für beide Seiten
kostspielig, ohne einen entscheidenden Vorteil zu bringen. Die Verluste auf
türkischer Seite waren aber weiterhin schwerer zu ersetzen.
Gegen Ende des Jahres 1915 waren auch die deutschen Offiziere nach und nach von
der Kaukasusfront abgezogen worden. Einige Generalstabsoffiziere waren bereits
gemeinsam mit Enver Pascha im Januar nach Konstantinopel abgereist. Die Offiziere
in Erserum folgten im Oktober und Oberstleutnant Stange mußte schwer erkrankt im
gleichen Monat die 3. Armee verlassen. Als letzter Deutscher reiste schließlich
Oberstleutnant Guse ab, der an Typhus litt und zur Genesung nach Deutschland
geschickt wurde.616 Als im Januar 1916 eine russische Winteroffensive gegen
Erserum gestartet wurde, war daher kein deutscher Offizier mehr bei der KaukasusArmee.617 Allein die russischen Angriffsverbände verfügten über 75.000 Soldaten,
was in etwa der Gesamtstärke der 3. osmanischen Armee entsprach. Diese mußte
damit allerdings eine 300 Kilometer breite Front decken.618 Die russische Offensive
durchschlug die türkischen Linien und erreichte nach gut einem Monat Erserum, das
am 16. Februar fiel.619 Die 3. Armee wurde im Verlauf der Kämpfe erneut stark
geschwächt, sie verlor knapp die Hälfte ihrer Soldaten.620 Da jedoch auch die
russischen Einheiten gut 17.000 Mann verloren und das Ziel erreicht war, kam die
Offensive zum Stillstand.621 Unterdessen hatte Konstantinopel den Generalstabschef
der 3. Armee, Felix Guse, aus seinem Genesungsurlaub zurückbeordert, der nach fast
dreiwöchiger Reise am 23. Februar wieder im Armee-Hauptquartier eintraf.622 Damit
war Deutschland zumindest wieder mit einem Offizier an der Kaukasusfront
vertreten, ein Umstand, dem einige Bedeutung beigemessen wurde. Erickson
615
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 107f.
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 73f.
617
Der Beginn der Offensive wird bei drei Autoren unterschiedlich terminiert. Erickson nennt den 10.
Januar, Larcher den 11. Januar und Guse schließlich den 12. Januar als Beginn der Offensive.
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 121. Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 399. Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 75.
618
Zu den unterschiedlichen Stärkeverhältnissen: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 121. Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 75. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 54.
619
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 54.
620
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 238 beziffert die Verluste (inklusive der Gefangenen aber ohne
Deserteure) auf etwa 25.000 Mann.
621
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 403.
622
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 77.
616
164
bezeichnet das Fehlen eines deutschen Generalstabsoffiziers sogar als wichtigen
Faktor für die türkische Niederlage.623
Aber die Anwesenheit Guses konnte weitere Rückschläge nicht verhindern. Am 2.
März 1916 fiel die Stadt Bitlis, westlich des Wansees, und zwei Tage später landeten
russische Truppen vom Schwarzen Meer her in der Hafenstadt Rize, von wo sie in
Richtung auf Trapezunt (Trabzon) vorstießen.624 Obwohl der Vorstoß kurzfristig
aufgehalten werden konnte, fiel der wichtige türkische Hafen in den Tagen vom 16.
bis zum 18. April.625 Aufgrund der anhaltenden Offensiven der russischen Armee im
Kaukasus hatte die türkische Führung im März beschlossen, ihre 2. Armee aus dem
europäischen Teil des Reiches heranzuführen. Sie sollte von Süden über Diarbekr
(Diyarbakir) angreifen, während die 3. Armee im Norden vorrücken sollte.626 Die
Ereignisse überholten jedoch die Planung. Nach dem Fall von Trapezunt hatte die 3.
Armee vergeblich versucht, in begrenzten Aktionen Teile der russischen Spitzen an
der Küste abzuschneiden. Als der Gegner am 2. Juli 1916 seine Offensive in Richtung
auf Ersingjan (Erzincan) startete, besaß die 3. Armee nicht die Kraft, die Front zu
halten. Die Stadt, mehr als 150 Kilometer westlich von Erserum gelegen, fiel am 25.
Juli und nur, weil Russland seine Offensive am 28. Juli beendete, gelang es der 3.
Armee, wieder ein Verteidigungslinie zu errichten. Bis dahin hatte die 3. Armee
erneut 17.000 Mann verloren und weitere 17.000 waren in Gefangenschaft
gegangen.627
Am 2. August begann die 2. osmanische Armee mit dem Angriff auf den Südflügel
der russischen Kaukasus-Armee. Die Armee hatte lange Zeit gebraucht, um bei
unzureichenden Transportverbindungen aufzumarschieren, und zudem kam nach den
fortgesetzten Rückschlägen der 3. Armee, die mittlerweile auf eine Stärke von 27.000
Mann geschrumpft war, die geplante gemeinsame Offensive der Armeen nicht mehr
in Betracht.628
Für den Angriff konnte die 2. Armee über 100.000 Mann verfügen. Der lange Marsch
hatte die Formationen jedoch bereits geschwächt. Zusätzlich verlief der Angriff durch
623
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 122.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 54. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 128.
625
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 406.
626
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 82f.
627
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 131.
628
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 67.
624
165
sehr schwieriges Gelände, das die ohnehin angespannte Versorgungslage zusätzlich
verschlechterte. Zudem gelang es den russischen Korps, bis zum 18. August genug
Verstärkung heranzuführen, um den Vormarsch der osmanischen Verbände zu
verlangsamen und Anfang September schließlich ganz zum Stehen zu bringen. Mit
Einsetzen des ersten Schneefalls am 26. September 1916 gab die 2. Armee endgültig
die Offensive auf. Bis dahin hatte sie kaum nennenswerte Gebietsgewinne machen
und halten können, hatte jedoch mehr als 30.000 Tote und Verwundete zu beklagen,
und war außerdem durch Krankheit und Desertion auf eine Stärke von etwa 50.000
Mann zusammengeschmolzen.629
Die türkische Front im Kaukasus drohte zusammenzubrechen. Allein im Gebiet der 3.
Armee trieben sich schätzungsweise 50.000 Deserteure herum, deutlich mehr
Soldaten, als der Armee noch verbliebenen waren.630 Da Verstärkungstruppen nur
noch an die Front „tröpfelten“, war man darauf angewiesen, diese Deserteure wieder
einzureihen. Allein im August 1916 wurden 13.000 Deserteure „eingefangen“ und
weitere durch Amnestie, die offenbar regelmäßig gewährt wurde, zur Rückkehr
bewogen.631
Ab Oktober 1916 kehrte an der Kaukasusfront erneut für lange Zeit Ruhe ein. Die
russische Armee hatte ihre Versorgungslinien stark ausgedehnt und mußte sich in den
besetzten Gebieten nun auch auf die mangelhafte türkische Infrastruktur stützen.632
Zudem schätzten sie die Stärke der türkischen Armeen auf etwa 344.000 Mann,
darunter 110.000 Gewehrträger, 294 Maschinengewehre und 346 Geschütze.633 Ein
Umstand, der in Anbetracht der tatsächlichen Lage mehr als glücklich für die
osmanische Seite war. Der Winter 1916/17 brachte durch extreme Temperaturabfälle
erneut hohe Verluste für beide Seiten. Die Stärke der 2. Armee sank auf 20.000 Mann
und die 3. Armee konnte nur mit knapper Not größere Ausfälle verhindern.634 Für die
629
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 133. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 88.
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 135.
631
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 95.
632
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 91.
633
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 411.
634
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 92f.
630
166
russische Armee bedeutete der Winter den Verlust von knapp 100.000 Mann durch
die Witterung und Krankheiten.635
Für ungefähr 1 ¼ Jahre waren dies aber die letzten größeren Verluste an dieser Front.
Die zunehmend angespannte innenpolitische Situation in Russland sorgte dafür, daß
von dieser Seite keine Offensiven mehr auf osmanisches Gebiet gestartet wurden.
Auf der anderen Seite nutzten die 2. und 3. Armee die Zeit, um die gewaltigen
Lücken wenigstens annähernd zu füllen.636 Als Mitte Dezember 1917 der
Waffenstillstand von Brest-Litowsk in Kraft trat, verfügte die neugeschaffene
türkische Heeresgruppe „Kaukasus“, eine Zusammenlegung der beiden Armeen unter
einheitlichem Kommando, dennoch nur über etwa 20.000 Gewehre.
Auch die
deutsche Beteiligung, die im Laufe der Operationen des Jahres 1916 wieder verstärkt
worden war, wurde nun bis zur Mitte des Jahres 1917 auf ein Minimum reduziert. Bei
der 3. Armee verblieben nur Guse und ein Ordonnanzoffizier, während zunächst noch
der bayerische Major Ludwig Schraudenbach und der preußische Major Hans Guhr
als Divisionskommandeure bei der 2. Armee eingesetzt waren.637 Die Divisionen
unter dem Befehl der Deutschen wurden aber dann nach Mesopotamien und Palästina
verlegt, weshalb an der Kaukasusfront kein türkischer Verband mehr einen deutschen
Kommandeur besaß.638 Mit der Auflösung des Stabes der Heeresgruppe im Dezember
1917 wurde auch Guse aus dem Kaukasus abgezogen und für kurze Zeit war kein
Deutscher mehr an dieser Front eingesetzt.639
Der Zusammenbruch der russischen Kräfte unter dem Einfluß der Revolutionen im
eigenen Land führte keineswegs zu einem Ende der Kämpfe im Kaukasus. Vielmehr
begann nun der für das deutsch-türkische Bündnis kritischste Abschnitt des
Weltkrieges. Schon zu Anfang der Friedensverhandlungen mit Russland hatte die
635
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 410.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 58.
637
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 102.
638
Im Dezember 1916 wurde Schraudenbach nach nur knapp einem Monat bei seiner Divsion im
Kaukasus so krank, daß er erst wieder im April 1917 in Mesopotamien die Einheit übernehmen konnte.
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 114f. Die Divsion des osmanischen Oberstleutnants
Guhr wurde Ende September 1917 aus der 2. Armee herausgelöst und nach Palästina verlegt. Zu
diesem Zeitpunkt kam Guhr gerade von einem vierwöchigen Heimaturlaub zurück und hatte sich seit
Juli 1917 nicht mehr im Kaukasus befunden. Guhr, Hans: Als türkischer Divisionskommandeur in
Kleinasien und Palästina – Erlebnisse eines deutschen Stabsoffiziers während des Weltkrieges, Berlin
1937, S. 138 u. 157-159. (Im Folgenden: Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937.)
639
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 102.
636
167
Hohe Pforte auch gegenüber Deutschland keinen Zweifel daran gelassen, daß sie
erwartete, in den Friedensverhandlungen angemessene Gebiete im Kaukasus
zugesprochen zu bekommen. Dabei ging es der Türkei nicht nur um die
Wiederherstellung der Grenzen von 1914, sondern auch um die Rückgewinnung der
Gebiete, die nach dem Kriege von 1877/78 an Russland abgetreten worden waren.640
Die Verhandlungen gingen nach dem Empfinden Enver Paschas jedoch zu langsam
voran, denn es war deutlich, daß die russischen Korps im Kaukasus zerfielen und kein
größerer militärischer Widerstand mehr zu erwarten war. Die zurückströmenden
Russen und neuformierte „armenische Banden“ durchstreiften das Gebiet, wobei es
offenbar zu brutalen Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung kam.641 Die Hohe Pforte
appellierte daraufhin an Russland, dem Morden an der mohammedanischen
Bevölkerung ein Ende zu bereiten. Allerdings hatte die russische Führung kaum
nennenswerte
Möglichkeiten,
im
Kaukasus
einzugreifen,
642
Volksgruppen der Region als „Transkaukasische Föderation“
zumal
sich
die
zusammenschlossen,
um den absehbaren Ansprüchen der umliegenden Großmächte zu trotzen. Damit
lieferten die Ausschreitungen im Kaukasus dem Osmanischen Reich den Grund, den
Vormarsch gegen die im Waffenstillstand festgelegten Linien zu beginnen.643 Für die
türkische 3. Armee wurde die Quote an Personal- und Materialersatz angehoben, so
daß die Armee im Januar 1918 über etwa 46.000 Gewehre verfügte.644 Mit diesen
Truppen begann am 12. Februar 1918 der osmanische Vormarsch, der kaum auf
nennenswerten Widerstand traf.645 Bis Ende März hatte die 3. Armee die Grenzen
von 1914 wiederhergestellt und das mit voller Rückendeckung Deutschlands.646
Unter dem Eindruck des Vormarsches hatte sich Russland am 3. März schließlich zur
Abtretung der 1877/78 gewonnen Gebiete bereit erklärt, obwohl diese mittlerweile
640
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 168.
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 329f.
642
Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Gebiete der heutigen Staaten Georgien, Armenien
und Aserbeidschan (damals als „türkisch Aserbeidschan“ oder „Tartarei“ bezeichnet). Siehe hierzu die
Karte bei: Baumgart, Winfried: Das „Kaspi-Unternehmen“ – Größenwahn Ludendorffs oder
Routineplanung des deutschen Generalstabs?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge
Bd. 18, Wiesbaden 1970, S. 55. (Im Folgenden: Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970.) Zu den
zeitgenössischen Bezeichnungen: Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 332.
643
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 194.
644
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 242.
645
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 183.
646
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 194.
641
168
Teil des jungen „Transkaukasiens“ waren.647 Für Enver Pascha war die Eroberung der
kaukasischen Gebiete zugleich eine Grundbedingung, um die von ihm favorisierte
Idee eines „Panturanismus“ zu verwirklichen.648 Außerdem war die Lage an den
Fronten in Palästina und Mesopotamien so kritisch, daß eine Rückeroberung der
bereits an Großbritannien verlorenen Gebiete kaum zu erwarten stand. Im Kaukasus
hingegen ließen sich leicht größere Eroberungen machen.649 Verhandlungen mit der
Transkaukasischen Föderation wurden daher schon bald als „aussichtslos“
abgebrochen und nach einer Kriegserklärung durch das Parlament der Föderation
überschritten noch Ende März 1918 Einheiten der 3. Armee die Grenze von 1914, um
die zugesicherten Gebiete auch ohne Verhandlungen in Besitz zu nehmen.650 Diesmal
stießen die osmanischen Truppen allerdings auf entschlossenere Verteidiger und am
11. Mai wurden in Batum neue Friedensverhandlungen aufgenommen.651 Während
der Gespräche rückte die 3. Armee jedoch weiter vor und näherte sich Eriwan. Nun
zeigte sich die Uneinigkeit unter den transkaukasischen Völkern, denn die
verbliebenen Armenier waren ententefreundlich, während die mohammedanischen
und tartarischen Einwohner Aserbeidschans dem Osmanischen Reich zuneigten.
Georgien hingegen hoffte auf deutsche Unterstützung, als es am 27. Mai seine
Unabhängigkeit erklärte. Damit zerfiel das föderative Gebilde, bevor die
Friedensverhandlungen zu irgendwelchen Ergebnissen führen konnten.652
Bereits zwei Tage zuvor hatte General von Seeckt, seit dem 3. Januar Nachfolger des
bisherigen stellvertretenden Chefs des türkischen Generalstabes Bronsart von
Schellendorff, in deutlichen Worten angemahnt, daß die im Kaukasus verwendeten
Truppen besser an die bedrängten Fronten in Palästina und Mesopotamien verlegt
werden sollten.653 Damit verlieh Seeckt jedoch hauptsächlich der deutschen Sorge um
weitere Expansion der Hohen Pforte im Kaukasus Ausdruck. Die Oberste
647
Die politischen und diplomatischen Ereignisse im Kaukasus sind nicht Gegenstand dieser Arbeit
und werden im Folgenden daher nur angerissen. Zur Einführung sei verwiesen auf Baumgart, KaspiUnternehmen 1970, S. 53-73.
648
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 333.
649
Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 71f.
650
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 195. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S.
176.
651
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 186.
652
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 60.
653
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 182. Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S.
179.
169
Heeresleitung und namentlich der Erste Generalquartiermeister Ludendorff wollten
in keinem Falle die reichen Rohstoffvorkommen unter türkischer Kontrolle sehen.654
Außerdem hatte die deutsche Führung ihre Pläne von einer Landbrücke nach Indien
immer noch nicht aufgeben und zu guter Letzt waren auch der Ansehensverlust für
Deutschland durch eine muslimische Herrschaft im christlich geprägten Georgien
oder weitere Massaker an der armenischen Bevölkerung mehr als unerwünscht.655
Sämtliche Versuche der OHL auf den türkischen Bundesgenossen einzuwirken,
verliefen jedoch erfolglos. Weder die entsandten Vermittler für die Verhandlungen
mit der Föderation und später mit Georgien, noch zunehmend schärfere Schreiben
General Ludendorffs an Enver Pascha zeigten die erhoffte Wirkung. In Verbindung
mit der Bildung eines deutschen Protektorates in Georgien war die deutsche
Intervention eher dazu angetan, beim osmanischen Verbündeten Verärgerung
hervorzurufen. Nachdem Deutschland zuvor einen türkischen Vorstoß unterstützt
hatte, wollte es nun Gebietsgewinne für die Hohe Pforte verhindern, die bereits weite
Teile ihrer arabischen Gebiete verloren hatte. Enver Pascha war der Meinung, daß
Deutschland versuche, dem Osmanischen Reich seinen Anspruch vorzuenthalten, und
drohte im Juni 1918 gar mit seinem Rücktritt, was mit großer Wahrscheinlichkeit das
Ende des deutsch-türkischen Bündnisses bedeutet hätte. In der Folge mäßigte die
deutsche Seite ihren Ton gegenüber der Pforte.656 Allerdings war im Verlaufe der
Auseinandersetzung deutlich geworden, daß die deutschen Interessen nur mit Hilfe
einer ausreichenden Truppenpräsenz gewahrt werden konnten.657 Bereits im Mai
waren aus deutschen Kriegsgefangenen, die im Kaukasus interniert gewesen waren,
Bahnhofswachen gebildet worden, um Zerstörungen oder Besetzungen der Strecken
durch Banden oder türkische Truppen vorbeugen zu können. Insgesamt wurden
hierfür etwa 1.000 Soldaten herangezogen, die jedoch nur dürftig ausgerüstet waren.
Im Juni verlegte man daher das bayerische Reserve-Jäger-Bataillon 1 (ca. 1.200
Mann) und das preußische Sturmbataillon 10 (ca. 500 Mann) von der Krim nach
Georgien.658 Sie sollten zunächst die georgischen Gebiete von marodierenden
654
Vor allem ging es hierbei um Manganerze und Öl-Vorkommen.
Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 73f.
656
Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968, S. 182-184.
657
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 197f.
658
Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 81f.
655
170
Tartaren-Banden säubern und dann die georgischen Grenzen schützen. Schon bald
erkannten die deutschen Formationen, daß die irregulären Tartareneinheiten von
türkischen Offizieren geführt wurden, obwohl die türkische Seite jede Beteiligung
abstritt.659 Am 13. Juni 1918 kam es zu ersten größeren Kampfhandlungen zwischen
den bayerischen Jägern und irregulären Verbänden. Dabei wurde ein türkischer
Offizier gefangengenommen, der offenbar als „Militärberater“ für die Tartaren
fungierte.660 Von diesem Zeitpunkt an zeichnete sich zunehmend ein deutschtürkischer Konflikt ab. Immer wieder kam es im Laufe des Monats zu
Zusammenstößen, bei denen allerdings nicht nur deutsche Soldaten von osmanischen
Truppen festgesetzt wurden, wie es etwa Carl Mühlmann behauptet.661 Vielmehr
nahmen auch die deutschen Einheiten türkische Soldaten gefangen, die sich aus der
Sicht Berlins vertragswidrig in Georgien aufhielten.662 Ebenso kam es zu einigen
Schußwechseln zwischen den beiden deutschen Bataillonen und regulären türkischen
Verbänden, bei denen aber offenbar keine Verluste zu beklagen waren.663 Dennoch
war das gegenseitige Verhältnis angespannt. Mitte Juli gelang es, auf dem
Verhandlungswege
eine
Annäherung
zu
erzielen,
664
Auseinanderbrechen des Bündnisses verhinderte.
die
ein
drohendes
Kurz zuvor hatte Enver Pascha
seine Truppen im Kaukasus neu formiert, um ebenfalls das Konfliktpotential zu
verringern. Bereits am 7. Juni hatte der osmanische Vizegeneralissimus eine
„Heeresgruppe Ost“ gebildet, indem er aus Teilen der 3. Armee die 9. Armee schuf.
Beide Verbände wurden mit Nachschub auf eine Stärke von etwa 60.000 Mann
gebracht.665 Am 29. Juni ersetzte er aber den bisherigen Oberkommandierenden, den
er für die Spannungen mit Deutschland verantwortlich machte, durch Halil Pascha,
den bisherigen Befehlshaber der 6. Armee in Mesopotamien.666 Die Tatsache, daß
659
Muggenthaler, Hans/ Pflügel, Hugo Ritter von/ Scheuring, Martin: Das K.B. Reserve-JägerBataillon Nr. 1 (K.B. Jäger-Regiment Nr. 15), München 1935, S. 436. (Im Folgenden:
Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935.)
660
Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935, S. 440-444.
661
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 203.
662
Das bayerische Jäger-Bataillon nahm so beispielsweise eine türkische Versorgungskolonne mit
einem Offiziere und 30 Mann gefangen und entließ sie kurz darauf wieder zu ihrer Einheit.
Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935, S. 449.
663
Muggenthaler/Pflügel/Scheuring, Reserve-Jäger-Bataillon 1935, S. 456. u. 458. Rabenau, Seeckt
1940, S. 37ff.
664
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 204f.
665
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 242.
666
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 187.
171
Halil in dem bayerischen Major/osmanischen Oberstleutnant Paraquin einen
deutschen Generalstabschef hatte, dürfte die Überlegung beeinflußt haben.667
Die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung in Georgien war nunmehr
gebannt, aber es tat sich sofort eine weitere Gefahrenquelle auf: Die Stadt Baku.
Die Stadt am Kaspischen Meer, die noch viele Jahrzehnte später Synonym für die
Erdölförderung im Kaukasus war, besaß auch 1918 eine hohe Anziehungskraft für die
kriegführenden Parteien. Eine gewisse Einigkeit bestand darin, daß man die Kontrolle
über Baku weder den Sowjets noch irregulären Kräften eines kaukasischen
Volksstammes überlassen wollte. Für einen Angriff auf Baku besaß allerdings nur die
osmanische Seite die notwendigen Truppen vor Ort. Sie hatten bereits Anfang August
versucht, die Stadt zu erobern, waren aber gescheitert und verharrten nun zögerlich
vor den Stadtgrenzen.668 Die deutsche Seite verfügte über etwas mehr als 5.250 Mann
in Georgien. Nun sollten noch die 7. bayerische Kavalleriebrigade und die 18.
Landwehrbrigade aus Russland herangeführt werden, was eine Verstärkung um
ungefähr 13.000 Mann bedeutet hätte.669 Die Lage in Baku wurde allerdings am
20./21. August dadurch verschärft, daß britische Expeditionstruppen in der Stadt
landeten, um dort zusammen mit den verbliebenen Armeniern und Russen den
Widerstand zu organisieren.670 Deutschland drängte daher auf die beschleunigte
Verlegung der beiden Brigaden, um einen eigenen Angriff auf Baku zu starten.
Weiter erhielt Oberstleutnant Paraquin am 1. September Anweisung, einen erneuten
türkischen Angriff auf Baku möglichst hinauszuzögern. Türkische Stellen hielten den
Kurier jedoch mehrere Tage auf, so daß die Nachricht Paraquin erst am 16.
September erreichte, einen Tag nach der Einnahme Bakus durch die osmanischen
Truppen.671 Nach dem Fall der Stadt kam es zu Massakern an der – überwiegend
armenischen – Zivilbevölkerung, aber auch an Angehörigen europäischer Staaten.
Oberstleutnant Paraquin macht als Augenzeuge hauptsächlich „tartarische Horden“
für die Untaten verantwortlich, doch er fährt fort:
667
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 204.
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 207.
669
Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 102f.
670
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 423.
671
Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 106f.
668
172
„Trotzdem damals schon allgemein die Überzeugung herrschte, dass in der Stadt
jede Zucht und Ordnung aufgehört und die christliche Bevölkerung geplündert,
vergewaltigt und gemordet w[e]rde, wurde die Fahrt auf das Kampffeld fortgesetzt,
wo eine stundenlange Parade von 6 Inf.-Regimentern und den übrigen Waffen
stattfand. [...]
Die neutralen Konsuln, an ihrer Spitze der dänische, erschienen und beschwerten
sich in bitteren Worten über die Untätigkeit der Türken, der es allein zu verdanken
sei, dass Gemetzel und Plünderung andauerten.“672
In demselben Schreiben berichtet Paraquin auch davon, daß deutsche Staatsbürger in
der Stadt erschossen oder verschleppt würden. Der Generalstabsoffizier interveniert
daher persönlich und in scharfer Form beim türkischen Befehlshaber vor Ort. Am
17.9. wird Paraquin seines Postens enthoben und nach Konstantinopel geschickt.673
Der Ärger der deutschen Führung über die Ereignisse im Kaukasus währte allerdings
nur
kurz,
denn
schon
am
29.
September
mußte
Bulgarien
ein
Waffenstillstandsabkommen mit der Entente unterzeichnen. Die Ereignisse
entwickelten sich nun rasant zum Negativen für die Mittelmächte und am 24. Oktober
wurde befohlen, daß die deutschen Truppen beschleunigt in die Heimat
zurückzukehren hätten.674 Die türkischen Einheiten hingegen setzten ihren Vormarsch
noch bis zum 8. November, also mehr als eine Woche nach dem offiziellen
Waffenstillstand von Mudros, erfolgreich fort. Dann ruhten auch an dieser Front
endgültig die Waffen.
c) Der Krieg in Syrien, Palästina und Mesopotamien675
Neben den Dardanellen war Palästina, welches formal Teil der osmanischen Provinz
Syrien war, einer der bekanntesten Kriegsschauplätze des Osmanischen Reiches. Dies
liegt zum einen daran, daß viele berühmte Orte und Städte wie Jerusalem, Bethlehem
672
Schreiben Paraquins an Seeckt „Vorgänge in Baku nach der Einnahme am 16.und 17.9.1918“, vom
23.9.1918. KA München MKr. 1782/2.
673
Baumgart, Kaspi-Unternehmen 1970, S. 107.
674
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 61.
675
Siehe Karte 5 zu Mesopotamien und Karte 6 zu Syrien sowie Palästina.
173
oder Damaskus, die zum Teil von großer religiöser Bedeutung für Christentum, Islam
und Judentum waren, an dieser Front lagen und Beachtung fanden. Zum anderen war
die Zahl der hier eingesetzten Deutschen höher als beispielsweise im Kaukasus oder
in Mesopotamien, so daß die Berichte und Memoiren häufig den Einsatz in den
levantinischen Provinzen thematisieren.
Dennoch werden in diesem Kapitel sowohl die Kämpfe vom Amanus Gebirge bis
zum Suez Kanal wie auch die Kämpfe vom Taurus bis zum Persischen Golf
behandelt, denn die Ereignisse in Mesopotamien hatten unmittelbare Rückwirkungen
auf die Kämpfe in Palästina und umgekehrt. Auch von den Umweltbedingungen
ähnelten sich Mesopotamien und Syrien mit ihrem wüstenartigen Klima, geprägt von
trockenen und sehr heißen Sommern, ausgedehnten Regenperioden und relativ
milden Wintern. Allerdings waren die Gebiete der „Irak-Front“ infrastrukturell noch
weniger entwickelt als die Gebiete zwischen Aleppo und Gaza. Während dort
nämlich verschiedene Bahnlinien – mit Unterbrechungen – zumindest die großen
Städte und Handelsplätze miteinander verbanden und Schmalspurbahnen sogar bis El
Arisch gebaut wurden, verfügte Baghdad, die zentrale Stadt Mesopotamiens, 1914
noch nicht über eine Bahnanbindung. Von Baghdad aus führte zwar ein
Gleisabschnitt nach Samarra im Norden, die Strecke aus Richtung Konstantinopel
endete jedoch bei Tell Ebiad. Damit mußten Güter und Truppen über einen
Marschweg von 600 Kilometern transportiert werden, bis sie in Samarra wieder auf
die Bahn verladen werden konnten. Obwohl während des Krieges an der
Baghdadbahn weitergebaut wurde, kamen lediglich etwa 220 Kilometer hinzu; Mosul
wurde vor Kriegsende nicht mehr erreicht.676 Mesopotamien war daher in hohem
Maße abhängig von den Wasserwegen des Euphrat und Tigris, die zugleich für die
Bewässerung der wenigen Anbaugebiete genutzt wurden. Außerhalb der bewässerten
Zonen
beherrschten
ausgedehnte
Wüstenflächen
das
Land.
Regelmäßige
Überschwemmungen der flußnahen Gebiete erschwerten den Ackerbau und im
Sommer sorgte das verdunstende Wasser für ein feucht-heißes Klima. Bei den
676
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 31f.
174
allgemein geringen hygienischen Standards im Osmanischen Reich wirkte
Mesopotamien daher wie eine „Brutstätte“ für Krankheiten aller Art.677
Die schlechte Infrastruktur und der – für das Osmanische Reich – verhältnismäßig
geringe „strategische Wert“ des Zweistromlandes hatte auch dazu geführt, daß der
türkische Generalstab einen Großteil der Truppen von dort schon vor Kriegsausbruch
abzog und an Fronten verlegte, an denen man offensiv vorgehen wollte. Das XII.
Korps wurde nach Syrien und das XIII. Korps in Richtung Kaukasus in Marsch
gesetzt. Zurück blieb lediglich der Stab der ehemaligen 6. Armee, der zu einem
„Regionalkommando ‚Irak’“ umgewandelt wurde. Diesem Kommando unterstanden
die neuaufgestellte 38. I.D., ein Infanterie-Regiment sowie einige Grenzschutz- und
Jandarma-Bataillone. Die effektive Gesamtstärke der Truppen betrug allerdings nur
wenig mehr als 6.500 Mann, die über gerade einmal drei Maschinengewehre und 33
veraltete Geschütze unterschiedlichen Typs verfügten. Im übrigen bestand die 38.
Infanterie-Division hauptsächlich aus arabischen „Ausgehobenen“, deren Ausbildung
gering und Loyalität gegenüber dem Sultan nicht gesichert war.678
Im Oktober 1914 nahmen die Spannungen zwischen der Hohen Pforte und der
Entente nicht zuletzt durch die Aktivitäten im Schwarzen Meer deutlich zu.
Insbesondere die britische Seite hatte in der absehbaren Krise Interessen am
Persischen Golf, während das deutsche und türkische Augenmerk sich eher auf
andere Fronten richtete. Am Schatt-el-Arab bei Abadan befanden sich eine britisch
geführte Ölraffinerie und einige Ölquellen. Diese lagen nominell zwar nicht auf
türkischem Gebiet, aber doch so nah an der Grenze, daß die englische Führung die
Einnahme durch osmanische Truppen befürchtete.679 Daher wurde in Indien ein
Expeditionskorps unter Brigadier Delamain zusammengestellt, das die Raffinerie
schützen und zugleich eine „Demonstration der Stärke“ am Schatt-el-Arab sein sollte.
Obwohl diese „Force ‚D’“ etwa 5.000 Mann stark war, bestand sie doch zum
überwiegenden Teil (ca. 4.000 Mann) aus indischen Truppen, die für den
Gebirgskrieg oder für den „Heimatschutz“ des indischen Vizekönigreichs ausgebildet
677
Moberly, F. J.: The Campaign in Mesopotamia 1914-1918, Volume I, London 1923, S. 3-8. (Im
Folgenden: Moberly, Mesopotamia Volume I.)
678
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 66.
679
Barker, A.J.: The Neglected War – Mesopotamia 1914-1918, London 1967, S. 37f. (Im Folgenden:
Barker, Neglected War 1967.)
175
und ausgerüstet waren.680 Diese Kräfte verließen bereits am 16. Oktober Indien in
Richtung Mesopotamien, also gut zwei Wochen vor dem Kriegseintritt der Türkei.681
Für den Fall, daß eine „Demonstration“ nicht ausreichen sollte und das britische
Oberkommando eine größere Operation in Mesopotamien beginnen müßte, wurden
ebenfalls in Indien Verstärkungseinheiten zusammengestellt, die – unter dem
Kommando von Lieutenant General Barret stehend – etwa 10.000 Mann umfaßten.682
Diese Truppen waren jedoch noch auf dem Wege zum Persischen Golf, als die „Force
‚D’“ am 31. Oktober von der Beschießung der russischen Schwarzmeer-Häfen durch
die türkische Flotte erfuhr. Daraufhin wurden Vorbereitungen getroffen, zunächst die
Ölverarbeitungsanlagen zu besetzen und dann die türkischen Kräfte im Bereich des
Schatt-el-Arab auszuschalten, die die Anlagen bedrohten. Nachdem am 5. November
die offiziellen Kriegserklärungen Frankreichs und Großbritanniens erfolgt war,
landeten bereits einen Tag später die indisch-britischen Verbände auf osmanischem
Gebiet.683 Die Landungstruppen wurden dabei von drei verhältnismäßig kleinen
Kriegsschiffen, die für das Befahren der Flußmündung geeignet waren, unterstützt.
Dennoch war die Bewaffnung der Schiffe allem, was die türkische Seite aufbieten
konnte, überlegen. Auch konnten die befestigten Positionen in Ufernähe dem
Beschuß der Schiffsgeschütze nicht standhalten.684 Die unerfahrenen osmanischen
Truppen scheiterten schnell in ihren Bemühungen, die Landungen zu verhindern, und
mußten sich nach kurzen, aber heftigen Gefechten in Richtung Basra zurückziehen,
wo sie sich zur Verteidigung einrichteten. Unterdessen warteten die britischen
Verbände auf die Verstärkungen unter General Barret, die innerhalb der nächsten
Woche folgten und Mitte November für einen Vorstoß auf die irakische Hafenstadt
bereit waren. Die türkischen Verteidigungsstellungen vor Basra wurden am 14.
November durchbrochen und die Stadt selber fiel etwa eine Woche später.685 Nach
diesem Sieg setzten die britischen Einheiten den geschlagenen Türken nach, die bei
680
Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 346. Carver, Turkish Front 2004, S. 10f.
Barker, Neglected War 1967, S. 40.
682
Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 347.
683
Barker, Neglected War 1967, S. 41f.
684
Carver, Turkish Front 2004, S. 11.
685
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 67. Erickson datiert den Fall von Basra auf den 20. November,
während Carver den 21. (Carver, Turkish Front 2004, S. 12.) und Larcher den 22. November (Larcher,
La Guerre Turque 1926, S. 323.) angeben.
681
176
Qurna686 – etwa 75 Kilometer nordwestlich von Basra – eine neue Verteidigungslinie
errichteten. Anfang Dezember entbrannten die Kämpfe auch an dieser Linie und am
9. Dezember fiel Qurna in britische Hände.687 Die Reste der 38. osmanischen I.D.
zogen sich weitere gut 100 Kilometer den Tigris entlang nach Amara zurück.688
Die Verluste der Verteidiger in den Kämpfen um Basra und Qurna beliefen sich auf
etwa 750 Tote und Verwundete. Jedoch waren mehr als 2.200 Mann in
Gefangenschaft
gegangen.689
Damit
hatte
der
türkische
Befehlshaber
in
Mesopotamien fast die Hälfte seiner Truppen eingebüßt. Die indisch-britischen
Verluste betrugen etwa 670 Tote und Verwundete bei den Bodentruppen sowie 12
Mann bei den Marineinheiten.690 Nach diesen Kämpfen kehrte zunächst Ruhe in
Mesopotamien ein, denn die britischen Kräfte waren – zu ihrer eigenen Überraschung
– sehr weit in feindliches Gebiet vorgedrungen und mußten nun ihre rückwärtigen
Verbindungen
sichern
und
ausbauen,
um
Verstärkungen
und
Nachschub
heranzuführen, der für einen weiteren Vormarsch in Richtung Baghdad benötigt
wurde.691 Türkischerseits wurde durch Enver ein neuer Befehlshaber – Oberstleutnant
Süleyman Askeri Bey – für die Mesopotamienfront eingesetzt und die zuvor nach
Syrien abgezogene 35. I.D. zurück nach Baghdad beordert.692 Nach deren Eintreffen
sollte ein Gegenangriff auf Basra stattfinden.
Doch zunächst plante Djemal Pascha in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der
Front in Syrien und Palästina einen Vortoß gegen den Suez-Kanal, der realiter die
Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem britisch kontrollierten Ägypten
darstellte. Ein solcher Angriff auf die wichtige Wasserstraße war wiederholt von
deutscher Seite gefordert worden. Enver Pascha unterstützte die Pläne zwar in der
vagen Hoffnung, Ägypten und Tripolitanien wiederzugewinnen, doch spielte dieser
Kriegsschauplatz für die Jungtürken nach der Verteidigung der Dardanellen und der
686
In zeitgenössischen Kartenwerken auch „Korna“ geschrieben. Karten zum Weltkriege: Der Orient,
Bielefeld/Leipzig, o. J. [1915], Namensverzeichnis zu den Karten „Der Orient“, S. 32.
687
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 325f.
688
Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 154.
689
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 237.
690
Carver, Turkish Front 2004, S. 12f.
691
Die Tatsache, daß die türkische Truppenzahl häufig von britischer Seite überschätzt wurde, dürfte
nicht unwesentlich zur Vorsicht beigetragen haben. Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 124.
692
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 68.
177
Hauptstadt sowie der Expansion im Kaukasus eine untergeordnete Rolle.693 Zudem
reichten die Mittel der osmanischen Streitkräfte kaum aus, um zunächst den Kanal
und dann ganz Ägypten zu erobern. Alle britischen Truppen hielten sich hinter dieser
Linie auf, denn die Sinai-Wüste trennte die letzten bewohnten und verkehrsmäßig
zumindest minimal erschlossenen Gebiete in Palästina von der „Lebensader des
Britischen Empires“. Der osmanische Verband hatte demnach eine Strecke von 450
Kilometern durch die Wüste zurückzulegen, bis er den Kanal erreichte. Der Transport
von Munition, Geschützen und sämtlicher Ausrüstung mußte durch Kamelkolonnen
erfolgen. Außerdem war die Wasserversorgung des Agriffsverbandes nicht gesichert,
da die wenigen Brunnen sehr weit auseinander lagen und zu wenig Wasser
lieferten.694
Für die Entente erschien die Durchführung eines solchen Unterfangens sehr
unwahrscheinlich. Man rechnete eher damit, daß eine osmanische Streitmacht die
Karawanenstraßen an der Küste nutzen würde, die von den überlegenen
Seestreitkräften Englands und Frankreichs unter Feuer genommen werden konnten.
Der türkische Generalstab und auch die deutschen Berater hatten jedoch ein
gesteigertes Interesse daran, England durch ein Abschneiden des Handelsweges bei
Suez zu schwächen, da so gleichzeitig die Fronten in Europa und auch in
Mesopotamien entlastet werden konnten. Offenbar befürwortete vor allem die
deutsche Marineführung, die – kaum verwunderlich – ihren Hauptgegner in der
Seemacht Großbritanniens erblickte, einen Vorstoß an den Kanal. So schrieb Admiral
Tirpitz nach dem Einlaufen der Mittelmeerdivision in Konstantinopel an Admiral
Souchon:
„Noch Eins [sic] für unsere Marine u. für unsere Weltstellung, um die wir kämpfen,
wäre es von außerordentlicher Wichtigkeit, daß eine türkische Armee den Suezkanal
bedrohte. Geht es gegen Russen auch ohne Türken gut, so wäre unser ganzes
Interesse auf den Suezkanal gerichtet.“695
693
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 97f.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 63f.
695
Schreiben von Admiral Tirpitz an Admiral Souchon vom 14.8.1914, BAMA Freiburg N 156/ 2,
Blatt 1.
694
178
Ein erster Vorstoß osmanischer Einheiten in Richtung Kanal soll laut einem
Manuskript des Reichsarchives bereits 1914 erfolgt sein.696 Es finden sich zwar keine
weiteren Belege für diese Behauptung, doch schreibt Kreß von Kressenstein über den
ihm unterstellten „Kommandeur eines Freikorps von Beduinen“:
„Mümtass war zu Beginn des Krieges in das unbesetzte El Arisch eingerückt, hatte
dort mit seinen 1300 Beduinen eine englische Patrouille von etwa 30 Mann vernichtet
und hatte die verlogenen Berichte über die Eroberung der Sinaihalbinsel nach
Konstantinopel geschickt [...].“697
Sollte Kreß hier das genannte „Unternehmen“ ansprechen, so kann von einem
früheren türkischen „Vorstoß zum Kanal“ kaum die Rede sein. Eine wüstenerfahrene
Truppe aus „Beduinen“ hätte die logistischen Probleme des Sinai-Grenzgebietes zwar
insoweit überwinden können, daß ein solcher (sehr) begrenzter Angriff möglich
erscheint. Für Kress war dieser „Nadelstich“ jedoch unbedeutend und noch dazu –
wie aus den weiteren Ausführungen des bayerischen Offiziers – hervorgeht, von einer
Truppe durchgeführt worden, die seiner Meinung nach höchstens den „Wert von
plündernden Banditen“ hatte und deren Anführer ein „unfähiger, ungebildeter und
undisziplinierter Mensch“ war. Ressentiments gegen solche irregulären AraberVerbände sind keine Seltenheit unter deutschen Offizieren und Kommandeuren, wie
im weiteren Verlauf dieser Arbeit belegt wird.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1915 marschierte dann eine „reguläre“
osmanische
Streitmacht
in
Richtung
auf
den
Suez-Kanal.
Infolge
der
Schwierigkeiten, große Einheiten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in der
Sinaiwüste ausreichend zu versorgen oder überhaupt zu bewegen, war die
ursprünglich auf 5 Divisionen (ca. 50.000 Mann) festgelegte Angriffstärke jedoch auf
knapp 3 Divsionen mit lediglich 20.000 Mann, 9 Feldartillerie Batterien und einer 15
cm Haubitzbatterie reduziert worden.698 Daher war die zahlenmäßige Stärke des
696
Die Beurteilung der Lage der Türkei seitens der Obersten Heeresleitung Anfang Dezember 1914
(2.XII.) (Manuskript aus dem Reichsarchiv), ohne Verfasser und ohne Datum, BAMA Freiburg
W 10/ 51298, S. 17.
697
Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission
über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 6.
698
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 70. Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 12. Bei den
Geschützen der Feldartillerie wird es sich vermutlich um 7,5 cm Kanonen gehandelt haben, die
179
Verbandes zwar beachtlich, jedoch keinesfalls ausreichend, um den Kanal
einzunehmen oder gar Folgeoperationen zur Eroberung Ägyptens durchzuführen. Das
Material zum Übersetzen über den Kanal war unzureichend, die Versorgungslinien
bis Palästina waren lang und die vorhandene logistische Struktur nicht geeignet, der
türkischen Truppe am Kanal rasch Nachschub zuzuführen. Sollten britische
Kriegsschiffe im Kanal ankern, mußte sich zudem die osmanische Feldartillerie als
unzureichend zu deren Bekämpfung erweisen. Der entscheidende Faktor für einen
Erfolg wäre demnach die Ausnutzung des Überraschungseffektes gewesen und selbst
dann lagen der osmanischen Seite keine verläßlichen Zahlen über die gesamte
britische Truppenpräsenz in Ägypten vor, die zu einem Gegenangriff eingesetzt
werden könnten.
Neben Oberst Kreß von Kressenstein als Generalstabschef des VIII. Armeekorps, das
die 1. Staffel der Truppen führte, waren noch mindestens ein halbes Dutzend andere
deutsche Offiziere an der Durchführung und Planung beteiligt. Ob weitere Deutsche
bei diesem Unternehmen eingesetzt waren, kann nicht mit Sicherheit gesagt
werden.699
In Nachtmärschen und unter strengster Rationierung von Lebensmitteln und Wasser
legten die Einheiten den anstrengenden Marsch durch die Wüste zum Kanal in knapp
zwei Wochen zurück. Neben den fast 3.000 Reit- und Tragtieren der Kampftruppen
waren 7.500 Kamele eingesetzt, die hauptsächlich Wasser und Übersetzmaterial für
die Kanalüberquerung transportierten. Die persönliche Ausrüstung war auf ein
Minimum reduziert worden, um die Belastung beim Marschieren so gering wie
möglich zu halten. So gelang es den Angriffs-Kolonnen, vom Feinde unbemerkt,
möglicherweise – wie so häufig in der osmanischen Armee – von verschiedenen Herstellern stammten.
Handbook of the Turkish Army 1996, S. 68 u. 74.
699
Bekannt sind (mit türkischen Dienstgraden): Oberst von Frankenberg und Proschlitz als Chef des
Stabes der IV. Armee unter Marineminister Djemal Pascha, Oberst Frommer als Kommandeur der 2.
Staffel des „Expeditionskorps“, Hauptmann Gerlach als Kommandeur des Pionierbataillons 8.
Außerdem noch Major Welsch und Hauptmann Fischer, die jeweils Offiziere eines InfanterieRegiments waren und während des Kampfes de facto die Führung der Einheiten übernahmen, obwohl
diese nominell bei türkischen Offizieren lag, die jedoch entweder die Führung freiwillig den Deutschen
überließen oder durch „Abwesenheit“ auf die Ausübung der Befehlsgewalt verzichteten. Vertraulicher
Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission über die erste
Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, Beilagen 5-7 und
graphische Darstellungen der Gliederung des Verbandes [ohne Paginierung]. Zudem wird ein
gewisser Hauptmann von dem Hagen erwähnt, der bei dem Angriff fiel, über dessen Dienststellung
aber nichts gesagt wird. Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 17.
180
durch die Wüste vorzustoßen und Ausgangsstellungen am Kanal bei Ismailie zu
beziehen. Der eigentliche Übergangsversuch in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar
scheiterte jedoch, da britische Wachposten die Übersetzenden bemerkten und die
Moral der türkischen Verbände im einsetzenden Feuer offenbar zusammenbrach.700
Die deutschen Offiziere der Kolonnen waren von dem Versagen der türkischen
Führer im Ernstfall unangenehm überrascht worden und sahen in ihnen die
Hauptschuldigen für den Fehlschlag. Zugleich stellten sie fest, daß bestimmte
Truppenteile nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Disziplin vermissen ließen,
die für solch anspruchsvolle Unternehmungen nötig war. In diesem Zusammenhang
wurden erstmalig harte Urteile über die militärische Eignung von Verbänden aus
arabischen Untertanen des Sultans gefällt. Auf einige Eindrücke dieses Angriffs wird
an späterer Stelle noch genauer eingegangen.701 Die Verluste auf türkischer Seite
betrugen 14 tote, 15 verwundete und 15 vermißte Offiziere sowie 178 tote, 366
verwundete und 712 vermißte Mannschaftsdienstgrade.702 Die britischen Verluste
beliefen sich auf 32 Tote und 130 Verwundete.703 Das osmanische Expeditionskorps
zog sich anschließend mehrheitlich aus der Wüste in Richtung Palästina zurück.
Oberst Kreß behielt einige Truppen (3 Infanterie-Bataillone, 2 leichte ArtillerieBatterien und einige Kamelreiter) und wurde von Djemal Pascha als „Kommandant
der Wüste“ mit Sitz in Ibni704 beauftragt, weitere „Störaktionen“ gegen den SuezKanal durchzuführen.705 Mit ihm blieben nur wenig mehr als 30 Deutsche im Sinai.706
Obwohl das unmittelbare Ziel, die Sperrung des Kanals, nicht erreicht wurde, so
konnte die türkische Seite doch einen Erfolg für sich verbuchen, denn zumindest eine
Kräftebindung war gelungen. Großbritannien erhöhte seine Truppenpräsenz am Kanal
700
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 86-93.
Siehe zum Beispiel unten, S. 258f. u. 268f.
702
Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 17. Der Verbleib der Vermißten blieb unklar. Die
britische Seite bezeugt jedoch, daß nur etwa eine halb so große Zahl an Gefangenen gemacht wurde.
Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß trotz der umliegenden Wüstenlandschaft etwa 300
Soldaten desertiert sind. MacMunn, George/Falls, Cyril: Military Operations: Egypt & Palestine –
From the outbreak of war with Germany to June 1917, London 1928, S. 46-50. (Im Folgenden:
MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928.)
703
MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 49f.
704
Sehr kleine Ortschaft, die etwa 50 Kilometer südlich der Hafenstadt El Arisch mitten im felsigen
Teil der Sinai-Halbinsel liegt.
705
Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 18. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S.
100f.
706
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 90.
701
181
(wenngleich die Mehrzahl der besser ausgebildeten Truppen schon wenig später für
die Kämpfe auf der Gallipoli-Halbinsel wieder abgezogen wurde). Ende 1914
unterhielt Großbritannien Truppen in einer Stärke von etwa 150.000 Mann in
Ägypten, wobei auch die Versorgungstruppenteile eingerechnet sind. Darunter waren
etwa 30.000 Soldaten aus den indischen Besitzungen und ein nicht näher bezifferter
Anteil von Verbänden, die aus Einheimischen zusammengestellt worden waren. Viele
der Einheiten befanden sich allerdings noch in der Ausbildung oder waren eher für
den Garnisonsdienst geeignet als für den Kriegseinsatz. Für die Verteidigung des
Kanals waren etwa 35.000 Mann überwiegend indischer Truppenteile abgestellt, die
jedoch über dessen gesamte Länge verteilt waren.707 Da die türkischen Truppen auch
nach ihrem Rückzug kleinere, handstreichartige Aktionen gegen den Kanal
durchführten und Ägypten zudem als Ausbildungslager und Durchgangsstation für
zahlreiche britische Verbände, besonders aus Indien, Australien und Neuseeland
diente, stieg die Anzahl der Soldaten dort bis zur Jahreswende 1915/16 auf knapp
300.000 Mann. Die Hälfte davon war allerdings entweder in der Etappe eingesetzt, in
der Ausbildung begriffen oder bestand aus rekrutierten Einheimischen, deren
Ausbildung, Ausrüstung, Motivation und damit Kampfkraft bestenfalls „zweifelhaft“
war.708 Doch bis zur Jahresmitte 1916 sollte es in Ägypten nicht mehr zu größeren
Kampfhandlungen kommen.
In Mesopotamien hingegen verlief das Jahr 1915 ereignisreich für das Osmanische
Reich, und zwar im negativen Sinne. Seit dem Fall der Stadt Qurna hatte dort,
abgesehen von kleineren Gefechten, weitgehende Waffenruhe geherrscht. Beide
Seiten brauchten Zeit, um ihre Verbände zu reorganisieren und Verstärkungen
heranzuführen. Die osmanische Seite entschied sich im April 1915 für einen Angriff
auf Basra. Der Operationsplan sah vor, die britischen Tigris-Stellungen bei Qurna
weiträumig im Westen entlang des Euphrat zu umgehen, um dann auf die Hafenstadt
vorzustoßen. Das türkische Oberkommando in Baghdad verfügte zu diesem Zweck
über etwa 6.000 Mann regulärer Infanterie und eine ständig variierende Anzahl von
707
708
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 249.
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 259.
182
10.000 bis 20.000 arabischen „Stammeskriegern“.709 Die arabischen Aufgebote waren
jedoch kaum für einen Kampf gegen die überwiegend indischen Truppen des
Commonwealth ausgerüstet und zur Unterstützung der gesamten Front standen
gerade einmal 21 Geschütze älteren Typs zur Verfügung.710 Das Deutsche Reich hatte
zu diesem Zeitpunkt kaum Unterstützung auf den entlegenen Schauplatz geschickt.
Die Entsendung vollständiger Truppenkörper stand in Berlin offenbar gar nicht zur
Debatte, so daß lediglich eine „Expedition“ von 16 deutschen Soldaten unter einem
Hauptmann Klein entsandt wurde.711
Das Umgehungsmanöver verlief zunächst erfolgreich und die türkischen Einheiten
erreichten bei Shaiba – knapp 15 Kilometer südwestlich von Basra – die britischen
Verteidigungsstellungen, wo etwa 7.000 Mann verschanzt waren.712 Die Angriffe mit
knapp 4.000 Mann am 12. und 13. April scheiterten jedoch und ein Gegenangriff
britischer Kavallerie führte zum Abbruch der gesamten Operation. Die osmanische
Armee verlor bei dem Unternehmen etwa 1.000 Tote und Verwundete sowie 400
Mann, die in Kriegsgefangenschaft kamen.713 Die britische Seite verlor 132 Mann.714
Diese ging nunmehr zu einem größeren Gegenangriff über und drängte die
geschlagenen osmanischen Verbände zurück, wobei die verbliebenen Einheiten
praktisch zerschlagen wurden. Die Reste zogen sich auf Stellungen etwa 120
Kilometer euphrataufwärts zurück. Der Oberkommandierende Süleyman Askeri Bey
nahm sich nach dieser katastrophalen Niederlage das Leben.715
Nach diesen Kämpfen erforderte der glühend heiße Sommer Mesopotamiens eine
Ruhepause für die Truppen. Beide Seiten planten unterdessen die Wiederaufnahme
der Operationen im Herbst/Winter 1915. Eine britische Streitmacht unter General
Townshend, der noch im Mai die Stadt Amara besetzten konnte, sollte den Tigris
entlang in Richtung auf Baghdad vorrücken. Für die türkische Seite kam eine
Offensive hingegen zunächst nicht mehr in Frage. Aus den übriggebliebenen
709
Barker, Neglected War 1967, S. 67.
Carver, Turkish Front 2004, S. 105.
711
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 68. Nähere Informationen über diese Expedition liegen nicht
vor, es wird aber gesagt, daß die Mehrzahl der Angehörigen Offiziere gewesen seien.
712
Barker, Neglected War 1967, S. 67f.
713
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 110.
714
Moberly, Mesopotamia Volume I, S. 208.
715
Auf dem Rückzug hatten die Osmanen weitere 6.000 Mann verloren (davon 2.000 arabische
Kämpfer). 700 Mann waren in Gefangenschaft geraten. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 110.
710
183
Verbänden in Mesopotamien war die osmanische 6. Armee formiert worden, die
anfangs jedoch kaum über einsatzbereite Einheiten verfügte. Der neue ArmeeOberbefehlshaber Nurettin Pascha erwartete zwar Verstärkung von anderen
Schauplätzen, doch diese traf nur sehr langsam in Baghdad ein, und zwar nicht nur
aufgrund der schlechten Nachschublinien, sondern weil das türkische Oberkommando
während der Kämpfe um die Meerengen kaum Truppen entbehren konnte. So behalf
sich die 6. Armee mit Neuaufstellungen aus arabischen Wehrpflichtigen, JandarmaAngehörigen und Grenztruppen. Daß die Kampfkraft dieser Einheiten kaum der einer
regulären
türkischen
Infanterie-Division
entsprach,
deren
Effektivität
in
Mesopotamien ohnehin nicht mit der einer türkischen Division im Raum
Konstantinopel mithalten konnte, muß nicht besonders betont werden. Alles in Allem
standen der kaum im Ansatz formierten 6. Armee nur etwa 7.000 Mann zur
Verfügung, als am 1. September 1915 General Townshend den britischen Angriff mit
gut 10.000 Soldaten von Amara aus begann. Die Garnisonen der Ortschaften entlang
des Tigris konnten den Vorstoß nur minimal verzögern und am 26. September
erreichten die britisch-indischen Truppen die Hafenstadt Kut-el-Amara, etwa 120
Kilometer flußaufwärts der Ausgangspositionen. Hier trafen sie erstmals auf größeren
Widerstand, der jedoch rasch gebrochen wurde. Nach dem überraschend schnellen
Erfolg Townshends beschloß dieser, die abziehenden Türken weiter zu verfolgen, und
am 5. Oktober hatten die britischen Truppen noch einmal 100 Kilometer zurückgelegt
und waren bis zur Ortschaft Aziziyah vorgerückt.716 Am gleichen Tag erhielt
Feldmarschall Freiherr von der Goltz den Auftrag, den Oberbefehl über die 6. Armee
und damit über die Mesopotamienfront zu übernehmen.717 Er reiste allerdings erst
Mitte November aus Konstantinopel ab.718 Neben den Truppen der 6. Armee wurde
ihm die Befehlsgewalt über die Expeditionen nach Persien und Afghanistan, die
Militärattachés in Persien und über die von den Konsulaten eingesetzten
716
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 111f.
Ob von der Goltz über die tatsächlichen Zustände in Mesopotamien informiert war, ist fraglich. Es
steht auch zu vermuten, daß seine Versetzung nicht zuletzt deshalb erfolgte, um die Spannungen
zwischen ihm und Liman von Sanders auszuräumen.
718
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 71f. Das deutsch-türkische Engagement in Persien ist nicht
Gegenstand dieser Untersuchung. Einführende Bemerkungen finden sich bei Mühlmann,
Waffenbündnis 1940, S. 73-79. Siehe hierzu auch oben, S. 143.
717
184
Etappenoffiziere in seinem Befehlsbereich erteilt.719 Goltz gehörte aber weiterhin
nicht der Militärmission an und behielt daher sein Immediatrecht beim Deutschen
Kaiser.
Während der Feldmarschall noch auf dem Weg nach Baghdad war, kam es am 22.
November zur entscheidenden Schlacht in Mesopotamien in diesem Jahr. Die
britischen Verbände waren unaufhaltsam vorgerückt, bis sie schließlich bei Selman
Pak720 auf starke türkische Verteidigungsstellungen trafen. Der folgende Kampf wird
von deutscher und türkischer Seite „Schlacht bei Selman Pak“ und von britischer
Seite „Battle of Ctesiphon“ – nach der antiken Stadt, auf deren Ruinen Selman Pak
errichtet worden war – genannt und fand nur etwa 20 Kilometer südöstlich von
Baghdad statt. Der türkische Befehlshaber hatte alle verfügbaren Truppen
zusammengezogen
und
kurz
vorher
sogar
721
Verstärkungsdivisionen (51. I.D.) erhalten.
722
21.000 osmanische Verteidiger.
eine
der
dringend
benötigten
So trafen etwa 14.000 Briten auf
Die Kampfhandlungen dauerten bis zum Morgen
des 25. November an und wurden von beiden Seiten mit Verbissenheit geführt.
Obwohl die Angreifer den türkischen Truppen hohe Verluste zufügten machten sich
die ständigen Märsche auf schlechten Wegen und die sehr langen Versorgungslinien
der Briten bemerkbar, denen nunmehr die Kraft für einen Durchbruch fehlte. Am
Ende mußte General Townshend seinen Angriff aufgeben und sich nach Kut-elAmara zurückziehen. Er hatte knapp 4.600 Mann verloren, wovon allerdings der
größte Teil (3.674 Mann) Verwundete waren.723 Die osmanischen Verlustzahlen
werden mit knapp 6.200 Toten und Verwundeten angegeben. Die höchsten Verluste
hatte dabei die überwiegend aus arabisch- und kurdischstämmigen Ausgehobenen
bestehende 45. I.D. hinnehmen müssen, die beinahe 65% ihrer effektiven Stärke
719
Kiesling, Hans von [d. i. Hans Edler von Kiesling auf Kieslingstein]:
Mit Feldmarschall von der Goltz Pascha in Mesopotamien und Persien, Leipzig 1922, S. 19. (Im
Folgenden: Kiesling, Mit Feldmarschall von der Goltz 1922.)
720
Auf zeitgenössischen Karten findet sich auch der Name „Süleiman Pak“. Im heutigen Irak heißt der
Ort „Sal Man Pak“.
721
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 112.
722
Barker, Neglected War 1967, S. 479-481.
723
Moberly, F. J.: The Campaign in Mesopotamia 1914-1918, Volume II, London 1924, S. 485-487.
(Im Folgenden: Moberly, Mesopotamia Volume II.)
185
einbüßte, während die kampferprobten Einheiten zwischen 12% und 25% Ausfälle zu
beklagen hatten.724
Entscheidend war jedoch, daß der britische Vormarsch auf Baghdad aufgehalten
worden war. Als Goltz am 12. Dezember im Hauptquartier der 6. Armee eintraf, um
Nurettin Pascha abzulösen, hatten die inzwischen vorgestoßenen türkischen Truppen
rund 10.000 britische Soldaten und über 4.000 Nicht-Kombattanten in Kut-el-Amara
eingeschlossen.725 Der Feldmarschall mußte sich zunächst ein Bild von der Lage
machen und zudem auch die Geschäfte der „Persienmission“ überwachen. Diese
benötigte im Verlaufe der Kämpfe um Kut immer wieder Verstärkung, die eine
Schwächung des Ringes um die belagerten Briten bedeutete, aber keinen großen
Erfolge für die Unternehmungen in Persien brachten. Von der Goltz hielt daher auch
etwas gereizt in einer kurzen Denkschrift über die Lage im Januar 1916 fest, daß er
infolge seiner zahlreichen Aufgaben in Mesopotamien und Persien die Belagerung
nicht ständig habe persönlich führen könne. Dies führte dazu, daß Nurettin noch um
Weihnachten 1915 einige Sturmangriffe auf die Stadt durchführen ließ, die sämtlich
unter Verlusten von knapp 1.600 Mann scheiterten, obwohl für Goltz klar ersichtlich
war, daß die befestigten Stellungen mit den Mitteln der Türken nicht zu überwinden
waren.726 Das Jahr 1915 ging zu Ende, ohne daß eine Entscheidung in Kut fiel, und
das Jahr 1916 begann mit Entsatzversuchen der Briten. Den Januar über versuchten
britische Verbände, die türkischen Linien südlich der Stadt zu durchbrechen, brachen
die teils überhasteten und schlecht geplanten Angriffe aber unter dem Eindruck hoher
Verluste ab, ohne einen entscheidenden Vorteil gewonnen zu haben. Allein in den
724
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 114. Frühere Schätzungen von bis zu 14.000 Toten,
Verwundeten und Vermißten sind nach Ericksons Meinung zu hoch angesetzt. Siehe dazu auch seine
Angaben bei Erickson, Ordered to Die 2001, S. 238.
725
Wie so oft sind die Zahlen hier widersprüchlich. Trotz der hohen Verluste bei Selman
Pak/Ctesiphon müssen von den knapp 14.000 Mann Townshends etwa 12.000-13.000 Mann (inkl. der
Verwundeten) die Stadt erreicht haben. Mit Sicherheit waren dort bereits kleinere
Versorgungstruppenteile und Sanitätseinrichtungen untergebracht. Die offizielle britische
Kriegsgeschichte gibt zwar eine Auflistung der eingeschlossenen Formationen wieder, nennt aber
keine genauen Zahlen. Moberly spricht von 8.500 Gewehren und 34 Geschützen, während er die Zahl
der Belagerten auf 17.000 Kombattanten und (!) Nicht-Kombattanten schätzt. Erickson hingegen
spricht von 11.600 Soldaten und 3.350 Nicht-Kombattanten. Zu diesen müssen ungefähr 6.000
Einwohner Kut-el-Amaras addiert werden. Vergleiche Moberly, Mesopotamia Volume II, S. 498;
Barker, Neglected War 1967, S. 482 und Erickson, Ordered to Die 2001, S. 114.
726
„Kurze Denkschrift über die Belagerung von Kut el Amara“ des Feldmarschalls Freiherrn von der
Goltz Pascha vom 20. Januar 1916, BAMA Freiburg N 131/2, Blatt 7f.
186
Kämpfen vom 6. bis zum 9. Januar verloren die Angreifer fast 4.000 Mann.727 Mitte
Januar wurde Nurettin von Enver Pascha durch Oberst Halil Bey, den Onkel des
Kriegsministers, ersetzt.728 Weitere Entsatzversuche der Briten im Januar konnten
abgewehrt werden und als im Februar die Regenzeit einsetzte, ruhten die Operationen
praktisch den ganzen Monat, da Überschwemmungen und Schlamm größere
Truppenbewegungen nahezu unmöglich machten.729 Vom 8. bis 10. März 1916
versuchten die britisch-indischen Einheiten erneut einen Durchbruch durch die
Verteidigungsstellungen. Hierzu waren etwa 14.000 Mann vorgesehen, die durch
11.000 Mann verstärkt werden sollten, jedoch den Aufstellungsraum noch nicht
erreicht hatten.730 Wie Marschall von der Goltz berichtet, wurde Kut-el-Amara zu
diesem Zeitpunkt von insgesamt (!) etwa 15-16.000 Mann belagert, von denen etwas
mehr als die Hälfte im Süden stand, um einen feindlichen Entsetzungsversuch
aufzuhalten. Dies gelang Anfang März auch unter Verlust von etwa 1.300 Mann.731
Die britischen Truppen verloren bei ihrem Angriff etwa 3.500 Mann.732 Auch die
britischen Versuche im April 1916, zu General Townshend durchzudringen,
scheiterten, obwohl von der Goltz die Lage der „Irak-Armee“ als bedrohlich
einschätzte, da die Kräfte nur einen schwachen Einschließungsring bildeten und
deshalb ein Ausbruch der Belagerten nicht ausgeschlossen werden konnte, zumal die
Briten über eine zahlenmäßige Überlegenheit verfügten. Zudem stockte der
Nachschub auf der fast 2000 Kilometer langen Etappenlinie von Konstantinopel.
Verstärkungen brauchten daher trotz des Endes der Kämpfe an den Dardanellen sehr
lange, um Mesopotamien zu erreichen. Truppen vor Ort zu rekrutieren, schloß Goltz
indes aus, denn der „arabische Ersatz, der an Ort und Stelle aufgeboten werden
könnte, taugt nichts und ist eher eine Gefahr als eine Verstärkung“.733
727
Carver, Turkish Front 2004, S. 134-136.
Von der Goltz konnte das Kommando der 6. Armee in der Praxis kaum führen, da seine zahlreichen
Aufgaben in zu ständigen Dienstreisen auf den unzulänglichen Wegen Mesopotamiens zwangen; er
mußte sich deshalb in erster Linie auf grundlegende Entscheidungen beschränken. Erickson, Ordered
to Die 2001, S. 150.
729
Carver, Turkish Front 2004, S. 143.
730
Barker, Neglected War 1967, S. 229.
731
„Bericht über die Lage der 6. osmanischen Armee bei Kut el Amara“ des Feldmarschalls Freiherrn
von der Goltz Pascha vom 23. März 1916, BAMA Freiburg N 131/3, Blatt 82-84.
732
Moberly, Mesopotamia Volume II, S. 523-525.
733
„Bericht über die Lage der 6. osmanischen Armee bei Kut el Amara“ des Feldmarschalls Freiherrn
von der Goltz Pascha vom 23. März 1916, BAMA Freiburg N 131/3, Blatt 85.
728
187
Der Kampf um Kut endete am 29. April 1916, als sich die erschöpften und von jedem
Nachschub abgeschnittenen Belagerten angesichts fehlender Aussicht auf Entsatz den
osmanischen Truppen ergaben. Etwas mehr als 13.000 Mann – darunter über 3.000
indische Non-Kombattanten – gingen in Gefangenschaft.734 Freiherr von der Goltz
war jedoch schon 10 Tage vor dem Fall der Stadt an einer Krankheit gestorben, die er
sich während seiner zahlreichen Dienstreisen zugezogen hatte.735 Die eigentliche
Kapitulation nahm daher Halil Pascha als Oberbefehlshaber der 6. Armee entgegen
und feierte damit den zweiten großen Erfolg des Osmanischen Reiches nach dem
Fehlschlag der britischen Truppen an den Dardanellen. Wie erwähnt erwuchs der
türkischen Seite aus diesen Siegen ein stärkeres Selbstvertrauen in militärischen
Fragen, denn die Erfolge – erfochten mit osmanischen Einheiten – waren nicht von
der Hand zu weisen. Die Deutschen hingegen sahen ihre Hilfestellung als
ausschlaggebend für die Siege an, obwohl diese vom Verbündeten immer häufiger als
Bevormundung kritisiert wurde. In Deutschland und Konstantinopel lobten deutsche
Zeitungen die „Siegesserie“ als türkische Meisterleistung und schmeichelten der
Hohen Pforte in besonderem Maße. Goltz hatte die Problematik solcher Propaganda
bereits vor dem Sieg bei Kut-el-Amara erkannt:
„Der Dienst, der dem Zentralbunde durch die Behauptung der Dardanellen geleistet
worden ist, wird weit überschätzt, und man sieht uns mehr als lästige Eindringlinge,
wie als hilfsbereite Freunde an.“736
Die deutschen Offiziere mußten sich nunmehr noch stärker anstrengen, um ihre
Vorstellungen von moderner Kriegführung durchzusetzen, was jedoch nicht mit einer
erhöhten Kompromißbereitschaft einherging.
Während in Mesopotamien der zweite defensive Erfolg gegen die britischen Truppen
erreicht wurde, waren die türkischen Truppen unter dem Freiherrn Kreß von
Kressenstein auf der Sinai-Halbinsel offensiv vorgegangen. Nach und nach trafen in
Südpalästina und El Arisch am Rande der Sinai-Wüste die sogenannten „Pascha I“
Formationen aus Deutschland ein sowie österreichisch-ungarische Artillerie, die nach
734
Carver, Turkish Front 2004, S. 153-155.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 220.
736
„Denkschrift über die Lage in Mesopotamien und Persien“ des Feldmarschall Freiherrn von der
Goltz Pascha ohne Datum, BAMA Freiburg N 131/2, Blatt 49.
735
188
Syrien entsandt worden war. Zu den ersten Einheiten, die im April die Front
erreichten, gehörten die deutsche Flieger-Abteilung 300 und die „k. u. k.
Gebirgshaubitzdivision Marno“.737
Am 22./23. April 1916 unternahm Kreß einen begrenzten Kavallerievorstoß –
unterstützt von den neuen Einheiten – auf Katia.738 Unter geringen eigenen Verlusten
konnte er ein britisches Kavallerie-Regiment überraschen und 280 Gefangene
machen.739 Der eigentliche „Zweite Vorstoß“ zum Kanal sollte allerdings erst im
Sommer des Jahres erfolgen. Hierfür erhielt Kreß den Befehl über ein
Expeditionskorps von 16.000 Mann (davon knapp 12.000 Soldaten740), dem auch die
deutschen „Pascha“-Formationen angehörten.741 Anfang Juli stieß das Korps von El
Arisch aus nördlich auf den Kanal vor, wobei es eine Strecke von gut 150 Kilometern
überwinden mußte. Der Vorstoß verlief zunächst erfolgreich, doch am 4. August
trafen die deutsch-türkischen Einheiten in Romani (etwa 10 km nordwestlich von
Katia) auf erheblichen britischen Widerstand. Nach dem Scheitern der Kämpfe um
die Meerengen und dem Fall von Kut hatte sich die britische Führung entschlossen,
eine Offensive von Ägypten aus in Richtung Palästina zu starten. Die Ereignisse bei
Katia im April hatten die britische Seite darin bestärkt, daß eine erhöhte
Truppenpräsenz in der Wüste von nöten war, um eine Ausgangsbasis für solche
Operationen zu sichern. Daher waren im Sommer 1916 14.000 Mann in und um
Romani stationiert worden.742 Der türkische Angriff wurde zurückgeschlagen und
737
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 155. Zur Fliegertruppe siehe auch Kapitel III.2.e.
Die k.u.k. Formation war zahlenmäßig besonders stark (22 Offiziere und 813 Mannschaften) und mit
10 cm Gebirgshaubitzen ausgerüstet, die sich in der Folgezeit aufgrund der verhälnismäßig leichten
Verlastbarkeit als geeignete Waffe für den Krieg in Syrien erwies. Der Begriff „Division“ meint hier –
ähnlich der „Mittelmeer-Divsion“ der Marine – einen zu einem bestimmten Zwecke zusammen- und
abgestellten Truppenverband und ist nicht mit der Verbandsbezeichnung des Heeres zu verwechseln.
Jung, Der Wüstenkrieg 1992, S. 52-58.
738
Der Ort wurde auch El Katie genannt und liegt etwa 40 km östlich des Suez-Kanals und nur 10 km
südlich der Mittelmeerküste.
739
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 158-163.
740
Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 155.
741
Zu den „Pascha I“-Verbänden, die an dem Vorstoß teilnehmen konnten, gehörten die FliegerAbteilung (FA) 300, acht M.G. Kompanien, sechs Geschütze im Kaliber von 10-15 cm, zwei Mörser,
vier Flakzüge, zwei Feldalazarette und einige Kraftwagenkolonnen. Die übrigen Einheiten (eine
Nachrichtenabteilungen und zwei Minenwerfer-Kompanien) trafen nicht mehr rechtzeitig ein. Kreß
von Kressenstein, Sinaifront 1921, S. 21.
742
MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 180. Die Erhöhung der britischen
Truppenpräsenz wird auf deutscher Seite nicht unbemerkt geblieben sein, zumal die deutschen Flieger
zu diesem Zeitpunkt noch den Luftraum dominierten und – sofern die Witterung es zuließ –
Aufklärungergebnisse lieferten. Ob die Auswertung eine solch hohe Gegnerzahl erkennen ließ, muß
189
Kreß befahl unter dem Eindruck schwerer Verluste den Abbruch des Angriffs. Die
britischen Einheiten verfolgten die geschlagenen Verbände und schließlich mußten
diese sich am 14. August wieder auf ihre Ausgangsstellung El Arisch zurückziehen.
Die türkischen Verluste betrugen zwischen 4.000 und 6.000 Mann.743 Die britische
Seite hatte hingegen „nur“ 1.130 Mann verloren.744
Mit diesem Rückschlag wurden die türkischen Offensivbestrebungen im Sinai
zunichte gemacht. Die langen Versorgungslinien, Hungersnöte im Hinterland (allein
im Libanon verhungerten bis Oktober 1916 60.000 Menschen) und die materielle und
personelle Überlegenheit Großbritanniens in Ägypten wirkten sich immer schwerer
aus.745 Die britischen Planungen für einen Angriff aus Ägypten auf das Territorium
des Osmanischen Reiches sahen vor, daß parallel zum Vormarsch der Truppen eine
Eisenbahnlinie zu deren Versorgung gebaut werden sollte. Mitte Dezember 1916
reichte diese Linie bis etwa 20 km vor El Arisch und den türkischen Verteidigern war
rasch bewußt, daß sie sich aufgrund des Abstandes zur eigenen Nachschublinie (ca.
75 km) im Nachteil befanden.746 Kreß von Kressenstein war gezwungen, seine
eigenen Stellungen immer weiter zurückzunehmen, doch feindliche Vorstöße
hinderten ihn daran, diese Positionen ausreichend zu befestigen. Daher mußte er sich
im März 1917 auf die Linie Gaza – Birseba (heute Be`er Sheva) zurückziehen, die
zwar leichter zu verteidigen war, aber bereits auf osmanischem Territorium lag. Alle
Gebietsgewinne im Sinai wurden damit aufgegeben und auch an dieser Front geriet
man endgültig in die Defensive.747
Zur gleichen Zeit fiel die Vorentscheidung über das Schicksal der MesopotamienFront, denn am 11. März 1917 nahm der neue britische Befehlshaber, General
Maude, die alte Kalifenstadt Baghdad ein. Im Dezember 1916 hatte die britische
mangels Quellen jedoch fraglich bleiben. Wollte Kreß aber die Initiative behalten, so boten sich ihm
kaum Alternativen zu einem Vorstoß.
743
Kreß von Kressenstein spricht von 4.000 Mann, während das britische Generalstabswerk von 5.500
Mann ausgeht, von denen allerdings 4.000 in Gefangenschaft gerieten. Dies entspräche den 1.000
Toten und Verwundeten, die Erickson anhand offizieller türkischer Quellen angibt. Vgl.: Kreß von
Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 191. MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S.
377. Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 238.
744
MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 199.
745
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 75.
746
Bruce, Anthony: The Last Crusade – The Palestine Campaign in the First World War, London
2003, S. 81. (Im Folgenden: Bruce, The Last Crusade 2003.)
747
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 76.
190
Offensive zunächst gegen Kut-el-Amara begonnen, das im Frühjahr desselben Jahres
noch so hart umkämpft war. General Maude hatte zahlreiche Verstärkungen erhalten
und hatte nunmehr gut 150.000 Mann unter seinem Kommando. Von diesen nahmen
jedoch nur 72.000 Mann an den eigentlichen Operationen teil, da der größte Teil
entweder während eines Angriffs nicht versorgt werden konnte oder aber selbst für
die Versorgung zuständig war.748 Die türkische 6. Armee – geschwächt durch
Krankheiten, Desertion und Abgaben von Truppen nach Persien – konnte im
Unterschied dazu für die Verteidigung Kuts nur etwa 12.000 – 16.000 Mann
aufbieten.749 Die deutsche „Irakgruppe“ bestand sogar nur aus 34 Offizieren und 280
Mann.750
Der einsetzende Regen der Winterzeit verwandelte die Vormarschwege der Angreifer
jedoch in Schlammpfade und verlangsamte die Operation Maudes deutlich. Erst am
22./23. Februar 1917 wurde Kut-el-Amara geräumt und der Rückzug auf eine
Verteidigungslinie 15 Kilometer südlich von Baghdad befohlen. Nach harten
Kämpfen konnten die osmanischen Truppen aber auch diese Linie nicht halten und
zogen sich etwa 60 Kilometer tigrisaufwärts zurück. Halil Pascha verlegte nach dem
Fall Baghdads sein Hauptquartier nach Mosul. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er in
seiner gesamten Armee noch über rund 30.000 Mann, die allerdings eine Frontlinie
von mehr als 300 Kilometern Länge gegen Briten und Russen (in Persien) decken
mußten.751 Bis April 1917 schob General Maude seine Linien bis Samarra vor, was
ihn zusätzliche 2.000 Mann Verluste kostete, während die türkischen Verteidiger 500
Tote zu beklagen hatten und 260 Soldaten in Gefangenschaft gingen.752 Danach
stellten die Briten ihren Vormarsch ein, wodurch der endgültige Zusammenbruch der
osmanischen Front, die nunmehr 150 Kilometer nördlich von Bagdhad verlief,
abgewendet werden konnte. Die zunehmende Hitze sowie die schwachen und stark
belasteten
Versorgungslinien
von
Basra
nach
Norden
machten
weitere
Kampfhandlungen unmöglich. Angeblich mußten 37.000 britische Soldaten zwischen
748
Barker, Neglected War 1967, S. 322.
Die Zahlenagaben schwanken hier deutlich. Mühlmann gibt 12.000 Mann an, während Larcher von
16.550 spricht. Die britischen Schätzungen beliefen sich dagegen auf 20.000 Soldaten. Mühlmann,
Waffenbündnis 1940, S. 136; Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 340. Barker, Neglected War 1967,
S. 490.
750
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 136.
751
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 166.
752
Carver, Turkish Front 2004, S. 181.
749
191
Mitte März und Mitte April wegen der Hitze oder Krankheiten in Lazaretten
behandelt werden. Das war mehr als das Doppelte der Verluste während der
eigentlichen Kampfhandlungen, die auf 18.000 Mann beziffert werden.753 Die Anzahl
der türkischen Toten und Verwundeten gibt Erickson mit 6.000 Mann an.754
Vermutlich ist diese – auch von ihm geschätzte – Zahl zu gering angesetzt, obwohl
die Verteidiger in deutlicher Unterzahl waren. Genauere Angaben liegen aber nicht
vor. In jedem Fall war die Lage für die Mittelmächte auf diesem Kriegsschauplatz
mehr als Ernst. Einem neuen Angriff der Briten würden die dünnen Linien kaum
standhalten können, wenn nicht ausreichende Verstärkungen herangeführt würden.
Außerdem hatte nicht nur die Hohe Pforte einen beachtlichen Teil ihres
Herrschaftsbereiches verloren, sondern auch das Deutsche Reich hatte einen
empfindlichen Prestigeverlust hinnehmen müssen, denn alle Aussichten – so vage sie
vorher auch gewesen sein mögen – auf eine Fertigstellung der Baghdad-Bahn waren
vorerst zunichte gemacht worden.755
Aufgrund dieser Rückschläge entschloß sich Deutschland zu einer Ausweitung seines
Engagements im Orient. Es stellte das Heeresgruppenkommando „F“ (Falke) und die
Truppen des „Deutschen Asienkorps“ unter dem Decknamen „Pascha II“ auf und
entsandte sie zur Unterstützung der bröckelnden osmanischen Fronten.756
Die „Pascha II“-Formationen umfaßten nach Plan drei Infanteriebataillone, sechs
Maschinengewehrkompanien (je 6 M.G.), vier Flieger-Abteilungen, zwei leichte
Haubitz- und eine Feldkanonenbatterie, eine Sanitätskompanie, zwei Feldlazarette
und eine Flugabwehrkanonenbatterie sowie weitere Unterstützungstruppenteile wie
Kraftfahrkolonnen, Fernsprecher- und Nachrichtenabteilungen und Pioniere (mit
Flammenwerfern und Brückenbaugerät). Die Kopfstärke dieser Einheiten sollte 4.500
Mann betragen, war jedoch aufgrund des höheren Bedarfs an logistischem und
technischem Personal bis zum September 1917 auf 11.000 Köpfe angestiegen.757
753
Barker, Neglected War 1967, S. 411f.
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 238.
755
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 221. Auf das deutsch-türkische Bündnis hatte dieser
Rückschlag jedoch keine gravierenden Auswirkungen, da beide Parteien in anbetracht der Gesamtlage
ihr Hauptaugenmerk auf andere Kriegsschauplätze richteten.
756
Afflerbach, Holger: Falkenhayn – Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994,
S. 471. (Im Folgenden: Afflerbach, Falkenhayn 1994.)
757
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 150 u. S. 320f. Die deutsche Seite hatte parallel zur türkischen,
eine eigene Etappe aufgebaut, um den wiederholten Reibungen und Konflikten im Nachschubbereich
754
192
Aufgabe des Heeresgruppenkommandos „F“ war es, aus den deutschen „Pascha I“und „Pascha II“-Formationen, der 6. osmanischen Armee und der neuaufgestellten
(und de facto noch bei Aleppo im Aufbau befindlichen) 7. osmanischen Armee eine
Heeresgruppe zu bilden, die Baghdad zurückerobern sollte. Der türkische Deckname
der Operation war „Yildirim“ (Blitz).758
Im Laufe des Sommers wurden die Einheiten für die Operation und die neue
Heeresgruppe heran- und zusammengeführt. Doch bevor das Unternehmen
„Yildirim“ auf dem mesopotamischen Kriegsschauplatz beginnen konnte, fiel im
August 1917 die Entscheidung, den Schwerpunkt der Operation kurzfristig nach
Palästina zu verlegen.759 Hier hatten britische Offensiven zu einer starken
Beanspruchung der osmanischen Kräfte geführt. Am 26. und 27. März 1917 stießen
etwa 20.000 Briten auf die Verteidigungslinien bei Gaza vor.760 Kreß von
Kressenstein verfügte hier über eine Besatzung in der Stadt von 2.600 Mann und
insgesamt über knapp 13.000 Mann in seinem gesamten Kommandobereich.761 Die
harten Kämpfen endeten mit einem Verteidigungserfolg für die türkischen Truppen,
die 1.427 Mann (davon 286 Tote) verloren, dem Gegner aber empfindliche Verluste
in Höhe von 3.967 Mann (davon 523 Tote) beibrachten.762
Vom 17. April an versuchte die „Egyptian Expeditonary Force“ erneut Gaza zu
nehmen. Nach dreitägigen, schwersten Kämpfen konnten die Verteidiger noch einmal
ihre Stellungen behaupten. Die Verluste des Angreifers waren mit 6.444 Mann
deutlich schwerer als in der ersten Schlacht, wenngleich die Zahl von 509 Toten
unwesentlich geringer war.763 Die osmanische Seite hatte 1.969 Mann verloren und
zu entgehen. Allein diese Maßnahme benötigte schon eine entsprechende Erhöhung des Personalansatzes.
758
Neben dieser Schreibweise finden sich in der Literatur noch „Jilderim“, „Jildirim“ oder „Yilderim“.
Die häufigste Schreibweise (und die, die der heutigen türkischen Schreibweise „yıldırım“ am nächsten
kommt) ist jedoch „Yildirim“ und diese wird daher auch weiterhin verwendet.
759
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 228.
760
Die Zahlen schwanken zwischen 19.000 und 25.000 Mann, von denen ein unterschiedlich großer
Teil als Reserve zurückgehalten worden sein soll. Vgl. Bruce, The Last Crusade 2003, S. 93 und
MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 379.
761
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 224.
762
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 232. MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June
1917, 1928, S. 315. Die deutschen und österreichisch-ungarischen Verlusten betrugen 57 Mann. Falls,
Cyril: Armageddon, 1918 – The Final Palestinien Campaign of World War I, Philadelphia 102003,
S. 10. (Im Folgenden: Falls, Armageddon 2003.)
763
MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to June 1917, 1928, S. 348.
193
dabei 391 Tote zu beklagen.764 Bei der zweiten Schlacht um Gaza hatten die Briten
angeblich einige Gasgranaten verschossen und sogar 8 Tanks eingesetzt, von denen
nach türkischen Berichten 3 abgeschossen worden sein sollen und die übrigen
Fahrzeuge
entweder
aufgrund
technischer
Defekte
ausfielen
oder
durch
Artilleriefeuer zum Rückzug gezwungen wurden.765 Obwohl die türkischen Soldaten
keine Schutzausrüstung gegen Gas besaßen, nicht für solche Angriffe ausgebildete
waren und noch nie einen Tank gesehen hatten, nutzten die „modernen Waffen der
Westfront“ auf dem nahöstlichen Kriegsschauplatz offenbar nur wenig. Zum
wiederholten Male wird hier die Andersartigkeit der Kriegführung mit modernen
Mitteln unter den Verhältnissen des Nahen Ostens deutlich, in der sämtliche
europäischen Mächte noch sehr unerfahren erschienen.766
Nach dem Scheitern der Offensiven im Süden Palästinas ersetzte London den
bisherigen Oberkommandierenden General Murray durch General Sir Edmund
Allenby.767 Es war abzusehen, daß der Neuernannte unter dem Druck der eigenen
Regierung eine abermalige Operation gegen Gaza anstreben würde, wenn auch das
Britische Empire seine Truppen vordringlich an der Westfront brauchte und kaum
Verstärkungen von dort nach Ägypten senden konnte.768 Sowohl Djemal Pascha, der
Oberbefehlshaber der 4. Armee in Syrien (und zugleich Gouverneur der südlichen
Provinz des Osmanischen Reiches), als auch General von Falkenhayn – Befehlshaber
der deutschen Heeresgruppe – waren zu der Überzeugung gelangt, daß die türkischen
Linien einem neuen Angriff schwerlich standhalten würden. Die Heeresgruppe „F“
sollte daher zunächst einen Schlag gegen die Briten in Palästina führen und diese am
764
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 244.
Fuller, John F.C.: Tanks In The Great War 1914-1918, (Neudruck der Ausgabe o.O. 1920)
Nashville o.J., S. 98ff. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 241. Erickson, Ordered to
Die 2001, S. 163. Carver, Turkish Front 2004, S. 201.
766
Ebenfalls nicht übersehen werden darf die technische und taktische Unausgereiftheit der neuen
Waffen. Der Erfolg von Tankeinsätzen an der Westfront wird in der neueren Forschung ebenfalls
relativiert. Hier besaßen die kämpfenden Parteien allerdings die Mittel, um auf solche neuen
Bedrohungen zu reagieren, während die osmanischen Streitkräfte auch ohne solche Mittel zumindest
einen punktuellen Einsatz dieser Waffen abwehren konnten. Der Tankeinsatz vor Gaza sollte auch der
einzige Einsatz im Orient bis Kriegsende bleiben. Siehe hierzu: Fasse, Alexander: Im Zeichen des
„Tankdrachen“ – Die Kriegführung an der Westfront 1916-1918 im Spannungsverhältnis zwischen
Einsatz eines neuartigen Kriegsmittels der Alliierten und deutschen Bemühungen um seine
Bekämpfung, Berlin 2007, S. 164f.
767
Falls, Armageddon 2003, S. 11.
768
MacMunn, George/Falls, Cyril: Military Operations: Egypt & Palestine – From June 1917 to the
End of the War, Part I, London 1930, S. 14. (Im Folgenden: MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to the
End of the War, Part I, 1930.)
765
194
besten bis zum Kanal zurückdrängen, um ausreichende Handlungsfreiheit für die
Rückeroberung Baghdads zu erhalten.769 Daß solche Erwartungen als zu hoch – sogar
als „illusorisch“ – bezeichnet werden können, muß hier nur am Rande erwähnt
werden. Die türkischen Einheiten in Syrien litten an Versorgungsengpässen in den
Bereichen Munition und Verpflegung, die sich bei einer steigenen Truppenpräsenz
dort noch stärker bemerkbar machen mußten, und die deutschen Soldaten litten unter
dem Klima, das besonders in den Sommermonaten ungewöhnlich heiß war. Der
Krankenstand erreichte in einigen Einheiten 28% und kaum ein deutscher Soldat hatte
Ende
1917
noch
keinen
Krankenhausaufenthalt
trotz
der
geforderten
„Tropendiensttauglichkeit“ hinter sich, deren Kriterien offenbar ebenfalls nicht den
realen
Anforderungen
entsprachen.770
Die
osmanischen
Truppenteile
und
insbesondere diejenigen Einheiten, die vom Balkan oder von Konstantinopel aus nach
Palästina verlegt wurden, hatten horrende Marschverluste hinnehmen müssen. Von
den 10.000 Mann der 24. I.D., die im Oktober aus Konstantinopel an der Front
angelangte, waren nur 4.635 Mann übriggeblieben. Krankheiten, Desertion von etwa
einem Viertel der Männer und eigenmächtig verlängerte Urlaube hatten zu diesen
Ausfällen geführt. So kam es, daß die Truppe am 15. Oktober um 552 Offiziere und
47.181 Mann unter der Sollstärke lag.771 Als General Allenby am 31. Oktober 1917
mit knapp 80.000 Soldaten die dritte Schlacht um die Stadt Gaza einleitete, konnten
die Verteidiger der Stadt gerade einmal 25.000 – 30.000 Mann aufbieten.772 Kreß von
Kressenstein – nunmehr als Befehlshaber der neuen 8. Armee zum türkischen
Generalmajor befördert – und Mustafa Kemal (der spätere Atatürk) als Befehlshaber
der wesentlich schwächeren 7. Armee, die als Flankenschutz bei Birseba eingesetzt
war, erhielten nach zähen Kämpfen in der Defensive kaum eine Woche später von
Falkenhayn den Rückzugsbefehl und am 9. November 1917 war die Frontlinie bei
769
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 168. Falkenhayn handelte die offensiven Planungen allerdings
mit Enver Pascha aus und überging so absichtlich die deutschen und türkischen Führer vor Ort, die zu
einem defensiven Verhalten rieten. Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 475.
770
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 254f.
771
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 258f. u. 266.
772
MacMunn, George/Falls, Cyril: Military Operations: Egypt & Palestine – From June 1917 to the
End of the War, Part II, London 1930, S. 651. (Im Folgenden: MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to
the End of the War, Part II, 1930.) Kreß gibt die Stärke seiner Truppen mit 23.000 Infanteristen, 1.400
Kavalleristen und 191 Geschützen an, während britische Quellen von 27.000 – 45.000 Mann sprechen.
Aufgrund der generellen Unzuverlässigkeit der Zahlenangaben wird der Mittelwert als wahrscheinlich
angenommen. Vgl.: Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 270 und MacMunn/Falls, Egypt
& Palestine to the End of the War, Part I, 1930, S. 42 sowie Bruce, The Last Crusade 2003, S. 125.
195
Gaza gefallen; die Truppen waren weitere 20 Kilometer zurückgedrängt worden.773
Der britische Vormarsch wurde fortgesetzt und trotz hinhaltender Rückzugsgefechte
gelang es den Türken nicht, den Angriff zu stoppen. Am 8. Dezember marschierten
Allenbys Truppen in Jerusalem ein, nachdem die Stadt von den Verteidigern geräumt
worden war, bevor sie durch die Kämpfe beschädigt werden konnte.774 Zum
Jahreswechsel 1917/18 wurden die Kampfhandlungen eingestellt. Beide Seiten waren
völlig erschöpft. Die deutsch-türkischen Verbände hatten mehr als 12.500 Tote und
Verwundete sowie 9.000 Vermißte zu beklagen. Außerdem waren 6.400 Mann in
Gefangenschaft geraten, womit die Gesamtzahl der Verluste kapp 28.000 Mann
erreichte. Die 7. und 8. Armee hatten schwerste Verluste erlitten. Es gelang jedoch,
die Front zwischen El Haram (15 Kilometer nördlich von Jaffa) und Jericho am
Nordrand des Toten Meeres zu stabilisieren.775 Und noch zwei weitere
Veränderungen trafen die türkische Kommandostruktur hart. Bereits am 7. November
– also noch während des Rückzuges aus Gaza – wurde Mustafa Kemal von der Front
abgelöst und in den Generalstab versetzt. Am 1. Dezember wurde dann auch noch
Kreß von Kressenstein durch General von Falkenhayn, der den Bayern zuvor schon
als „vertürkt“ gescholten hatte, von seinem Kommando entbunden.776 Mit diesen
beiden Generalen verlor die Palästinafront die beiden erfahrensten Befehlshaber.
Obwohl die britischen Verbände ihre Verluste von knapp 19.000 Mann leichter
ersetzen konnten als die osmanische Seite, war der Blutzoll doch außergewöhnlich
hoch gewesen.777 Allenby wurde daher erst Mitte Februar 1918 in Palästina wieder
aktiv. Am 19. Februar stieß er auf Jericho vor, eroberte die Stadt schon am 21.
Februar und richtete neue Stellungen am Ostufer des Jordans ein, während das
773
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 172f.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 244f.
775
Siehe hierzu: Pirie-Gordon, H. (Bearb.): A Brief Record of the Advance of the Egyptian
Expeditionary Force under the command of General Sir Edmund H. H. Allenby – July 1917 to October
1918, Kairo 1919, Karte 30.
776
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 174. Kreß selbst deutet die Vorgänge nur an, die zu seiner
Ablösung geführt haben, während Mühlmann eindeutig die Verstimmungen zwischen ihm und
Falkenhayn über die Eigenheiten der türkischen Kriegführung dafür verantwortlich macht. Kreß von
Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 302ff. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 176f. Ähnlich wie
Mühlmann sieht es Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 474f. u. 478.
777
Bruce, The Last Crusade 2003, S. 165.
774
196
Westufer von deutsch-türkischen Verbänden gehalten wurde.778 Dieser erneute
Rückschlag gab Enver Pascha – und vor allem seinem Parteifreund Djemal Pascha –
die Gelegenheit, General Erich von Falkenhayn abzulösen. Der Deutsche hatte sich
weniger durch militärisches Geschick ausgezeichnet als vielmehr durch ein sicheres
Gespür dafür, möglichst viele türkische und auch deutsche Offiziere durch sein
starrsinniges und aufbrausendes Verhalten gegen sich aufzubringen.779 Am 24.
Februar wurde die Ablösung beschlossen und am 1. März 1918 übernahm Liman von
Sanders das Kommando der „Yildirim“-Verbände sowie der Front in Syrien und
Palästina.780 Daß mit der Person Marschall Liman von Sanders Pascha ebenfalls ein
beachtliches Konfliktpotenzial verbunden war, ist bereits angedeutet worden und
wird im Folgenden noch deutlicher werden.781 Es kann nicht ausgeschlossen werden,
daß sich Enver hier seines persönlichen Rivalen „entledigte“, indem er ihn aus
Konstantinopel – dem Zentrum der Macht des Osmanischen Reiches – entfernte und
ihm damit zugleich die Wahrnehmung seiner Aufgaben als Chef der Militärmission
auf das Äußerste erschwerte.
Schon kurz nach seiner Ankunft in Palästina mußte Liman von Sanders zwei größere
Schlachten schlagen. Vom 21. März bis zum 30. März 1918 griffen britische
Verbände über den Jordan in Richtung Amman an und konnten die türkischen
Verteidiger sogar bis in die Stadt zurückdrängen. Am 31. März zogen sich die
Angreifer jedoch überraschend wieder hinter den Jordan zurück.782
Am 30. April versuchten die Briten einen erneuten Angriff über den Jordan, wurden
aber durch Gegenangriffe türkischer Verstärkungen am 2. und endgültig am 4. Mai
zur Aufgabe des Unternehmens gezwungen.783 Damit konnten die osmanischen
Einheiten die Front für die Sommermonate weitgehend festigen. Zwar kam es noch
zu vereinzelten Kämpfen, aber ein britischer Durchbruch gelang nicht, da Allenby
durch die deutsche Frühjahrsoffensive etwa 60.000 Mann aus Ägypten an die
778
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 246f.
Falkenhayn machte von dem Schimpfwort der „Vertürkung“ ausgiebig Gebrauch und hatte schon
früh Djemal Pascha verärgert. Siehe hierzu unten, S. 370-374.
780
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 193.
781
Siehe hierzu unten, S. 365-369.
782
Offenbar sah der englische Befehlshaber seine Mission als gescheitert an und wollte seine
erschöpften Truppen vor einem möglichen Gegenstoß bewahren, dem er nicht standhalten zu können
glaubte. MacMunn/Falls, Egypt & Palestine to the End of the War, Part I, 1930, S. 343-347.
783
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 195.
779
197
Westfront abgeben mußte und seine Vorgesetzten in London ihn ausdrücklich
ermahnten, in Palästina eine defensive Haltung einzunehmen.784 Dies hinderte den
General allerdings nicht daran, die nächste – und entscheidende – Offensive
vorzubereiten. Im September 1918 standen knapp 70.000 Mann (davon 11.000
Berittene) für den Angriff bereit, während die türkischen Truppen über 40.600 Mann
verfügten, die sogar fast 1.000 Maschinengewehre besaßen. Allerdings hatten die
Verteidiger eine über 90 Kilometer lange Front zu halten, geboten nur über
unzureichende Nahrungs-, Munitions- und vor allem Wasservorräte, waren an
Artillerie- und Fliegerunterstützung unterlegen und sahen sich zudem einer
zunehmend feindseligeren arabischen Bevölkerung gegenüber.785 Als die britische
Offensive am 18./19. September 1918 losbrach, fegte sie die geschwächten und durch
die Rückschläge des letzten Jahres demoralisierten türkischen Soldaten praktisch fort.
Auch den immerhin 7.000 deutschen Soldaten – von denen jedoch viele logistische
Aufgaben wahrnahmen – fehlte es an Kampfkraft, denn ihnen hatte der
allgegenwärtige Mangel des letzten Kriegsjahres ebenfalls schwer zugesetzt. Eine
„Schreckensmeldung“ des türkischen Generalstabes nach der nächsten erreichte die
Oberste Heeresleitung. Schon am 21. September meldete General von Seeckt, der im
Januar
1918
Bronsart
von
Schellendorf
als
stellvertretenden
türkischen
Generalstabschef abgelöst hatte786, den Durchbruch feindlicher Kräfte nach Nazareth,
wobei fast Liman von Sanders in Gefangenschaft geraten wäre.787 Zwei Tage später
meldete Seeckt gar, daß die 8. Armee praktisch aufgerieben sei. Die Armeen zerfielen
trotz vereinzelter tapferer Versuche, den gegnerischen Vormarsch zu verzögern. Am
23. September fiel die Stadt Haifa und alle Hoffnungen, eine neue Verteidigungslinie
bei Damaskus zu errichten, waren zunichte gemacht, nachdem die Stadt am 30.
September dem Feind übergeben worden war.788 Gleichzeitig mit diesen Niederlagen
begannen auch erneute Angriffe östlich des Jordans. Sie wurden nicht unwesentlich
durch Formationen arabischer „Aufständischer“ unter dem britischen Oberst
Lawrence unterstützt. Offenbar waren diese Verbände für eine beträchtliche Anzahl
784
Bruce, The Last Crusade 2003, S. 203f.
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 196.
786
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 180.
787
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 199.
788
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 226.
785
198
von Greueltaten gegen die geschlagenen Türken verantwortlich.789 Am 6. Oktober
war die Kampfstärke des deutschen Asienkorps auf 500 und die des I.R. 146 (zuvor
über 2.000 Mann) auf 600 Mann gesunken. Die 7. osmanische Armee zählte noch
etwa 7.000 Mann, nachdem am 12. Oktober Verstärkungen von Norden eingetroffen
waren. Die 2. Armee, von der Kaukasusfront der Heeresgruppe unterstellt, besaß
noch etwa 1.000 Mann, stand aber, ebenso wie 2.000 deutsche Soldaten bei Adana,
um eventuellen Landungen der Briten im Rücken der Palästinafront begegnen zu
können. Die 4. Armee und die 8. Armee waren zerschlagen und bestanden nicht mehr
als Kampfverbände.790 Die Reste der Heeresgrupp „F“ standen bei Aleppo, mußten
die Stadt jedoch am 26. Oktober räumen und bezogen 30 Kilometer nördlich neue
Stellungen, während das Hauptquartier in Adana – also auf anatolischem Boden –
eingerichtet wurde.791 Dort erreichte am 30. Oktober 1918 die Nachricht vom
Waffenstillstand Liman von Sanders.
In Mesopotamien hatte sich seit den Kämpfen des Jahres 1917 wenig verändert.
General Maude, der britische Oberbefehlshaber, sah sich aufgrund der schlechten
Versorgungswege und der geringen Priorität, die man „seiner“ Front in London
beimaß, außerstande, eine neue Offensive zu wagen. Am 18. November 1917 starb
der General plötzlich an einer Krankheit (Cholera), wie schon Freiherr von der Goltz.
Sein Nachfolger wurde General Marshall, der jedoch ebenfalls andere Operationen –
zum Beispiel gegen Baku und in Persien – unterstützte und nicht im unwirtlichen
Mesopotamien vorrückte.792 Das Zweistromland selbst blieb im Jahre 1918 eher eine
ruhige Front, die allerdings durch das Klima härteste Anforderungen an die Soldaten
beider Seiten stellte. Erst als Allenby in Palästina und Syrien zum finalen Schlag
gegen die türkische Front ausholte, wagten sich auch hier die Briten vorwärts. Am 2.
Oktober 1918 erhielt Marshall die Aufforderung, bevor es zu einem Waffenstillstand
käme, soviel türkischen Boden wie möglich zu besetzen.793 Daher rückten seine
Truppen am 18./19. Oktober gegen die türkischen Stellungen vor. Der türkische
789
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 256ff.
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 226f.
791
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 201.
792
Barker, Neglected War 1967, S. 431f. u. 447-454.
793
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 203.
790
199
Oberkommandierende, Ismail Hakki Bey, verfügte nur über wenige erschöpfte oder
kranke Truppen und erfuhr zudem bald von den Ereignissen in Palästina und den
türkischen Bemühungen um Waffenstillstandsverhandlungen durch Vermittlung der
Vereinigten Staaten (13. Oktober). Der Widerstand blieb daher beschränkt, aber auch
die
britischen
Truppen
zeigten
wenig
Interesse
an
einer
hartnäckigen
Auseinandersetzung. Am 29. Oktober stoppte Hakki Bey den Rückzug und
verschanzte sich, bevor er sich am 30. Oktober den Briten ergab und mit ihm 11.300
Soldaten.794 Obwohl noch einige osmanische Einheiten auch an dieser Front bestehen
blieben, endete damit der Krieg auf diesem Schauplatz.
d) Der Krieg zur See
Im Unterschied zum Kriegsgeschehen zu Lande spielte der Seekrieg nur eine
untergeordnete Rolle für das Osmanische Reich. Struktur, Anzahl und Zustand der
vorhandenen Einheiten waren nicht geeignet, die übermächtigen Seestreitkräfte der
britisch-französischen Flotte im Mittelmeer oder die trotz der Übernahme von
„Goeben“ und „Breslau“ weiterhin überlegene Schwarzmeer-Flotte des russischen
Zarenreiches herauszufordern.795 Dennoch war es die türkische Marine, die durch
einen Überraschungsangriff auf die russischen Häfen am Schwarzen Meer für den
Kriegseintritt der Hohen Pforte auf Seiten der Mittelmächte sorgte. Für die Operation
wurden sämtliche irgendwie verfügbaren und geeigneten Schiffe verwendet. Mehrere
Flottendetachements beschossen die russischen Stützpunkte Sewastopol, Odessa,
Novorossisk und Feodosia am frühen Morgen des 29. Oktober 1914, einige
Hafenanlagen wurden in Brand geschossen, mehrere Dampfer und ein russisches
Kanonenboot versenkt, weitere beschädigt. Obwohl die unmittelbare Feuerwirkung
beeindruckend schien, blieben dem Angriff entscheidende Erfolge versagt, denn kein
Hafen wurde unbrauchbar, keine Schiffe wurden getroffen, die entscheidend für die
Kampfkraft der russischen Flotte gewesen wären.796
794
Barker, Neglected War 1967, S. 455f. Erickson, Ordered to Die 2001, S. 203f.
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 108.
796
Vgl. hierzu: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 37 und Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S.
109.
795
200
Die Marine hatte den Vorteil der Überraschung verspielt, dafür jedoch die
Kriegserklärungen der Entente und Russlands erreicht. Die Aktionsmöglichkeiten
blieben beschränkt, umgeben von stärkeren Seestreitkräften der Gegner. Mehr noch,
nach den Angriffen auf die russischen Häfen hatte sich Admiral Souchon, der
Befehlshaber der osmanischen Flotte, ein genaueres Bild von den Fähigkeiten und
Schwächen der Verbände machen können. Sofort nach dem Einlaufen des
Flaggschiffs „Yavuz Sultan Selim“ („Goeben“) am 7. November überreichte Souchon
seinen Erfahrungsbericht Enver Pascha. Die Hauptaufgabe der Flotte sollte nun die
Verteidigung der Meerengen sein. Daneben hatte sie Materialtransporte – besonders
Kohlelieferungen – entlang der osmanischen Schwarzmeerküste zu sichern. Offensive
Aufgaben gegen die Marineverbände der Gegner oder auch erneute Angriffe auf
deren
Häfen
wurden
ausgeschlossen.
Aufgrund
der
materiellen
und
ausbildungstechnischen Unterlegenheit der türkischen Schiffe hätte ein direkter
Kampf gegen die Kriegsschiffe unter dem Andreaskreuz „die sichere Vernichtung
der türkischen Flotte ohne nennenswerte Schädigung des Feindes“ bedeutet.797
Diese „Selbstbeschränkung“ der osmanischen Marine blieb weitgehend während des
gesamten Krieges bestehen und so kam es auch nicht zu bedeutsamen Seeschlachten
zwischen großen Flottenverbänden.798 Die Tätigkeiten in den verbleibenden Wochen
des Jahres 1914 bestanden im erwähnten Geleitschutz für die Kohlentransporte aus
Sunguldak799, Bewachung des Bosporus gegen mögliche russische Angriffe sowie
Schutz und Verminung der Dardanellen gegen britische Durchbruchsversuche. Eher
zufällig kam es am 18. November 1914 zu einem kurzen Schußwechsel zwischen den
beiden deutsch-türkischen Schiffen und der russischen Flotte.800 Aufgrund schlechter
Sichtverhältnisse wurden die Kampfhandlungen zwar nach wenigen Minuten wieder
797
Lorey, Krieg I, 1928, S. 62.
Ähnliches läßt sich allerdings auch für die übrigen kriegführenden Parteien konstatieren, denn – mit
Ausnahme der Skagerrakschlacht (1916) – vermieden auch diese eine entscheidende Seeschlacht.
Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 170.
799
Ort an der türkischen Schwarzmeer-Küste, ca. 200 Kilometer östlich von Konstantinopel gelegen.
800
Die Zahl der russischen Schiffe wird nicht genannt. In der deutschen Literatur wird von einem
Treffen mit der „gesamten russischen Flotte“ gesprochen. Larcher hingegen spricht nur vom
aufeinandertreffen der beiden Flaggschiffe. Vgl. Lorey, Krieg I, 1928, S. 65, Neulen, Feldgrau in
Jerusalem 2002, S. 41 und Larcher, La Guerre Turque 1926, S. 183.
798
201
eingestellt, jedoch erhielt die „Yavuz-Goeben“ einen Treffer.801 Dieser Treffer, der
eigentlich keinen kritischen Schaden verursachte, sollte sich in Verbindung mit den
Beschädigungen, die das Schiff durch einen Minentreffer noch am 26.12. vor dem
Bosporus erlitt, als verhängnisvoll erweisen. Da keine Werftanlagen vorhanden
waren, die den 186 Meter langen Panzerkreuzer aufnehmen konnten, mußten die
Techniker Verfahren improvisieren, um das Schiff wieder instand zu setzen. Dadurch
war das Flaggschiff der türkischen Flotte – mit einer kurzen Unterbrechung – bis
Ende April 1915 nicht einsatzbereit.802
Ebenfalls Ende des Jahres 1914 hatte die osmanische Marineleitung die ersten
Totalverluste an Kampffahrzeugen zu beklagen. So ging nach einem Kanonenboot
und zwei Minenlegern am 13.12.1914 auch das 1874 in London vom Stapel
gelaufenen
Zentralbatteriepanzerschiff
Torpedotreffer verloren.
803
„Messudieh“
durch
einen
britischen
Da das altersschwache Schiff als schwimmende
Geschützbatterie den Küstenschutz unterstützte, war es im seichten Gewässer an
einem Kai festgemacht, so daß die Verluste „nur“ 37 Mann betrugen.804
Die Verluste der Marine waren trotz des eingeschränkten Aufgabenspektrums hoch.
Bis Ende des Jahres hatte sie das Linienschiff „Haireddin Barbarossa“ (vormals
„S.M.S. Kurfürst Friedrich Wilhelm“), den Geschützten Kreuzer „Medschidie“, zwei
Zerstörer, zwei Torpedoboote und mehr als ein halbes Dutzend kleinerer Boote
verloren.805 Die Totalverluste machten somit 40% vom Gesamtbestand vor
Kriegsausbruch aus. Der überwiegende Teil der Verluste wurde durch Minen und UBoote verursacht. Besonders während der Kämpfe um die Dardanellen gelang es
britischen Booten, in das Marmarameer einzudringen und dort die Transporte für die
801
Die Personalverluste auf russischer Seite sollen 33 Tote und 35 Verwundete, auf deutscher Seite 12
Mann und eine nicht genannte Zahl an Rauchvergiftung gestorbener Seeleute betragen haben. Lorey,
Krieg I, 1928, S. 65.
802
Mitte März machte es die Lage erforderlich, das Schiff noch vor dem Abschluß der
Reparaturarbeiten für einen Einsatz ins Schwarze Meer auslaufen zu lassen. Danach wurden die
Arbeiten fortgesetzt. Eine detaillierte Schilderung der aufwendigen Arbeiten bietet Lorey, Krieg I,
1928, S. 408-413.
803
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 280f. Römer, Militärhilfe 2007, S. 380.
804
Lorey, Krieg I, 1928, S. 69f. Zu den technischen Daten dieses und der weiteren größeren Schiffe
der türkischen Seestreitkräfte: Ebd., S. 33f.
805
Allein beim Untergang der Haireddin Barbarossa kamen 253 Mann ums Leben. Dabei handelte es
sich ausschließlich um türkische Besatzungsmitglieder, während der deutsche Teil der Besatzung
gerettet werden konnte. Lorey, Krieg I, 1928, S. 185. Eine Liste der Schiffsverluste bei: Neulen,
Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 280ff.
202
türkischen Verteidiger und die zu ihrer Bedeckung abgestellten Marineeinheiten zu
torpedieren. Obwohl die Erfolge dieser Angriffe überraschend gering blieben, reichte
doch das bloße Erscheinen der U-Boote aus, um auf den türkischen Transportschiffen
Panik zu verursachen, zumal die Begleitfahrzeuge kaum über geeignete
Abwehrmaßnahmen verfügten und lediglich ihre Geschütze einsetzen konnten.806
Außer für Geleitschutzaufgaben wurden auch Schiffe zur Feuerunterstützung der
türkischen Infanterie während der Abwehrkämpfe um Gallipoli herangezogen. Die
älteren Linienschiffe versuchten durch indirektes Feuer auf die Stellungen der Briten
und Franzosen zu wirken, erzielten jedoch keine nennenswerten Erfolge, da die
gegnerische Schiffsartillerie qualitativ und quantitativ überlegen war.807
Größere Erfolge konnten hingegen die türkischen Torpedoboote aufweisen. So gelang
es, einige U-Boot der Entente aufzubringen oder zu versenken.808 Das Torpedoboot
„Muavenet-i-Millije” erzielte den wohl bedeutendsten militärischen Erfolg der
osmanischen Seestreitkräfte, als es in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 1915 durch
Torpedobeschuß das englische Linienschiff „Goliath“ versenkte.809 Der türkische
Kommandant
des
Bootes
Kapitänleutnant
Achmed
und
der
deutsche
Halbflottillenchef Kapitänleutnant Firle, der sich mit an Bord befand und de facto das
Kommando führte, wurden von der türkischen Öffentlichkeit als Helden gefeiert.810
Bereits ab dem Sommer 1915 machte sich der Mangel an Kohle im Osmanischen
Reich bemerkbar. Die einzigen umfangreich erschlossenen Kohlenminen lagen im
Gebiet um Sunguldak. Die Kohle mußte von dort auf dem Seewege nach
Konstantinopel gebracht werden.811 Kohle trieb zu jener Zeit die Eisenbahnen an und
war, obwohl es bereits mit Öl betriebene Schiffe gab, der wichtigste Treibstoff für die
osmanische Flotte. Während die Eisenbahnen vielerorts und besonders an den
entfernten Fronten in Palästina bald notdürftig mit Brennholz betrieben wurden,
806
Zum U-Bootkrieg im Marmarameer siehe: Lorey, Krieg I, 1928, S. 113-118.
Ebd., S. 119f.
808
Besonderes Aufsehen erregte beispielsweise die Erbeutung des französischen U-Bootes
„Turquoise“, da bei der Gefangennahme der Besatzung wichtige Geheimunterlagen über englische UBoot-Treffpunkte im Marmarameer gefunden wurden, mit deren Hilfe schließlich das U-Boot „E 20“
versenkt werden konnte. Lorey, Krieg I, 1928, S. 198-201.
809
Die „Goliath“ war ein älteres Schiff (Stapellauf 1898), das zu der Flotte gehörte, die
Feuerunterstützung für die Invasionstruppen auf der Gallipoli-Halbinsel lieferte. Von den 700 Mann
Besatzung gingen 570 Mann mitsamt dem Schiff unter. Lorey, Krieg I, 1928, S. 144.
810
Zu Kapitänleutnant Firle und der „Muavenet“ siehe auch unten, S. 290.
811
Lorey, Krieg I, 1928, S. 134.
807
203
bestand eine solche Möglichkeit für die Schiffe nicht. Der Verbrauch der Schiffe war
zudem sehr hoch und die wenigen Vorräte gingen schon bald zur Neige. Zu allem
Überfluß verbrauchten ja auch die Transportdampfer, die die Kohle über das
Schwarze Meer anlieferten, den kostbaren Brennstoff. Dazu kamen Verluste durch
russische Überfälle auf die Versorgungslinien, die neben der Kohle auch wertvolle,
weil nur beschränkt verfügbare Frachtkapazitäten vernichteten.812 Die „YavuzGoeben“ konnte Mitte 1915 aufgrund des akuten Brennstoffmangels zeitweilig
überhaupt keine Einsätze fahren.813 Die vordringliche Aufgabe für die türkischen
Kriegsschiffe wurde daher der Geleitschutz für die Kohlentransporte, für den sie
allerdings ebenfalls einen nicht unwesentlichen Teil des knappen Rohstoffes
verbrauchten. Zudem setzten sich die Schiffe stets der Gefahr eines Angriff
überlegener russischer Verbände aus.814 Erst mit dem Kriegseintritt Bulgariens und
der Öffnung des Landweges an den Bosporus konnten deutsche Kohlentransporte auf
dem Schienenwege die angespannte Versorgungslage in begrenztem Maße
entschärfen. Monatlich wurden etwa 12.000 bis 14.000 Tonnen Kohle nach
Konstantinopel geliefert. Allerdings konnten sie den Bedarf nicht decken, da der
Verbrauch der Flotte mehr als das Doppelte betrug. Die Lieferungen aus Sunguldak
und die damit verbundenen Geleitschutzaufgaben für die Marine blieben daher weiter
wichtige Aufgabe.815
Bis zum Waffenstillstand mit Russland am 15./16. Dezember 1917 änderte sich
wenig. Vereinzelte Begegnungen mit russischen Schiffen oder erfolglose Vorstöße
gegen russische Häfen waren Ausnahmen.
Einige Monate zuvor, im September 1917, war Admiral Souchon nach Deutschland
abberufen worden, wo er das Kommando über das vierte Geschwader der deutschen
Hochseeflotte übernahm. Sein Nachfolger wurde Vizeadmiral von RebeurPaschwitz.816
812
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 110.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 43.
814
Ebd., S. 43f.
815
Vgl. zu den Lieferungen: Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 111 und Neulen, Feldgrau in
Jerusalem 2002, S. 44.
816
Groß, Gerhard Paul: Die Seekriegführung der kaiserlichen Marine im Jahre 1918, Frankfurt am
Main (u.a.) 1989, S. 23. (Im Folgenden: Groß, Seekriegführung 1989.)
813
204
Im Januar 1918 beschloß die Marineführung, offenbar auf Initiative des deutschen
Vizeadmirals von Rebeur-Paschwitz, einen Angriff auf die von den Briten als Basis
genutzte Mittelmeerinsel Imbros (heute Gökçeada) durchzuführen, die kaum 20 km
westlich der Gallipoli-Halbinsel liegt.817 Für diese Unternehmung war ein Verband
aus den beiden deutsch-türkischen Schiffen „Yavuz-Goeben“ und „Midilli-Breslau“,
4 Torpedobooten sowie einem deutschen U-Boot vorgesehen, der am 20. Januar 1918
aus den Dardanellen auslief.818 Das Unternehmen endete jedoch in einem Fiasko.
Schon vor Erreichen des Ziels wurde die „Yavuz-Goeben“ von einer Mine getroffen,
die aber noch keinen größeren Schaden anrichtete. Vor Imbros angekommen,
versenkte der Flottenverband nach kurzem Feuergefecht zwei ankernde britische
Monitore und zerstörte einige Hafenanlagen durch Beschuß. Auf der Rückfahrt lief
die „Midilli-Breslau“ auf eine Mine, wodurch das Schiff manövrierunfähig wurde.
Gefangen in einem britischen Minenfeld, führten Versuche, das Schiff durch
Rückwärtsfahren zu befreien lediglich zu insgesamt drei weiteren Minentreffern, die
schließlich im Untergang des Geschützten Kreuzers mündeten. Die anderen
Fahrzeuge des Verbandes konnten den Schiffbrüchigen nicht helfen, da britische
Zerstörer, Flieger und nicht zuletzt das Minenfeld selbst eine Rettung zu riskant
machten. Die „Yavuz-Goeben“ wurde bei einem Rettungsversuch durch einen
weiteren Minentreffer stark beschädigt.
Erst anderthalb Stunden später wurden 162 Mann der ursprünglich 323 Mann starken
Besatzung durch britische Zerstörer gerettet.819
Unterdessen fuhren die verbliebenen Schiffe des türkischen Verbandes in Richtung
Dardanellen, wo die „Yavuz-Goeben“ in der Nähe des ersten Minentreffers mit einer
weiteren Mine kollidierte. Schwer angeschlagen schleppte sich das Schiff in die
Meerengen und zwischen den eigenen Minensperren durch, wo es kurz vor dem
Einlaufen in das Marmarameer auf eine Sandbank lief, von der es sich aus eigener
817
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 234.
Lorey, Krieg I, 1928, S. 333.
819
Neulen gibt eine Verlustzahl von 330 Mann an. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 49. Laut
Lorey und Hüner betrug die Besatzung des Schiffes 1914 jedoch nur knapp über 320 Mann. Die
angespannte Personallage und die Tatsache, daß es sich nicht um ein Landungsunternehmen handelte,
das eine erhöhte Truppenpräsenz an Bord gefordert hätte, machen diese Zahl wahrscheinlicher. Vgl.
Lorey, Krieg I, 1928, S. 2 u. S. 338 und Hüner, Hans: Unter zwei Flaggen – Die Lebens und
Kampfgeschichte der S.M.S. „Breslau-Midilli”. Selbsterlebtes an Bord des Kreuzers nach
Tagebuchblättern und Ergänzungen, Potsdam 1930, S. 265-268. (Im Folgenden: Hüner, unter zwei
Flaggen 1930.)
818
205
Kraft nicht mehr zu befreien vermochte. Erst sechs Tage später konnte der
Panzerkreuzer mit Hilfe des Linienschiffes „Torgut Reis“ freigeschleppt werden.820
Nach dem Untergang der „Midilli-Breslau“ besaßen die osmanischen Seestreitkräfte
nur noch ein verhältnismäßig modernes und kriegstaugliches Schiff, das allerdings
durch die drei Minentreffer erheblich beschädigt war. Das gefährdete die
Einsatzfähigkeit der gesamten Flotte. Zum Glück für die osmanische Seite stellte das
beschriebene Unternehmen jedoch den letzten Kampfeinsatz der Kriegsmarine dar.
Im Schwarzen Meer waren die russischen Schiffe nach dem Friedensvertrag keine
Bedrohung mehr und die Westmächte unternahmen keine weiteren Versuche, die
Meerengen zu forcieren.
Die Tätigkeiten der türkischen Marine beschränkten sich jedoch nicht nur auf
Operationen mit großen Überwasserstreitkräften. Marineeinheiten und damit auch
deutsche Soldaten waren noch in weiteren wichtigen „Nebenbereichen“ tätig.
Als im Mai 1915 britische und französische Truppen an den Dardanellen landeten,
trafen sie nicht nur auf Verteidiger des türkischen Heeres, sondern auch auf Einheiten
des sogenannten „Sonderkommandos Meerengen“. Bereits kurz nach dem Einlaufen
der beiden deutschen Schiffe im Jahre 1914 hatte Admiral Souchon die Entsendung
deutscher Marinesoldaten und Experten für die Küstenverteidigung beantragt. Sie
sollten die Verteidigungsanlagen und Minensperren der Dardanellen ausbauen. Zum
Befehlshaber dieses „Sonderkommandos“, das bereits Ende August 1914 seinen
Dienst antrat, wurde der deutsche Admiral à la suite Guido von Usedom ernannt.821
Der Admiral verfügte zunächst über etwa 500 deutsche Soldaten. Bis zum Jahre 1918
stieg ihre Zahl auf 948 Mann an.822 Auch wenn ein Ausbau der Festungen zu
modernen Anlagen illusorisch war, so hat dieses „Sonderkommando Meerengen“
doch für die effektive Verminung der Meerengen gesorgt, die dem britischfranzösischen Durchbruchversuch im März 1915 zum Verhängnis werden sollte.
Ebenso wurde die artilleristische Ausbildung der türkischen Festungstruppen
820
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 49. Zu einem detaillierten Bericht über diese Unternehmung
siehe: Lorey, Krieg I, 1928, S. 330-342.
821
Lorey, Hermann: Der Krieg in den türkischen Gewässern, Zweiter Band: Der Kampf um die
Meerengen, Berlin 1938, S. 4. (Im Folgenden: Lorey Krieg II, 1938.)
822
Erickson, Strength Against Weakness 2001, S. 991. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S.
236.
206
verbessert, auch wenn das überwiegend veraltete Material kaum größere
Waffenerfolge erlaubte. Neben unmittelbaren militärischen Auswirkungen hatte der
neue Kommandobereich aber auch noch viel weitreichendere Folgen. Admiral von
Usedom besaß als Befehlshaber der Dardanellenfestungen nämlich, ebenso wie
Admiral Souchon, das Immediatrecht und konnte sich mit Eingaben und Berichten
direkt an den Deutschen Kaiser wenden.823 Auf die Problematik dieses Sonderrechtes
wird an späterer Stelle noch einmal einzugehen sein.824
Weiter stellten die Marineverbände im Zuge der Dardanellenverteidigung unmittelbar
nach
der
alliierten
Landung
1915
hauptsächlich
mit
Maschinengewehren
ausgestattetes Personal zur Unterstützung der Landstreitkräfte ab. Auf Anfrage des
Marschalls Liman von Sanders Pascha wurden am 2. Mai 44 deutsche
Marinesoldaten und 8 Maschinengewehre (M.G.) von den beiden deutsch-türkischen
Schiffen entsandt. Dieses Detachement kam mit den Beobachtern für das indirekt
Schießen der Marineartillerie zur „Landungsabteilung der Flotte“ unter dem Befehl
des Korvettenkapitäns Rohde.825 Durch verschiedene Widrigkeiten hatte die
„Maschinengewehr-Abteilung“ allerdings hohe Verluste an Personal und Material zu
beklagen und nach nur einer Woche waren von den ursprünglich 44 Soldaten nur
noch 7 Mann einsatzbereit.826 Ersatzmannschaften konnten die Lücken notdürftig
füllen, aber die harten Kämpfe machten in absehbarer Zeit eine Verstärkung
notwendig, zumal nur 2 Maschinengewehre funktionstüchtig geblieben waren. So
wurde am 27. Juli 1915 eine neue Abteilung mit 3 Offizieren, 150 Mannschaften und
12 M.G. an die Dardanellenfront geschickt. Diese Truppen kamen rechtzeitig, um bei
den neuen Landungen in der Suvla-Bucht und den damit verbundenen Offensiven an
den anderen Fronten in die Kämpfe einzugreifen. Die Einheiten wurden auf die
Fronten verteilt und erlitten während der Kämpfe zum Teil erhebliche Verluste, die
einer Zerschlagung gleichkamen. So wurden im Bereich der Suvla-Bucht 4 M.G. und
16 Mann eingesetzt, von denen bereits in der ersten Nacht der Landung (7./8. August)
2 M.G. ausgefallen und 11 Mann getötet, verwundet oder vemißt waren. An anderen
823
Lorey Krieg II, 1938, S. 10.
Siehe unten, S. 374f.
825
Lorey, Krieg I, 1928, S. 123.
826
Ebd., S. 125.
824
207
Frontabschnitten zeigte der Einsatz der M.G.-Abteilung der Marine hingegen einige
Erfolge für die Verteidiger, etwa im Bereich von Ari Burnu.827
Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Verteidigung der Dardanellen leistete Kapitän
zur See Pieper, der mit der Steigerung der Munitionsproduktion im Raum
Konstantinopel beauftragt war. Zu diesem Zwecke erhielt der Kapitän aufgrund der
Mängel beim türkischen Material und Personal im Laufe der Kämpfe insgesamt fast
800 Mann deutsches Personal, darunter 74 Fachoffiziere, Ingenieure, Beamte und
Chemiker.828 Die Qualität der Munition, die in den neuen Fabriken produziert wurde,
bot jedoch Anlaß zur Kritik. Liman von Sanders bekam zahlreiche Rückmeldungen
über die schlechte Munitionsqualität und errechnete daraus, daß von 20 Geschossen
durchschnittlich nur eines kein „Blindgänger“ gewesen sei.829
Außer an den Meerengen und im Schwarzen Meer wurden Marinesoldaten auch noch
in den weiter entfernten Provinzen Syrien und Mesopotamien eingesetzt. Aufgrund
der klaren Überlegenheit der britischen und französischen Mittelmeerverbände
beschränkte sich die Tätigkeit in Syrien allerdings auf die Errichtung und den Betrieb
von Funk-Telegraphen-Stationen (FT-Stationen) und einer U-Boot-Station in
Beirut.830 Von größerer Bedeutung war die Bildung der „Euphrat-Flußabteilung“ der
Marine im Januar 1916. Hauptaufgabe dieser Abteilung war die Sicherstellung der
Versorgung der 6. Armee an der Mesopotamienfront. Aufgrund der schlechten
Bahnverbindungen und der großen Entfernungen im Südosten des Osmanischen
Reiches bildeten die Flüsse Euphrat und Tigris die einzigen verhältnismäßig sicheren
und raschen Transportwege.831 Die Abteilung sollte die vorhandenen simplen
827
Zu den Kämpfen im August 1915 siehe: Ebd. S. 127f.
Lorey, Krieg I, 1928, S. 387.
829
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 99. Die Vorwürfe Limans führten zu scharfen Protesten des
Kapitäns Pieper, der die Schuld für die mangelnde Qualität der Munition allein in den unzureichenden
Ressourcen und mangelhaft ausgebildeten türkischen Personal sah:
„Türkische Fachoffiziere – Feuerwerks- und Zeugoffiziere – gab es leider nicht.
Es ist dem Kapitän zur See wiederholt schriftlich und mündlich mitgeteilt worden, daß die
ungeschulten Offiziere in der Hauptetappe trotz klarster Bezeichnung der Kisten sehr häufig falsche
Zünder an die Batterien geleitet hätten.“
Bericht des türkischen Generalmajors Pieper Pascha über seine Erfarhungen beim Osmanischen
Waffenamt, BAMA Freiburg, MSg 1/ 1932, [o. S.].
830
Groß, Seekriegführung 1989, S. 24.
831
Lorey, Krieg I, 1928, S. 254f.
828
208
Flußboote,
sogenannte
„Scharture“832,
erfassen
und
einen
regelmäßigen
Versorgungsbetrieb organisieren sowie eine Werft errichten. Diese Werft wurde im
Februar/März 1916 in Djerabulus (heute Dscharabulus/Carablus), etwa 100 Kilometer
nordöstlich von Aleppo, errichtet und produzierte später 7 bis 8 Boote pro Tag, wenn
das notwendige Material zeitgerecht herangeschafft werden konnte.833 Bereits Ende
März wurden aus Konstantinopel drei Motorboote nachgeschickt, die einen
wesentlich zügigeren Transport erlaubten, aber unter Brennstoffmangel litten, da
Betriebsstoffe auf dem ohnehin überlasteten Schienenwege nur unzureichend
herangeführt werden konnten.834 Im Sommer 1916 wurde der Großteil der Deutschen
vom Euphrat abberufen, nachdem sich die Transporte stabilisiert hatten. Ein Jahr
später verstärkte man die Euphrat-Flußabteilung jedoch wieder und stellte ein
weiteres Detachement für den Tigris bereit, da General von Falkenhayn als Führer der
Heeresgruppe F die Nachschubwege für das Unternehmen „Yildirim“ gesichert
wissen wollte.835 Die Boote wurden nun mit 6cm Bootskanonen oder 10,5cm
Schnellfeuerkanonen sowie mit M.G. ausgerüstet, um die Transporte gegen
Übergriffe von Räubern schützen oder Feuerunterstützung bei Kämpfen in Flußnähe
leisten zu können.836 Die Sollstärke der Euphrat-Flußabteilung betrug jetzt 430-500
Mann, wobei die tatsächliche Stärke aber nicht bekannt ist.837 Taktisch unterstand die
Euphratgruppe dem Heeresgruppenkommando, blieb ansonsten aber in allen
Belangen dem Marinehauptquartier in Konstantinopel unterstellt, während die
wesentlich kleinere Tigrisgruppe der 6. osmanischen Armee taktisch und
disziplinarrechtlich der Euphrat-Flußabteilung zugeordnet war.838 Diese Regelung
832
Dabei handelte es sich um etwa 7m lange und 2m breite Holzkähne, die aus groben Brettern und
Pappelstäben zusammengenagelt wurden. Lorey, Krieg I, 1928, S. 418. Zuweilen werden dies Boote
auch als „Schachture“ bezeichnet. Sie konnten Güter bis zu einem Gewicht von 12 Tonnen befördern.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 214.
833
Lorey, Krieg I, 1928, S. 256.
834
Lorey, Krieg I, 1928, S. 258.
835
Groß, Seekriegführung 1989, S. 26.
836
Lorey, Krieg I, 1928, S. 351ff.
837
Groß, Seekriegführung 1989, S. 445, Anm. 7.
838
Lorey, Krieg I, 1928, S. 351. Groß, Seekriegführung 1989, S. 28. Die Tigrisgruppe besaß nur ein
einziges bewaffnetes Motorboot, während die Euphratgruppe über 3-4 Motorboote und 8 bewaffnete
Scharture verfügen konnte. Zudem dienten auf dem Tigris nicht Scharture als Transportmittel, sondern
hauptsächlich Keleks, also kleine Flöße, die aus Ziegenblasen und Tierhäuten zusammengenäht
wurden. Groß, Seekriegführung 1989, S. 445. Anm. 8, Anm. 13 u. Anm. 14. Neumann, Luftstreitkräfte
im Weltkriege 1920, S. 534f. Je nach Größe konnten Keleks bis zu 10 Tonnen Nutzlast transportieren.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 214.
209
war für einen reibungslosen Befehlsweg wenig geeignet, obwohl ernstere Friktionen
nicht bekannt sind.
Ihren Wert bewiesen diese Flußabteilungen hauptsächlich beim Transport von
Personal und Material und weniger bei der Kampfunterstützung. Besonders die
Tigrisgruppe wurde infolge des britischen Vormarsches und der schlechter
werdenden Etappenlinien zu Lande zu einem wichtigen Faktor bei der Versorgung
der 6. Armee.839 Als im März 1918 britische Truppen in Mesopotamien immer weiter
nach Norden vorstießen, mußte auch die Euphratgruppe ernste Verluste hinnehmen.
In der Folge bemühte man sich, die Abteilung an türkisches Personal zu übergeben,
das zuvor notdürftig von den Deutschen am Gerät ausgebildet wurde. Am 20. Juni
1918 berief man den Großteil der Euphrat-Flußabteilung zurück nach Konstantinopel
und am 20. September wurden die Reste der Abteilung in Djerabulus endgültig
aufgelöst.840
Schließlich müssen an dieser Stelle noch die im Verbund mit der osmanischen
Marine eingesetzten U-Boote kurz angesprochen werden. Während des Ersten
Weltkrieges operierten 15 deutsche U-Boote in diesem Gebiet mit unterschiedlichen
Erfolgen. Das wohl bekannteste von ihnen war „U 21“ unter dem damaligen
Kapitänleutnant Otto Hersing, das Ende Mai 1915 die beiden britischen Linienschiffe
„Triumph“ und „Majestic“ vor den Dardanellen versenken konnte.841 Obwohl die UBoote demnach eine recht bedeutende Rolle für die Seekriegführung in türkischen
Gewässern spielten, hatten sie kaum eine praktische Auswirkung auf die deutschtürkische Zusammenarbeit. Die Boote unterstanden nämlich deutschem Kommando
und eine Durchmischung mit türkischen Marineangehörigen, wie etwa an Bord der
Kreuzer, fand nicht statt. Dies hatte vor allem praktische Gründe, denn die
osmanische Marine verfügte über keine nennenswerte Erfahrung im Einsatz von UBooten. Da jedes U-Boot dringend für den Kampf benötigt wurde, konnte in der Enge
der Boote eine Ausbildung im Gefechtsdienst nicht stattfinden. Das einzige
modernere Tauchboot, das in türkischen Besitz gelangte, war das französische
Unterseeboot „Turquoise“, das im November 1915 aufgebracht wurde. Es befand sich
839
Lorey, Krieg I, 1928, S. 354.
Lorey, Krieg I, 1928, S. 356f. Groß, Seekriegführung 1989, S. 35.
841
Lorey, Krieg I, 1928, S. 151-155.
840
210
allerdings in einem extrem kläglichen Zustand und die vorhandenen Mittel in
Konstantinopel erlaubten es nicht, das Boot wieder gefechtsklar zu machen.
Stattdessen wurde die „Turquoise“ in „Müstedschib Onbaschi“842 umbenannt und als
Batterie-Ladestation für die deutschen Boote genutzt. Von deutscher Seite lassen sich
keinerlei Bemühungen nachweisen, osmanische Seeleute zumindest in der
Handhabung dieses U-Bootes zu unterweisen. Ob die Kriegsumstände keine
Ausbildung erlaubten oder ob die deutsche Marine kein Interesse daran hatte, dem
Verbündeten das nötige Wissen zu vermitteln, läßt sich nicht mit Gewißheit
beurteilen. Fest steht aber, daß die türkische Marine versuchte, sich das fehlende
Wissen selbst anzueignen. Hermann Lorey faßt diesen Versuch lapidar zusammen:
„Nach dem Kriege haben die Türken das Boot auf eigene Faust instand gesetzt, und
es ist dann auf der ersten Fahrt mit der ganzen Besatzung untergegangen.“ 843
e) Die Fliegertruppe844
Bereits in den Balkankriegen hatte die osmanische Armee Erfahrungen mit
Flugzeugen sammeln können. Sogar zwei deutsche Flieger fanden dort kurzfristig
Verwendung, mußten jedoch bald auf Einsätze verzichten, da die Maschinen
aufgrund der fehlenden Ersatzteile unbrauchbar wurden.845 Nach dem Ende der
Balkankriege bemühte sich Enver Pascha um den Aufbau einer modernen
Fliegertruppe und stellte hierfür im Juli 1914 einen französischen Instruktionsoffizier
an. Ohne verständlicherweise in kürzester Zeit Erfolge erzielen zu können, mußte
842
Angeblich soll das der Name des türkischen Gefreiten sein, der die französische Besatzung mit
einem Artillerietreffer zur Aufgabe veranlaßt hatte. Lorey, Krieg I, 1928, S. 415.
843
Lorey, Krieg I, 1928, S. 416.
844
Die zeitgenössische, offizielle Bezeichnung lautet „Fliegertruppe“. Ebenso wird das Personal als
„Angehörige der Fliegertruppe“ und werden die Piloten schlicht als „Flieger“ bezeichnet. Der Begriff
„Luftwaffe“ impliziert eine eigene Teilstreitkraft und entstand daher erst nach dem Kriege. Siehe
hierzu auch: Kriegswissenschaftliche Abteilung der Luftwaffe [Bearb.]: Die Militärluftfahrt bis zum
Beginn des Weltkrieges 1914 – Textband, Berlin 1941, S. 181-183. (Im Folgenden: Kriegswiss. Abt.
Lw., Militärluftfahrt - Textband 1941.)
845
Außer den Nachnamen Jahnow und Rentzell liegen keine Informationen über diese Piloten vor.
Kriegswiss. Abt. Lw., Militärluftfahrt - Textband 1941, S. 575.
211
dieser, ähnlich der britischen Marinemission, kurz nach dem Kriegseintritt der Türkei
das Land verlassen.846
Die Fliegerei steckte sozusagen „noch in den Kinderschuhen“ und der türkische
Generalstab hatte sich über Einsatzgrundsätze oder Gliederung kaum Gedanken
gemacht, besaß aber auch gar nicht die finanziellen Mittel, um den Aufbau der
Fliegertruppe vorantreiben zu können. Mit diesem Problem stand das Osmanische
Reich jedoch keinesfalls allein, denn auch in Deutschland war die Bedeutung des
Flugzeuges verhältnismäßig spät entdeckt worden, und erst ab 1910 hatte dort eine
stärkere Förderung der Militärluftfahrt begonnen.847
Mehr noch als die Marine war die Fliegertruppe eine in höchstem Maße technische
Waffengattung, die moderne Werkstätten, Betriebsstoffe, Ersatzteile und speziell
ausgebildetes
Flug-
und
Bodenpersonal
benötigte.
Samt
und
sonders
Vorraussetzungen, die das Osmanische Reich 1914 nicht erfüllen konnte. Die
wenigen vorhandenen Maschinen waren – ähnlich den Fliegerkräften in den
europäischen Staaten – nicht in einer eigenständigen Luftwaffe organisiert, sondern
unterstanden der jeweiligen Armee in ihrem Stationierungsraum, die sie mit
Aufklärungsergebnissen zu unterstützen hatten. Für die Logistik war hingegen der
türkische Generalstab in Konstantinopel zuständig.848
Die osmanische Militär-
Fliegerei war zu Kriegsbeginn demnach nicht als eigenständige Waffengattung
organisiert. Auch hier bestand Ähnlichkeit mit den europäischen Verhältnissen,
während dort jedoch das erkannte Potential ausgebaut werden konnte, verfügte das
846
Kriegswiss. Abt. Lw., Militärluftfahrt - Textband 1941, S. 576. Berücksichtigt man die besonderen
Umstände im Osmanischen Reich, sind die Schuldzuweisungen von deutscher Seite, Frankreich wäre
für den schlechten Zustand der osmanischen Fliegertruppe verantwortlich, schon aufgrund des kurzen
Aufenthaltes des französischen Instrukteurs mehr als unbegründet. Hierzu: Neumann, Georg Paul
[Hrsg.]: Die deutschen Luftstreitkräfte im Weltkriege, Berlin 1920, S. 517. (Im Folgenden: Neumann,
Lutstreitkräfte im Weltkriege 1920.) Erickson, Ordered to Die 2001, S. 227.
847
Auch im Deutschen Reich spielten die hohen Kosten für Flugzeuge eine wichtige Rolle bei den
Überlegungen zum Aufbau einer Militärluftfahrt. Daneben fehlten aber auch die Personalreserven,
namentlich die Offiziere, um die notwendigen Stellen besetzen zu können. Hoeppner, Ernst von:
Deutschlands Krieg in der Luft – Ein Rückblick auf die Entwicklung und die Leistungen unserer
Heeres-Luftstreitkräfte im Weltkriege, Leipzig 1921, S. 2f. (Im Folgenden: Hoeppner, Krieg in der
Luft 1921.) Braun, Hans-Joachim: Krieg der Ingenieure? Technik und Luftkrieg 1914 bis 1945, in:
Thoß, Bruno/Volkmann, Hans-Erich (Hgg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich,
Paderborn (u.a.) 2002, S. 195f. Erst als sich ein deutlicher Vorsprung des potentiellen Gegners
Frankreich abzeichnete, wurden die Bemühungen um ein militärisches Flugwesen deutlich erhöht.
Storz, Kriegsbild 1992, S. 348. Neitzel, Sönke: Zum strategischen Mißerfolg verdammt? Die
deutschen Luftstreitkräfte in beiden Weltkriegen, in: Thoß, Bruno/Volkmann, Hans-Erich (Hgg.):
Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn (u.a.) 2002, S. 168ff.
848
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 227.
212
Osmanische Reich über kein eigenes Personal oder Material zum Ausbau. Auf eine
Anfrage von Enver Pascha Ende 1914 wurde daher der deutsche Oberleutnant Erich
Serno von Berlin mit der Organisation einer türkischen Fliegertruppe beauftragt. Er
sollte zusammen mit 12 deutschen Zivilpiloten, 32 Mann zivilem Bodenpersonal und
24 Albatros Beobachtungsflugzeugen – von denen zunächst nur die Hälfte zur
Verfügung
gestellt
werden
konnte
–
die
Keimzelle
der
neuzubildenden
Luftstreitkräfte bilden. Bereits der Transport nach Konstantinopel bereitete größere
Schwierigkeiten, da die Bahnlinien durch die noch neutralen Balkanstaaten führten.
Um eine Beschlagnahme durch die Behörden zu verhindern, wurden die Maschinen
in Einzeltransporten, jeweils in Begleitung eines Piloten und eines Mechanikers,
deklariert als „Zirkusgerät“ oder „Rote-Kreuz-Sendung“ an den Bosporus
geschmuggelt.849 Als erste Basis diente das 25 Kilometer westlich von
Konstantinopel gelegene Flugfeld bei San Stefano, das bereits in den Balkankriegen
Verwendung gefunden hatte.850 Im Januar 1915 wurde Serno als türkischer
Hauptmann eingestellt. Es dauerte allerdings bis Mitte März, die ersten drei
deutschen Flugzeuge in das Osmanische Reich zu transportieren.851 Drei weitere
Maschinen wurden während des Transportes durch Bulgarien und Rumänien
beschlagnahmt.852 Auch der Transport von Fliegerbomben gestaltete sich schwierig.
Sie wurden in mit Wasser gefüllte Bierfässer gelegt und dann als „Sanitätsgut“
verschickt. Als sich allerdings ein rumänischer Bahnbeamter ein Bier zapfen wollte,
flog der Schwindel auf und dieser Transportweg wurde ebenfalls versperrt.853 Nach
diesen Rückschlägen ging man dazu über, die Maschinen von österreichischungarischem Territorium über die feindlichen beziehungsweise neutralen Gebiete
hinweg nach Konstantinopel zu fliegen. Trotz der damit verbundenen Gefahren und
Belastungen gelang es so, bis Mitte Oktober 1915 fast 30 Flugzeuge in die Türkei zu
überführen.
„Nur ein einziges Flugzeug wurde am Schipka-Pass zu einer Notlandung gezwungen,
konnte aber mit Hilfe einiger Goldstücke, die jedem Flugzeugführer für derartige
849
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 1f.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 152.
851
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 2 u. S. 5f.
852
Allerdings gelang es auf diplomatischem Wege, die beiden Flugzeuge, die in Bulgarien
beschlagnahmt wurden, wieder frei zu bekommen. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 152.
853
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S.7f.
850
213
Vorkommnisse mitgegeben worden waren, wieder freikommen und Adrianopel
[Edirne] d.h. türkischen Boden erreichen.“854
Bis zum Herbst 1915 konnten so 7 Fliegerstaffeln aufgestellt werden, die jedoch nur
mit wenig Personal und noch weniger Material, in der Regel etwa 2-4 Maschinen,
ausgestattet waren. Im Ganzen standen nur 13 türkische Piloten und 11 türkische
Beobachter855 zur Verfügung. 23 weitere Soldaten befanden sich im Osmanischen
Reich in Ausbildung. Der Mangel an türkischen Piloten und an geeigneten
Technikern führte zu einem vermehrten Einsatz von deutschem Personal, so daß
komplette türkische Staffeln nur mit deutschen Piloten ausgestattet waren. Sie trugen
im Dienst vorschriftsmäßig die osmanische Uniform.856 Dadurch gelangte der
britische Nachrichtendienst im Februar 1916 zu dem Urteil:
„The majority of the machines used by the Turks in the present war are German
machines flown by German pilots. The latter are much more efficient than the Turkish
naval and military officers who have qualified as pilots, though the latter […] do not
lack courage.”857
Ende Oktober 1915 verbesserte sich die Materialsituation der osmanischen
Fliegertruppe deutlich, da der Eisenbahntransport durch die Besetzung Serbiens nun
regelmäßig zwischen Deutschland und der Türkei laufen konnte. Nachdem sich auch
die Lage an den Dardanellen zu entspannen begann, wurden vordringlich
Fliegerformationen für die entlegeneren Gebiete in Syrien, Palästina, Mesopotamien
und im Kaukasus und sogar für den Schutz der Gebiete im Hedschas aufgestellt.858
Zudem sollten nun auch Jagdflugzeuge aus Deutschland geliefert werden. Neben
reinen Beobachtungsaufgaben konnten die Flieger damit die Bekämpfung
854
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 10.
Fliegendes Personal, das vom hinteren Sitz der Maschine aus Aufnahmen machte, aber auch für
Bombenabwürfe oder die Bedienung eines eventuell vorhandenen hinteren Maschinengewehrs
zuständig war.
856
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 228. Bereits seit Ende 1914 waren 12 osmanische Offiziere nach
Berlin geschickt worden, um dort als Piloten ausgebildet zu werden. Da später die Ausbildung im
Osmanischen Reich stattfinden konnte und kein weiterer Austausch erwähnt wird, muß davon
ausgegangen werden, daß diese 12 Piloten bereits in der Zahl von 13 Piloten enthalten sind. MSg
1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 2.
857
Handbook of the Turkish Army 1996, S. 86.
858
Einige Fliegerabteilungen im Hedschas bestanden nur aus Türken, weil Christen der Zugang zu
Städten wie Medina und Mekka, den Stationierungsorten, verboten war. MSg 1/231, Bericht Sernos
über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 22f. Ein Verbot, an das sich Serno allerdings trotz gegenteiliger
Beteuerung nicht gehalten hat. Siehe hierzu unten, S. 321.
855
214
gegnerischer Beobachter oder Geleitschutzaufgaben wahrnehmen. Die bisherigen
Flugzeugtypen waren für solche Aufgaben nicht geeignet, da die Bewaffnung –
Handfeuerwaffen des Beobachters oder ein nach hinten ausgerichtetes M.G. – nur zur
Verteidigung dienten. Allerdings schickte man zunächst nur 3 moderne FokkerJagdflugzeuge nach Konstantinopel und auch hier wurde die Besatzung
„mitgeliefert“, da man den Türken anspruchsvolle Jagdeinsätze nicht zutraute.859
Tatsächlich vertraute der mittlerweile zum preußischen Hauptmann und osmanischen
Major beförderte Serno nur einem einzigen türkischen Piloten während des gesamten
Krieges ein Jagdflugzeug an.860
Das Jahr 1916 bedeutete für die Luftstreitkräfte einen raschen Ausbau in materieller,
personeller und organisatorischer Hinsicht. Die vorherige „Dezentralisierung“ der
Truppenführung und -verwaltung wurde durch die Schaffung entsprechender
Kommandobehörden beim türkischen Kriegsministerium relativiert. Major Serno
wurde als Chef der Luftstreitkräfte gleichzeitig Chef der neuen Abteilung 13
(Inspektion der Flieger) des türkischen Großen Generalstabes. Von hier leitete er
Ausbildung und Logistik, während die einzelnen Formationen taktisch weiterhin auf
Zusammenarbeit mit den Armeeoberkommandos vor Ort angewiesen waren und ihre
Einsatzbefehle von dort erhielten. Das fliegende Personal war Anfang des Jahres bis
auf 81 Piloten und Beobachter angewachsen. Sie verfügten über etwa 90 Flugzeuge
verschiedenster Typen.861
Neben den rein fliegerischen Aufgaben oblagen den Luftstreitkräften auch das
Sammeln
und
Auswerten
von
Wetterdaten
sowie
der
Einsatz
von
Beobachtungsballons. Allerdings verfügte das Osmanische Reich kaum über
Einsatzmöglichkeiten für Ballons und besaß daher selbst 1918 nur sehr wenige
Exemplare.862 Hinzu kam die Aufgabe der bodengestützten Flugabwehr im Bereich
859
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 12
Erinnerungen eines „Alten Adlers“ - Persönliche Erinnerungen in Form eines Tagebuches des
Majors a.D. Erich Serno, BAMA Freiburg, MSg 1/228, S. 133. (Im Folgenden: MSg 1/228,
Erinnerungen eines „Alten Adlers“.)
861
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 228f.
862
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Organisation u. Stand d.
Türkischen Luftstreitkräfte am 1.7.1918“, o. Seitenzahl.
860
215
der osmanischen Hauptstadt und der Meerengen, zu deren Zweck Anfang 1916 zwei
Flakbatterien aus Deutschland geschickt wurden.863
Als weiteres wesentliches Ereignis für die Militärluftfahrt im Osmanischen Reich
muß das Eintreffen der ersten Teile der Fliegerabteilung (FA) 300 in Konstantinopel
im Frühjahr 1916 angesehen werden. Diese Abteilung bestand nur aus deutschem
Personal, zehn Flugzeugführern und sechs Beobachtern und verfügte über 14
Aufklärungs-Flugzeuge.864 Damit war unter dem Decknamen „Pascha“ die erste
geschlossene deutsche Kampftruppe in der Türkei eingetroffen, sieht man einmal von
den beiden Schiffen „Goeben“ und „Breslau“ ab. Die deutschen Flieger wurden dem
bayerischen Oberstleutnant und osmanischen Oberst Friedrich Freiherr Kreß Von
Kressenstein unterstellt, um Aufklärungergebnisse für ein weiteres Unternehmen
gegen den Suez-Kanal zu erlangen.865 Die deutschen Flieger sorgten zugleich für die
vorübergehende Luftüberlegenheit der Mittelmächte an der Sinaifront, die sie bis zum
Sommer 1917 innehatten.866 Mit dem Beginn des britischen Vormarsches in Richtung
Palästina nahm auch die Zahl alliierter Flugzeuge zu, so daß die deutschen und
türkischen Flieger zunehmend in Bedrängnis gerieten. Ersatzteile mußten aus
Deutschland beschafft werden und auch die Versorgung mit Betriebsstoff stellte eine
ständige Herausforderung dar. Außerdem litten die Maschinen unter den extremen
Klimabedingungen der Sinaiwüste. Der Flieger Oberleutnant Richard Euringer und
sein Beobachter wären mehrmals beinahe abgestürzt, weil das Material zu schnell
verschliß:
„Da vernahm ich [...] ein Geknister überm Kopf ..
Tatsächlich wieder der Auspufftopf, der verflixte Spinnenstutzen! Feuersternchen
kristallisierten durch das zerglühende Blech hindurch. [...] Und nun schmolzen diese
Dinger! Nun zerbröckelte das Blech auch der nagelneuen Spinne!“867
Trotz aller Widrigkeiten verfügte die osmanische „Luftwaffe“ im April 1917 über 43
einsatzbereite Maschinen, zu denen mittlerweile 16 Maschinen der Fliegerabteilung
300 kamen. Die meisten Maschinen befanden sich im Bereich der 4. Armee
863
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 12.
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 156.
865
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 12.
866
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 157f.
867
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 287. Bei einem anderen Flug platzten kurz vor der Landung
erneut ein Auspuffteil ab, das wie ein Granatsplitter ein Kamel im Lager verletzte. Ebd., S. 304f.
864
216
(Palästina: 5 osmanische Maschinen und die FA 300), der 6. Armee (Mesopotamien:
13 osmanische Maschinen) und zum Schutze der Meerengen im Bereich der 5. Armee
(Gallipoli: 9 osmanische Maschinen).868 Einen weiteren Schwerpunkt für die
osmanische Fliegertruppe bildete das Gebiet um Konstantinopel, den Bosporus und
die Dardanellen. Anfang 1916 hatte ein Angriff britischer Flieger auf die Hauptstadt –
dessen „psychologische Wirkung“ größer war, als der materielle Schaden – für die
dringende Forderung nach Schutz des Luftraumes gesorgt. So wurden Flakgeschütze,
Flugabwehrmaschinengewehre und Jagdflugzeuge zum Schutz der Stadt, der
Fabriken und der Hafenanlagen abgestellt. Nach dem Abzug der Truppen von der
Gallipoli-Halbinsel wurde der Fliegertruppe, die zu diesem Zwecke mit weiteren
Maschinen
aufgestockt
wurde,
zudem
die
Überwachung
der
türkischen
Mittelmeerküste anvertraut. Dieser vergleichsweise starke Luftschutz für die
Meerengen sollte bis zum Kriegsende bestehen bleiben.869
Im Jahre 1917 wurden in Deutschland 5 weitere Fliegerabteilungen aufgestellt, die im
Rahmen des Unternehmens „Yildirim“ zum Einsatz kommen sollten. Die preußischen
FA 301-303 und 305 sowie die bayerische FA 304b erhielten den Decknamen
„Pascha II“ und trafen – mit Ausnahme der FA 305, die erst im Frühjahr 1918 ankam
– im November 1917 in Palästina ein.870 Diese neuen Formationen verfügten über
eine Mischung aus neuen Jagdmaschinen und Aufklärungsflugzeugen und einen
umfangreichen Personalbestand. Alleine die bayerische FA 304b umfaßte 277 Mann
und 300 Tonnen an Material, da die Eigenständigkeit der Truppe fernab eigener
Versorgungslinien zu gewährleisten war.871 Trotzdem kamen die deutschen Flieger zu
spät, um die Lage in Palästina noch entscheidend zu beeinflussen. Die britische
Armee befand sich im Vormarsch und verfügte in allen Belangen über größere
Ressourcen als die türkisch-deutschen Verbände. Auch in der Luft besaßen die
Maschinen des Royal Flying Corps und des Australian Flying Corps mittlerweile die
Überlegenheit, weshalb die Einsätze für die Piloten der Mittelmächte besonders
868
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 229.
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 18f.
870
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 229. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 159.
871
Deutsches Museum [Hrsg.]: Flugwerft Schleißheim – Museum für Luft- und Raumfahrt. Ein Führer
durch die Geschichte und die Sammlungen der Flugwerft Schleißheim, München 2005, S. 13.
869
217
gefährlich und verlustreich wurden.872 Der britische Vormarsch nach der dritten
Schlacht um Gaza ging so rasch voran, daß die neueingetroffenen Fliegerformationen
ihre eben bezogenen Flugfelder in großer Hektik wieder aufgeben mußten, um nicht
mit sämtlichem Gerät in britische Gefangenschaft zu geraten.873 Die Lage wurde im
Laufe des Jahre 1918 immer bedrohlicher für die deutschen und türkischen Piloten:
„Ihre Kampfkraft schwand jäh dahin, da der Flugzeugnachschub aus der Heimat seit
Mai vollständig ausgeblieben war. Im August mußten in Ermangelung von
einsatzfähigen Maschinen 3 Abteilungen den Flugbetrieb einstellen. Die Engländer
besaßen jetzt rein zahlenmäßig eine 7-8 fache Überlegenheit.“874
An den übrigen Fronten, abgesehen von dem Gebiet um die zunächst weitgehend
ruhigen Meerengen, mußten die Fliegerverbände des Osmanischen Reiches ebenfalls
herbe Rückschläge hinnehmen. Die türkischen Staffeln in Mesopotamien befanden
sich 1918 noch im Aufbau, obwohl sie bereits Einsätze flogen. Jedoch waren hier
weniger die britischen Gegner als vielmehr die äußerst schwierigen Bedingungen des
Landes gefürchtet. Viele Flugzeugführer kämpften mit klimabedingten Erkrankungen
oder litten an Mangelernährung, da die Versorgungswege nach Mesopotamien nicht
die nötigen Kapazitäten zu Sicherung des Unterhalts der Truppe nach akzeptablen
Standards besaßen. Auch das Material wurde bis an seine Grenzen und darüber
hinaus durch die mesopotamische Witterung beansprucht. So berichte Major Serno
von einem Aufklärungsflug, bei dem zwei deutsch-türkische Maschinen verloren
gingen. Das erste Flugzeug mußte bald nach dem Start in der Wüste notlanden, da der
Motor bei einer Schattentemperatur von 50° Celsius versagte. Die zweite Besatzung
versuchte die Notgelandeten in ihrem Flugzeug auszufliegen, doch auch dieser Motor
versagte bald durch die hohe Belastung und die Maschine mußte notlanden. Die
Besatzungen versuchten sich zu Fuß zu bewohntem Gebiet durchzu- schlagen. Von
den gestarteten 4 Soldaten erreichten nur 2 Mann völlig erschöpft die britischen
872
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 159f.
Holzhausen, Rudolf: Der Einsatz der deutschen Truppen im Gebiet der heutigen Staaten Israel,
Jordanien und Syrien während des Ersten Weltkrieges, o.J. [1958], BAMA Freiburg, PH 5 I/20, S. 4.
(Im Folgenden: PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten.) Zu
Rudolf Holzhausen: Gröschel, Dieter/Gavish, Dov: Rudolf Holzhausen – Weltkriegsflieger, Diplomat
und Historiker. Das Schicksal eines deutschen Offizieres im 20. Jahrhundert, in: Das Propellerblatt –
Mitteilungsblatt der Interessengemeinschaft Luftfahrt 1900-1920, Nr. 9/2004, S. II/325-II/335.
874
PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 17.
873
218
Linien, wo sie in Gefangenschaft kamen.875 Solche Verluste ohne Feindeinwirkung
und nach „nur“ etwa 24 Stunden Marsch durch die mesopotamische Wüste waren bei
der angespannten Versorgungslage sehr schwer zu ersetzen.
Im Kaukasus verfügten die den Armeen unterstellten Fliegerformationen im Mai
1918 über keine einzige einsatzfähige Maschine mehr. Während die türkischen
Heeresverbände sich nach dem offiziellen Ausscheiden Russlands aus dem Kriege
hier auf dem Vormarsch befanden, hatten die Flieger mit dem Gelände zu kämpfen.
Das Gebirge bot keine ausgebauten Wege, um die großen Flugzeuge und die gesamte
Ausrüstung von den Endbahnhöfen zu den weit entfernten Flugfeldern zu
transportieren,
zudem
fehlten
geeignete
Transportmittel.876
So
hatten
die
Fliegerformationen den Großteil der Maschinen auf dem Vormarsch verloren und der
Rest war entweder durch Schäden oder mangelnden Ersatzteil-Nachschub nicht
einsatzfähig. Zwar wurden neue Maschinen an diese Front verlegt, jedoch trafen sie
nicht mehr rechtzeitig vor Kriegsende ein.877 Dadurch verloren die osmanischen
Kaukasusverbände eine Aufklärungskomponente, die gegenüber – meist irregulären –
armenischen oder georgischen Einheiten einen nicht zu unterschätzenden Vorteil
bedeutet hätte.
Ende September 1918, als sich der Zusammenbruch der osmanischen Fronten
abzeichnete, war das Ende des fliegerischen Engagements Deutschlands im Orient
absehbar. Durch den erfolgreichen Ausbruch der Entente-Truppen aus dem
Brückenkopf nahe der griechischen Stadt Saloniki am 15.9. wurde Bulgarien bald zur
Kapitulation gezwungen (30.9.).878 Die osmanische Führung konzentrierte daher
sämtliche
Reserven
aus
dem
Raum
Konstantinopel,
darunter
auch
die
Fliegerverbände und die Flak-Formationen, an der europäischen Grenze des Reiches,
um einen eventuellen Vorstoß gegen die Hauptstadt abwehren zu können.879
Unterdessen eroberten britische Truppen am 1. Oktober Damaskus, am 16. Oktober
Homs, wobei der gesamte Stab der 4. Armee in Gefangenschaft geriet, und am 25.
875
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 34.
Der Bahntransport zum Stationierungsort war aus Gründen der Materialschonung und des Sparens
von knappen Betriebsstoffen für die Flieger üblich. Zudem besaßen die Maschinen nur eine
eingeschränkte Flugreichweite, die bei den großen Entfernungen im Osmanischen Reich eine
Verlegung „im Fluge“ nur selten erlaubte.
877
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 32f.
878
Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 92f. u. S. 493
879
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 36.
876
219
Oktober Aleppo. Die verbliebenen Verbände des Unternehmens „Yildirim“ mußten
ihr Hauptquartier bereits im anatolischen Adana aufschlagen.880 In Mesopotamien
gingen die britischen Truppen am 23. Oktober zum Angriff über und die türkischen
Truppen mußten zurückweichen.881 Die Zerfallserscheinungen machten sich bei den
Fliegern schmerzhaft bemerkbar:
„Ein am Morgen des 20. September auf dem Flugplatz El Afuleh in der Jesraelebene
zu einem Aufklärungsflug gestarteter Flieger-Hauptmann landete zwei Stunden
später wieder auf seinem Flugplatz inmitten der Engländer.“882
Der Herbst des Jahres 1918 bedeutete für die deutschen Flieger in Syrien und
Mesopotamien ständige Rückzüge, auf denen sie ihre Maschinen nicht mitnehmen
konnten. Auf dem Flugfeld von Rajak, nördlich von Damaskus fanden die Briten auf
ihrem Vormarsch 32 verbrannte Flugzeuge, die von ihren Besatzungen zerstört
zurückgelassen worden waren. Die deutschen Fliegerabteilungen verfügten noch über
6 einsatzbereite Maschinen, als am 30. Oktober 1918 der Waffenstillstand von
Mudros den Krieg für das Osmanische Reich beendete.883 Damit endete der Einsatz
für etwa 600 Deutsche, darunter 150 Angehörige des fliegenden Personals, die seit
1915 Dienst in den osmanischen Luftstreitkräften getan hatten.884 460 Flugzeuge
unterschiedlicher Typen lieferte Deutschland während des Krieges an die Türkei. Von
diesen waren am Kriegsende ungefähr 200 Maschinen übrig geblieben, die meisten
dürften jedoch nur noch Schrottwert gehabt haben.885 Major Serno gibt die Verluste
des deutschen Personals in der osmanischen Fliegertruppe mit 34 Mann an, zu denen
noch die Verluste der deutschen Fliegerabteilungen kommen, die Rudolf Holzhausen
mit 45 Fliegern errechnet.886 Über die Verluste an türkischem Personal liegen keine
zuverlässigen Angaben vor.
880
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 201.
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 203.
882
PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 25.
883
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 162.
884
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 38.
885
Vgl. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 163 und Erickson, Ordered to Die 2001, S. 230.
Erickson gibt diese hohe Zahl verbliebener Flugzeuge an, spricht aber von „varying conditions of
oparability“. Die Berichte der Flieger und die Begleitumstände des türkischen Zusammenbruchs
lassen jedoch kaum Zweifel über die technischen Zustände der meisten Maschinen zu.
886
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Den Heldentod starben in
Pflichterfüllung im Dienste der türkischen Fliegertruppe 1915-1918“, o. Seitenzahl. PH 5 I/20, Aufsatz
Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 28f. Die Zahl erscheint recht hoch und
ungenau. Zieht man jedoch die Verlustzahlen der gesamten deutschen Fliegertruppe heran, die
881
220
IV. Die Eindrücke vom „Verbündeten im Orient“
IV.1. „Wege zum Ruhm“? – Motivation und Orientbild deutscher Soldaten
Viele Akten und Unterlagen der Militärmission gingen beim Rückzug aus dem
zerfallenden Osmanischen Reich verloren und im Zweiten Weltkrieg wurden die
Bestände des Heeresarchivs in Berlin zum größten Teil vernichtet.887 Die folgenden
Ausführungen fußen daher auf den wenigen erhaltenen Berichten von Soldaten aus
dem Kriege und der recht zahlreichen Memoirenliteratur aus späterer Zeit. Da im
militärischen Schriftverkehr zwar durchaus über Erfahrungen, aber nicht über
persönliche Antriebe berichtet wurde, müssen diese indirekt aus Andeutungen und
Anspielungen erschlossen werden. Auch die Darstellungen in den veröffentlichten
Erinnerungen sind mehr oder weniger von der Intention des Verfassers beeinflußt.
Zunächst fällt auf, daß sich ein großer Teil der deutschen Offiziere – zumindest in
den Jahren bis 1917 – freiwillig zum Dienst im Osmanischen Reich meldete, eine
Tatsache, die sich schon bei den Offizieren der Militärmission vor Beginn des
Weltkrieges feststellen läßt. Dabei wird sicher der finanzielle Anreiz durch die
Eingliederung in das Vertragsverhältnis der Militärmission eine Rolle gespielt haben,
auch wenn kein Offizier diese wirtschaftlichen Erwägungen offen zugab. Die
Hoffnung auf eine Beschleunigung der eigenen Karriere wird hingegen während des
Krieges ganz offen angesprochen. Der bayerische Major Ludwig Schraudenbach etwa
berichtet in seinen Aufzeichnungen, daß seine Verwendung als Generalstabsoffizier
an der Westfront seit November 1914 „wenig anregend“ gewesen sei:
„Und keine Aussicht auf Änderung dieser Verhältnisse in absehbarer Zeit, keine Rede
von einem Flüssigwerden der erstarrten Fronten in Flandern und im Artois, und nach
meinem Dienstalter keine Hoffnung auf baldiges Erreichen einer Chefstelle, des
ersehnten Abschlusses jeder Generalstabslaufbahn.“888
durchweg als sehr groß anzusetzen sind, muß man eine gewissen Plausibilität einräumen. Neumann,
Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 585-588.
887
Petter, Wolfgang: Zur deutsch-türkischen Zusammenarbeit im Ersten Weltkrieg, Manuskript o. Ort
und o. Dat. (Archiv des Verfassers), S. 7 u. S. 10.
888
Schraudenbach, Ludwig: Muharebe – Der erlebte Roman eines deutschen Führers im osmanischen
Heere 1916/17, München 1925, S. 16. (Im Folgenden: Schraudenbach, Muharebe 1925.)
221
Auf die Nachricht hin, daß ein deutscher Offizier zur Verwendung als türkischer
Divisionskommandeur gesucht werde, meldete er sich sofort, ohne Näheres über die
fremde Armee oder das mögliche Einsatzgebiet zu wissen.889 Auch der preußische
Major Hans Guhr, im Frühjahr 1916 noch Regimentskommandeur in Flandern,
meldete sich in die Türkei, um „dort einen größeren Wirkungskreis als im eigenen
Heere“890 zu finden, und ebenso war für den württembergischen Oberst Gerold von
Gleich, der als Chef des Stabes einer Etappeninspektion eingesetzt war, die Meldung
in die Türkei „letzter Ausweg aus der unkriegerischen Tätigkeit“891 an der Westfront.
Vordergründig sollten die Hoffnungen dieser Offiziere nicht enttäuscht werden, denn
durch die Unterstellung unter die Militärmission erhielten sie einen höheren
Dienstgrad und auch ein Truppenkommando.892 Allerdings zeigte sich bald, daß der
neue Wirkungskreis auf dem „Nebenkriegsschauplatz Orient“ militärisch weniger
zufriedenstellend war, als sich die „Freiwilligen“ erhofft hatten.
Der bekannteste Wortführer der „freiwilligen Meldung, um einer unangenehmen
Verwendung zu entgehen“, war Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz.
Im Jahre 1914 war von der Goltz als Generalgouverneur von Belgien eingesetzt, eine
Stellung, die den alternden Feldmarschall keineswegs erfreute, wie er in einem Brief
an seinen Freund Pertev Pascha schrieb.893 Die Freude war daher groß, als Goltz Ende
November 1914 gefragt wurde, ob er erneut in die Türkei gehen würde. Dort sollte er
für eine sachdienliche Zusammenarbeit aller deutschen Kräfte in der Türkei sorgen,
da Liman von Sanders diese Aufgabe offenbar nur unzureichend erfüllte.894 Diese
889
Er konnte lediglich auf einen Türkeiurlaub im Jahre 1896 zurückblicken; nach der Absetzung des
Sultans und der „jungtürkischen Revolution“ in Konstantinopel können diese „Vorerfahrungen“
durchaus als wertlos für seine künftige Stellung bezeichnet werden. Schraudenbach, Muharebe 1925,
S. 15-17.
890
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 15.
891
Gleich, Gerold von: Vom Balkan nach Bagdad – Militärisch-politische Erinnerungen an den Orient,
Berlin 1921, S. 67. (Im Folgenden: Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921.)
892
MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der Türkei, Blatt 28 u. Blatt 30. Für aktive Kommandeure war
mit dem erhöhten Dienstgrad das Kommando über größere Formationen verbunden. Allerdings
konnten auch Stabsoffiziere, die zuvor kein Truppenkommando innehatten, in gleiche Verwendungen
(etwa als Divisionskommandeur) gelangen. Der Dienstgrad reichte den Entscheidungsträgern auf
deutscher wie türkischer Seite als Befähigungsnachweis offenbar aus. Nicht alle Offiziere kamen
jedoch in den Genuß dieses Vorzugs. Oberst von Gleich etwa wurde zwar Chef des Stabes der 6.
osmanischen Armee, aber (zunächst) nicht der Militärmission unterstellt. Solche Fälle waren jedoch
eher Ausnahmen. Siehe hierzu Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 67.
893
Brief von Goltz Pascha an Pertev Pascha aus Brüssel vom 17.10.1914, BAMA Freiburg, N 737/ 11,
Blatt 30.
894
Schmitterlöw, Freiherr von der Goltz-Pascha 1926, S. 377.
222
koordinierende Funktion wurde Goltz in Wirklichkeit zwar nie zugebilligt, doch die
Verwendung als Berater Enver Paschas und später auch Armeeführer war ihm
begehrenswerter als die Tätigkeit hinter der Westfront in Europa. In einem Brief an
seine Frau vom April 1915 schreibt er:
„So bin ich denn nunmehr wohlbestallter Oberbefehlshaber [einer Armee]. Was das
Vaterland mir hartnäckig verweigert, hat mir am Ende die Fremde gewährt.“895
Aber nicht nur Offiziere versprachen sich Vorteile von einer Verwendung im Orient.
Zahlreiche Eingaben beim bayerischen Kriegsministerium belegen, daß sich auch
Mannschaftsdienstgrade und Unteroffiziere um den Dienst in der Fremde bewarben.
Diese Dienstgradgruppen besaßen jedoch nur eingeschränkte Karrieremöglichkeiten
und zudem waren viele der Antragssteller Angehörige der Reserve, die nach dem
Kriege wieder aus der Armee ausschieden. Die Schreiben lassen somit kaum das
Streben nach einem höheren Posten oder nach „ereignisreicherer Frontverwendung“
erkennen.896 In der Mehrzahl der Anträge sind die Aussichten auf lukrative
Beschäftigungen nach Kriegsende als Beweggründe genannt. So möchte der Jäger
Rapold als Sanitäter in die Türkei versetzt werden, um mit den dort erworbenen
Landeskenntnissen nach dem Kriege nicht näher genannte „Geschäftsbeziehungen“
aufbauen zu können.897 Ebenso richtet Hans Weinberger vom bayerischen ReserveInfanterie-Regiment Nr. 15 die Bitte an das Münchner Ministerium, in die Türkei
versetzt zu werden, weil er vor dem Kriege als Kaufmann in Triest tätig gewesen sei
und später „zum Nutzen des Vaterlandes“ wieder im Adria- und Mittelmeerraum
Handel treiben wolle.898 Die Reihe solcher Anträge läßt sich noch um weitere
Berufsgruppen erweitern, denn neben Kaufleuten ersuchten beispielsweise auch
895
Brief von Goltz an seine Frau aus Konstantinopel vom 19.4.1915. Zit. nach: Schmitterlöw, Freiherr
von der Goltz-Pascha 1926, S. 405.
896
Eine augenfällige Ausnahme ist der bayerische Unteroffizier Berger, der wiederholt um
Verwendung „in Vorderfront“ auf dem Balkan oder in der Türkei ersucht und schließlich sogar dem
bayerischen König schreibt. Ihm wird schließlich erlaubt, in eine fremde Armee einzutreten, da er mit
48 Jahren in Deutschland nicht mehr wehrpflichtig sei. Ob er dies wirklich tat, geht aus den Akten
nicht hervor.
Schriftwechsel Unteroffizier Berger mit Bayerischem Kriegsministerium im Februar 1916 und August
1917, KA München, MKr. 571.
897
Schreiben von Richard Rapold an das Bayerische Kriegsministerium vom 27.3.1917, KA München,
MKr. 13841.
898
Schreiben der Mutter von Hans Weinberger an das Preußische Kriegsministerium vom 22.3.1916,
KA München, MKr. 224.
223
Archäologen oder Geologen um eine Versetzung nach Kleinasien, wo sie sich
aufgrund der zahlreichen antiken Stätten ein reizvolleres Betätigungsfeld erhofften als
an europäischen Fronten.899
Sogar deutsche Zivilpersonen versuchten im Osmanischen Reich Anstellung zu
finden, wobei sie sich sowohl an das deutsche Generalkonsulat als auch an die
Offiziere der Militärmission, die in den türkischen Ministerien tätig waren, wandten.
Die deutschen Stellen wurden Anfang 1916 offenbar von einer Flut derartiger
Anträge bedrängt, daß sich das Konsulat in Konstantinopel gezwungen sah, direkt an
den Reichskanzler zu schreiben:
„Wie ich von deutschen Offizieren und Beamten höre, die in türkischen Diensten
stehen, werden auch die hiesigen Ministerien mit Stellungsgesuchen in unglaublicher
Weise belästigt [...]. Diese Stellenjägerei, die oft geradezu würdelose Formen
annehmen soll, ist nichts weniger als geeignet, das deutsche Ansehen in türkischen
Kreisen zu heben. [...] Bei den vielen Gesuchen [...] scheinen die Antragssteller
durchweg an der Einbildung zu leiden, daß die Türkei ein Land ist, in dem Milch und
Honig fließt und in dem fabelhafte Gehälter gezahlt werden. Tatsächlich liegen die
Verhältnisse so, daß die Türkei nach nahezu vierjähriger fast ununterbrochener
Kriegführung wirtschaftlich in besorgniserregender Weise geschwächt ist, daß keine
Requisitionen gezahlt werden, daß die Löhnung der Truppen meist im Rückstand ist
und daß auch die Beamten in steter Sorge leben, ob sie am nächsten Fälligkeitstag
ihr Gehalt ganz oder wenigstens teilweise erhalten werden.“900
Die priviligierten Dienstbedingungen der Angehörigen der Militärmission und des
technischen Personals, das etwa zum Aufbau einer türkischen Rüstungsindustrie
eingesetzt wurde, blieben den zivilen Bittstellern bis 1916 offenbar nicht verborgen.
Allerdings waren die Rahmenbedingungen des militärischen Dienstes – zu dem auch
die dem osmanischen Kriegsministerium unterstehenden Rüstungsbetriebe und die
Militärbeamten der Eisenbahn gehörten – nicht mit denen einer zivilberuflichen
Stellung im Osmanischen Reich zu vergleichen.
Daher verwundert es nicht, daß die meisten Anträge abgelehnt wurden, zumal bereits
im April 1915 ein Ministerialerlaß vorschrieb, daß Versetzungen in die Türkei nur
899
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, 149f.
Schreiben des Kaiserlich Deutschen Generalkonsulats Konstantinopel an Reichskanzler von
Bethmann Hollweg vom 17.2.1916, KA München, MKr. 224.
900
224
noch auf ausdrückliche Anfrage der Stellen vor Ort genehmigt werden dürften.901 Es
wird jedoch ebenso deutlich, daß größere Teile der deutschen Bevölkerung die
Hoffnung auf ein „besseres“ Leben im Osmanischen Reich hatten, wobei dies für
Militärangehörige und Zivilbevölkerung gleichermaßen zutraf. Der Umstand, daß die
Realität im Orient anders aussah und besonders das militärische Betätigungsfeld den
Erwartungen in puncto Prestige- und Ehrgewinn kaum entsprach, war offenbar nur
sehr wenigen Deutschen bekannt. Vordergündig sollten sich einige Erwartungen
allerdings erfüllen, denn durch die vertraglich gesicherte Beförderungspolitik der
Militärmission kamen zahlreiche Offiziere sehr einfach zu einem höheren Dienstgrad,
den sie oft – wenngleich nicht immer – beim Übertritt in die deutschen Streitkräfte
behielten. Zudem lohnte sich der Dienst in der Militärmission finanziell durchaus für
die deutschen Offiziere. Hingegen sind überindividuelle Motive für ein Engagement
im Orient in keinem Schreiben zu finden. Auch Freiherr von der Goltz läßt – trotz
aller Sympathie für das Orientalische – nicht erkennen, daß sein Einsatz einer ideellen
Verpflichtung
gegenüber
dem
Osmanischen
Reich
entspringen
könnte.
Möglicherweise schrieben die Bewerber einem solchen Argumentationsgang nur sehr
geringe Erfolgsaussichten bei den deutschen Kriegsministerien zu und verzichteten
deshalb darauf. Ebenso wahrscheinlich ist jedoch, daß zumindest den Offizieren aus
ihrem Selbstverständnis heraus eine solch enge Verbindung zu einem anderen als
dem eigenen Kriegsherrn undenkbar erschien. In vielen Anschreiben taucht daher der
Hinweis darauf auf, wie gewinnbringend der Einsatz des Bewerbers im Orient
letztlich für das Deutsche Reich seien.
Bei der Durchsicht einiger Gesuche drängt sich aber auch der Verdacht auf, daß eine
Versetzung in das Land, „in dem Milch und Honig fließt“, gleichzeitig einen
angenehmeren Dienst versprach als auf dem europäischen Kriegsschauplatz. Als
Beispiel sei hier der Gefreite Karl Merker genannt, der um eine Versetzung in die
Türkei ersucht, da er nach dem Kriege als Kapitulant im osmanischen Heer dienen
wolle. Als dieses Ersuchen abgelehnt wird, bringt er eine ärztliche Bescheinigung bei,
nach der er aufgrund eines Lungenleidens nicht mehr für die „Alpenfront“ geeignet
901
Es handelt sich um den Erlaß No. 35915/15, der ebenfalls der deutschen Militärmission
(Aktenzeichen: 169-IIIaXVII 5b) zugegangen sein soll. Schreiben des Gefreiten Karl Merker an das
Bayerische Kriegsministerium vom 21.8.1915, KA München, MKr. 571. Aufgrund des Aktenverlustes
läßt sich dies allerdings nicht verifizieren.
225
sei.902 Da es nach der Einreichung des Attests in keinem Schreiben mehr um eine
Versetzung in den Orient geht, liegt der Verdacht nahe, daß es sich hierbei um einen
Vorwand handelte.
Nicht alle deutschen Soldaten vertraten die Auffassung, man könne im Osmanischen
Reich schnell zu Prestige oder Reichtum gelangen, manche fürchteten auch, an eine
„ruhige Front“ versetzt zu werden. General Erich von Falkenhayn, der 1917 die
Heeresgruppe F im Osmanischen Reich übernehmen sollte, war wohl der
prominenteste Vertreter dieser Gruppe.903 Oberst Hermann Ritter Mertz von
Quirnheim904 traf den General als Abgesandter der deutschen OHL auf dem Bahnhof
in Sofia:
„Zunächst fragte er mich, ob man denn keine noch entlegenere Gegend als
Mesopotamien wüßte, um ihn aus Mitteleuropa zu entfernen.. Ich stellte einen solchen
Hintergedanken der O.H.L. in schroffste Abrede [...]. Wenn ich geglaubt hatte,
General von Falkenhayn beruhigt zu haben, so war das eine Täuschung. Nicht nur
mir, sondern auch General von Lossow gegenüber kam v. F. immer wieder darauf
zurück, dass man ihn von Mitteleuropa abschieben wolle.“905
Der deutsche General stand mit seiner Meinung, daß es sich beim Osmanischen Reich
um einen „minderwertigen“ Kriegsschauplatz handele, keineswegs alleine da. Im
gleichen Jahr hatten bereits zwei deutsche Offiziere ein Büchlein über ihre Erlebnisse
in Palästina veröffentlicht und „eingestanden“, daß ihre Erlebnisse kaum mit den
902
Merkers Antrag wird schließlich dennoch abgelehnt und er wird als „nicht gebirgstauglich“ einem
anderen Infanterie-Regiment zugeteilt. Schriftwechsel des Gefreiten Karl Merker mit dem Bayerischen
Kriegsministerium im August 1915, KA München, MKr. 571.
903
Falkenhayn war als Chef der deutschen OHL sehr jung gewesen, was für seinen Ruf spricht und
gleichzeitig erklärt, warum ihm von (dienst-)älteren Offizieren durchaus Neid entgegengebracht
wurde. Seine Leistungen in Rumänien wurden anerkannt, standen aber stets im Schatten der
Schlacht(en) um Verdun. Der k.u.k. Militärbevollmächtigte in Konstantinopel berichtete, daß
Falkenhayns militärischen Fähigkeiten im Osmanischen Reich stark angezweifelt wurden.
Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 280. Zu Falkenhayns militärischer Laufbahn siehe:
Afflerbach, Falkenhayn 1994, hier besonders S. 103-145, S. 437-456 und S. 465-470.
904
Hermann Ritter Mertz von Quirnheim war seit dem 10.8.1916 Chef der neuen Generalstabsabteilung B, die für den mazedonischen und türkischen Kriegsschauplatz zuständig war. Heyl,
Gerhard: Hermann Mertz von Quirnheim, in: Neue deutsche Biographie, Band 17, Berlin 1994, S.
189f.
905
Mertz von Quirnheim, Hermann: Bemerkungen zu: „Die Ursachen für den Zusammenbruch der
Palästina-Front“ bearbeitet von Generalmajor a.D. von Frankenberg und Proschlitz, Potsdam,
Mai/Juni1930. BAMA Freiburg, W 10/ 50592, S. 7. Falkenhayn strebte offenbar eine Versetzungan
die Westfront an und sah jede andere Front als „Abstellgleis“ an. Siehe hierzu: Afflerbach, Falkenhayn
1994, S. 471.
226
großen Ereignissen der Westfront mithalten könnten.906 Insbesondere die subalternen
Fliegeroffiziere machen in ihren Veröffentlichungen keinen Hehl aus der Tatsache,
daß sie sich „mit dem begnügen mußten, was die Westfront übrig ließ.“907
Oberleutnant Euringer schrieb verbittert: „Der „blaue Max“ [preußischer Orden
„pour le mérite“] zum Hals heraus wuchs in dieser Wüste nicht.“908
In vielen Memoiren sind meist im Vorwort Andeutungen zu finden, daß sich der
Verfasser geradezu „genötigt“ sah, seine Aufzeichnungen zu veröffentlichen, um die
Erlebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit das
„Andenken an die Kameraden“ oder den „harten Kampf“ zu ehren.909 Ludwig
Schraudenbach geht sogar soweit zu behaupten, daß sich nicht einmal der deutsche
Frontkämpfer vorzustellen vermag, was der türkische Soldat zu ertragen hatte.910
Diese Einschätzung diente mit Sicherheit dazu, die eigenen Leistungen unter den
Verhältnissen des Orients noch über die Grabenkämpfe an der Westfront zu stellen.
Sie erhält allerdings einen „schalen Beigeschmack“, wenn man bedenkt, daß
Schraudenbach den größten Teil seiner Dienstzeit mit Reisen durch Kleinasien zu
seinen Dienstorten sowie der Besichtigung zahlreicher antiker Stätten, die „auf
seinem Weg lagen“, verbrachte und nur wenige Wochen seine eigentlichen Aufgaben
wahrnahm, was beinahe ein Kriegsgerichtsverfahren wegen Pflichtvernachlässigung
nach sich gezogen hätte.911
Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß ein Gefühl der „Minderwertigkeit“ oder
der „Nichtachtung“ der eigenen Tätigkeit keine gute Grundlage für eine fruchtbare
Zusammenarbeit mit dem türkischen Bundesgenossen bildete. Zu diesem Umstand
konnte noch beitragen, daß der betreffende Deutsche gegen seinen Willen ins
Osmanische Reich versetzt worden war, wie es offenbar Falkenhayn erging, oder daß
er plötzlich und überraschend aus dem vertrauten Umfeld in das ihm unbekannte
906
Römer, Heinrich/ Ande, Wilhelm: Mit deutschen Maschinengewehren durch die Wüste Sinai,
Berlin 1917, S. 9. (Im Folgenden: Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917.)
907
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 545.
908
Euringer, Richard: Der Zug durch die Wüste – Roman der ersten Expedition deutscher Flieger
durch die Wüste, Hamburg 1938, S. 370. (Im Folgenden: Euringer, Zug durch die Wüste 1938.)
909
Zum Beispiel: Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr von: Mit den Türken zum Suezkanal,
Berlin 1938, S. 7. (Im Folgenden: Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938.) Kannengießer,
Gallipoli 1927, S. 9.
910
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 11.
911
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 115-117.
227
Land entsandt wurde. Der bayerische Major Hans Edler von Kiesling auf
Kieslingstein wurde von seiner Versetzung in die Türkei ebenso überrascht wie Josef
Drexler, der als Angehöriger des Landsturms im Oktober 1917 nach Palästina
beordert wurde.912 Beide verweisen zwar darauf, daß sie sich zuvor freiwillig zum
Dienst im Osmanischen Reich gemeldet hatten, aber diese Meldungen waren offenbar
längst in Vergessenheit geraten und bei Major von Kiesling lag sie sogar mehr als 8
Jahre zurück.913
Ganz anders war die Situation für den damaligen preußischen Major und späteren
Reichskanzler Franz von Papen im Juni 1917, als ihn die Nachricht von der
Versetzung zur Heeresgruppe F während einer Inspektion der Schützengräben seines
Infanterie-Bataillons an der Westfront erreichte.914 Aus militärischer Sicht kann die
„unfreiwillige“ Versetzung kaum verwundern, denn als Soldaten hatten die
Angesprochenen mit solchen Entscheidungen zu rechnen und Befehle zu befolgen.
Außerdem wurden 1917 die Verbände für das Unternehmen „Yildirim“
zusammengestellt,
die
neben
Infanterieeinheiten
zahlreiche
Unterstützungs-
formationen umfassen sollten. Der Personalbedarf war deswegen bedeutend größer
als noch in den Jahren zuvor und Rücksicht auf freiwillige Meldungen konnte nicht
genommen werden. Solche Rücksicht war auch kaum notwendig, denn im Gegensatz
zu dem größten Teil der deutschen Heeresangehörigen, die sich im Osmanischen
Reich aufhielten, waren die „Pascha II“-Formationen nicht der Militärmission
zugeteilt und erhielten daher keine der bekannten Privilegien. Dadurch interferierten
sie aber auch nicht mit der osmanischen Kommando- und Sozialhierarchie, was
eigentlich eine wesentliche Erleichterung darstellte. Daß diese Konstellation sich
jedoch kaum positiv auswirkte, wird später noch zu behandeln sein.915
912
Kiesling auf Kieslingstein, Hans Edler von: Soldat in drei Weltteilen, Leipzig 1935, S. 146. (Im
Folgenden: Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935.) Über Josef Drexler liegen keine weiteren
Informationen vor. Aus seinen Aufzeichnungen läßt sich allerdings entnehmen, daß er offenbar als
Unteroffiziersdienstgrad dem Landsturm angehörte. Drexler, Josef: Mit Jildirim ins Heilige Land –
Erinnerungen und Glossen zum Palästina-Feldzug 1917-1918, Selbstverlag des Verfassers 1919, S. 3.
(Im Folgenden: Drexler, Jildirim 1919.)
913
Drexler, Jildirim 1919, S. 3. Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 119f.
914
Papen, Franz von: Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 87. (Im Folgenden: Papen, Der
Wahrheit eine Gasse 1952.
915
Siehe hierzu beispielsweise unten, S. 334-337.
228
Die quantitative Erhöhung der Truppenpräsenz in den letzten Kriegsjahren führte
offenbar zu einer noch oberflächlicheren Vorbereitung des Personals für den Dienst
im Orient. Aus der Regimentsgeschichte des Infanterie-Regiments Nr. 146, der
einzigen größeren Einheit des Asienkorps, geht hervor, daß zwar zahlreiche
organisatorische und technische Änderungen vorgenommen wurden, doch eine
spezielle Vorausbildung für den Einsatz an der Seite des Osmanischen Reiches
unterblieb. So besaß das Regiment nach der Reorganisation mehr als genug
Tropenausrüstung für die Soldaten und alle Angehörigen der Formation mußten aus
medizinischer Sicht „tropendiensttauglich“ sein. Der Stärke des Regiments wurde auf
etwa 2.800 Mann aufgestockt, wobei besonders die Zahl der Offiziere auf 96 erhöht
wurde. Damit besaß das I.R. 146 mehr Offiziere als im Soll eines InfanterieRegiments
1914
vorgesehen
waren,
was
bei
den
916
Führungspersonal während des Krieges beachtlich ist.
hohen
Verlusten
an
Möglicherweise flossen hier
die Erfahrungen aus der Türkei ein, die zeigten, daß manche Widerstände oder
Probleme nur durch Eingreifen von Offizieren gelöst werden konnten. Vielleicht
lagen auch taktische Erwägungen vor, nach denen die Teile des Regiments als
„Korsettstangen“ zwischen den osmanischen Einheiten an der Front eingesetzt
werden sollten, wie es später auch wirklich geschah. Über die Hintergründe für die
Maßnahmen liegen jedoch keine genauen Angaben vor. In jedem Fall erhielt die
Einheit trotz aller Sonderbehandlung keine speziellen Einweisungen in das künftige
Einsatzgebiet.917
„Man freute sich, nach zwei Jahren endlich aus dem eintönigen Stellungskriege in
Mazedonien heraus zu kommen und in einem fremden, geschichtlich denkwürdigen
Lande vor etwas Neues gestellt zu werden. [...] Nur bei den Erfahrenen mischten sich
mit
diesem
[Stolz]
leise
Zweifel
darüber,
916
ob
man
dort
auf
einem
Ende 1916 waren sogar die Gefechtsstärken der Bataillone im deutschen Westheer auf 650 Mann
(etwa 60% der vorherigen Personalstärke) gesenkt worden. Bei 3 Bataillonen pro Regiment sind das
1950 Mann pro Regiment. Selbstverständlich schwanken diese Zahlen durch etwaige Gefechtsverluste.
Ebenso muß zwischen Gefechtsstärke und Verpflegungsstärke (d.h. Zahl inklusive rückwärtiger
Formationen) unterschieden werden. Cron, Hermann: Geschichte des Deutschen Heeres im Weltkriege
1914-1918, Berlin 1937 (ND 1990),S. 116f. Zu den Offizierverlusten: Altrock, Constantin von: Vom
Sterben des deutschen Offizierkorps – Die Gesamtverluste unserer Wehrmacht im Weltkrieg, Berlin
2
1922, S. 53-75.
917
Das 1. Masurische Infanterie-Regiment Nr. 146 – 1897-1919, herausgegeben von der Vereinigung
ehemaliger Offiziere des Regiments, Berlin 1929, S. 209. (Im Folgenden: Das Infanterie-Regiment Nr.
146, 1929.)
229
Nebenkriegsschauplatz, militärisch dankbare Aufgaben vorfände. Man hatte über den
Kampfwert des türkischen Bundesgenossen allzu ungünstige Urteile gehört.“918
Wie bereits gezeigt, standen die Soldaten des Regiments mit ihrer Unwissenheit nicht
allein da. Weder Franz von Papen noch General Falkenhayn oder der immerhin lange
Jahre in Chile tätige Hans von Kiesling verfügten über ausreichende Kenntnisse des
orientalischen Kriegsgebietes und der verbündeten Truppen. Dieser Mißstand galt
jedoch nicht nur für die Angehörigen des „Yildirim“ Unternehmens, sondern
gleichzeitig für fast alle Soldaten, die seit 1914 nach Kleinasien versetzt oder
kommandiert wurden. Obwohl von der Goltz versucht hatte, den nachfolgenden
Offizieren einen Leitfaden für die Tätigkeit und das Verhalten in der Türkei zu geben,
waren seine Bemühungen weitgehend folgenlos geblieben. Selbst wenn diese Winke
an das gesamte deutsche Führungspersonal ausgegeben worden wären, so
behandelten sie doch das Verhalten von Instruktionsoffizieren im Frieden und
konnten nur bedingt auf den Krieg angewendet werden. Da sich aber alle Offiziere,
die aufgrund freiwilliger Meldung zur Militärmission versetzt wurden, zunächst in
Berlin zu melden hatten, wäre hier eine Möglichkeit gewesen, die Betreffenden in die
Lage am Bosporus einzuweisen oder zumindest einige Richtlinien auszugeben.
Nichts dergleichen geschah. Auch die sich auf die Türkei beziehenden dienstlichen
Einweisungen wurden als unzureichend empfunden. Ludwig Schraudenbach beklagte
sich:
„Aber wenn ich geglaubt hatte eine sachgemäße Anweisung, sei es über die Stellung,
die Befugnisse, die Gebühren der deutschen Offiziere im türkischen Heere, sei es
über Ausrüstung und deren Bezugsquellen und dergleichen zu erhalten, so sah ich
mich enttäuscht. Man mußte allerdings einen Folianten von Verfügungen und
Bestimmungen (Lektüre für drei Tage!) so im Vorbeigehen als gelesen
unterzeichnen.“919
Auch Major von Kiesling konnte lediglich von „nichtssagenden Instruktionen“
berichten, die ihm in Berlin gegeben wurden, und Hans Guhr erfuhr nur durch seinen
Besuch in der türkischen Botschaft, welche Aufgabe ihm zugeteilt werden würde.920
918
Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 212.
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 19.
920
Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935, S. 146. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S.
16. Wie unzureichend die Vorbereitung in Deutschland war, zeigt auch, daß General Hans von Seeckt
919
230
Angesichts dieser Aussagen erstaunt es nicht, daß weitergehende Fragen nach Land
und Leuten offenbar erst gar nicht gestellt wurden, zumal sogar höchste Stellen keine
befriedigenden Auskünfte erteilen konnten.
So sollte der preußische Oberst Oskar Gressmann unter Beförderung zum
preußischen Generalmajor im Juni 1916 zum „deutschen Bevollmächtigten in
Mesopotamien“ ernannt werden:
„Was ich dort solle? Ordnung schaffen im Verhältnis der Deutschen untereinander
und zu den Bundesgenossen. Wie es dort aussähe? Das wisse man selbst nicht. [...]
Auch er [Falkenhayn] konnte mir nur auf meine Frage antworten: ‚Ich sehe in den
Verhältnissen auch nicht klar, weiß nur, daß vieles nicht stimmt. Sie müssen sehen,
was Sie aus Ihrer Stellung machen.` “921
Zum Glück für Gressmann war er bereits seit 1915 am Bosporus gewesen und hatte
als Artillerieführer bei der 5. osmanischen Armee die Kämpfe an den Dardanellen
mitgemacht, so daß ihm zumindest Teile der Landessitten bekannt gewesen sein
dürften.922 Die Tatsache, daß man in Berlin die Erfahrungen eigener „Orientkämpfer“
nicht ausgewertet hat, aber auch auf die Erkenntnisse anderer, so etwa des 1915
krankheitsbedingt ausgeschiedenen bayerischen Hauptmanns Carl Endres, nicht
einbezog, erwies sich als ernstzunehmde Erschwernis.923 Im Vergleich zu den
europäischen Fronten wurde dem orientalischen Kriegsschauplatz von der deutschen
Führung nur eine untergeordnete Rolle zugeschrieben, weshalb der Vorbereitung der
„Orientkämpfer“ nur ein begrenztes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Man
war auch nicht in der Lage, den deutschen Offizieren nützliche Unterlagen oder
Handbücher mitzugeben. Karten für die Fronten des Osmanischen Reiches waren rar
und, wenn überhaupt vorhanden, im Maßstab für den militärischen Gebrauch
ungenügend.924 Büchlein wie etwa die „Kurze militärgeographische Beschreibung
im Dezember 1917 (!) nach mehrmaligen Besprechungen in Berlin und Lageeinweisung im
kaiserlichen Großen Hauptquartier in Kreuznach lediglich vermerken konnte: „Von den Türken
verstehe ich noch nichts.“ Rabenau, Seeckt 1940, S. 15 u. 54.
921
Aus den Erinnerungen von Oskar Gressmann, Exc., General und Pascha, KA München, M 68, S. 1.
922
MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der Türkei, Blatt 27.
923
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 46.
924
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 44. Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 20. Oberst
von Gleich schrieb: „Das geradezu jammervolle Kartenmaterial, es waren rohe, durch die
Umdruckpresse der Türken hergestellte Skizzen, erlaubte nicht einmal, die Ortschaften ganz
einwandfrei festzulegen.“ Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 128.
231
von Mesopotamien“, herausgegeben von der kartographischen Abteilung des
Generalstabes, waren laut eigener Aussage nur bedingt zuverlässig:
„Vorbemerkung: Bei der militärgeographischen Beschreibung eines Landes, das wie
Mesopotamien, in vielen Einzelheiten noch wenig erforscht ist, müssen oft
Vermutungen geäußert werden, statt sichere Nachrichten zu geben. Ergänzungen und
Berichtigungen an die Adresse der kartographischen Abteilung des stellvertretenden
Generalstabes der Armee in Berlin sind erwünscht.“925
Die wenigen Druckschriften oder Merkblätter, die in Berlin ausgeteilt wurden,
stammten von Autoren, deren Sachkenntnis von den Offizieren schon in Zweifel
gezogen wurde, bevor sie überhaupt einen Fuß in die Türkei gesetzt hatten.926
Wenn sich die Freiwilligen oder Versetzten demnach informieren wollten, so mußten
sie sich selbst entsprechende Materialien besorgen. Doch auch hier stießen sie auf
Schwierigkeiten. Wichtige Hilfsmittel wie etwa osmanisch-türkische Wörterbücher
waren bereits in den ersten beiden Kriegsjahren kaum noch zu bekommen. Georg
Jacob, Professor an der Universität Kiel und Herausgeber eines „Hilfsbuches“ für
diese schwierige Fremdsprache, kritisiert in seinem Vorwort 1915, daß es das
Orientalische Seminar in Berlin in 25 Jahren nicht geschafft habe, auch nur ein
brauchbares Türkisch-Deutsches Wörterbuch herauszugeben. Daher müßten sich
Deutsche im Orient immer mit Übersetzungshilfen französischen oder englischen
Ursprungs behelfen.927 Vokabulare mit den – auch für die osmanische Bevölkerung –
neuen Begriffen aus der Marine- oder Flugzeugtechnik kamen erst im Jahre 1916
auf.928
In Deutschland bekamen also die Offiziere und später auch die zahlreichen
Mannschaften, die zur Heeresgruppe F versetzt wurden, keine verläßlichen
Instruktionen, geschweige denn eine spezielle Ausbildung, und generell nur sehr
mangelhafte Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig läßt sich nicht
925
Kartographische Abteilung des stellvertretenden Generalstabes der Armee: Kurze
militärgeographische Beschreibung von Mesopotamien, [Berlin] 1915. Enthalten in Schenkung Fritz
Berthold, KA München HS 2558.
926
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 19f.
927
Jacob, Georg: Hilfsbuch für Vorlesungen über das Osmanisch-Türkische, I. Teil, Berlin 21915, S.
III-IV. Bei den Büchern Georg Jacobs handelt es sich nicht um reine Wörterbücher, sondern um Hilfen
zur Erlernung der Sprache.
928
Jacob, Georg: Hilfsbuch über das Osmanisch-Türkische, II. Teil , Berlin 21916, S. 74-77.
232
nachweisen, daß die deutschen Freiwilligen irgendwelche Vorbildung mitbringen
mußten. Sprachkenntnisse waren höchstens im Französischen gefordert.929
Diese unzureichende Vorbereitung im Deutschen Reich wirkte sich auf die Offiziere
der Militärmission gravierender aus als auf die später geschlossen eingesetzten
Formationen des deutschen Heeres. Da die deutschen Missionsangehörigen oftmals
alleine
oder
nur
in
sehr
kleinen
Gruppen
als
Kommandeure
oder
Generalstabsoffiziere im osmanischen Heer eingesetzt wurden, waren für sie
umfangreiche Vorkenntnisse für einen reibungsfreien Dienstablauf unabdingbar. An
solch exponierten Stellen wurden selbst kleine Fehltritte penibel registriert und
konnten die Zusammenarbeit der Verbündeten beeinträchtigen.
Für den deutschen Soldaten, der als Teil der „Pascha II“-Formationen in den Orient
versetzt wurde, spielten Landes- und Mentalitätskenntnisse zunächst keine
entscheidende Rolle. Der Kampfauftrag unterschied sich grundsätzlich – abgesehen
von der stärkeren Koalitonskomponente – kaum von den vorherigen Verwendungen.
Konfliktpotentiale
versuchte
man
durch
die
Schaffung
rein
deutscher
Versorgungslinien von vornherein auszuschalten. Dennoch sorgte gerade dieses
Verhalten für eine Verschärfung der Spannungen. Obgleich man auf Zusammenarbeit
mit dem türkischen Verbänden angewiesen war, verhielten sich die deutschen
Formationen beinahe demonstrativ wie „Fremdkörper“. Die bessere Versorgung für
deutsche Heeresangehörige, die ohnehin bereits bessere Ausrüstung mitbrachten als
den osmanischen Truppen zur Verfügung stand, war gegenüber den türkischen
Befehlshabern nur schwer zu rechtfertigen. Hier rächten sich zugleich die
Versäumnisse bei der Vorausbildung der Missionsoffiziere, denn diese konnten trotz
ihrer Einbindung in die osmanischen Heeresstrukturen kaum zur Entschärfung der
Situation beitragen, wenn sie nicht zuvor über entsprechendes Ansehen innerhalb der
türkischen Armee verfügten. Solches Ansehen zu erlangen dauerte jedoch häufig sehr
lange und erforderte eine nicht unbedeutende Anpassungsbereitschaft und Erfahrung
im Umgang mit dem Verbündeten.
Erfahrungen im Osmanischen Reich waren allerdings nicht ausschlaggebend für die
Annahme einer freiwilligen Meldung zur Militärmission. Viel wichtiger erschien den
personalbearbeitenden Stellen die fachliche Eignung der Kandidaten nach Maßstäben
929
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 15.
233
für den mitteleuropäischen Kriegsschauplatz. Viele Offiziere, wie Ludwig
Schraudenbach oder Hans Guhr, waren erfahrene Generalstabsoffiziere oder
Truppenführer in den deutschen Armeen.930 Auch die später versetzten Offiziere, wie
etwa Hans von Seeckt und Erich von Falkenhayn konnten auf eine beachtliche
militärische Laufbahn zurückblicken.
Damit setzte das Deutsche Reich jedoch auf die gleichen mangelhaften
Rekrutierungskriterien, die bereits vor Kriegsbeginn bei den Militärberatern zu
beobachten waren. Auch hier war – wenn überhaupt – auf die fachliche Eignung
geachtet worden, während bekannte „charakterliche Mängel“ ignoriert wurden.
Obwohl diese Vorgehensweise Erfolg nicht ausschloß, wie etwa das Beispiel des
Freiherrn Kreß von Kressenstein zeigt, mußte bei einer steigenden Quote deutscher
Offiziere im Orient auch die Anzahl der „schwierigen Persönlichkeiten“ zunehmen
und dem türkischen Verbündeten damit stärker ins Auge fallen. Von dem drohenden
Kriegsgerichtsverfahren gegen Ludwig Schraudenbach war bereits die Rede. Zudem
erschwerte dem bayerischen Major sein „heftiges Temperament“ den Dienst in der
osmanischen Armee, das ihm einen Ruf als „Choleriker“ einbrachte.931 Eigentlich
hätte eine derartige charakterliche Beurteilung die Versetzung in die Türkei
ausschließen müssen, was beim bayerischen Kriegsministerium allerdings keine
Beachtung fand.932 Ebenfalls eine schwierige Persönlichkeit besaß General von
Falkenhayn. Der Chef der Operationsabteilung des Stabes der Heeresgruppe „F“,
Franz von Papen, schreibt dazu:
„So sehr ich den offenen und hellen Geist dieses klugen Mannes bewundert habe, [...]
so sehr empfand ich diesen Ehrgeiz als die Quelle seiner Mißerfolge und den Anlaß
zu unzähligen Streitereien mit dem Verbündeten, der die menschliche Größe Moltkes
und der Goltz´ so sehr bewundert hatte, an Falkenhayn nun aber Anlaß zur Kritik
fand.“933
930
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 112f. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur
1937, S. 15.
931
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 29.
932
Offenbar war Schraudenbach zudem körperlich nur eingeschränkt tauglich, was die Vermutung
nahelegt, daß er als Schwiegersohn eines ehemaligen bayerischen Kriegsministers auch durch
persönliche Beziehungen das Kommando in der Türkei erwirkt hatte. Unger, Bayerische
Militärbeziehungen 2003, S. 112f.
933
Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 93f.
234
Ein klares Anforderungprofil für die deutschen Offiziere im Osmanischen Reich ist
nicht zu erkennen, doch fällt auf, daß eine Anzahl Deutscher offenbar nicht die
notwendigen charakterlichen Voraussetzungen für eine sachdienliche und letztlich
effektive Zusammenarbeit mitbrachte. Bei ihnen dominierten eine Sozialisation und
ein Selbstverständnis, die aus vermeintlicher Überlegenheit und Überheblichkeit
gespeist wurden sowie aus einem Anspruch, der schon in Deutschland zunehmend
fraglich wurde und nun eher forcierte Züge erhielt. Diese Problematik war zwar
bekannt, sie wurde in ihrer Bedeutung aber nicht erkannt, weil bei entsprechender
Einbindung in ein hierarchisches System die Folgen geringer waren, hingegen bei
weitgehender Selbständigkeit gravierender wurden.
Ein weiterer Punkt, der für die deutschen „Orientkämpfer“ kaum mit hinlänglicher
Klarheit erfaßt werden kann, ist die Verschiedenheit der Vorstellungen über das
Osmanische Reich. Neben den allgemeinen Überlegungen zu den deutschen
Offizierkorps934 wurde zumindest für die bayerische Seite nachgewiesen, daß mehr
als die Hälfte dieser Inhaber höherer Stellen in der türkischen Armee Offiziere mit
humanistischer Bildung waren.935 Dies mag in ähnlicher Weise für die Gesamtheit
der deutschen Offiziere im Orient zutreffen, denn zahlreiche Veröffentlichungen
enthalten Hinweise auf antike Literatur, wobei die Ilias des Homer und die Anabasis
Xenophons, also Werke, die in der Regel von Abiturienten in der Schule behandelt
worden waren, am häufigsten genannt werden.936 Bei vielen Soldaten, die in Palästina
eingesetzt waren, trat noch das Wissen über „das Heilige Land“ und Städte wie
Jerusalem, Bethlehem oder Nazareth hinzu.937
Eine dritte nachweisbare Quelle für das unreflektierte Orientbild der Deutschen
waren in Deutschland populäre Fiktionen, wie Karl Mays Romane oder die „Märchen
aus tausendundeiner Nacht“ sowie ältere Reiseliteratur.938 Besonders hervor stach die
934
Siehe oben, S. 116-122.
Unger, Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 145.
936
Zum Beispiel: Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917, S. 16. Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 126-129. Lawetzky, Otto: Krieg im Heiligen Land – Erlebnisse eines
Truppenarztes in Vorderasien, Berlin 1938, S. 50. (Im Folgenden: Lawetzky, Krieg 1938.)
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 63.
937
Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 91. Drexler, Jildirim 1919, S. 40f.
938
Lawetzky, Krieg 1938, S. 9. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 15. Zur
Reiseliterartur des ausgehenden 19. Jahrhunderts findet sich eine gute und übersichtliche Arbeit bei:
935
235
umfangreiche Berichterstattung anlässlich der Besuche Wilhelms II. im Osmanischen
Reich.939
Nicht zu unterschätzen ist auch die Nachwirkung des im 19. Jahrhundert verbreiteten
„Orientalismus“. Die Begeisterung bürgerlicher Kreise für den „bunten Orient“ hatte
in vielen, alltäglichen Bereichen ihren Niederschlag gefunden. Hotels wurden „im
orientalischen Stil“ eingerichtet, Literatur beinhaltete Sujets, die als „typisch
orientalisch“ bezeichnet wurden, und in der Malerei kam die „Faszination Orient“
ebenfalls zum Ausdruck.940
In Ermangelung neuerer militärischer Literatur über das künftige Einsatzgebiet
griffen die deutschen Offiziere auf die Aufzeichnungen Moltkes aus der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts und die populären Schriften des Freiherrn von der Goltz
zurück.941 Da sich das Osmanische Reich in den letzten fünf Jahren vor
Kriegsausbruch gravierend verändert hatte, werden die Offiziere allerdings nur
begrenzten Nutzen aus diesen Studien gezogen haben.
Generell läßt sich kaum sagen, wie viele der Schilderungen auf Vorbildungen
hinweisen, die bereits vor Kriegsantritt bestanden haben oder auf solche, die im
Nachhinein in die Aufzeichnungen eingeflossen sind. Selbst „farbenfrohe“
Äußerungen, wie sie Felix Guse benutzt, lassen nur vage auf die Quellen schließen:
Erker-Sonnabend, Ulrich (Hrsg.): Orientalische Fremde – Berichte deutscher Türkeireisender des
späten 19. Jahrhunderts, Bochum 1987.
939
Die Berichterstattung zum Kaiserbesuch wird thematisiert bei: Honold, Alexander: Der letzte
Kreuzritter – 29./31. Oktober 1898: Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem, in: Honold, Alexander/Scherpe,
Klaus R.: Mit Deutschland um die Welt – Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit,
Stuttgart/Weimar 2004.
940
Grundlegende Angaben und Definition zur Entwicklung des deutschen Orientalismus im (frühen)
19. Jahrhundert bei: Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus – Regeln deutschmorgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005 (siehe hier besonders die
räumlichen und ethnischen Einrenzungen auf S. 96-101 u. S. 126-142.). Zur Malerei siehe einführend
(aber ebenfalls mit Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert): Günther, Erika: Die Faszination des
Fremden – Der Malerische Orientalismus in Deutschland, Münster 1990. Aufsätze mit größerer
zeitlicher Nähe zum Untersuchungszeitraum: Innerhofer, Roland: „Mir ist so orientalisch zu Muth“ –
1897: Paul Scheerbart publiziert arabische Romane; Bopp, Petra: Orientalismus im Bild – 1903:
Rudolf Lehnerts erste Photoexkursion nach Tunesien und die Tradition reisender Orientmaler;
Scherpe,Klaus R.: Der Orient im Interieur – Mai 1905: Die Zeitschrift Innen-Dekoration feiert die
Exotik des Wiesbadener Palast-Hotels; alle Aufsätze in: Honold, Alexander/Scherpe, Klaus R.: Mit
Deutschland um die Welt – Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart/Weimar
2004.
941
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 166. Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 94. Unger,
Bayerische Militärbeziehungen 2003, S. 147.
236
„Von klein auf war uns die Türkei, schon aus zahlreichen Kadigeschichten, bekannt
als das Land der krummen Urteilssprüche, der Intriganten, der Korruption, der
grausamsten Despotie.“942
Genausowenig lassen sich verläßlich darüber Aussagen treffen, ob das Orientbild des
Betreffenden größeren Einfluß auf seine freiwillige Meldung in türkische Dienste
besaß. Daß in den Köpfen der Soldaten aber mindestens ein Klischee von „dem
Orient“ mitschwang, geht schon aus der Enttäuschung hervor, die sich der Deutschen
bemächtigte, wenn sie die Grenze zum Osmanischen Reich überschritten. Major Guhr
schreibt:
„Am Morgen des dritten Tages erreichten wir die türkische Grenze. Die bebaute
Landschaft mit den zahlreichen Ortschaften verschwand, öde Steppen, mit spärlichen
braunen Gräsern bewachsen, traten an ihre Stelle.“943
Solche und ähnliche Schilderungen sind zahlreich in den Memoiren. Mal wird die
Gegend mit einem deutschen Truppenübungsplatz ohne Vegetation, mal mit einer
fremden Ödnis verglichen.944 Die Schilderungen der Wüste, der Gebirge oder
Steinwüsten entsprechen zumeist diesen Empfindungen der leeren, trostlosen und
harten Umwelt, während die Städte sehr häufig als dreckig und abstoßend
beschrieben werden.945 Darunter mischten sich aber immer wieder auch
Schilderungen von der Faszination der Fremdartigkeit und „Buntheit“ des
Morgenlandes, seiner historischen Stätten und Bauten.946 Die deutschen Soldaten
besaßen offenbar ein eigentümlich zwiespältiges Verhältnis zum neuen Einsatzgebiet:
„Eigenartig berührten überall die Gegensätze zwischen europäischer Kultur und
grenzenlosem
Schmutz,
zwischen
den
glänzenden
Bauwerken
und
ihrer
Verwahrlosung. Aber alles vergoldeten die Strahlen der Sonne und verliehen ihm den
Zauber des Orients.“947
Diese Zwiespältigkeit äußerte sich jedoch nicht nur in der Wahrnehmung des fremden
Landes und seiner Kultur, sondern auch im dienstlichen Umgang mit dem türkischen
942
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 103.
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 21.
944
Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917, S. 14. Schraudenbach, Muharebe 1925, S.
23.
945
Lawetzky, Krieg 1938, S. 24. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 150.
946
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 127f. Römer/Ande: Mit deutschen Maschinengewehren 1917,
S. 15. Drexler, Jildirim 1919, S. 25-28.
947
Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 213.
943
237
Bundesgenossen. Die größte Auffälligkeit hierbei ist die Unterteilung der türkischen
Streitkräfte in zwei „Blöcke“: Die Mannschaften und die Offiziere.
IV.2. „Tapfere Askers“ und „Feige Araber“ – Die Mannschaften der
osmanischen Streitkräfte
In den Augen vieler deutscher Offiziere genoß der türkische Soldat (türk. Asker) –
gemeint ist hier der ethnisch türkische Soldat – ein weitaus höheres Ansehen als ein
Armeeangehöriger anderer Volksgruppen im Osmanischen Reich. Obwohl es strenge
Rekrutierungsbeschränkungen im osmanischen Staat gab, diente eine Vielzahl
verschiedener Völkerschaften in der Armee. Höheres „Ansehen“ bedeutet allerdings
nicht unbedingt, daß die Verantwortung oder Fürsorgepflicht, die so mancher
deutsche Offizier gegenüber seinen deutschen Mannschaften empfunden haben mag,
sich in vollem Maße ebenso auf die türkischen Untergebenen erstreckte, sondern
bezieht sich auf die positive Abfassung zahlreicher Urteile über türkische
Mannschaftsdienstgrade angesichts der großen Anzahl negativer Bemerkungen über
die allgemeinen Verhältnisse im Orient.
Die positive Beurteilung ging meist einher mit einer – wie auch immer begründeten –
Beurteilung des „Volkscharakters“ der jeweiligen Mannschaften:
„Der Türke ist im allgemeinen ein ganz vortrefflicher Soldat. Ich spreche hier nur
vom Anatolier. Er besitzt zwar nicht das Draufgängertum, wie es in unserer alten
glorreichen kaiserlichen Armee herrschte, wohl aber eine bewundernswerte
Zähigkeit, die sich namentlich in der Verteidigung geltend macht.“948
„Der Anatolier ist [...] ein starker Volksschlag geblieben. [...] Er ist körperlich
widerstandsfähig, ehrlich und von anständiger Denkungsart. Er ist diszipliniert; in
ihm wohnt eine vorbildliche Treue.“949
Solche Äußerungen sind zahlreich und betonen stets die „Brauchbarkeit des
Soldatenmaterials“.950 Dieser Eindruck „grundsätzlicher Brauchbarkeit“ scheint sich
948
Schreiben des Generalmajors a.D. Albert Heuck an das Reichsarchiv vom 15.12.1920, BAMA
Freiburg W 10/ 51677, [S. 4]. (Im Folgenden: W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv.)
949
Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935, S. 157f.
238
auch während des Krieges nicht geändert zu haben, denn noch im Dezember 1917
attestiert Marschall Liman von Sanders in einer Denkschrift dem türkischen Soldaten
„vortreffliche Brauchbarkeit“.951 Es ist müßig an dieser Stelle über die (Un-)
Wissenschaftlichkeit solcher Urteile zu diskutieren, da es sich offensichtlich um
stereotype und damit undifferenzierte Vorstellungen handelt. Dennoch ermöglichen
die hier gezeichneten Bilder Rückschlüsse auf ein verbreitetes Allgemeinbild der
Deutschen vom türkischen Verbündeten.952 Die Forschung geht davon aus, daß
Stereotype unter anderem durch die Erfahrung mit einem Gegenüber entstehen, das
als „Prototyp“ für ein Volk oder eine Gruppe wahrgenommen wird. Dabei spielt der
Informationsstand des Beurteilenden eine Rolle, denn je geringer dieser ist, desto eher
ist die urteilende Person bereit, ihre begrenzten Erfahrungen auf eine große Gruppe
zu projizieren. Dabei werden häufig (ob absichtlich oder unabsichtlich) Umstände
ignoriert, die das eigene Vorurteil revidieren könnten.953 In der speziellen Situation,
in der sich die Militärberater befanden, spielte zusätzlich die eingangs erwähnte
Apperzeptionshaltung eine gewichtige Rolle. Die Strukturen und Ereignisse mit
denen die deutschen Soldaten konfrontiert wurden, verglichen sie offenbar mit den
ihnen „bekannten“ Verhältnissen im Deutschen Reich. Die „Bekanntheit“ muß an
dieser Stelle relativiert werden, handelte es sich doch augenscheinlich um ein
Autostereotyp, das die realen Verhältnisse in der (fernen) Heimat idealisierte.
Zugleich flossen im Rahmen der Einordnung in Bekanntes auch die bereits
vorhandenen Orientbilder – etwa aus populärer Literatur – in die Beurteilung ein. Aus
den rudimentären Informationen über Fakten, unbelegten Vorurteilen über die Türkei
und dem eigenen Idealbild ließen sich verhältnismäßig einfach Bewertungsmaßstäbe
erstellen, die zudem problemlos mit den deutschen Kameraden ausgetauscht werden
konnten. Da die deutschen „Orientkämpfer“ nur unzureichend auf den Dienst im
Osmanischen Reich vorbereitet worden waren, liegt die Vermutung nahe, daß die
950
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 39. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937,
S. 60.
951
Denkschrift Marschall Liman von Sanders „Der heutige Zustand der tuerkischen Armee“ vom
13.12.1917, BAMA Freiburg N 247/ 40, [S. 4].
952
Dabei liegt die Arbeitshypothese zugrunde, „daß mit großer Häufigkeit genannte Eigenschaften
auch große Wahrscheinlichkeit haben, im Urteil eines einzelnen vorzukommen“. Bergius, Rudolf:
Sozialpsychologie, Hamburg 1976, S. 157.
953
Hort, Rüdiger: Vorurteile und Stereotype – Soziale und dynamische Konstrukte, Saarbrücken 2007,
S. 26-29.
239
Meinungsbildung aufgrund solcher stereotypen Vorstellungen geschah. Dieser
Eindruck wird insbesondere dadurch verstärkt, daß die Urteile häufig von
verallgemeinernden kulturellen und ethnischen – an manchen Stellen auch
„rassischen“ – Ausführungen begleitet wurden. Hans Kannengießer Pascha gibt in
seinem Buch über Gallipoli solche Einschätzungen der verschiedenen Völkerschaften
und offenbar verbreitete Vorurteile wieder:
„Armenier, Griechen, Juden und Levantiner bilden das Hauptkontingent der
Nichtmuhamedaner. Sie beherrschen Handel und Wandel, ohne sie kein Geschäft.
[...] Ein Mischvolk aus diesen Rassen [Armenier, Griechen und Juden], mit
gelegentlichem Einschlag französischem und italienischen Blutes, sind die an den
Ufern der Levante großgewordenen Levantiner. Sie vereinigen alle schlechten
Eigenschaften ihrer Stammväter in sich. [...] Diesen Schmarotzern gegenüber, und sie
an Zahl bei weitem übertreffend, standen die Muhamedaner, aber auch sie einheitlich
nur im Glauben, nicht nach der Rasse. Es war der immer vorhandene Unterschied
zwischen Türken und Arabern, von denen die letzteren im national türkischen Sinne
nicht zuverlässig waren. Außerdem gab es noch Albaner (Arnauten), Bosniaken,
Kurden, Tscherkessen, Lasen, Georgier [...]. Endlich unterschied man noch zwischen
dem europäischen Türken, dem Thrazier, und dem asiatischen, dem Anatolier, der
Perle des Ganzen.“954
Ähnlich „rassentheoretisch“ geprägte, wenngleich nicht ganz so scharfe Äußerungen,
finden sich bei anderen Deutschen.955 Doch nicht immer sind die anatolischen Türken
„die Perle“. Prof. Mayer entwickelt in seinem „Geheimbericht“ über Land und Leute
in der Türkei ein gegenteiliges Bild. Für ihn sind die christlichen Völker des
Osmanischen Reiches die produktiven Mitglieder der Gesellschaft, während die
Türken als „barbarische“ Unterdrücker dargestellt werden.956 Diese Einstellung
erwuchs aus seinen Erfahrungen im osmanischen Sanitätswesen, über die später noch
gesprochen werden wird. Eine derart differierende und religiös beeinflußte
Beurteilung des osmanischen Bündnispartners ist unter den deutschen Soldaten sehr
selten. Allerdings sind die Beurteilungen über die Leistungsfähigkeit der türkischen
954
Kannengießer, Gallipoli 1927, S. 33f.
Endres, Die Türkei 1916, S. XIII – XVI. RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 21-24.
956
Prof. Dr. Georg Mayer, „Geheimbericht: Land und Leute in der Türkei“, o. Dat. [vermutlich März
1916], S. 1-3.
955
240
Soldaten durchaus unterschiedlich. Felix Guse etwa berichtet in einem ausführlichen
Kapitel über die Zusammenarbeit und kommt dabei zu einem durchaus ambivalenten
Urteil.
Auf der einen Seite beurteilt er „die Türken“ als lernfähig, begabt, liebenswürdig und
gehorsam. Andererseits bezeichnet er sie als faul, kleinmütig, gerissen und zuweilen
überheblich.957 Was an seinen Ausführungen jedoch überrascht, ist das gewisse Maß
an Verständnis, das er für die negativen Eigenschaften aufbringt, indem er darauf
verweist, daß es sich in Wahrheit eben nicht um Bösartigkeit handele, sondern
lediglich um anderes Verhalten durch unterschiedliche Sozialisation, die von vielen
Deutschen falsch interpretiert worden sei. Als Beispiele hierfür fügt er die
verschiedenen Sitten im täglichen Umgang miteinander an. So wurde das Bestätigen
durch Kopfnicken im Orient als Ablehnung verstanden und das „Abwinken“ mit der
Hand galt als Aufforderung näher zu treten. Ebenso sei in Europa die Einstellung
„Zeit ist Geld“ verbreitet, während im Osmanischen Reich gelte „Alle Eile ist vom
Teufel“.958 Was hier als nebensächliche Beobachtung betrachten werden könnte,
konnte in der Tat fühlbare Auswirkungen haben. Ein Nichbeachtung der
Umgangsformen konnte rasch als Unhöflichkeit oder – je nach schwere des deutschen
„Fauxpas“ – Beleidigung ausgelegt werden. Hauptmann Merkel, im Rahmen des
„Yildirim“-Unternehmens 1917/18 als Chef der deutschen Etappen-Inspektion in
Damaskus eingesetzt, bestätigt, daß solchermaßen entstandene Reibungen die
Effektivität der Zusammenarbeit spürbar mindern konnte. Hingegen habe
„[g]eschickte persönliche Behandlung [...] oft Wunder gewirkt“.959 In der Tat wurde
der höfliche Umgang miteinander offenbar für so wichtig erachtet, daß Guse die
„orientalische Höflichkeit“ als größtes Hindernis im dienstlichen Umgang ansieht.
Guse führt dafür folgendes Beispiel an:
„Auf heftiges Drängen eines Deutschen verspricht ein Etappenkommandant ihm
etwas für morgen. Am nächsten Tag ist nichts geschehen. Der Deutsche wird heftig,
der Orientale weist ihm sehr freundlich und sehr breit nach, daß es wirklich nicht
957
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 103-119.
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 104f.
959
Merkel, [o. Vorname]: Die deutsche Jildirim-Etappe, in: Zwischen Kaukasus und Sinai – Jahrbuch
des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 1, Berlin 1921, S. 110.
958
241
möglich sei. Nun der Deutsche: ‚Warum versprachen Sie es mir denn?’ – ‚Aber Sie
legten doch so großen Wert darauf.’ “960
Einem Vorgesetzten sagte man nichts Negatives direkt ins Gesicht, was nach
deutscher Dienstauffassung als „unwahre dienstliche Meldung“ ausgelegt werden
konnte.961
Guse beschreibt einige Möglichkeiten, mit deratigen Mißverständnissen umzugehen
oder sie gleich ganz zu verhindern. Ein Kompromiß war für ihn auf lange Sicht
jedoch inakzeptabel: „Das Endziel konnte nicht sein, daß wir die orientalische
Bequemlichkeit annahmen, sondern daß wir sie den Türken abgewöhnten.“962 Das
Beharren auf Wahrung der Form nach außen auf der einen Seite und die
Durchsetzung dienstlicher Interessen auf der anderen Seite bildeten so allerdings
unversöhnliche Gegenpositionen. Besonders auffällig ist hierbei die mangelnde
Bereitschaft deutscherseits (!), sich den Rahmenbedingungen im Osmanischen Reich
– die kurzfristig unmöglich zu ändern waren – bis zu einem gewissen Grade
anzupassen, wie es Freiherr von der Goltz schon 1909/10 in seinen Winken
nachdrücklich eingefordert hatte.963
Die harten Töne gegen „den orientalischen Geist“ basieren offenbar vielfach auf den
Erfahrungen der Deutschen mit den verbündeten oder unterstellten Soldaten. In vielen
Fällen wird davon berichtet, daß türkische Einheiten ohne – aus deutscher Sicht –
erkennbaren Grund vor dem Feind geflohen seien oder sich zurückgezogen hätten,
obwohl
kaum
Gefechtshandlungen
stattgefunden
hätten.
Durch
diese
Art
„eigenmächtigen Rückzuges“ kam es dann zu gefährlichen Situationen für andere
Truppenteile, da der Gegner durch die entstandenen Lücken in der Frontlinie
ungehindert vorrücken konnte, wie Hans Guhr bei den ihm unterstellten türkischen
Regimentern feststellen mußte.964 Diese Schwäche der osmanischen Armee in
grundlegendem taktischen Verhalten konnten deutsche Offiziere häufig beobachten.
960
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 107.
Langensiepen, Bernd/Nottelmann, Dirk/Krüsmann, Jochen: Halbmond und Kaiseradler – Goeben
und Breslau am Bosporus 1914-1918, Hamburg [u.a.] 1999, S. 131. (Im Folgenden:
Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999.)
962
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 112.
963
Siehe hierzu die Ausführungen oben, S. 107ff. und ANHANG A.
964
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 69.
961
242
Für die Mängel wurden aber die türkischen Truppenführer und weniger die
Mannschaften
verantwortlich
gemacht.
Wenn
aber
deutsche
Soldaten
in
Mitleidenschaft gezogen wurden, fiel die Beurteilung der verbündeten Truppen –
dann ohne derartige Unterscheidungen – wesentlich härter aus. In Palästina brachen
bei
einem
deutsch-türkischen
Angriff
im
Sommer
1918
die
türkischen
Flügeleinheiten frühzeitig zusammen, wodurch die englischen Verbände einen
erfolgreichen Gegenangriff durchführen konnten. Der deutsche Regimentskommandeur warf in seinen Aufzeichnungen der osmanischen Seite völliges
Versagen vor und sah die Türken direkt verantwortlich für den Tod seiner
Soldaten.965 Ähnlich erzürnt meldete schon 1915 Oberleutnant zur See Boltz ein
„türkisches Versagen“ an den Stab von Liman. Der Führer des M.G. Detachements
der Marine hatte am 7. August mehrere Maschinengewehre und 17 Mann in die
vorderen Linien des 25. osmanischen Infanterie-Regiments an der Suvla-Bucht
geschickt, wo sie in vorbereitete Stellungen einfließen sollten. Entgegen der
Absprache hätten die türkischen Truppen allerdings keine Stellungen ausgehoben und
die Deutschen verloren in dieser Nacht 14 Mann.966
„Orientalische Nachlässigkeit“ oder gar „Feigheit“ wurde in beiden Fällen als
ausschlaggebend für Gefallene auf deutscher Seite angeprangert. Ebenso schlimm
war es auch, wenn die „Dummheit des Orientalen“ als verantwortlich für deutsche
Verluste „erkannt“ wurde. Major Mühlmann schreibt in einem Brief an seine Eltern,
daß er in seiner Eigenschaft als Adjutant des Marschalls Liman von Sanders am
Morgen des 4. Mai 1915 die vorderen Linien der Verteidigung an den Dardanellen
inspizieren wollte:
„Oben auf die [sic] Höhe [...] wurde ich von türkischen Infanteristen angehalten, die
mir aufgeregt mitteilten, sie hätten englische Masch. Gew. gefangen. Wer beschreibt
mein Erstaunen und meinen Ärger, als ich in den sogenannten Engländern unsere
deutschen 6 Masch. Gew., die von Breslau abgegeben worden waren, erkannte.
Schon im Laufe der Nacht waren sie wegen der Unbekanntheit ihrer Uniformen
angehalten, verprügelt u. jedenfalls nicht nach vorn gelassen worden.“967
965
Kriegstagebuch des Frithjof Freiherrn. v. Hammerstein, Major und Kommandeur des Inf. Rgts. 146,
1918 (Heft 13), Eintrag vom 14. Juli, BAMA Freiburg, N 309/ 13.
966
Meldung des Oberleutnant z.S. Boltz vom 8.8.1915, BAMA Freiburg, RH 61/ 496, Blatt 186f.
967
Brief von Mühlmann an seine Eltern vom 20.5.1915, BAMA Freiburg, W 10/ 51475, S. IX.
243
Mühlmann konnte die Situation zwar aufklären, jedoch blieb der Großteil des
deutschen Materials verschollen und auch der Gesundheitszustand der deutschen
Soldaten war nicht mehr der Beste. Solche Verwechselungen konnten aber auch
tödliche Folgen haben. So wurde noch im April 1918 ein deutscher Leutnant des I.R.
146 von türkischen Posten erschossen, weil ihn diese wegen seines Tropenhelmes für
einen Briten hielten. Da sich solche Fehler häuften und die deutschen
„Asienkämpfer“ immer wieder unter türkischem Feuer lagen, wurde schließlich
befohlen, anstatt des Helmes die deutsche Tropenmütze zu tragen, wodurch die
Situation entschärft werden konnte.968
Ähnliche Erfahrungen mit mangelhafter Freund-Feind-Erkennung mußten auch die
deutschen Flieger machen.969 Entsprechend negativ beeinflußte der Beschuß durch
verbündete Soldaten die Meinung der Deutschen von den Türken. Leutnant Otto
Ungerer, der 1917/18 in Palästina eingesetzt war, kommt in einem Brief an seine
Eltern zu folgendem Urteil über den Verbündeten:
„Wir haben schon oft geschimpft über das Knallen der Türken, aber Offiziere und
Mannschaften sind zu dumm.“970
Diese Beurteilung führte im Sommer 1918 während der Kämpfe am Jordan zu
schwerwiegender Verwirrung. So vermutete eine vorgestoßene deutsche Abteilung
des Asienkorps, sie würde von ihren türkischen Verstärkungen beschossen, wie dies
schon oft vorgekommen war. Erst als ernste Verluste eintraten, wurden Ordonnanzen
zurückgeschickt, die feststellten, daß die deutsche Einheit von britischen Truppen
eingekreist worden war.971
Zum einen wird hier deutlich, daß auch die türkischen Offiziere nicht besonders hoch
geschätzt wurden, worauf später noch ausführlicher einzugehen sein wird. Zum
anderen finden sich weder hier noch in den anderen Klagen oder Urteilen über die
„Dummheit“ der Soldaten eindeutige Hinweise darauf, daß eine ausführliche
Belehrung der osmanischen Truppenteile durch türkische oder deutsche Offiziere
968
Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 226.
Siehe unten, S. 319.
970
Brief von Leutnant Ungerer an seine Eltern vom 4. Mai 1918, BAMA Freiburg, MSG 2/ 2888, S. 7.
971
Es handelte sich um Teile der Infanterie-Bataillone 702 und 703. Nach der Einkreisung hielten
diese noch einige Stunden aus, mußten aber angesichts schwerer Ausfälle und sommerlicher Hitze (46o
C im Schatten und 68o C in der Sonne) aufgeben. Genaue Verlustziffern werden nicht genannt, aber
etwa ein Drittel der Deutschen galt als gefallen. Simon-Eberhard, Max: Mit dem Asienkorps zur
Palästinafront, (Selbstverlag) Berlin 1927, S. 97-102.
969
244
stattgefunden hätte. Die Anspielung darauf, daß „geschimpft“ wurde, kann ebensogut
bedeuten, daß lediglich die jeweiligen Schützen „belehrt“ wurden. In den für den
einfachen Soldaten meist unübersichtlichen Verhältnissen an den Fronten mußte jeder
fremde Soldat zunächst als Gefahr betrachtet werden, auch wenn sicher eine gewisse
„Überängstlichkeit“ der türkischen Mannschaften zu erkennen ist. Dieser Umstand
kann jedoch kaum verwundern, wenn man den geringen Ausbildungsstand der
osmanischen Soldaten berücksichtigt. Durch die hohen Personalverluste im Verlauf
der Kämpfe und sogar bei Märschen mußte zudem immer schneller Nachschub
beschafft werden, der weitere Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten mit sich
brachte:
„Welche Schwierigkeiten dabei entstehen, dafür als Beispiel, daß ein großer Teil der
Ersatzmannschaften völlig unausgebildet war, nicht mal das Gewehr laden konnte
[...].“972
Die Klagen über den geringen Ausbildungsstand der türkischen Truppen und der
Ersatzmannschaften sind in zahlreichen Berichten und Memoiren zu finden. Der
bayerische Rittmeister/osmanische Major Welsch beklagt in seinem Bericht über den
Vorstoß zum Suez-Kanal 1915, daß die Mannschaften und Geschützbesatzungen
keinerlei Erfahrung im scharfen Schießen aufzuweisen hätten.973 Als Kommandeur
der 29. osmanischen Infanterie-Division mußte Oberstleutnant Guhr bei den Kämpfen
im Kaukasus feststellen, daß seine Artillerie auf einem Ausbildungsstand der 1880er
Jahre war.974 Oberstleutnant Reuß, der ebenfalls im Kaukasus eingesetzt war,
bezeichnet die Leistungen seiner Batterien als „ungenügend infolge der mangelhaften
Übung u. der Nachlässigkeit u. Ungenauigkeit der Unteroff. u. Mannschaften“.975
Liman von Sanders sieht 1917 die Schuld für die ständigen Rückschläge in Palästina
bei der türkischen Heeresleitung, die den Truppen seit Jahren keinerlei Ausbildung
habe zukommen lassen.976 Die Liste der Klagen über die Ausbildung ließe sich noch
viel weiter fortsetzen, denn offenbar sah jeder deutsche Ausbilder oder Truppenführer
972
Brief von Mühlmann an seine Eltern vom 20.5.1915, BAMA Freiburg, W 10/ 51475, S. XIV.
Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major
Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 1.
974
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 70.
975
Abschrift von Bemerkungen des Oberstleutnant Reuß zu Übungen mit den 6 Gebirgs-Batterien. des
2. Artillerie-Regiments am 3.3.18, BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106.
976
Denkschrift Marschall Liman von Sanders „Der heutige Zustand der tuerkischen Armee“ vom
13.12.1917, BAMA Freiburg N 247/ 40, [S. 4].
973
245
gravierende Ausbildungsmängel bei den osmanischen Truppen. Wohlgemerkt
handelte es sich hier nicht nur um die Diskrepanz zwischen deutscher und türkischer
Ausbildung, sondern um den Mangel an grundlegenden Fertigkeiten eines Soldaten,
zu denen wohl in jeder Armee die Handhabung der eigenen Waffe gehörte. Infolge
des
ständigen
Personalmangels
wurde
die
Mehrzahl
des
osmanischen
Mannschaftsersatzes sofort an die Front gebracht, wo sie meist minimale
Einweisungen erhielten und ansonsten vollständig auf „learning by doing“
angewiesen waren.977
Die Schuld für diese Mängel wurde aber nur selten dem türkischen Soldaten gegeben,
den viele Deutsche ja als „grundsätzlich brauchbar“ einstuften. Es konnte auch kaum
jemand erwarten, daß die Mannschaften sich selber ausbildeten. Doch fiel den
deutschen Beobachtern eine „Tugend“ des einfachen Mannes auf, die zugleich ein
„militärischer Fluch“ sein konnte: Der orientalische Fatalismus oder Kismetglaube.978
Damit meinten die Europäer die Schicksalsergebenheit der Truppen, die dafür sorgte,
daß sie trotz widrigster Umstände selbst die größten Strapazen ertrugen, wenn sie an
der Front und damit unter Aufsicht waren.
„Still duldet er alles, still stirbt er, jeden unnötigen Lärm vermeidet er. [...] Der
türkische Soldat klagt aber nicht, er nimmt alles so hin, wie es ihm gegeben wird,
wenn sein Vorgesetzter es für richtig hält oder ihm nicht eine andere Meinung
beibringt.“979
Auch hier gilt, daß sich dem Leser von Aufzeichnungen deutscher „Orientkämpfer“
bei fast allen Beschreibungen des türkischen Soldaten dieser Fatalismus – oft als
„blindes Gottvertrauen“ geschmäht – zeigt. Der Glaube an das vorherbestimmte,
unabänderliche Schicksal war im Osmanischen Reich in der Tat während des
Weltkrieges noch weit verbreitet.980 Soziale und religiöse Prägung hingen individuell
zusammen und beeinflußten damit unter anderem kollektiv die militärische
977
Ausnahmen waren eingereihte Deserteure, die bereits über ein gewisses Maß solcher Erfahrung
verfügten. Siehe etwa oben, S.162.
978
Kismet ist das türkische Wort für „Schicksal“.
979
RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 20f.
980
Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 696.
246
Leistungsfähigkeit der Soldaten. Dies konnte eher positive Eindrücke hinterlassen,
wie bei dem bayerischen Hauptmann Endres:
„Der türkische Soldat ist, sofern er anatolischer Bauer ist, sehr gut, namentlich im
Ertragen von Strapazen und im Erdulden von Hunger, Durst und Entbehrungen jeder
Art. Sein Temperament ist nicht groß, seine Selbständigkeit noch geringer. [...] Aber
er vertraut auf Gott.“981
Ebenso konnte aber das „simple“ Erdulden als negative Eigenschaft gedeutet werden,
wie aus dem Bericht des Majors Fischer über den Vorstoß zum Suez-Kanal
hervorgeht:
„Den Soldaten fehlte der Wille zum Sieg. Ohne Freude am Handwerk, ohne Liebe
zum Vaterland, ohne Sinn für die Größe der Aufgabe liefen sie mit mattem Herzen
einer gleichgiltigen [sic] Zukunft entgegen, die vom Willen Allahs längst
vorherbestimmt war und an der sie doch nichts mehr ändern konnten.“982
Aus dieser recht vordergründigen Erklärung für eine militärische Niederlage spricht
zugleich
eine
deutsche
Erwartungshaltung,
die
wirklichkeitsfremd
war.
Nationalistische Tendenzen keimten erst seit der „jungtürkischen Revolution“ auf und
hatten seither nur in einem kleinen – überwiegend in Konstantinopel beheimateten –
Bevölkerungskreis Wiederhall gefunden. Für die Masse der osmanischen
Mannschaften und insbesondere die arabischen Soldaten, die von dem jungtürkischen
Nationalismus noch stärker diskriminert wurden, konnte „Liebe zum Vaterland“
keine Motivation sein. Im Selbstverständnis der Mehrheit deutscher Offiziere war der
Militärdienst ohne ein solches „Nationalgefühl“ sowie das bloße „Ertragen“ des
Dienstes jedoch undenkbar. Besonders übel wurde daher die „Geduldigkeit“ der
Mannschaften gerügt, wenn sie in den Augen der Vorgesetzten offensichtlich zur
Vernachlässigung militärischer Pflichten führte und eine Gefahr für den erfolgreichen
Verlauf von Kämpfen darstellte.
Nachdem Major Mühlmann am Morgen des 4. Mai 1915 bereits die deutschen
Matrosen aus „türkischer Gefangenschaft“ befreit hatte, inspizierte er die vorderen
Linien der osmanischen Verteidiger. Dort bot sich ihm ein schreckliches Bild. Die
981
Endres, Franz Carl: Der Weltkrieg der Türkei, Berlin 1919, S. 8f. (Im Folgenden: Endres, Der
Weltkrieg 1927.)
982
Bericht des Majors Fischer an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 17.2.1915, KA
München, MKr. 1782/2, S. 4f.
247
Grabenbesatzungen hatten solch schwere Verluste erlitten, daß die Stellungen voller
Leichen lagen. Da sich niemand die Mühe machte, diese wegzuschaffen, lagen sie
zwischen den Ersatzmannschaften und verwesten. Die Stellungen selber waren nur
unzureichend angelegt und nicht tief genug, um auch nur einem knienden Schützen
Deckung zu bieten. Die viel zu flachen Annäherungsgräben boten nachrückenden
Verstärkungen ebenfalls kaum Deckung und waren zudem mit den Körpern
Gefallener angefüllt. Ein Vorgehen in die Linie war nur über ungedecktes Gelände
möglich, was zu neuerlichen Verlusten führte. Da Latrinen nicht vorhanden waren,
verrichteten die Soldaten ihre Notdurft in den Stellungen, was den Geruch und die
Seuchengefahr noch verschlimmerte. Diese Zustände wurden von den Mannschaften
hingenommen:
„Sie schossen nur wenig, sassen aber unnötig da, statt ihren Spaten in die Hand zu
nehmen u. ihre Stellung zu verbessern.“983
So entsteht der Eindruck, daß der türkische Mannschaftssoldat nicht unschuldig an
seiner Misere war, da er selbst keine Initiative zeigte, Mängel abzustellen. Allerdings
greift dieser Eindruck zu kurz, denn die türkischen Soldaten waren absichtlich so
erzogen, daß sie auf Befehl handelten und keine Eigeninitiative zeigten. Daß es nach
deutscher Ausbildung grundlegende Aufgaben gab, für die der Soldat selbständig
Sorge tragen mußte (z. B. der Ausbau und die Instandhaltung der eigenen
Stellungen), hatten die türkischen Mannschaften nicht gelernt. Auch nach dem Ende
der Herrschaft des „paranoiden“ Sultans Abdul Hamid II. hatte die Armee offenbar an
der ständigen Überwachung ihrer Soldaten festgehalten. Generalmajor Kannengießer
berichtet, daß die Vorgesetzten immer im Dienst sein mußten und daß in einigen
Fällen sogar durch einen bewaffneten Posten vor der Tür sichergestellt wurde, daß
der Vorgesetzte sein Dienstzimmer nicht unerlaubt verlassen konnte. Da somit
ständig ein Vorgesetzter anwesend war, mußten und konnten die jeweiligen
Untergebenen keine Eigenverantwortung übernehmen.984
Jede Form des Ungehorsams konnte drastisch sanktioniert werden, wobei
Stockschläge ein häufiges Mittel waren, dessen sich durchaus auch deutsche Offiziere
bedienten, wie Oberstleutnant Heuck schreibt:
983
984
Brief von Mühlmann an seine Eltern vom 20.5.1915, BAMA Freiburg, W 10/ 51475, S. XIII.
Kannengießer, Gallipoli 1927, S. 72f.
248
„Gegen Trägheit und Ungehorsam erwies sich den Mannschaften gegenüber als
bestes Mittel die körperliche Züchtigung. Jeder Vorgesetzte konnte eine Anzahl
Stockschläge verhängen. [...] die türkischen Offiziere erklärten mir, ohne
Stockschläge könne man nicht auskommen. Die Strafe war gesetzlich. Arreststrafen
machten fast gar keinen Eindruck. Der Türke ist zu phlegmatisch, als daß er die
Freiheitsentziehung als harte Strafe empfinden könnte.“985
Die Prügelstrafe durfte allerdings nicht durch Offiziere und schon gar nicht durch
deutsche Offiziere vollstreckt werden. Ein Umstand, den einige Deutsche nicht
beachteten und damit für ernste Verstimmung beim Bundesgenossen sorgten.986
Damit wird deutlich, daß die von deutscher Seite häufig monierte mangelnde
Eigeninitiative der Soldaten, wie auch der Offiziere, strukturell bedingt war und eine
Besserung, die schon von den zahlreichen Militärberatern der Vorkriegsjahre nicht
erreicht worden war, unter den Verhältnissen des Krieges – die eine gründlichere
Ausbildung erst recht nicht zuließen – kaum zu erzwingen war.
Und ein weiterer Umstand wird bereits offensichtlich: Der Militärdienst im
Osmanischen Reich bot für den einfachen „Asker“ keinerlei Anreize. Der Dienstherr
konnte schon aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit bestenfalls mehr
schlecht als recht dafür sorgen, daß seine Soldaten mit dem Nötigsten ausgestattet
waren. Diese Zustände hatten sich bereits vor dem Kriege abgezeichnet, als die
Militärmission
unter
Liman
von
Sanders
auf
ein
buntes
Gemisch
von
Waffensystemen und Ausrüstungsgegenständen traf. Unter den Bedingungen des
Krieges, der höchste Anforderungen an Mensch und Material stellte, war die Logistik
im Osmanischen Reich weitgehend zusammengebrochen. Vor allem in den
entlegeneren Reichsteilen, die infrastrukturell kaum erschlossen waren, machte sich
bald Mangel bemerkbar. Hans Guhr berichtet über die ihm unterstellten Truppen im
Kaukasus:
„Die Bekleidung und Ausrüstung war jammervoll. Stiefel und Leibwäsche besaßen
die Offiziere nur noch vereinzelt, die Mannschaft durchweg nicht mehr. Sie trug
selbstgefertigte Fellsandalen, die an Riemen, Stricken oder Bindfaden an den
985
986
W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv, [S. 13f].
Siehe hierzu unten, S. 349f.
249
Unterschenkeln festgebunden wurden. Höchstens jeder dritte oder vierte Mann
verfügte über einen Mantel, eine wollene Decke oder Zeltbahn. Durch den Mangel an
Flickstoffen waren die Anzüge völlig zerrissen. Ein Knopf ließ sich schwer auftreiben.
Bindfaden, Binsenhalme oder Stecknadeln dienten daher zum Zusammenhalten der
Kleidungsstücke, die teils aus Tuch, teils aus Khaki und anderen verschiedenen
Stoffen bestanden. Die Bezeichnung ‚Uniform’ war nicht mehr am Platze. Tornister
oder Rucksäcke hatten die meisten Soldaten verloren. Sie wurden auch von ihnen bei
dem gänzlichen Fehlen von Gepäcksachen kaum vermißt.“987
Dem Freiherrn Kreß von Kressenstein bot sich während der Vorbereitungen zum
Vorstoß gegen den Suez-Kanal ein niederschmetterndes Bild:
„Wir begegneten einer Anzahl militärischer Kamelkolonnen [...]. Der Anblick dieser
mangelhaft ausgerüsteten
Formationen
ohne
Disziplin
und
Ordnung, mit
halbverhungerten Tieren und mit den in Lumpen gehüllten, wie die übelsten
Landstreicher
aussehenden
Kameltreibern
unter
Führung
energieloser,
unbrauchbarer Offiziere deprimierte mich in hohem Grade und erfüllt mich mit
ernsten Zweifeln über die Durchführbarkeit des geplanten Unternehmens.“988
Zu den Mängeln an Ausrüstung gesellte sich meist noch ein eklatanter Mangel an
Verpflegung. Die Soldaten mußten häufig von geringsten Rationen leben, die häufig
nur aus getrockneten Oliven oder Früchten und etwas Brot, allerdings auch bei
„Vollverpflegung“ aus nicht viel mehr als Büchsenfleisch, getrocknetem Gemüse und
Reis bestanden.989 Vorräte in den Etappenorten, wie etwa Gerste oder Hafer für die
Pferde, konnten nicht rechtzeitig an die Fronten geliefert werden und verdarben in
den Magazinen. Feldküchen oder Feldbacköfen waren in der osmanischen Armee zu
selten, um wirklich von Nutzen sein zu können.990 Da außerdem der ohnehin sehr
dürftige Wehrsold nur sporadisch oder gar nicht ausgezahlt wurde, waren die
987
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 62f.
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 59.
989
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 10 u. S. 42.
990
Abschrift des Berichts von Oberst Hassan, Kdr. der 2. türk. I.D., über den Marsch seiner
Regimenter an die Irakfront 8.2.1916, BAMA Freiburg, N 131/ 2. Kreß von Kressenstein: Mit den
Türken 1938, S. 86.
988
250
türkischen Soldaten nicht in der Lage, ihre dürftigen Rationen durch Einkäufe bei der
Zivilbevölkerung aufzubessern, wie es etwa die deutschen Soldaten konnten.991
In Verbindung mit schlechten Witterungsverhältnissen mußte die mangelhafte
Ernährung und die fehlende Bekleidung verheerende Wirkung zeigen. Der bayerische
Leutnant/ osmanische Oberleutnant Max Winkler, Offizier einer schweren FeldHaubitzbatterie im Kaukasus, beschreibt den Winter 1916/17 im Gebirge:
„Schon mit den ersten Regentagen im November wurde die einzige Zufahrtsstraße
grundlos, die Etappe brach zusammen; die Truppen waren dem Hunger
preisgegeben. Bei der Infanterie ging die Katastrophe an. Die Tiere hatten
Baumrinde zu fressen oder nichts und gingen ein. Die Menschen bekamen, wenn es
gut ging, täglich eine handvoll Gerste, fingen an, Tierkadaver anzunagen, scharrten
aus dem Pferdekot, der noch aus besseren Zeiten stammte, die spärlichen Körner
heraus – schließlich verfielen sie dem Hungertyphus und siechten hin.“992
Von ähnlichen Zuständen weiß auch Oberstleutnant Paraquin aus Mossul im Bereich
der 6. Armee in Mesopotamien zu berichten:
„Allmählich griff der Hungertod auf Militärkrankenhäuser und die Front über. [...]
Die seit langen Monaten unterernährten Mannschaften siechten rettungslos dahin.
[...] Der Rest der Mannschaften war nur zum geringsten Teile dienstfähig. Die Leute
brachen bei der kleinsten körperlichen Anstrengung zusammen und starben.“993
Als wären diese Versorgungsmängel noch nicht furchtbar genug für den einzelnen
Soldaten, versagte offenkundig auch das osmanische Sanitätswesen völlig. Professor
Dr. Mayer schreibt in einem Bericht über die Sanitätsverhältnisse 1915:
„Im ganzen [sic] ging der Dienst des Sanitätswesens bei der 5. Armee allmählich
recht ordentlich. Dagegen ging es desto wüster in Konstantinopel zu und bei der
3.Armee sowie in Syrien. [...] In Konstantinopel waren die Lazarette allmählich so
991
Lawetzky, Krieg 1938, S. 173f. Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 152.
Aufzeichnungen des bayerischen Hauptmanns Franz Gürtner „Aus den Kämpfen an der PalästinaFront im September und Oktober 1918“ (hier Eintrag vom 24.9.1918), KA München, MKr. 1782/ 2,
[S. 8].
992
Winkler, Max: Eine bayerische schwere Haubitzbatterie in Wild-Kurdistan (Kaukasusfront)
1916/17, in: Die Gebirgstruppe, Bd. 15, München 1966, S. 35f. (Im Folgenden: Winkler,
Haubitzbatterie in Wild-Kurdistan 1966.)
993
Bericht Oberstleutnant Paraquin „Aufgeben des Jildirim-Unternehmens auf Bagdad. Entwicklung
der Lage zwischen August 1917 bis Mai 1918“, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 28f.].
251
verlaust, daß auch die frische Wäsche voll Läuse war. [...] Dazu herrschte unter den
Verwundeten, auch den Leichtverwundeten, eine enorme Sterblichkeit.
Als ich endlich Ende Juni 1915 nach Konstantinopel kommen konnte, fand ich dort
unglaubliche Zustände. Einige Monate hatten genügt, um den alten türkischen
Schlendrian wieder voll entstehen zu lassen; die Lazarette waren wahre
Schmutzhöhlen, die Verwundetenversorgung eine Pfuscherei übelster Art. [...] Die
Sterbenden wurden noch als „Genesende“ oder zum „Lazarettwechsel“ auf die Bahn
verladen, starben dort, wurden aus den Zügen herausgeworfen und blieben neben den
Geleisen oder neben den Haltestellen liegen, aus dem Lazarett Haidar Pascha
wurden die Sterbenden nach dem ägyptischen Spital in Skutari (Deutsches Rotes
Kreuz) verlegt, um keine Todesfälle zu haben. Überall keine Sichtung der
Verwundeten, sie lagen in den Zimmern und Gängen, von Läusen bedeckt [...]. Auf
alle meine Vorstellungen geschah nichts, das sei Kismet. – Und dasselbe Kismet
waltete dann auch im Winter 1915 mit dem Fleckfieber, wieder ganze Haufen von
Leichen längs der Bahnhöfe, niemand, der sie wegschaffen wollte, Streit hiewegen
[sic] zwischen Eisenbahnverwaltung, Kriegsministerium und Ministerium des
Inneren, die Leichen blieben liegen!“994
Noch für die Jahre 1917 und 1918 berichtet der Sanitätsunteroffizier Otto Lawetzky,
der als Truppenarzt in Palästina eingesetzt war, daß die Lazarette über zu wenig
Medikamente, Verbandmaterial und Instrumente verfügten. Außerdem waren nur
sehr wenige, meist jüngere Ärzte überhaupt hinlänglich medizinisch ausgebildet.
Zudem ließen sie den Kranken und Verwundeten gegenüber jegliches Mitgefühl
vermissen.995 Liman von Sanders erhielt Berichte und Klagen von deutschen Ärzten
über die hohe Sterblichkeitsrate unter den türkischen Soldaten, die selbst bei kleinsten
Eingriffen ihren Verletzungen erlagen:
„Operiert man nicht, so sterben sie, operiert man, so sterben sie auch.“996
Auch Mittel zur Prophylaxe fehlten. So konnten 60.000 türkische Soldaten an den
Dardanellen noch Ende 1916 nur über 8 kg Chinin zur Malariaprophylaxe verfügen.
Die notwendige Menge für einen ausreichenden Schutz betrug allerdings 3840 kg.997
994
Bericht Professor Mayers über die Sanitätsverhältnisse in der Türkei, BAMA Freiburg, W 10/
50823, S. 144f.
995
Lawetzky, Krieg 1938, S. 174.
996
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 200.
252
Hier ist nicht der Ort, die Geschichte des Sanitätsdienstes im Osmanischen Reich
während des Weltkrieges en detail wiederzugeben, zumal Helmut Becker dies bereits
in seinem sehr ausführlichen Werk anschaulich getan hat.998 Die bisherigen
Schilderungen dürften jedoch ausreichen, um zu zeigen unter welchen Umständen der
türkische Mannschaftssoldat nicht selten seinen Dienst verrichten mußte. Für viele
Krankheiten und Seuchen machten die Deutschen allerdings nicht nur die schlechte
Versorgungslage, sondern auch die mangelnde Hygiene der einheimischen
Bevölkerung verantwortlich.999 Außerdem wurden religiöse Vorschriften des Korans
als
„unhygienisch“
und
„krankheitsfördernd“
betrachtet.
So
beklagt
sich
Oberstleutnant Guse darüber, daß die Mannschaften ihre Notdurft meist direkt an den
Wasserquellen verrichteten, die auch das Trinkwasser für die Truppen lieferten, weil
ihnen ihre Religion danach rituelle Waschungen vorschreibe.1000 Otto Lawetzky
kritisiert die Weigerung des „Durchschnittssoldaten“, aus religiösen Erwägungen
keine Tiere (mit Ausnahme von Schlachtvieh) zu töten, was die Entlausung praktisch
unmöglich gemacht habe.1001
Es verwundert nicht, daß sich unter diesen Voraussetzungen auch deutsche Soldaten
ansteckten und an Seuchen verstarben.1002 In Verbindung mit dem Unverständnis für
die religiösen und zivilisatorischen Unterschiede litt das Ansehen des türkischen
Soldaten, der als „Krankheitsüberträger“ ausgemacht wurde. Die Folge war eine
strikte Trennung der Deutschen von den Türken aus Angst vor Ansteckung und ein
deutlicher Unterschied in der medizinischen Behandlung durch die de facto getrennte
Sanitätsversorgung.1003 Zwar waren deutsche Lazarette offiziell auch zur Aufnahme
von türkischen Soldaten vorgesehen, in der Praxis erhielten die deutschen Soldaten
jedoch eine bessere medizinische Versorgung, da den türkischen Formationen
997
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 118.
Becker, Helmut: Äskulap zwischen Reichsadler und Halbmond – Sanitätswesen und
Seuchenbekämpfung im türkischen Reich während des Ersten Weltkrieges, Herzogenrath 1990. (Im
Folgenden: Becker, Äskulap 1990.)
999
Teichmann, F.: Die Vorbedingungen der ansteckenden Krankheiten (Klimatologie, allgemeine
hygienische Verhältnisse, Lebensgewohnheiten und – bedingungen), in: Lewy, F.H. (Hrsg.): Arbeiten
aus dem deutschen Ortslazarett Haidar Pascha, Leipzig 1919, S. 13f. Lawetzky, Krieg 1938, S. 24 u. S.
52f.
1000
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 19f.
1001
Lawetzky, Krieg 1938, S. 169.
1002
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 120f. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 188.
1003
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 120. Becker, Äskulap 1990, S. 310f.
998
253
zumeist jedwede Möglichkeit zum Kranken- und Verwundetentransport fehlte und
die deutschen Lazarette weit hinter der Front lagen.1004
Bei diesen Rahmenbedingungen im Dienst konnte das Osmanische Reich kaum auf
freiwillige Meldungen aus der Bevölkerung zählen. Die Rekrutierung der
Mannschaften war im Kriege jedoch notwendiger denn je. Für die deutschen
Beobachter bot sich dabei das Bild, daß die türkischen Wehrpflichtigen üblicherweise
zum Dienst gezwungen wurden. Major Schraudenbach berichtet über die Vorgänge:
„Wenn die Gendarmen des Nachts irgend ein Bergdorf umstellten und dann in
dasselbe einbrachen, um frischen Ersatz für das Heer herauszuholen, so fragten sie
wenig nach dem Alter oder Geburtsschein. Wer kein genügendes Lösegeld bieten
konnte, der ging mit. Zu zweien zusammengebunden trieb man die ‚Ausgehobenen’
unter dem Wehklagen ihrer Frauen und Mütter davon, Hunderte von Kilometern weit
zur Eisenbahn.
Dann vierzig und mehr Mann in einen geschlossenen Güterwagen gepfropft – und
fort, dem harten Los des türkischen Soldaten entgegen. Nicht selten sprang ein Rudel
während der Fahrt aus dem Zug und rannte in voller Flucht davon. [...] Begann das
Verfahren Schule zu machen, so ließ der Transportführer die Wagen von außen
verriegeln und kein Mann durfte sie – zu welchem Zweck auch immer – bis zum
Reiseziel verlassen. Man warf zuweilen ein paar Melonen, einige Brote in den
Wagen, sonst blieb er unerbittlich geschlossen. Ich bin später auf Stationen der
Bagdadbahn solchen Transporten begegnet. Stinkende Brühe, Urin und Fäkalien von
drei bis vier Dutzend Menschen troff [sic] aus den Fugen der Waggons und verpestete
die Strecke. Das Land der einfachen Methoden!“1005
Auch der Unteroffizier Ernst Riester, der vor dem Kriege bei der Anatolischen Bahn
in Haidar Pascha beschäftigt war und sich bei Kriegsausbruch zu seiner Einheit nach
Deutschland begab, berichtet von ähnlichen Erlebnissen:
„[I]ch habe selbst gesehen, wie die Polizei, die jungen Leute auf der Straße anhielt,
dieselben nach ihren militärischen Verhältnissen befragte, sie hierauf [...] mitnahm
und der Militärbehörde zuführte. Im Innern mußten die Wehrpflichtigen sehr oft von
1004
1005
Becker, Äskulap 1990, S. 234-239. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 122f.
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 57.
254
der Polizei von ihren Familien weggeholt werden. Es ist unter solchen Umständen
sehr wohl begreiflich, wenn ich von verschiedenen Türken ganz verwundert gefragt
wurde, weshalb ich denn in den Krieg ginge, Meine Militärbehörde könnte mich ja
hier nicht holen und mein Leben wäre hier am wenigsten gefährdet.“1006
Viele Deutsche sahen in den äußerst harten Lebens- und Dienstbedingungen – wohl
zu Recht – die Hauptursache für die hohen Desertionszahlen.1007 Liest man ihre
Schilderungen, so verurteilen sie die Desertion zwar scharf, bringen dem anatolischen
Soldaten aber durchaus Verständnis entgegen. Der bayerische Hauptmann und
osmanische Major Hartmann bringt diese Einstellung auf den Punkt:
„Auch stehe ich nicht an, voll anzuerkennen, dass die Truppe unter so schwierigen
Verhältnissen noch das zuwege bringt, was sie tatsächlich leistet. Einer deutschen
Truppe könnten solche Zustände und Entbehrungen unter keinen Umständen
zugemutet werden.“1008
Im Ganzen wird die zwiespältige Haltung der deutschen Heeresangehörigen zum
türkischen Soldaten deutlich. Auf der einen Seite mißbilligte, ja „verachtete“ man die
türkischen Soldaten wegen der fehlenden Bildung, des Beharrens auf „antiquierten“
Religionsvorschriften, der Prägung durch „die orientalische Mentalität“ (die mit
Faulheit, Lüge und Intrige gleichgesetzt wurde) und der damit verbundenen negativen
Einflüsse auf einen geregelten, modernen Dienstablauf. Andererseits bewunderte man
den
„Asker“
für
seine
Leidensfähigkeit,
seine
Ausdauer
und
„tapfere
Pflichterfüllung“ im Kampf unter den erschreckenden Bedingungen der osmanischen
Fronten. Ein ausschließlich negatives oder auch ausschließlich positives Bild vom
türkischen Soldaten zeichnet keiner der Deutschen.
Diese Erkenntnis läßt sich jedoch nur auf den „türkischen“, also aus deutscher Sicht
„anatolischen“ Soldaten anwenden. Die osmanischen Mannschaftsdienstgrade
1006
Bericht von Unteroffizier Ernst Riester über seine Rückkehr nach Deutschland anläßlich der
Mobilmachung 1914 vom 16.10.1914, KA München, HS 1970.
1007
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 136. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 57.
Steuber, Werner: „Jildirim“ – Deutsche Streiter auf heiligem Boden, Berlin 21928, S. 68f. (Im
Folgenden: Steuber, Jildirim 1928.)
1008
Bericht des Majors Hartmann an den Chef des Stabes der Militärmission in Konstantinopel vom
20.5.1918, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 13f.].
255
anderer Ethnien, wie Araber oder Kurden wurden vollkommen anders beurteilt. Als
Beispiel sollen hier die arabischstämmigen Soldaten dienen, mit denen deutsche
Soldaten häufiger in Kontakt kamen.
Im Unterschied zu „dem türkischen Soldaten“, der immerhin als Stereotyp des
leidens- und durchhaltefähigen Befehlsempfängers gelobt wird, werden die Soldaten
aus den arabischen Provinzen ausschließlich negativ beurteilt. Erste Erfahrungen in
der Zusammenarbeit mit arabischen Verbänden konnten deutsche Offiziere bereits im
Jahre 1915 sammeln, als Oberst Freiherr Kreß von Kressenstein den ersten deutschtürkischen Vorstoß gegen den Suez-Kanal durchführte. Besonders bemerkenswert ist
dabei der Umstand, daß an diesem Gefecht reguläre und irreguläre arabische
Einheiten teilnahmen. Den deutschen Berichten nach wurden diese Einheiten aus
zwei verschiedenen „Typen“ von Arabern gebildet: Dem „Stadtaraber“ und dem
„Nomaden“ oder „Beduinen“. Die Unterschiede zwischen beiden werden auf
kultureller und politischer Ebene gesehen. Die in Städten ansässige Bevölkerung
pflegte
verständlicherweise
umherziehenden,
meist
im
einen
gänzlich
anderen
„Stammesverbund“
Lebensstil
lebenden
als
die
nomadischen
und
seminomadischen Bevölkerungsteile. Politisch gesehen waren die Stadtbewohner
direkt
der
türkischen
Verwaltung
unterworfen,
das
bedeutet,
sie
waren
abgabenpflichtig, wehrpflichtig und unterstanden der Rechtsprechung des türkischen
Provinzgouverneurs. Amtssprache in den überwiegend von Arabern bewohnten
südlichen Provinzen war die türkische Sprache. Die „Beduinen“ hingegen
unterwarfen sich nicht der türkischen Militär- oder auch Zivilbürokratie. Im
Gegensatz zu der übrigen Bevölkerung konnten aus ihnen demnach keine InfanterieEinheiten gebildet werden und ebenso schieden sie für die Belange des
Personalersatzes aus. Diese Verhältnisse waren den deutschen Soldaten in Palästina
deutlich gemacht worden, sei es durch die wenigen offiziellen Druckschriften,1009 sei
es durch Buchveröffentlichungen über das Osmanische Reich1010 oder auch durch
1009
Kartographische Abteilung des stellvertretenden Generalstabes der Armee: Kurze
militärgeographische Beschreibung von Mesopotamien, [Berlin] 1915. Enthalten in Schenkung Fritz
Berthold, KA München HS 2558. Hier besonders S. 21ff.
1010
Endres, Die Türkei 1916, S. XIIf.
256
Berichte des türkischen Verbündeten selbst.1011 Dennoch hatte der Generalstab in
Konstantinopel in Anbetracht des ständigen Truppenmangels keine andere Wahl, als
auch die arabischen Bevölkerung zum Wehrdienst heranzuziehen. Allerdings wurden
diese Einheiten – auch aus logistischen Gründen – überwiegend „heimatnah“ (also in
den südlichen Provinzen) eingesetzt, während der Schutz der Meerengen den als
„zuverlässig“ eingeschätzten türkischen Einheiten übertragen wurde.1012
Erfahrungen auf dem Gebiet der militärischen Leistungsfähigkeit „der Araber“
mußten die Deutschen 1915 allerdings erst noch sammeln und in der Beurteilung
waren die Unterschiede offenbar eher nebensächlich, denn beide „Typen“ wurden
gleichermaßen als „unbrauchbar“ charakterisiert. Oberst von Kreß1013 gibt in seinem
Bericht über die Kämpfe am Suez-Kanal die Leistungen der regulären arabischen
Soldaten wie folgt wieder:
„Schon war es gelungen, eine Anzahl von Pontons in Wasser zu setzen und zu
bemannen, 4 Pontons mit 4 Offizieren und 80 Mannschaften hatten sogar das
jenseitige Ufer erreicht, als die feindlichen Posten, die am jenseitigen Ufer etwa alle
50 Meter aufgestellt waren, die ersten Schüsse abgaben. Obwohl die Schüsse alle zu
hoch gingen, riefen sie bei den feigen Arabern doch sofort eine Panik hervor.
Mannschaften, die bereits die Pontons bestiegen hatten, sprangen aus ihnen wieder
hinaus; die Offiziere, die sie daran hindern wollten, wurden über den Haufen
gerannt.“1014
Hauptmann Gerlach, der unmittelbar Zeuge dieser Panik wurde – als einer der
Offiziere, die „über den Haufen gerannt“ wurden –, berichtet, daß selbst seine
1011
Bericht des osmanischen Generalmajors Mustafa Kemal an das Heeresgruppen-Kommando
„Yildirim“ vom 1.9.1917, BAMA Freiburg, N 131/ 5, Blatt 1-7. Bericht des osmanischen Majors
Mehmed Ehmin an das Heeresgruppen-Kommando „Yildirim“ ohne Datum, Ebd. Blatt 8-14.
1012
Während der Kämpfe um die Dardanellen waren die osmanischen Verluste jedoch so hoch, daß
arabischstämmige Verbände eingesetzt werden mußten. Allerdings wird dies von den dort eingesetzten
Deutschen nicht besonders hervorgehoben. Was diese „Zurückhaltung“ bedingt, bleibt jedoch unklar.
Möglicherweise waren die Leistungen der arabischstämmigen Soldaten unter den Bedingungen des
Stellungskrieges auf der Gallipoli-Halbinsel andere als etwa in der Sinai-Wüste.
1013
Zeitgenössische Abkürzung des Namens Kreß von Kressenstein.
1014
Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der
Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr.
1782/ 2, S. 15.
257
Drohung mit vorgehaltenem Revolver die Soldaten nicht veranlassen konnte, die
Deckung wieder zu verlassen oder auch nur das Feuer zu erwidern.1015
Rittmeister Welsch fällt über die arabischen Mannschaften ein düsteres Urteil:
„Daß die Araber im modernen Gefecht nicht zu verwenden sind, ist eine alte Sache,
die sich neuerdings wieder bestätigt hat. Sie gehorchen nur, wenn sie wollen oder
wenn sie Gold sehen und machen kein [sic] Hehl daraus, daß sie sich vor Inf.- und
Art. Feuer fürchten. Und als ich einmal vor einem Erkundungsritt, bei dem sie mich
zuerst angeschossen hatten, eine Postenlinie derselben passierte und im Trab
zurückreiten wollte, legte man mir nahe, lieber Schritt zu reiten, weil das die Araber
falsch auslegen und davon laufen könnten.“1016
Das Urteil Kreß von Kressensteins über das „Freikorps von Beduinen“ und seinen
Kommandeur lautet kaum anders:
„Am Tage vor dem Gefecht von Ismailieh sind seine Beduinen bis auf wenige hundert
geflüchtet. Kenner des Landes waren über das Versagen der Beduinen nicht
überrascht. Enwer [sic] Pascha [...] übersah wohl, welch großer Unterschied
zwischen den Beduinen in Tripolis [...] und den völlig degenerierten Beduinen von
Südpalästina besteht.“1017
Und um das vernichtende Urteil über die arabischen Leistungen abzurunden, fügt er
noch eine „charakterliche Beurteilung“ an:
„Der Stadtaraber und auch der Beduine [...] scheint religiös vollständig gleichgiltig
[sic] zu sein. Ebenso wie der Ägypter dient er demjenigen, der ihm das meiste Geld
bietet und auch diesem nur solange, als ihm nicht ein anderer mehr Geld bietet.
Seiner Habsucht sind lediglich Grenzen gesetzt durch seine Feigheit; sein Leben setzt
er auch für hohe Summen nicht aufs Spiel.“1018
1015
Kampfbericht des Pionierbataillons 8 (Hauptmann Gerlach) an Oberst Freiherrn Kreß von
Kressenstein ohne Datum, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 2.
1016
Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major
Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 3.
1017
Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der
Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr.
1782/ 2, S. 6.
1018
Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der
Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr.
1782/ 2, S. 12f.
258
Eine noch schlechtere Beurteilung des militärischen Wertes einer Truppe ist wohl
kaum vorstellbar. Im Gegensatz zu den ambivalenten Schilderungen der türkischen
Truppen finden sich keinerlei positiven Aussagen zu den arabischen Soldaten.
„Habgier und Feigheit“ blieben die Hauptmerkmale „des Arabers“.1019 Auch der oft
als „zu türkeifreundlich“ gescholtene Freiherr von der Goltz beurteilte die arabischen
„Hilfstruppen“ äußerst kritisch. Über das Fehlschlagen der türkischen Gegenoffensive
1915 in Richtung Basra berichtet er:
„Die Schuld daran sollen die begleitenden Araberstämme getragen haben, die wie
gewöhnlich, als das Gefecht eine ungünstige Wendung zu nehmen begann, das Korps
im Stich und seinem Schicksal überließen.“1020
Das Stigma der Feigheit betraf sämtliche arabischen Kämpfer gleichermaßen. Die
Habgier wurde jedoch hauptsächlich auf „die Beduinen“ projiziert. Da die schlecht
organisierte osmanische Verwaltung der arabischen Provinzen nicht in der Lage war,
die nomadischen Stämme zu kontrollieren, konnten diese nicht zur Hilfeleistung
verpflichtet oder gezwungen werden. So mußten sich die Mittelmächte durch
Verhandlungen und Bezahlung deren Unterstützung sichern. Dabei versuchten die
Stammesführer ihren größtmöglichen Vorteil zu erlangen, was von deutscher Seite
stets als „Habgier illoyaler Untertanen“ angesehen wurde. Hier übertrug man erneut
europäische Verhältnisse auf den Orient. Die deutschen Offiziere besaßen ein anderes
Bild vom „richtigen“ Verhältnis staatlicher Obrigkeit zu den Untertanen. Dies war
allerdings für die arabische Halbinsel und insbesondere für „die Beduinen“ nicht
anwendbar. Das problematische Verhältnis zwischen der herrschenden türkischen
Oberschicht und der arabischen Bevölkerung wurde den Deutschen jedoch bald
deutlich. Kreß von Kressenstein schreibt in seinem Bericht vom Februar 1915 dazu:
„Die türkischen Offiziere waren ohne Zweifel in einer großen Täuschung hinsichtlich
der Zuverlässigkeit der arabischen Offiziere und Mannschaften befangen. Die Araber
vergessen nicht, was jahrzehnte lang [sic] von den Türken gegen sie gesündigt wurde
und werden stets ein Fremdkörper im ottomanischen Reiche bleiben.“1021
1019
Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 6. Lawetzky, Krieg 1938, S. 175.
Abschrift des Berichtes Nr. 6 des Freiherrn von der Goltz Pascha an das Große Hauptquartier vom
2. Mai 1915, BAMA Freiburg, N 737/ 29.
1021
Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der
Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr.
1782/ 2, S. 20.
1020
259
Meldungen vom Anfang des Jahres 1916 an die 6. Armee in Mesopotamien
bestätigen, daß diese Situation während des Krieges nicht nur anhielt, sondern sich
noch verschlimmerte.1022 Deutscherseits wurde dafür die harte Regierung Djemal
Paschas in Syrien und Palästina sowie die generell unterdrückende Haltung türkischer
Offiziere und Beamter gegenüber der arabischstämmigen Bevölkerung verantwortlich
gemacht:
„Diese Weigerung [mit den Deutschen zusammenzuarbeiten] geht auf die türk. örtl.
Behörden zurück, die jede Gelegenheit benutzen um die Araber vor den Kopf zu
stossen. Das Ausschalten des deutschen Elements in der Behandlung der
Araberangelegenheiten wird zur Folge haben [,] daß auch die letzten Stämme, die
bisher mit den Türken gearbeitet haben zum Gegner übergehen – angesichts der
Gesamtlage rechtbedenklich [sic].“1023
In den Einschätzungen deutet sich bereits an, daß sämtliche arabischen
Bevölkerungsteile, sowohl die im Dienste des Militärs befindlichen als auch die
Zivilbevölkerung zum Mindesten als „unzuverlässig“ angesehen wurden. Das
Deutsche Reich versuchte dieser Entwicklung durch Bezahlung entgegenzuwirken.
So
wurden
den
örtlichen
„Beduinen-Scheichs“
bei
Antrittsbesuchen
stets
Geldgeschenke gemacht und später ein Kamelreiterregiment mit deutscher
Finanzhilfe aufgestellt, das aus „Freiwilligen“ der Region zwischen Mekka und
Medina bestand.1024 Der Kampfwert dieser Einheit blieb jedoch minimal. Es wurde
aber bereits als Erfolg gewertet, wenn diese Kämpfer nicht als „Banden“ im Rahmen
der Insurrektionsbewegung unter dem britischen Obersten T.E. Lawrence hinter den
türkischen Linien kämpften.1025 Mit dem Vorrücken der britischen Truppen und
1022
„Im Irak steht die Sache ganz anders. Im Irak ist die Bevölkerung degeneriert. Sie hat keinen
festen Halt an der Religion, die Liebe zum Herrscher istvgering [sic] und die Befehle der Regierung
werden widerwillig ausgeführt. Ausserdem ist die Wirkung des fremden Einflusses auch sehr gross.
Die Bevölkerung und die S tämme [sic], die es nicht gewohnt sind die Staatsgesetze zu achten, ziehen
es vor sich vor den Gesetzen zu drücken, die sie als Last empfinden statt dieselben zu befolgen.
Besonders in Kriegszeiten suchen dann diese Völker die ihnen lästigen Gesetze zu umgehen indem sie
sich dem Feinde unterwerfen, der ohnen [sic] freiheiten [sic] gewährt.“ Schreiben des stellvertretenden
Kommandeurs des XIII. A.K. an den Stab der 6. Armee vom 15.11.1331 (= 22.1.1916), BAMA
Freiburg, N 131/ 2, Blatt 4. Ergänzend die Aussagen bei Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 6 und Guhr,
Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 263f.
1023
Kriegstagebuch Euphrat-Syrien (Februar 1918 – August 1918), Eintrag vom 27.3.1918 (Ganz
Geheim!). BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 26.
1024
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 108 u. S. 147f.
1025
Zu der arabischen Aufstands-Bewegung und dem Wirken von Lawrence siehe einführend:
Morsey, Konrad: T.E. Lawrence und der arabische Aufstand 1916/18, Osnabrück 1976.
260
türkischen Rückzügen nahm die Zahl der „arabischen Freiwilligen“ auf osmanischer
Seite allerdings zusehends ab, da die Entente bereit war – zumindest theoretisch –, die
Gründung eines unabhängigen arabischen Staates zu unterstützen.1026 Die Machthaber
in Konstantinopel behandelten die arabischen Reichsteile hingegen mit noch größerer
Verachtung als vor der „jungtürkischen Revolution“, denn die Ideen des
Panturanismus, wie sie von Enver Pascha favorisiert wurden, schätzten eher die
Turkstämme im Kaukasus als „Volksgenossen“, nicht aber die Araber. Besonders die
Herrschaft Djemal Paschas in den südlichen Provinzen, der auch bei kleineren
Vergehen Todesstrafen gegen die arabischen Einwohner verhängte, führte zum
Unmut über die „türkischen Herren“ und zur Unterstützung des „arabischen
Aufstandes“.1027
Eine „disziplinierende“ Gegenmaßnahme der osmanischen Führung war die
Unterstellung der arabischen Einheiten unter türkische Offiziere.1028 Dadurch wurde
jedoch ein neues Problem geschaffen, denn nur wenige türkische Offiziere waren der
arabischen Sprache mächtig.1029 Außerdem mußten die Deutschen feststellen, daß der
jeweilige türkische Vorgesetzte „durch allzuhäufige [sic] Prügel und Hungerkuren
seine Beliebtheit gewiss nicht zu erhöhen“ pflegte und der Einsatz von arabischen
Unteroffizieren generell abgelehnt wurde.1030 Unter solchen Umständen verbesserte
sich die Meinung deutscher Offiziere über die ihnen unterstellten arabischen
Verbände im Laufe des Krieges nicht. Kreß forderte 1917 nach der zweiten Schlacht
um Gaza trotz angespannter Personallage die Auflösung einer kompletten arabischen
Division, da sich diese als politisch unzuverlässig und militärisch völlig unbrauchbar
erwiesen habe.1031
1026
Die Versprechungen der britischen Regierung an die Führer des „Arabischen Aufstandes“ im
Rahmen der Entsendung von Oberst Lawrence wurden teilweise durch die Balfour Deklaration und
praktisch gänzlich durch das Sykes-Picot-Abkommen konterkariert. Siehe hierzu der Überblick bei:
Pope/Wheal: Dictionary 2003, S. 29-31, S. 54f. u. S. 459f.
1027
Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr: Achmed Djemal Pascha, in: Zwischen Kaukasus und
Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 3, Sangerhausen 1923, S. 15f. (Im Folgenden:
Kreß von Kressenstein, Achmed Djemal Pascha 1923.)
1028
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 121.
1029
Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major
Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 2.
1030
Bericht von Hellmuth Ritter (Übersetzungsstelle 6. Armee) „Zur Frage des militärischen Wertes
der Araberstämme.“ Ohne Datum. BAMA Freiburg, N 131/ 4, Blatt 4f.
1031
Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr: Überblick über die Ereignisse an der Sinaifront von
Kriegsbeginn, bis zur Besetzung Jerusalems durch die Engländer Ende 1917, in: Zwischen Kaukasus
261
Auch außerhalb Syriens und Palästinas war das Ansehen arabischer Truppen sehr
gering. Als Beispiel sei an dieser Stelle der Bericht von Oberstleutnant Paraquin über
die Kämpfe um Baku angeführt:
„Das Vorgehen des Inf.-Regts. 107 (15. I.D.) nahm ein klägliches Ende. Es setzte sich
wie das I.R.106 aus Arabern zusammen.[...] Kaum hatte es die Höhen erstiegen, als
es in regelloser Flucht zurückflutete. Hang und Tal waren mit einzelnen Flüchtlingen
bedeckt. [... Zuvor] hatten Teile des Regts. am linken Flügel schwaches Feuer von
feindl. Infanterie erhalten, die aus Richtung Baladschari gegen die Stadt flüchtete.
Auf dieses Feuer hin rannte das Regt. in sinnloser Panik davon. Später hiess es, das
Regt. melde, die ‚Armenier’ hätten mit weissen Taschentüchern gewunken und als
sich die Araber genähert, trotzdem gefeuert. Ich habe von den zahlreichen armseligen
Armeniern, die ich vor Baku sah, nicht den Eindruck, dass sie im Besitze weisser
Taschentücher sind. [...] Ich bin fest überzeugt, dass alles Märchen ist. [...] Dabei
muss ich bemerken, dass Halil Pascha mir unumwunden zugab, diese beiden
arabischen Regter. aus persönlicher Erfahrung als feige und völlig unzuverlässig zu
kennen.
Die Truppenleistung der anatolischen Regimenter ist sehr anerkennenswert. Die
anatolische Infanterie ( 5. kauk. und 36. I.D.) griff unerschrocken und mit grossem
Schwung an. Vor allem haben sich die I.R. 38 und 56 ausgezeichnet.“1032
Die Geringschätzung der arabischen Truppen im Vergleich zu anatolischen Einheiten
kommt an dieser Stelle klar zum Ausdruck. Neben den vorher genannten Gründen für
deren Unzuverlässigkeit wird hier auch die 1918 sehr zu Ungunsten der Türken
veränderte Kriegslage eine Rolle gespielt haben. Auf der arabischen Halbinsel hatte
der Aufstand seinen Höhepunkt erreicht und spätestens nach dem Fall von Jerusalem
war die Haltung der arabischen Zivilbevölkerung in den südlichen Provinzen
gegenüber den türkischen und deutschen Truppen feindselig zu nennen. Es bildeten
sich mehr und mehr „Räuberbanden“,1033 und diese fielen über türkische Nachzügler
und Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 1, Berlin 1921, S. 36. (Im Folgenden: Kreß
von Kressenstein, Sinaifront 1921.)
1032
Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant von Seeckt vom 21.9.1918. KA
München, MKr. 1782/ 2, S. 9f.
1033
Diese Gruppenbezeichnung und Bewertung faßte arabische Zivilisten, Deserteure und Angehörige
der irregulären Truppen des Prinzen Feisal und des Obersten Lawrence zusammen. Offenbar war es im
Chaos des Zusammenbruchs kaum möglich, die einzelnen Täter zu unterscheiden.
262
oder versprengte deutsche Soldaten her, um sie auszuplündern. Der Kommandeur des
Infanterie-Regiments 146 schreibt in sein Kriegstagebuch, daß seine Truppen sich
den Weg durch die Stadt Damaskus „frei schießen“ mußten aus Angst, von
aufgebrachten Einwohnern gelyncht zu werden.1034 Auch Oberstleutnant Guhr
berichtet von solchen Straßenkämpfen in der Stadt.1035 Besonders eindrucksvoll ist
die Schilderung des damaligen Leutnants im ersten Bataillon des I.R. 146, Adolf
Treitz. Er berichtet in seinem Buch „Die Vergessenen“ ausführlich von seinen
Erlebnissen als Führer einer kleinen Gruppe Deutscher inmitten des Zusammenbruchs
der Palästinafront und von der „Jagd“ der arabischen Bevölkerung auf die
Deutschen.1036
Schon bald wurde die arabische Bevölkerung von den deutschen Soldaten allgemein
als
„Feind“
angesehen.
Das
I.R.
146
sandte
Patrouillen
aus,
die
als
Vergeltungsmaßnahme „Beduinen fangen“ sollten:
„Man konnte es ihnen auch nicht verdenken, wenn sie an diesem feigen
heimtückischen und beutegierigen Gesindel ihr Mütchen kühlten.“1037
So führte Gewalt zu Gegengewalt und offenbar konnten sich die Deutschen in einigen
Fällen damit durchsetzen. Hans Guhr beschreibt seinen Rückmarsch durch Syrien:
„Die Schandtaten dieser Schurken sahen wir bald mit eigenen Augen: Splitternackte
Türkenleichen, mit durchschnittenen Fußsohlen oder mit abgeschnittenen Ohren
lagen am Wege, ferner ein Mann, noch lebend, mit schweren Wunden an den Beinen
und, nicht weit von ihm ein türkischer Offizier mit herausgeschnittenen Kniescheiben.
[...] Unterwegs, in der Dunkelheit erhielten wir aus einem 1 ½ km entfernten
Araberdorf plötzlich Feuer. Mehrere Salven krachten über unsere Köpfe hinweg. [...]
Das Infanteriefeuer hörte bald auf, zwei Geschütze aber schossen noch längere Zeit
hinter uns her.
Der Korpskommandeur überholte uns und riet, falls wir wieder aus einem Ort Feuer
bekämen, diesen dafür hart zu strafen. ‚Sie werden sehen, die arabische Botenpost
funktioniert schneller, als jede drahtlose Telegraphie. Strafen Sie ein Dorf, spricht
1034
Kriegstagebuch des Frithjof Freiherrn v. Hammerstein, Major und Kommandeur des Inf. Rgts. 146,
1918 (Heft 13), Eintrag vom 20. September, BAMA Freiburg, N 309/ 13.
1035
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 271ff.
1036
Treitz, Adolf: Die Vergessenen, München 1933.
1037
Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 267.
263
sich dies in der ganzen Gegend herum, und Sie werden dann überall in Ruhe
gelassen’, lauteten im Weiterreiten seine Worte. [...]
Um Mitternacht durchquerten wir abermals eine arabische Ansiedlung, aus der wir
hinterrücks Feuer erhielten. Nun befahl ich einem Offizier und 40 Reitern,
kehrtzumachen, und die Einwohner zur Rechenschaft zu ziehen. Bald hörte man vom
Dorf her Schüsse fallen, mächtige Feuersäulen loderten aus den elenden Lehmhütten
und beleuchteten den dunklen Tropenhimmel. Unser Weitermarsch wurde niemals
wieder gehindert [...].“1038
In Syrien drehte sich jedoch gegen Kriegsende eine Gewaltspirale, die sowohl unter
der Zivilbevölkerung als auch unter den zurückgehenden Soldaten für blutige
Verluste sorgte und das „arabische Element“ in der osmanischen Armee endgültig in
Mißkredit brachte. Man kann nur vermuten, welche Auswirkungen die Vorgänge in
Aleppo oder Damaskus auf die Behandlung arabischer Soldaten durch die türkischen
Vorgesetzten hatte und wie diese wiederum auf die Einsatzbereitschaft der Einheiten
wirken mußte.
Zum Schluß dieser Ausführungen sei kurz darauf verwiesen, daß die Deutschen im
Osmanischen Reich neben „Arabern und Türken“ auch noch verschiedene andere
Ethnien unterschieden. Ob kurdische Reiterformationen im Kaukasus oder irreguläre
Verbände aus Freiwilligen, die aus den Balkanländern stammten, sie alle fielen den
europäischen Beobachtern höchstens durch Disziplinlosigkeit oder „schändliches
Verhalten“ als Gefahr für die eigenen Truppe auf.1039
Eine besonders anschauliche und zugleich zynische Einschätzung über die
Freiwilligen gibt der preußische Major Hans-Joachim von Loeschebrand-Horn, der
1916 in Kurdistan eingesetzt war:
„Der Vorteil, sie auf unserer Seite zu haben, bestand darin, daß sie beim Vormarsch
unsere Bewegungen verschleierten, durch ihre Anwesenheit an bestimmten Punkten
1038
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 265.
Zu den kurdischen Kavallerieformationen siehe: Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 15 u. S. 33.
Oberst von Kreß berichtet über einen solchen Freiwilligenverband, der angeblich in der Mehrzahl aus
entlassenen Häftlingen bestanden habe, daß dessen einzige Leistung war, die Disziplin der türkischen
Truppen zu gefährden und einen deutschen Offizier „versehentlich“ am Arm zu verletzen.
Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der Militärmission
über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr. 1782/ 2, S. 7.
1039
264
den Nachweis erbrachten, daß der Feind dort nicht gleichzeitig sein konnte, und im
Gefecht durch sorgloses Herumreiten auf den Höhen das Feuer der feindlichen
Artillerie von der Infanterie ablenkten und auf sich und den Regimentsstab zogen, bei
dem sie sich stets in besonders dichten Haufen aufhielten, angeblich um ‚Befehle’
einzuholen. Ihre Stärke wechselte, je nachdem die Plünderung eines Gefechtsfeldes
oder ein Rückzuge bevorstand. In ersterem Falle waren es einige Tausend, in
letzterem einige Dutzend.“1040
Allgemein kann für die Beurteilung der Mannschaften im Osmanischen Heer durch
die deutschen Militärberater jedoch festgehalten werden:
1. Die deutschen Soldaten waren sich sehr wohl der unterschiedlichen
Völkerschaften bewußt. Ebenso beobachteten sie die verschiedenen Sitten und
Bräuche, wenn sie diese im persönlichen Umgang auch nicht immer
respektierten.
2. Die „Typisierung“ der osmanischen Soldaten war eng mit der „Typisierung“
des jeweiligen kulturellen und ethnischen Umfeldes verbunden.
3. Der „anatolische Soldat“ wurde grundsätzlich als der beste Soldat des
Osmanischen Reiches angesehen, wenn er auch militärisch keinem Vergleich
mit europäischen Soldaten standhielt. Da sich diese Auffassung auch aus dem
Schriftverkehr im Kriege ergibt, handelte es sich dabei offenbar nicht nur um
eine nachträgliche „Schönfärbung“ gegenüber der neuentstandenen türkischen
Republik.1041
4. Die türkischen Mannschaften standen dem aufkommenden jungtürkischen
Nationalismus mehrheitlich fern, so daß diese Art der in Europa verbreiteten
Motivation zum Dienst hier kaum Bedeutung besaß. Gegenüber den
osmanischen Soldaten anderer Ethnien forcierte die Ideologie der türkischen
1040
Loeschebrand-Horn, Hans-Joachim von: Der Feldzug der Suleimanije-Gruppe in Kurdistan im
Sommer 1916 – Persönliche Erinnerungen, in: Zwischen Kaukasus und Sinai – Jahrbuch des Bundes
der Asienkämpfer, Bd. 2, Berlin 1922, S. 120f. (Im Folgenden: Loeschebrand-Horn, SuleimanijeGruppe 1922.)
1041
Die Türkei wurde vom „Dritten Reich“ als möglicher Bündnispartner im Zweiten Weltkrieg
umworben. Siehe hierzu: Krecker, Lothar: Deutschland und die Türkei im Zweiten Weltkrieg,
Frankfurt am Main 1964 (hier besonders: S. 153-204). Zu den Beziehungen zwischen den arabischen
Staaten und dem „Dritten Reich“ siehe: Mallmann, Klaus-Michael/Cüppers, Martin: Halbmond und
Hakenkreuz – Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 22007.
265
Führung gleichzeitig Ausgrenzung und Entfremdung, was sich negativ auf
deren Truppenmoral auswirkte. Ideelle Motive, die den Dienst begünstigten,
gab es für die meisten Soldaten nicht.
5. Der osmanische Mannschaftssoldat war „Opfer“ der Gegebenheiten in der
Armee, wie schlechter Ausrüstung, unzureichender Verpflegung und
mangelnder Fürsorge. Hierfür machten die deutschen Offiziere jedoch nicht
nur „das System“, sondern vor allem eine bestimmte Gruppe verantwortlich:
Die türkischen Offiziere.
IV.3. „Keine Kameraden“? – Die Offiziere des osmanischen Heeres
Der Beurteilung der türkischen Offiziere durch ihre deutschen Verbündeten beruhten
zunächst auf den gleichen Grundlagen wie die Beurteilung der türkischen
Mannschaften. Generalmajor Back schreibt über seine Zeit als Leiter eines türkischen
Offizierausbildungslagers:
„Der türkische Offizier war im Durchschnitt, wie alle Orientalen, faul. Es fehlte ihm
meist das Pflichtgefühl und die Verantwortungsfreudigkeit. Es bedurfte dauernd der
Anregung und Kontrolle und die Türken wussten, dass sie uns, die deutschen
Offiziere, nötig hatten, um alles in Schwung zu bringen.“1042
Da in der osmanischen Armee die überwiegende Mehrheit der Offiziere – abgesehen
von vereinzelten arabischen oder kurdischen Anführern oder aus den früheren
Balkanprovinzen entstammenden Führern – Türken waren oder zumindest die
türkischen Gepflogenheiten während ihres Dienstes für den Sultan angenommen
hatten, kann es nicht verwundern, daß ihnen von deutscher Seite die gleichen
„kulturellen Grundübel“ vorgeworfen wurden wie den Mannschaften. Es ist müßig an
dieser Stelle, diese Vorwürfe im Einzelnen zu wiederholen, ähneln sie doch zu sehr
den oben genannten.
Wichtiger ist hingegen, daß die deutschen Offiziere einen anderen Maßstab an das
Verhalten der türkischen Offiziere anlegten. Im Gegensatz zum türkischen Soldaten,
der zumeist auch unter widrigsten Umständen seinen Dienst tat, galten für die
1042
RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D. Back, S. 15.
266
türkischen Offiziere keine „mildernden Umstände“, denn sie waren eines der Übel,
das dem „tapferen Asker“ solch ein schweres Los bereitete. Bereits vor dem Kriege
hatte Freiherr von der Goltz in einem Bericht sowohl nach Berlin als auch an das
osmanische Kriegsministerium die deutsche Erwartungshaltung an die Offiziere sehr
deutlich gemacht. Ein Offizier habe durch Vorbild zu motivieren, doch der türkische
Offizier führe „lässig, langsam, gleichgültig und in unmilitärischer Haltung“.1043
Goltz greift hier die im deutschen Militär weitverbreitete Ansicht auf, daß ein
funktionierendes Offizierkorps Grundlage jeder Armee sei. Und gerade hier schien
die osmanische Armee gravierende Probleme aufzuweisen. Bis zum Kriegseintritt der
Hohen Pforte konnten diese Mängel nicht abgestellt werde. Nach den Balkankriegen
und der großangelegten Entlassung älterer Offiziere durch Enver Pascha war das
Offizierkorps erheblich geschwächt.
Außerdem mußten nach der Mobilmachung zahlreiche neuaufgestellte Formationen
mit Offizieren versehen werden, wobei – anders als im Deutschen Reich – aufgrund
der osmanischen Wehrverfassung nicht auf ein größeres Reservoir ausgebildeter
Reserveoffiziere zurückgegriffen werden konnte.1044 Die Folge war eine verkürzte
Ausbildung von Offizieranwärtern innerhalb eines Systems, das schon zu
Friedenszeiten mit dieser Aufgabe überfordert war und dem auch die deutsche
Militärmission in der Kürze der Zeit noch keine übermäßige Besserung hatte bringen
können.
Die ersten Eindrücke vom türkischen Offizierkorps waren dementsprechend
verheerend. Schon die Berichte über den Angriff auf den Suez-Kanal künden von
dem schlechten Abschneiden der türkischen Offiziere. Major Welsch schreibt, daß
der Kommandeur des I.R. 80 (Major Rufad Bey) zwar „ehrenwerter Gesinnung“ sei,
aber völlig energielos und von seinem Handwerk nichts verstehe, wie man daran
ersehen könne, daß er in 8 Wochen Ruhephase keinerlei Ausbildung vorgenommen
1043
Bericht des Freiherr von der Goltz Pascha „Bemerkungen über die während der Herbst- und
Winter-Uebungen beim 1., 2. und 3. Kaiserlich Ottomanischen Ordu gemachten Wahrnehmungen“ von
Dezember 1909, BAMA Freiburg, N 737/ 31, S. 3-6.
1044
Bericht des Generalmajors Bronsart von Schellendorff „Kurze Darstellung der Grundzüge der türk.
Kriegführung im Weltkrieg 1914/18“ vom 15.12.1917, BAMA Freiburg, W 10/ 50325, S. 1.
267
oder überhaupt irgendwelche Vorbereitungen getroffen habe.1045 Über den
„Kriegsrat“ unmittelbar vor dem Angriff schreibt er dann:
„Aber dieser Kriegsrat war das deprimierendste, was ich je erlebt habe. Nur 2 von 9
[türk. Offz.] zeigten sich so ziemlich bereit, bei den übrigen stieß ich auf türkisches
Unverständnis, Unentschlossenheit und offenkundige Angst, die sich nur mühsam
hinter nichtssagenden Gründen versteckten.“1046
Auch Hauptmann Gerlach weiß zu berichten, daß die Mehrheit der Offiziere, mit
denen er zusammenarbeiten sollte, sich durch Feigheit vor dem Feinde
„auszeichneten“ und keine Anstalten machten, die eigenen Soldaten unter Feuer zu
führen.1047 Den wohl bittersten, aber auch bizarrsten Abschlußbericht liefert jedoch
Major Fischer. Dieser war einem türkischen Regiment unter Führung eines gewissen
Kemal Bey zugeteilt. Dieser habe jedoch rasch die Führung an den Deutschen
abgetreten, da er sich selbst überfordert sah:
„Sein Verhalten [Kemal Bey] löste die gleiche Teilnahmslosigkeit seiner Offiziere
aus. [...] Ich ging auf Suche nach Kemal Bey und sagte, als ich ihn schließlich fand:
„Ich schäme mich vor einer so feigen und elenden Truppe zu stehen“. Er antwortete
mit der Frage: „Bin ich auch feige und elend?“ Ich hatte als Antwort nichts als ein
Achselzucken. Er versprach mir nunmehr das zu tun, was ich verlangen würde. [...]
Da der Artilleriekommandeur vom ersten Schuß ab unsichtbar war und trotz
wiederholten Befehls Kemal Beys, sich zur Beobachtung einzufinden, unsichtbar
blieb, war die Feuerleitung den Batteriechefs überlassen. [...]
Urteil:
Die Schuld am Mißerfolg der Abteilung Kemal Bey sehe ich zum Teil in der
(falschen) Befehlsübermittlung Ekrem Beys. Der an sich geringe Offensivgeist Kemal
Beys hatte nunmehr die willkommene Gelegenheit, hinter dem Schutze einiger Worte
vollends zu verflüchten. Aber auch ohne dieses Mißverständnis winkte der Abteilung
kein Sieg.
1045
Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“ von Major
Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr. 1782/2, S. 1.
1046
Ebd., S. 6.
1047
Kampfbericht des Pionierbataillons 8 (Hauptmann Gerlach) an ohne Datum, KA München, MKr.
1782/ 2, S. 2.
268
Der Führer und seine Offiziere waren unfähig, unwissend und eingebildet. Das
stumpfsinnige Erlernen starrer Formen erstickte das Verständnis für zielsicheres
Handeln. [...] Ich halte es für unwahrscheinlich, mit dem 68. Inf.Regt. jemals wieder
an den Feind zu kommen. Ich empfehle es im Etappendienst einzusetzen. Ein wenig
besser hielt sich die Pionierkompagnie des Hauptmanns Muglis Effendi und die
Maschinen Gewehr Kompagnie des Oberleutnants Hikmet Effendi.
Die Verständigung zwischen Kemal Bey und mir litt dadurch, daß seine Kenntnisse
der deutschen und französischen Sprache während des Gefechtes plötzlich
versagten.“1048
Oberst Kreß von Kressenstein schließt seinen Bericht zu den Kampfhandlungen im
Februar 1915 mit der Feststellung, daß dieses Unternehmen ein Fiasko gewesen sei,
„aber eine gründliche Zerstörung des Kanals wäre uns möglich gewesen, wenn sich
unsere Soldaten und auch ein großer Teil der türkischen Offiziere nicht so erbärmlich
feige benommen hätte[n]“.1049 Angesichts der britischen Truppenpräsenz am SuezKanal und der begrenzten Ressourcen türkischerseits scheint die Einschätzung von
Kreß nur zur Verdeutlichung des „türkischen Versagens“ zu dienen, nicht aber
realistische Erfolgsaussicht wiederzugeben.
Es wird jedoch deutlich, daß die türkischen Truppenführer demnach direkt durch ihr
nachlässiges oder auch feiges Verhalten die Leistungsfähigkeit des „zähen Aksers“
behinderten, wenn nicht systematisch untergruben. Für den türkischen Soldaten war
auch nach Ansicht von Leutnant Ungerer ein vorbildlicher Offizier ausschlaggebend
für die Moral, denn es „fehlt den Türken eben nicht an Mut, aber sie sind der Panik
zu sehr zugängig und wo ein gutes Beispiel ist, da bleiben sie unbedingt liegen“.1050
Doch statt vorbildlichen Verhaltens zeigten die Offiziere häufig nur Sorge um ihr
eigenes Leben. In einem Bericht der bayerischen Fliegerabteilung 304 wird
geschildert, wie plötzlich eine panikartige Flucht der türkischen Truppen in der Nähe
des Flugfeldes einsetzte. Auf die Frage nach der Ursache erhalten sie keine Erklärung
von den zurückgehenden Verbänden, lediglich ein türkischer Offizier habe
1048
Bericht des Majors Fischer an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 17.2.1915, KA
München, MKr. 1782/2, S. 2-5.
1049
Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der
Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr.
1782/ 2, S. 20.
1050
Brief von Leutnant Ungerer an seine Eltern vom 4. Mai 1918, BAMA Freiburg, MSg 2/ 2888, S. 6.
269
geantwortet, daß er es auch nicht wisse. Wie sich herausstellte, war die Panik
unbegründet.1051 Die Offiziere ließen sich also von den flüchtenden Truppen
mitreißen, ohne zu versuchen, die Truppen aufzuhalten oder zu sammeln. Diese
Schwäche der Führung muß in der osmanischen Armee sehr wohl bekannt gewesen
sein, denn Felix Guse als Generalstabschef der 3. Armee im Kaukasus berichtet
davon, daß Enver Pascha und sämtliche Generäle in ihren Planungen stets
berücksichtigten, wie schwer es war, „orientalische Truppen, die einmal im
Zurückgehen waren, wieder zum Halten zu bringen und vor der Auflösung zu
bewahren“.1052 Die Mehrzahl der türkischen Offiziere erschien den Deutschen wenig
bis überhaupt nicht geeignet, eine Truppe so zu führen, daß Moral und Kampfkraft
gefördert würden. Ausnahmen bestätigten jedoch wie so häufig die Regel, auch wenn
die „guten Offiziere“ ihre Anerkennung oft nicht mehr entgegennehmen konnten. So
berichtet etwa Generalmajor Heuck über die ihm unterstellten Türken an den
Dardanellen:
„Ich habe jedoch auch Offiziere unter meinem Befehl gehabt, die es an allen
militärischen sowie Charaktereigenschaften durchaus mit dem deutschen Offizier
aufnahmen. Wenn der türkische Offizier gut war, war er gleich vortrefflich. Ich habe
manche Freunde unter dieser Kategorie gehabt und würde mich freuen sie
wiederzusehen. Der größte Teil ist allerdings gefallen.“1053
Solche Wahrnehmung von „Ausnahmeoffizieren“, die eher auf persönlicher
Sympathie beruhten, können bei einigen Deutschen beobachtet werden. Meist handelt
es sich bei den „guten Offizieren“ um untergebene Stabsoffiziere oder den
persönlichen Adjutanten.1054
Die allgemein kritische Haltung gegenüber dem türkischen Offizierkorps blieb trotz
weniger „positiver Überraschungen“ bestehen. Mangelnde Ausbildung der türkischen
Offizieranwärter sei ein Mißstand, der seit den Zeiten Abdul Hamids II. anhalte und
1051
Bericht der Fliegerabteilung 304 b über die Räumung des Flugplatzes Arak el Manchije vom
27.11.1917, KA München, Flieger u. Luftschiffer 54.
1052
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 57. Siehe hierzu auch: Kreß von Kressenstein, Sinaifront 1921,
S. 51.
1053
W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv, [S. 3].
1054
Kriegstagebuch des Oberstleutnant Stange, Eintrag vom 17.12.1914, BAMA Freiburg, MSg 2/
3739. Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 28. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten
Adlers“, S. 54.
270
die „Unfähigkeit“ der vorhandenen Befehlshaber könne nur durch ergänzende
Ausbildung durch deutsche Offiziere ausgeräumt werden.1055 Zudem seien sogar
viele Generalstabsoffiziere nicht des Lesens und Schreibens mächtig, was die ohnehin
schwierige Kommunikation weiter komplizierte und die dienstliche Eignung der
Betreffenden deutlich reduzierte.1056 Neben der unzulänglichen Ausbildung wurde
noch der deutliche „Standesdünkel“ der Türken kritisiert, der den Offizier in eine von
den Mannschaften vollkommen abgehobene Position setzte:
„Hier sah ich einmal ein für uns ganz unmögliches Bild: Ein türkischer Major, der
mit seiner Mannschaft exerzierte, saß in Pantoffeln auf seinem Pferde, einen Schirm
gegen die heiße Sonne aufgespannt. Schakir1057 [...] entschuldigte das mit den
Worten, daß das noch ein Alttürke sei. “1058
Für den türkischen Vorgesetzten schien Fürsorge für die ihm unterstellte Truppe
völlig fremd zu sein. Stattdessen wurde ihm vorgehalten, von den Gebührnissen, die
ihm für seine Soldaten überwiesen wurden, stets einen ansehnlichen Teil in „die
eigene Tasche“ abzuzweigen.1059 Angesichts des Leidens der einfachen Soldaten
unter den schlechten Versorgungsverhältnissen und der darausfolgenden hohen
Krankheits- und Sterblichkeitsrate war dieses Versäumnis der türkischen Seite
besonders schockierend für die Deutschen.
Die Kritik betraf dienstgradübergeifend sämtliche Führungsebenen der osmanischen
Streitmacht. So wurde neben den oben bereits erwähnten Regimentskommandeuren
durchaus auch höhere Generäle des Versagens beschuldigt. In welcher Anzahl solche
„Vergehen“ auftraten, geben anschaulich einige Bemerkungen Felix Guses wieder,
die er vermutlich für das Reichsarchiv verfaßte.1060 An dieser Stelle seien nur einige
Auszüge wiedergegeben:
1055
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 20f. Kiesling, Soldat in drei Weltteilen 1935, S. 158.
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 182.
1056
Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 8.
1057
Der Adjutant Major Sernos.
1058
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 37.
1059
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 60f. Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 8. Bericht
des Majors Hartmann an den Chef des Stabes der Militärmission in Konstantinopel vom 20.5.1918,
KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 1f.].
1060
Der Bestand des Bundesarchivs deutet darauf hin, daß es sich um Unterlagen des ehemaligen
Reichsarchivs handelt. Doch kann dem Dokument selbst kein Adressat entnommen werden.
271
„Im ersten Kriegsjahre versagten Führer häufig in einer Form, die bei uns das
Ehrengericht gilt. Ende 1915 hörte das auf. Nachstehend die stärksten Fälle, die es
sich wohl empfiehlt bei den Akten aufzubewahren:
a. Führer der 33. I.D. verabschiedet, weil er folgendermassen focht, er hielt immer
eine Reserve 6 km hinter der Front, blieb persönlich bei dieser und war durch keinen
Befehl dazu zu bringen, diese einzusetzen. [...]
d. Der Armeearzt tat 14 Tage nichts, antwortet auf mein Befragen, er wisse nicht, was
er zu tun habe. Nachdem ich ihm einen Vortrag über dieses Thema gehalten hatte,
bedankt er sich, ging sofort zum Armeeführer und bat aus Gesundheitsrücksichten
seinen Abschied.
e. Führer der 17. I.D. Er bat nach dem ersten Gefecht seinen Abschied, weil seine
Nerven das nicht vertrügen. [...]
g. Führer IX. A.K. Remsi Pascha versammelt in einer schwierigen Lage im August 15
zwei Div. Kommandeure und sagte er wisse jetzt keine Ausweg mehr, deshalb werde
er das Corps verlassen, der eine Div. Kommandeur solle das Corps übernehmen, der
andere sein Chef sein. Die beiden Kommandeure hielten ihn jedoch zurück.“1061
Dies Aufzählung ließe sich noch erweitern, etwa um das Beispiel von Offizieren –
vom Führer eines Armeekorps bis zum Kompaniechef –, die „hinter der Front
Maniküre“ trieben, während vorne gekämpft wurde, oder das Verhalten eines
Divisionskommandeurs, der bei Wintereinbruch aus Gesundheitsgründen seinen
Abschied nahm und etwa eine Woche später bei gutem Wetter sein Kommando
wieder übernehmen wollte. Guse spart zudem nicht mit Kritik am Kommandierenden
General der 3. Armee selbst, den er als unfähig und feige darstellt.
Sogar der sonst sehr türkeifreundliche Feldmarschall von der Goltz kann sich
kritischer Äußerungen über einige Offiziere nicht enthalten. So schrieb er seiner Freu
im Sommer 1915 über seinen Stabschef in der 1. Armee (Konstantinopel):
„Mein Stabschef Schükri Bey ist ein ganz tüchtiger Mann, der mich durch seine guten
Kenntnisse der inneren Verhältnisse recht unterstützt, auch an viele Dinge denkt, die
ich vergessen würde. [...] Aber er ist dabei auch eine echt türkische, passive Natur.
Einen wenig unternehmenslustigen Oberbefehlshaber würde er nicht vorwärts
1061
Bemerkungen Oberstleutnant Guses zu seinem Aufsatz „Die türkischen Operationen im Kaukasus
1914/17“ ohne Datum, BAMA Freiburg, W 10/ 51296.
272
bringen. [...] Willenskraft vermag viel, sie bildet leider keinen hervorstechenden Zug
im türkischen Charakter.“1062
Besonders „problematisch“ werden die kritischen Bemerkungen auch, wenn sie sich
indirekt oder gar direkt gegen die oberste türkische Führung richten. So beklagt sich
Oberstleutnant Paraquin während der Kämpfe um Baku über den Führer der
osmanischen Heeresgruppe „Ost“, Nuri Pascha, dieser erfinde immer neue
Meldungen über gegnerische Verstärkungen oder armenische Giftgasvorräte, um sich
vor entscheidenden Kampfhandlungen zu drücken:
„Wenn Nuri Pascha den geheimen Auftrag hätte, die Wegnahme von Baku zu
verzögern, so könnte er nicht meisterhafter handeln.“1063
Sein Brief enthält zwei brisante Details, denn zum Einen handelte es sich bei Nuri
Pascha um den Bruder des Kriegsministers Enver Pascha1064, und zum Anderen war
es eigentlich Paraquin, der den geheimen Auftrag hatte, die Einnahme von Baku zu
verzögern. Dieser wußte zu diesem Zeitpunkt nur noch nichts von seinem Auftrag, da
die Nachricht von türkischer Seite aufgehalten wurde.1065 Nach der Meinung
Paraquins wäre eine Ablösung Nuri Paschas angebracht gewesen, die aufgrund seiner
engen Beziehung zu Enver Pascha jedoch unmöglich durchgesetzt werden konnte.
Ähnliche Beobachtungen „persönlicher Protektion“ von Offizieren durch höhere und
vor allem politisch einflußreiche Kreise machte auch Ludwig Schraudenbach, dem
ein 17jähriger Leutnant als Divisionsadjutant zugeteilt wurde, obwohl er für die Stelle
völlig ungeeignet war. Allerdings stand er in enger Beziehung zum Befehlshaber der
2. Armee und Mitglied der regierenden „jungtürkischen Partei“, Marschall Achmed
Izzet Pascha, der ihm durch persönliches Dekret diese Stellung zugedacht hatte.1066
1062
Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 414.
Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant Seeckt über die Lage bei Baku vom
6.9.1918, KA München, MKr. 1782/ 2.
1064
Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 241.
1065
Siehe oben, S. 172.
1066
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 186. Izzet Pascha löste am 13. Oktober 1918 Enver Pascha als
Kriegsminister ab, dessen Amtsvorgänger er für eine kurze Periode nach den Balkankriegen gewesen
war. Die Stellung als Kriegsminister gab er jedoch nach einigen Tagen auf und wurde Großwesir und
damit Regierungschef des Osmanischen Reiches. Er muß demnach zu einem Personenkreis in der
Türkei gezählt werden, der zwar keine große Nähe zum Parteiflügel um Enver Pascha, aber dennoch
über signifikaten persönlichen Einfluß verfügte. Pomiankowski, Der Zusammenbruch 1928, S. 38 u.
386 Erickson, Ordered to Die 2001, S. 219f.
1063
273
Auch Colmar Freiherr von der Goltz geriet in Mesopotamien mit einem Offizier
aneinander, der politischen Schutz genoß und offenbar versuchte, seine Stellung
gegenüber dem neuversetzten Feldmarschall zu behaupten. Seinen Unmut über das
politische Ränkespiel drückt Goltz deutlich aus und bezeichnet den Türken als
„verwirrten Jungtürken“.1067
Damit ist auch ein wesentlicher Faktor genannt, der deutschen Offizieren immer
wieder Anlaß zur Kritik bot: Die Besetzung von militärischen Stellen allein aufgrund
politischer oder persönlicher Rücksichtnahme.
Nach dem in den deutschen Heeren geltenden Idealbild erfolgte eine Beförderung
entweder aufgrund des Dienstalters, mit dem zugleich eine entsprechend große
Erfahrung und lange Ausbildung einher gehen sollte, oder wegen besonderer
Leistungen auf militärischem Gebiet. Daß ein „Idealbild“ nicht zwangsläufig der
Wirklichkeit entsprach und durchaus auch andere Beispiele in Deutschland zu finden
waren, soll an dieser Stelle nur am Rande erwähnt werden. Für die im Orient
dienenden Deutschen war der Eindruck entscheidend, daß die türkische Führung und
zugleich die herrschende Partei keinen Hehl daraus machten, daß ihre Günstlinge in
hohe und anspruchvolle Ämter gehoben wurden. Für die jungtürkische Partei war
diese Art der Stellenbesetzung ein wichtiges Mittel zur Herrschaftssicherung. Im
politisch instabilen Umfeld am Bosporus war Loyalität ein sehr wertvolles aber auch
höchst zerbrechliches Gut. Da das Militär das wichtigste Machtinstrument im
Osmanischen Reich war und zudem maßgeblich an dem Regierungsumsturz beteiligt
gewesen war, der die jungtürkische Partei in die Führungsverantwortung gebracht
hatte, kann es kaum verwundern, daß die Regierenden bemüht waren Gefolgsleute in
der Armee zu platzieren, die sich – oftmals ausschließlich – durch eine hohe Loyalität
auszeichneten. Dieses Verfahren widersprach nicht nur dem Leistungsprinzip und den
Vorstellungen sachlicher Angemessenheit, sondern hatte tatsächlich zur Folge, daß
offenkundig ungeeignete Personen in Verantwortlichkeiten kamen, für die sie nicht
befähigt waren. Als deutlichstes Anzeichen für eine solche „politisch-militärische“
Karriere galt die Verwandtschaft zu einer höhergestellten Persönlichkeit im
Osmanischen Reich und zugleich das (nach deutschen Maßstäben) häufig jugendliche
Alter der Armeeführer oder Kommandeure. Der obenerwähnte Nuri Pascha als Führer
1067
Goltz/Foerster, Goltz Denkwürdigkeiten 1932, S. 436.
274
einer osmanischen Heeresgruppe war 26 Jahre alt, was für Paraquin ein Grund für
seine „Unfähigkeit“ war:
„Nuri Pascha wurde von allen Zweifelsqualen geschüttelt, die einen 26 jährigen
jungen Mann befallen müssen, der sich ohne jede Erfahrung und Schulung vor einem
[sic] grossen Entschluss gestellt sieht, dessen Ausgang über sein künftiges Prestige
entscheidet.“1068
Auch Oberst von Kreß, der im Sommer 1918 in den Kaukasus kommandiert wurde,
formuliert ein solch „typisches“ Urteil über die höheren Offiziere des Osmanischen
Reiches:
„Am 4. August traf Halil Pascha, der Oberbefehlshaber der türkischen
Heeresgruppe, [...] zu einem Staatsbesuch bei der georgischen Regierung in Tiflis
ein. [...] Halil, etwa 35 Jahre alt, ein selten gutaussehender und liebenswürdiger
Türke, ist ein Onkel Enver Paschas. Klug und gewandt, grosszügig und nicht
ausgesprochen deutschfeindlich, aber – weil er wie die meisten jungtürkischen
Offiziere viel zu rasch avanciert war – ohne gründliches Können und Wissen schien
er den besten Willen zu haben, sich mit uns und den Georgiern zu verständigen. Sein
Stabschef, der sehr tüchtige [...] Paraquin genoss offenbar sein Vertrauen und übte
günstigen Einfluss auf ihn aus.“1069
Vor einer abschätzigen Beurteilung deutscherseits war im Übrigen auch Enver Pascha
selbst nicht gefeit. Immer wieder wurde dem jungen Kriegsminister und
Vizegeneralissmus (geboren 1881) vorgehalten, daß er seine Stellung nur durch den
„jungtürkischen Putsch“ erlangt habe und auf keine weitergehende Ausbildung oder
gar Erfahrung als Heerführer zurückblicken konnte. Hans Guhr bezeichnete ihn als
„fähigen Diplomaten“, was sein Aufstieg vom einfachen Offizier zum „Diktator des
türkischen Reiches“ beweise. Militärisch sei er jedoch ungebildet und verwechsle oft
„Wollen“ mit „Können“.1070 Einige Urteile klingen zwar zunächst recht milde,
enthalten aber dennoch deutliche Kritik an dem militärischen Dilettantismus Envers.
So berichtet Felix Guse über des Fiasko im Winter 1914/15 am Kaukasus, daß der
1068
Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant von Seeckt vom 21.9.1918. KA
München, MKr. 1782/ 2, S. 2.
1069
Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein „Meine Mission im Kaukasus“, KA München, HS 2227,
S. 64.
1070
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 27.
275
Kriegsminister zwar eine beeindruckende Persönlichkeit sei, die für den inneren
Zusammenhalt der Armee viel bewirkt habe, aber er ganz alleine für die Katastrophe
verantwortlich sei, da er die 3. Armee nicht habe führen können.1071 Auch Freiherr
von der Goltz kommt zu einem recht milden, wenngleich kritischen Urteil über den
„de-facto Oberbefehlshaber“ der osmanischen Streitkräfte:
„Der leitenden Mann in allem ist der jugendliche Kriegsminister Enver Pascha, der
fast wie ein Diktator auftreten kann, da er auf türkischer Seite allein Entschluss
besitzt und Verantwortung übernimmt. Er ist unzweifelhaft eine ungewöhnliche
Persönlichkeit; er ist fest, ohne eigensinnig zu sein, selbstbewusst aber doch
bescheiden, intelligent und klar, mit der Gabe, fascinierend auf seine Umgebung zu
wirken. [...] Leider fehlt ihm die systematische Vorbildung und gründliche Erfahrung
für die Kriegführung im Grossen.“1072
Einer der schärfsten Kritiker Enver Paschas, der zudem in andauerndem, persönlichen
Konflikt zu ihm stand, war Marschall Liman von Sanders, der Chef der deutschen
Militärmission.1073 Für den deutschen Marschall war der Kriegsminister nicht nur zu
unerfahren, er war zugleich das Symbol der Herrschaft der „jungtürkischen Partei“
über den Sultan.1074 Für den preußischen General mußte diese erhöhte Stellung einer
politischen Partei über dem Monarchen vollkommen gegen die Ideale und
Vorstellungen der deutschen Offizierkorps stehen.1075
Diese beiden Positionen, das deutsche Ideal (und Autostereotyp) des kaiser- oder
herrschertreuen sowie professionalisierten Offiziers und die durch politische oder
verwandtschaftliche Beziehungen geprägte, osmanische Realität standen sich
unversöhnlich gegenüber. Erneut ist es Freiherr Kreß von Kressenstein, der den
Konflikt in Worte faßt:
„Die bei den türkischen Generalen besonders stark ausgeprägte Neigung, nur an das
eigene Interesse und die Belange der unmittelbar unterstellten Truppen zu denken,
1071
Guse, Die Kaukasusfront 1940, S. 52f.
Geheimes Schreiben von Feldmarschall von der Goltz an Generaloberst von Moltke vom 28.1.15,
BAMA Freiburg, N 78/ 3, Blatt 4.
1073
Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 708f. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976, S. 143-145.
1074
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 16f.
1075
Siehe hierzu auch oben, S. 116-122.
1072
276
machte sich hier ebenso nachteilig fühlbar wie der starke Einfluss ihrer politischen
Einstellung auf die Leistung und den Gehorsam der Generale.“1076
Die Kritik an „den Mächtigen“ auf dem kleinasiatischen Kriegsschauplatz brachte
zwangsläufig neue Konflikte hervor. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden
einflußreichsten Militärs, Liman und Enver, litt stark unter den persönlichen
Gegensätzen. Mehrmals legte der Chef der Militärmission Beschwerden bei höheren
Stellen oder beim Deutschen Kaiser ein, um seine „besseren militärischen Pläne“
gegen
die
„unausgegorenen“
1077
Kriegsministers durchzusetzen.
Pläne
des
seiner
Ansicht
nach
unfähigen
Auch General von Falkenhayn besaß offenkundig
ähnliche Ressentiments gegen einen „politischen Offizier“, bei dem es sich in diesem
Fall um Djemal Pascha handelte, der zeitgleich Armeeführer in Syrien,
Provinzgouverneur und Marineminister war. Als Falkenhayn im Rahmen des
„Yildirim“-Unternehmens nach Palästina kam, geriet er bald mit Djemal Pascha als
„Satrap von Syrien“ aneinander, da dieser sich seinen Anordnungen nicht beugen
wollte.1078 Der folgende Konflikt endete mit dem Verlust des Oberbefehls für Djemal,
erzeugte jedoch den fortdauernden Widerstand der weiterhin unter ihm als
Gouverneur stehenden Zivil- und Nachschubverwaltung gegen den deutschen
General, was eine
erfolgreiche
Defensive gegen
die britischen
Truppen
gefährdete.1079 An späterer Stelle wird noch einmal auf solche deutsch-türkischen
Konflikte einzugehen sein.
Kreß hatte in seiner Einschätzung des türkischen Offizierkorps bereits erkennen
lassen, daß die Art der „politischen Stellenbesetzung“ zu Antagonismen und
„fehlender Kameradschaft“ unter den Türken selbst führte. In der Tat monieren an
1076
Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein „Meine Mission im Kaukasus“, KA München, HS 2227,
S. 66.
1077
Einige Beispiele bei: Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 55-58, S. 67 u. S. 73.
1078
Obergeneralarzt Steuber, Chef des Sanitätswesens der Heeresgruppe F, macht für diesen Gegensatz
nicht zuletzt auch einen „scharfen politischen Gegensatz“ zwischen dem deutschfreundlichen Enver
und Djemal verantwortlich. Steuber, Werner: Arzt und Soldat in drei Erdteilen, Berlin 1940, S. 294.
1079
Es steht außer Frage, daß Djemal Pascha sich den Verlust des Oberkommandos in Syrien und
Palästina an Falkenhayn nicht allein den persönlichen Prestigeverlust fürchtete, sondern als
Marineminister und führendes Mitglied der jungtürkischen Partei auch fürchten mußte politisches
Gewicht zu verlieren daher zu solchen Maßnahmen griff. In welchem Maße sich diese
„Blockadehaltung“ aber tatsächlich auf die deutsch-türkischen Operationen auswirkte, kann nicht
eindeutig geklärt werden. Kreß von Kressenstein, Achmed Djemal Pascha 1923, S. 19f. Papen, Der
Wahrheit eine Gasse 1952, S. 93f.
277
vielen Stellen die Deutschen, daß unter türkischen Offizieren – besonders auf höheren
Kommandoebenen – gegenseitige Eifersucht, Intrigen und Ränkespiele an der
Tagesordnung seien.1080
Oberstleutnant Paraquin berichtete an General von Seeckt:
„Ich kann im einzelnen dieses Chaos der Meinungen und das Intrigenspiel nicht
schildern. Ich muss nur darauf hinweisen, da es eine sehr ernste und gefährliche Seite
der türkischen Führung enthüllt und nicht vereinzelt dasteht.“1081
Aus der Sicht des deutschen Verbündeten war demnach das Streben nach dem
eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Standesgenossen ein verbreitetes Phänomen
unter den hohen osmanischen Offizieren. Ein Verhalten, daß als Folge der politischen
Einflußnahme auf die militärische Laufbahn, die schnellste Möglichkeit sozialen
Aufstiegs außerhalb des „Geburt-Adels“ und der Provinzverwaltung im Osmanischen
Reich, angesehen wurde.
Bringt man die erwähnten Kritikpunkte zusammen, so war die Mehrheit der
verbündeten Offiziere – wenn auch nicht alle – in deutschen Augen in vielerlei
Hinsicht kein ebenbürtiger Partner. In Ausbildung und Bildung fühlten sich die
Deutschen durchgehend überlegen. Ebenso war man der Ansicht, daß die Erfahrung
und der „militärische Geist“ der Türken weit hinter dem der deutschen Offizierkorps
zurückstand, nicht zuletzt weil die meisten Türken keine „höheren Beweggründe“,
wie etwa Vaterlandsliebe oder die Verehrung für den Herrscher, für den Dienst
besäßen, sondern lediglich aus Profitgier oder persönlichem Machtstreben der Armee
beigetreten wären. Hinzu traten noch die kulturellen Stereotype des „faulen
Orientalen“
und
des
„fleißigen
Deutschen“
und
das
damit
verbundene
Überlegenheitsgefühl.
Unter diesen Vorzeichen erscheint ein kameradschaftliches Miteinander von
deutschen und türkischen Offizieren weitgehend ausgeschlossen. Die Quellen legen
den Schluß nahe, daß es auch kaum zu einem solchen Zusammenhalt gekommen ist.
1080
Prof. Dr. Georg Mayer, „Geheimbericht: Land und Leute in der Türkei“, o. Dat. [vermutlich März
1916], S. 25. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 103. Undatierter Bericht Oberstleutnant Paraquin an
Generalleutnant Seeckt über den Zustand der 6. Armee in Mesopotamien, BAMA Freiburg, PH 5 I/
106. W 10/ 56177, Schreiben Heuck an das Reichsarchiv, [S. 3]. Kreß von Kressenstein: Mit den
Türken 1938, S. 40f.
1081
Schreiben von Oberstleutnant Paraquin an Generalleutnant von Seeckt vom 21.9.1918. KA
München, MKr. 1782/ 2, S. 2.
278
Ganz im Gegenteil machten die Deutschen um ihre „Waffenbrüder“ eher einen
Bogen, wenn die Situation es erlaubte. Dies lag allerdings nicht nur an dem Gefühl
der eigenen Überlegenheit, wie etwa Oberstleutnant Schraudenbach zu berichten
weiß:
„Die Stimmung gegen die verbündeten Türken war in diesem Kreis nicht günstig. Im
Kasino sah man osmanische Offiziere nur ungern, und zwar aus sanitären Gründen.
Die Läusegefahr! Die türkischen Offiziere lebten eben noch mehr als die deutschen
im Innern in stark verlauster Umgebung, und es war ihnen einfach unmöglich, sich
läusefrei zu halten.“1082
Ähnliche Abgrenzungen lassen sich auch bei der Marine und den Fliegern
feststellen.1083
Das bedeutet jedoch nicht, daß es im dienstlichen Umgang nicht durchaus auch ein
höfliches und respektvolles Miteinander gab. Einige Deutsche waren in der Lage, sich
den örtlichen Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grade anzupassen, und konnten
sich dadurch ein angenehmeres und konfliktfreieres Arbeitsumfeld schaffen. Der
greise Feldmarschall von der Goltz, der von seinem vor dem Kriege bereits erlangten
Ruf im Orient zehren konnte, war nur ein Beispiel. Doch auch Oberstleutnant Guhr
verstand es, sich den Landessitten anzupassen. Auf dem Weg zu der ihm zugeteilten
Einheit wählte er nicht etwa den schnellsten Weg, sondern stattete jedem
osmanischen Funktionsträger der Armee zuvor einen Antrittsbesuch ab, bevor er zu
seiner Einheit kam. Diese „Zeitverschwendung“ – im preußischen Sinne – brachte
ihm die in Kleinasien so wichtigen „persönlichen Kontakte“. Zudem wußte er um die
Symbolkraft kleiner Gesten:
„Nur für mich allein wurde ein Stuhl bereitgestellt. Es erregte allgemeine Freude, als
ich diesen verschmähte und mich gleichfalls in dem Kreise der Kameraden à la turka
[d.h. mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden] niederließ. Der Kommandeur
rauchte eine Wasserpfeife und schenkte mir ein silbernes Mundstück mit der
Aufforderung [...] gleichfalls aus ihr zu rauchen. In allen Tonarten lobte ich den
1082
1083
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 120. Zu einem ähnlichen Beispiel siehe Ebd., S. 133.
Siehe Kapitel IV.4. a) und b).
279
kräftigen
Tabak,
jedoch
völlig
unehrlich;
denn
tatsächlich
war
mir
hundeschlecht.“1084
Der Erfolg für Guhr zeigte sich in einem deutlichen Wohlwollen seiner türkischen
Vorgesetzten ihm gegenüber.1085 Oberst Freiherr Kreß von Kressenstein besaß
offenbar ähnliche „diplomatische Feinfühligkeit“, die er nicht zuletzt einsetzte, um
auch die in seinem Befehlsbereich „problematischen“ Araber für sich zu
gewinnen.1086 Der deutsche Militärbevollmächtigte in Konstantinopel sah in Kreß die
„Seele der Verteidigung in Palästina“ und Ritter Mertz von Quirnheim bescheinigte
ihm, daß er „nicht nur von Türken, sondern auch von Arabern geradezu vergöttert“
wurde.1087
Doch ein solch gutes Verhältnis hatte nicht nur Vorteile, denn schnell gerieten
deutsche Offiziere, die sich „zu gut“ mit ihren türkischen Verbündeten verstanden, in
den Ruf „vertürkt“ zu sein. Dieses „Unwort“ sollte Synonym werden für den
Überlegenheitsdünkel viele Deutscher gegenüber dem Orient und er sollte den
militärischen Auftrag weiter erschweren, wie später noch zu zeigen sein wird.1088
IV.4. Sonderfälle Marine und Fliegertruppe?
Obwohl das deutsche Heer die meisten Soldaten für den Orienteinsatz stellte, wurde
auch eine beachtliche Anzahl Angehöriger der Marine und der Luftstreitkräfte
eingesetzt. Die Differenzierung zwischen Heer und „Luftwaffe“ entspricht eher einer
modernen Einteilung, da die Fliegertruppe im Ersten Weltkrieg noch nicht als eigene
Teilstreitkraft etabliert war.1089 Doch entwickelte sich durch die von Heeresaufträgen
unabhängigen Jagdeinsätze, eigene Uniformen, das „technisierte Umfeld“ und
1084
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 57.
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 74f.
1086
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 107f.
1087
Mertz von Quirnheim, Hermann: Bemerkungen zu: „Die Ursachen für den Zusammenbruch der
Palästina-Front“ bearbeitet von Generalmajor a.D. von Frankenberg und Proschlitz, Potsdam,
Mai/Juni1930. BAMA Freiburg, W 10/ 50592, S. 14 u. S. 21.
1088
Siehe unten, S. 370-374.
1089
Die Flieger wurden in der Vielzahl der Fälle als „Augen der Bodentruppen“ eingesetzt und
unterstanden anfangs auch dem Befehl der Armeen. Major Erich Serno als „Organisator“ der
osmanischen Luftstreitkräfte macht in seinen Memoiren auch keinen Hehl daraus, daß er die
Fliegertruppe als Teil des Heeres versteht. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 76.
1085
280
schließlich auch durch die Einführung einer – zumindest im Osmanischen Reich –
eigenen Kommandostruktur im Laufe des Krieges eine wenigstens in Teilen von einer
Einflußnahme
des
Heeres
unabhängige
Waffengattung
und
ein
eigenes
„Erfahrungsumfeld“ für die dort eingesetzten Deutschen.1090
Die folgenden Betrachtungen gelten demnach den deutschen Angehörigen der Seeund Luftstreitkräfte in osmanischen Diensten. In einigen Punkten ähneln die
Wahrnehmungen und Meinungen denen der Soldaten der Landstreitkräfte, doch in
einer Reihe von Aspekten gibt es auch unterschiedliche oder anders nuancierte
Äußerungen über den türkischen Verbündeten; diese gilt es im Folgenden zu
behandeln.
a) Die Marine
Die deutschen Marineeinheiten waren ohne Zweifel Teil einer zweiten Teilstreitkraft
im Osmanischen Reich. Das Personal unterstand in keiner Weise der deutschen
Militärmission, ein Umstand, der das Nebeneinander von Heer und Marine im
Deutschen Reich spiegelte. So war es nicht an die Befehle des Marschalls Liman von
Sanders gebunden, kam aber zunächst auch nicht in den Genuß der Vorteile wie
Erhöhung des Dienstgrades oder außerordentliche Bezahlung. Die Situation änderte
sich jedoch, als Wilhelm Souchon im Oktober 1914 von Enver Pascha zum
türkischen Admiral und Flottenchef ernannt wurde. Mit dieser Ernennung verknüpfte
der Befehlshaber der Mittelmeerdivision nämlich eine Reihe von Bedingungen, die in
einigen Punkten den Vertragsbedingungen der Militärmission sehr ähnlich waren:
-
Als Flottenchef sollte Souchon direkt und ausschließlich dem osmanischen
„Großen Generalstab“ unterstellt sein.
-
Höhere
Offiziere
würden
allein
durch
ihn
berufen
oder
abberufen.
Kommandierungen innerhalb der Flotte unterlägen seiner Zuständigkeit und er
müsse das Marineministerium lediglich informieren.
1090
Zur Kommandostruktur siehe: MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte,
Anhang „Organisation u. Stand d. Türkischen Luftstreitkräfte am 1.7.1918“, o. Seitenzahl.
281
-
Deutsche Offiziere und Mannschaften sollten in keinem Falle Untergebene
türkischer Offiziere sein. Deutsche Offiziere, die als „KommandantenStellvertreter“ auf türkischen Schiffen eingesetzt wurden, sollten hingegen
jederzeit in den Dienstbetrieb eingreifen – also das Kommando übernehmen –
dürfen, um sicherzustellen, daß „der Dienst auch dem Willen des
Oberkommandierenden“ entspräche.
-
Und schließlich forderte der neue Admiral die rechtliche Gleichstellung der
Schiffsbesatzungen mit den Angehörigen der Militärmission, wobei hier
besonders die Möglichkeit der Rückkehr in deutsche Dienste unter Anrechnung
des Dienstes am Bosporus gemeint war. Die Besoldung sollte hingegen durch das
Deutsche Reich erfolgen.1091
Diese Bedingungen wurden von Enver Pascha akzeptiert und der Deutsche damit
praktisch zum „Admiralissimus“ der osmanischen Seestreitkräfte ernannt.1092 Durch
diesen forschen Vorstoß hatte es Admiral Souchon nicht nur geschafft, die
Ausgangssituation der deutschen Marineangehörigen eindeutig zu klären, sondern
auch entschieden zu verbessern. Das „notgedrungene“ Einlaufen der beiden
deutschen Schiffe in die Dardanellen hatte keinen Raum für vertragliche Feinheiten
gelassen. So waren die Schiffe mitsamt Besatzung zwar in türkische Dienste
übergetreten, allerdings nur, um einen Neutralitätsbruch der Hohen Pforte zu
kaschieren. Die Bemerkungen Souchons hatten früh erkennen lassen, daß er sich
kaum vorbehaltlos der osmanischen Befehlsgewalt fügen würde.1093 Von einer
„freiwilligen Dienstnahme“ am Bosporus kann demnach bei den Angehörigen der
Mittelmeerdivision
keine
Rede
sein.
Zudem
waren
die
sturkturellen
Rahmenbedingungen für Seeleute im Orient andere als für Heeresangehörige. So gab
es am Bosporus keine „Marinemission“, die ähnlich lohnenswerte Perspektiven wie
die Militärmission garantieren konnte. Außerdem boten Umfang, Zustand, Ruf und
nicht zuletzt die strategische Ausgangssituation der osmanischen Seestreitkräfte kaum
Aussicht auf militärisch reizvolle – also „ruhmreiche“ – Tätigkeit, wie sie etwa bei
der deutschen Hochseeflotte erwartet wurde. Es kann daher kaum verwundern, daß
sich aus den Aufzeichnungen und Memoiren der Marinesoldaten keine freiwilligen
1091
RM 40/ 184, KTB der Mittelmeerdivision, Eintrag vom 7.10.1914, Blatt 194.
RM 40/ 184, KTB der Mittelmeerdivision, Eintrag vom 26.10.1914, Blatt 225.
1093
Siehe oben, S. 97.
1092
282
Meldungen zum Dienst erkennen lassen. Der deutsche Konteradmiral Albert
Hopman, der 1916 als Organisator einer Marinereform zum osmanischen
Marineministerium kommandiert wurde, schreibt am 22.12.1915 in seinem
Tagebuch, die „Entscheidung darüber läge bei andern Immediatstellen“.1094 Im
gleichen Eintrag berichtet Hopman auch von den Anreizen, die ihm nach Souchons
Vorstoß geboten werden (36.000 RM Gehalt und die Möglichkeit der Rückkehr in
deutsche Dienste). Offenbar sind die Anreize aber nicht groß genug, um den
Konteradmiral sofort zur Dienstnahme in Konstantinopel zu bewegen, denn unter
dem Verweis, er sei noch 3 Wochen krank geschrieben, bat er sich „Bedenkzeit“
aus.1095
Lediglich der Kommandant des deutschen U-Bootes „U 21“, Kapitänleutnant Otto
Hersing, schildert, daß die Verlegung seines Bootes nach Konstantinopel auf seine
Initiative zurückgehe.1096 Da die deutschen U-Boote allerdings nicht Teil der
osmanischen Marine waren, geschah die freiwillige Meldung Hersings unter anderen
Rahmenbedingungen und war keine Meldung in türkische Dienste.
Ein weiterer, auffälliger Unterschied in den Schilderungen der Marinesoldaten zu den
Berichten und Veröffentlichungen anderer deutscher Kriegsteilnehmer ist das Fehlen
von schwärmerischen Orient-Bildern oder der Erwartungshaltung, in Konstantinopel
ein „Märchenland aus tausendundeiner Nacht“ vorzufinden. Genauer gesagt lassen
sich keine Anhaltspunkte für das Türkei-Bild der deutschen Marineangehörigen vor
ihrer Ankunft im Osmanischen Reich belegen. Es ist jedoch kaum davon auszugehen,
daß die Soldaten der kaiserlichen Marine als Einzige „unvoreingenommen“ ihren
Dienst am Bosporus antraten. Vielmehr geht aus den Schilderungen hervor, daß
anfangs die vage Hoffnung bestand, moderne europäische Verhältnisse in der Türkei
anzutreffen. Umso entsetzter klingen daher die ersten Berichte über den Zustand der
türkischen Schiffe. Der damalige Obermatrose auf der „Breslau-Midilli“ Hans Hüner
beschreibt seine ersten Eindrücke:
1094
Epkenhans, Michael [Hrsg.]: Das ereignisreiche Leben eines „Wilhelminers“ – Tagebücher, Briefe,
Aufzeichnungen 1901 bis 1920 von Albert Hopman, München 2004, S. 757f. (Im Folgenden:
Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004.)
1095
Ebd., S. 757. Aus den Tagebucheinträgen Hopmans geht hervor, daß er sich nicht ernsthaft gegen
eine Kommandierung von höherer Stelle gewehrt hatte. Seine „Verzögerungstaktik“ läßt aber darauf
schließen, wie ungern er den Dienst am Bosporus antreten wollte.
1096
Hersing, Otto: U 21 rettet die Dardanellen, Zürich/Leipzig/Wien 1932, S. 36. (Im Folgenden:
Hersing, U 21 1932.)
283
„Das Personal ist so gut wie gar nicht ausgebildet. Die Besatzungen sind nicht
seefest, von technischen und praktischen Kenntnissen, wie Torpedoschießen,
Lecksicherungsdienst und Geschützexerzieren haben sie keine Ahnung. [...] Die Flotte
ist nicht einmal fahrbereit, geschweige den kriegsverwendungsfähig.“1097
Auch der Flottenchef muß ähnliche Beobachtungen bei der Inspektion der türkischen
Schiffe gemacht haben. In einem Brief an seine Frau vom 24. September 1914
schreibt er, „daß mit der verrotteten türkischen Flotte doch nichts zu machen ist und
es sehr zweifelhaft ist, ob sie mir im Gefecht nicht davon läuft“.1098 Dennoch stand
der deutsche Offizier unter dem Druck, den Kriegseintritt der Türkei beschleunigen
zu müssen, was – seiner Meinung nach – nur durch einen Angriff gegen Russland von
See her gelingen konnte. Dafür brauchte er jedoch die Unterstützung der übrigen
Schiffe. Für eine gründliche Ausbildung der osmanischen Besatzungen blieb keine
Zeit und so wurden lediglich deutsche „Kommandanten-Stellvertreter“ auf die
türkischen Schiffe gegeben, die über Befugnisse gemäß dem Vertrag mit Enver
Pascha
verfügten.
Die
Berichte
dieser
Offiziere
mußten
unter
solchen
Vorraussetzungen verheerend sein. Der deutsche Oberleutnant zur See von
Mellenthin befand sich an Bord des Kleinen Kreuzers „Berk-i Satvet“, als die
türkische Flotte am 27.10.1914 auslief, um die russischen Schwarzmeerhäfen zu
beschießen.1099 Er mußte mit ansehen, wie die osmanischen Besatzungsmitglieder,
die zum großen Teil noch nie mit ihrem Schiff auf See hinaus gefahren waren, dem
Seegang „zum Opfer fielen“:
„Die Bewegungen des Schiffes waren noch sehr angenehm zu nennen, und trotzdem
lagen die Türken wie Leichen in allen Ecken zusammengepfercht, durchaus
regungslos. Nicht nur der Mann, auch der Offizier versagte bereits und das Schiff
wurde gefahren [...] von den beiden jüngsten Offizieren, von denen der eine seekrank
war. Die anderen haben sich von der Wache gedrückt, da sie entweder
1097
Hüner, Unter zwei Flaggen 1930, S. 106.
Brief von Souchon an seine Frau vom 24.9.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 3, Blatt 6.
1099
Lorey, Krieg I, 1928, S. 46. Zur türkischen Benennung der Schiffe siehe auch: Darr, Karl Wilhelm
August: The Ottoman Navy 1900-1918 – A study of the material and professional development of the
Ottoman Navy from 1900 through the Italian, Balkan and First World Wars, Ann Arbor 1998,
Appendix 10.
1098
284
Torpedooffizier, Artillerieoffizier oder Signaloffizier zu sein glaubten und beschäftigt
waren nach ihrer Meinung.“1100
Von Mellenthin teilte daraufhin allen Funktionsträgern des Schiffes „in wenig
freundlichem Tone“ mit, welche Erwartungshaltung er an die Disziplin der Offiziere
und Mannschaften habe. Sein Ausbruch zeigte jedoch nicht die erhoffte Wirkung, da
die unerfahrenen Türken Angst vor einer Begegnung mit der russischen Flotte hatten
und er sie ständig unter Aufsicht halten mußte.1101 Es verwundert daher auch nicht,
daß der eigentliche Angriff des Kreuzers auf Noworossisk nach deutschen Maßstäben
schlecht verläuft:
„Infolge der seelischen Erregung der Türken, gegen einen bewaffneten Feind zu
fechten, schossen die Geschützführer sehr schlecht, das Abkommen war schändlich
und trotzdem war der Erfolg glänzend. [Panik unter den russischen Verteidigern.]
[...] Einen solchen Erfolg hatte sich selbst der türkische Kommandant nicht von
unserem Angriff versprochen. Begeisternd [sic] und bewundernd sahen die Türken
diesem Schauspiel zu.“1102
Der
deutsche
„Kommandanten-Stellvertreter“
konnte
sich
den
türkischen
Bewertungsmaßstäben jedoch nicht anschließen und verteilte erneut „scharfe
Verweise“ an die Besatzung. Da der Erfolg allerdings ebenso beschränkt blieb wie
zuvor, ließ er die türkischen Geschützführer durch deutsche ersetzen, als die
„Breslau“ zur Beschießung des Hafens eintraf. Eine „Strafe“, die von den türkischen
Offizieren mit Freude und Erleichterung angenommen worden sei.1103
Diese unfreiwillig komische Episode der deutsch-türkischen Seekriegführung ergab
zwei Einsichten: Zum einen war die osmanische Marine offenkundig nicht
einsatzbereit, und zum anderen war deutlich geworden, daß eine entscheidende
Leistungsverbesserung nicht durch spontane „energische Appelle“ eines deutschen
Seeoffiziers erreicht werden konnten.
Der deutsche Flottenchef berichtet wenige Tage nach dem Angriff auf Russland an
Kaiser Wilhelm II. schonungslos über seine Eindrücke vom Zustand der Marine:
1100
Auszug aus dem Kriegstagebuch des leichten Kreuzers „Berk“, Eintrag vom 28.10.1914. BAMA
Freiburg, N 156/ 4, Blatt 50.
1101
Ebd. Blatt 51f.
1102
Auszug aus dem Kriegstagebuch des leichten Kreuzers „Berk“, Eintrag vom 29.10.1914. BAMA
Freiburg, N 156/ 4, Blatt 56f.
1103
Ebd., Blatt 57.
285
„Wenn auch nicht vergessen werden darf, daß die ganze Unternehmung
außerordentlich vom Glück und Wetter begünstigt gewesen ist – bei der
Jämmerlichkeit des türkischen Personals und Materials ist kaum auszudenken, was
mit den türkischen Schiffen geschehen wäre, wenn Schlechtwetter oder eine
Gegenwirkung des Feindes eingesetzt hätte – so ist der volle Erfolg zurückzuführen
auf die vortreffliche Haltung und Berufsausbildung des deutschen Personals. [...] Das
türkische Personal hat fast ausnahmslos schmachvoll versagt.“1104
Die ersten Versuche, Erfolge durch eine „Steigerung der Leistungsbereitschaft“ der
osmanischen Matrosen und Seeoffiziere zu erzielen, waren gescheitert. Auch große
Härte im Umgang mit den türkischen Besatzungen konnte keine Kenntnisse
„herbeizaubern“. Zudem sorgte das laute Auftreten des deutschen „KommandantenStellvertreters“ nicht für Vertrauen in seine Führungsfähigkeiten, sondern vielmehr
für Furcht bei den Türken, die daraufhin Tätigkeit „vortäuschten“, um weiteren
Zornesausbrüchen zu entgehen. Ähnlich den deutschen Heereskameraden mußten
auch die deutschen Marineangehörigen feststellen, daß ihre Vorstellung von
militärischer Disziplin kaum auf orientalische Verhältnisse zu übertragen war.
Eine weitere Auffälligkeit der ersten Kampfhandlungen der osmanischen Flotte unter
ihrem deutschen Admiral darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Der
Flottenchef hatte sich bereits vor dem Auslaufen der Kriegsschiffe keinen Illusionen
über deren Zustand hingegeben.1105 Er berichtete jedoch erstmals am 1.11.1914, also
nach der Operation, die für die Türkei gleichbedeutend mit dem Kriegseintritt sein
sollte, auch Enver Pascha „von dem trostlosen Unwert der türkischen Flotte, von dem
Nichtleistenkönnen des Personals“.1106 Ein Zeitpunkt, der nach den Maßstäben der
deutschen Marine wohl als „verspätet“ bezeichnet werden kann. Es erscheint auch
kaum glaubhaft, daß solche Berichte zuvor „auf dem Dienstwege“ an den
Marineminister gegangen sein könnten, denn aus deutscher Sicht war Enver Pascha
die treibende Kraft in Konstantinopel, der Garant für eine deutschfreundliche Haltung
und der Verhandlungspartner bei der Anstellung Souchons als osmanischer
Flottenchef. Admiral Souchon muß sich der Bedeutung eines Zustandsberichtes an
Enver voll bewußt gewesen sein, stand jedoch unter enormem Druck aus Berlin, die
1104
Brief Souchons an Wilhelm II., vom 3. November 1914. BAMA Freiburg, N 156/ 3, Blatt 17f.
Siehe oben, S. 201.
1106
RM 40/ 184, KTB Mittelmeerdivision, Blatt 234.
1105
286
Hohe Pforte mit allen Mitteln zum Kriegseintritt zu bewegen. Selbst unter
Berücksichtigung der äußeren Umstände bleibt der Eindruck bestehen, daß das
deutsch-türkische Waffenbündnis bereits unter ungünstigen Vorzeichen zustande
gekommen ist.
In der Folgezeit bemühte sich der Oberbefehlshaber der osmanischen Flotte vorrangig
um Abstellung der deutlich zutage tretenden Mängel in der türkischen Ausbildung.
Die türkischen Seeoffiziere und das technische Personal sollten auf den beiden
deutschen Schiffen „nachgeschult“ werden, was sich aber als unpraktikabel
herausstellte. In Kriegszeiten bildeten die unerfahrenen Türken für die Deutschen
eher eine Belastung und die Ausbildung wurde im Frühjahr an eine neue MarineAkademie verlegt.1107 Souchon hatte schon in seinem Brief an den Kaiser
geschrieben: „Der Marineminister unterstützt mich zwar energisch in der
Ausmerzung der feigsten und unfähigsten Elemente, ausreichende Besserung wird
sich aber während des Krieges nicht erreichen lassen. Dazu ist die Fäulnis zu stark.
Ich werde mir zu helfen suchen dadurch, daß ich zu Aktionen die türkischen Schiffe
von Fall zu Fall mit noch mehr als bisher deutschem Personal besetze, ihnen
namentlich Geschützführer und Maschinenpersonal gebe, andernfalls würden die
Schiffe wehrlos sein.“1108
Daher wurden deutsche Offiziere und Ingenieure auf einem Großteil der türkischen
Schiffe eingesetzt. Sie hatten den Auftrag, eine gewisse Einsatzbereitschaft der
Schiffe und Boote zu erhalten oder herzustellen. Die Ausbildung rückte, wenn sie
überhaupt praktiziert wurde, in den Hintergrund. Die türkischen Besatzungen sollten
ihre Tätigkeiten während des Einsatzes erlernen. Einer dieser deutschen Offiziere war
Kapitänleutnant Rudolph Firle, der als Chef einer Torpedoboot-Halbflotille fungierte
und zugleich auf dem Torpedoboot „Muavenet-i-Millije“ als „KommandantenStellvertreter“ fungierte. Als Firle seinen Dienst in der osmanischen Marine antrat,
berichtete er schon bald von den furchtbarsten Zuständen in der Flotte:
1107
Zugleich sollten türkische Kadetten auch an der Marineschule in Mürwik ausgebildet werden. Die
genauen Zahlen sind nicht bekannt, allerdings sollen 16 osmanische Leutnants und 12 MarineIngenieure an der Skagerrak-Schlacht teilgenommen haben. Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann,
Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 130.
1108
Brief Souchons an Wilhelm II., vom 3. November 1914. BAMA Freiburg, N 156/ 3, Blatt 18.
287
„September, Oktober, waren mit fleißigem Flottenbetrieb ausgefüllt. Das
Seeoffizierkorps ist beruflich schlechter, als jeder N.D.C.-Dampferführer,1109
waffentechnisch überhaupt nicht ausgebildet, im Gegenteil haben die Engländer mit
Fleiß noch das wenige vorhandene zunichte gemacht. Die Führung und Verwendung
der Waffen und Verbände lag daher von Anfang an in unseren Händen. Ein anfangs
wo von einzelnen Stellen noch mit passivem Widerstand, falschem Nationalstolz und
vor allem Faulheit gerechnet und gekämpft werden mußte, recht mühendes
Unternehmen. Das Material ist besser, als man dachte. Die Schiffe zum Teil gut
[...].“1110
Firle kritisiert im Wesentlichen zwar den Ausbildungsstand des Personals, es wird
jedoch mehr als deutlich, daß ihm die „Mentalität“ der Verbündeten ebensowenig
zusagte. Kurze Zeit später schrieb er in einem Brief an seine Mutter, daß die
Osmanen als Verbündete nur wenig von Nutzen wären, wenn nicht die deutschen
Truppen zuvor sichtbare Erfolge erzielen. Dann wäre es möglich, daß die Türken
„wenigstens ein bißchen“ helfen könnten.1111
Die Frustration über die „Untätigkeit und Faulheit“ des neuen Verbündeten spricht
aus einer Vielzahl seiner Briefe an die Familie. Als der junge Kapitänleutnant
erstmals mit dem religiös bedeutsamen Fastenmonat der Muslime konfrontiert wird,
ist sein einziger Kommentar, daß die Türken nun am Tage schliefen und in der Nacht
äßen und noch weniger als sonst arbeiteten.1112 Es verwundert daher nicht, daß er
recht froh über seine Kommandierung nach Bulgarien war, wo er als
Verbindungsoffizier zwischen den neuerdings verbündeten osmanischen und
bulgarischen Seestreitkräften fungieren sollte. Dort eröffnete sich ihm eine
„dankbare Tätigkeit, da die Bulgaren im wahrsten Sinne des Wortes, die Preussen
des Balkans, famose Kerls und Soldaten sind, ein anderer Schlag von
Bundesgenossen, als diese Kümmel Türken, von denen nur der einfache Soldat was
taugt.“1113 Sein vernichtendes Urteil über die osmanische Flotte hatte er zu diesem
1109
N.D.C. steht für „Neue Dampfer Compagnie“, eine kleine Dampferlinie, die Personen auf der
Kieler Förde beförderte. Siehe hierzu: Brock, Bruno: Grüne, Blaue, Schwarze, Weiße Dampfer – Die
Geschichte der Kieler Fördeschiffahrt, Herford 1978. (Hier besonders S. 32-44.)
1110
Abschrift eines Privatbrief Firles vom 4.11.1914. BAMA Freiburg, N 156/ 4, Blatt 16f.
1111
Brief von Firle an seine Mutter vom 6.2.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 71.
1112
Brief von Firle an seine Mutter vom 27.7.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 87.
1113
Brief von Firle an seine Mutter vom 1.11.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 89.
288
Zeitpunkt bereits in einem „ganz geheimen“ Erfahrungsbericht schriftlich
festgehalten. Der Entwurf zu diesem Bericht stammt aus dem September 1915 und
beinhaltet neben einigen Erfahrungen Firles vor allem Vorschläge für eine
nachhaltige Reform der osmanischen Marine. Dabei spricht der deutsche Seeoffizier
schonungslos vom schlechten Zustand der Besatzungen und besonders vom
„orientalischen Dünkel“ der türkischen Offiziere, die angeblich nicht zu schätzen
wüßten, daß sie einfach alles der deutschen Hilfe zu verdanken hätten:
„Nur unter (dem) Zwang (der Verhältnisse) und dauerndem Druck haben die Türken
zwar mit(unter) ihrem angeborenen Fatalismus oder besser Stumpfsinn (zwar) mit
uns zusammen gearbeitet, gehen wir aber heute weg, ist in kürzester Zeit der alte
Schlendrian wieder da und [...] an Deck der Schiffe (lebt) die Zigarette und der
Kaffee wieder genau so wie früher auf.“1114
Daher schlägt er vor, auf jedem Schiff einen Stamm aus deutschem Personal
einzusetzen, das die Ausbildung überwacht und im Ernstfall auch das Kommando
übernehmen könnte. Nur auf einigen wenigen Schiffen sollten „der türkischen
Eitelkeit zuliebe“ rein türkische Besatzungen Dienst tun und das „Verkommen“
dieser Schiffe wäre dann gleichgültig.1115 Alle wichtigen Stellen in der
Marineverwaltung, im Ministerium und in den Kommandostellen müßten von
Deutschen besetzt werden. Die osmanische Marine sollte damit vollständig unter
deutschen Einfluß gelangen, ein Entwurf, bei dem Firle das Verhältnis der
„Kolonialmarinen Canadas und Australiens zum Mutterland England“ als Muster
vorschwebte.1116 Generell hielt er eine militärische Eigenständigkeit der Türkei nur so
lange für angebracht, wie sie die Interessen Deutschlands nicht gefährde.1117
Diese äußerst drastischen Ausführungen des Kapitänleutnants über eine mögliche
weitere „Zusammenarbeit“ zwischen Berlin und Konstantinopel erinnern stark an die
Ausführungen der deutschen Offiziere im Anschluß an die Balkankriege und können
1114
Die Streichungen stehen im Originaltext. Die Formulierungen in „( )“ sind im Original
handschriftlich hinzugefügt und hier markiert, um die Änderungen im Inhalt und der Aussage zu
unterstreichen. Erfahrungsbericht des Kapitänleutnants Firle vom 15. 9.1915, „Ganz Geheim!“.
BAMA Freiburg, N 155/ 24, ohne Paginierung [S. 4].
1115
Ebd., [S. 4].
1116
Ebd., [S. 8].
1117
Ebd., [S. 9].
289
als ebenso undurchführbar angesehen werden.1118 Über die Gefühlswelt und die
Erfahrungen des Autors sagen sie jedoch eine Menge aus. Man könnte meinen, daß
hier ein deutscher „Türkenfeind“ schreibt, dem alles an der „türkischen Art“ zuwider
ist. Doch das ist merkwürdigerweise nicht der Fall.
In seinem Geheimbericht über die Versenkung des britischen Schiffes „HMS
Goliath“ äußert sich Firle ganz anders über die türkische Besatzung:
„Die
Haltung
der
deutschen
Besatzung
war
so,
wie
sie
bei
unserm
Torpedobootpersonal als die Frucht jahrelanger kriegsmässiger Uebungen als
selbstverständlich anzunehmen war. [...] In gleicher Weise kann ich auch nur über
die türkische Besatzung, vom Kommandanten, von den Offizieren und Mannschaften
über ihr Verhalten während des Angriffes das Beste sagen. Ruhig und voll Vertrauen
folgten sie deutscher Führung – der Kommandant hatte mich vorher ausdrücklich
gebeten, diesmal alle Kommandos persönlich zu geben – taten jeder auf seinem
Posten ihr Bestes und freuten sich in aufrichtiger, beinahe ungläubiger Begeisterung,
ihres Erfolges.“1119
Man mag hier anführen, daß es sich um einen Bericht über einen großen Erfolg
handelte und Firle nur keinen „Flecken“ auf dem Ruhmesbild hinterlassen wollte. Die
Privatkorrespondenz Rudolph Firles zeigt aber eine tiefergehende Entwicklung im
Verhältnis des Seeoffiziers zu den türkischen Verbündeten. Nach gut viermonatiger
Tätigkeit in Bulgarien steht er nämlich vor der Entscheidung weiterhin in Varna
seinen Dienst zu tun oder nach Konstantinopel zurückzukehren. Er entscheidet sich
für das Osmanische Reich:
„[...] [W]enn mir auch hier der Dienst wohl für später mehr Zukunftsmöglichkeiten
für uns und die Marine zu bieten scheint, ziehen mich nach K´pel die netten
Menschen
mit
ihrer
Anhänglichkeit,
denen
man
doch
durch
all
die
gemeinschaftlichen Erinnerungen und Erlebnisse sehr nahe gekommen ist.“1120
Eine solche Aussage überrascht den Leser nach den bisherigen Schilderungen der
türkischen Marine. Allerdings fügt sie sich mit dem weiteren Lebenslauf zu einem
1118
Siehe oben, Kapitel II.2.a).
Bericht Firles „Die Versenkung des englischen Linienschiffes „Goliath“ durch den türkischen
Torpedobootzerstörer „Muavenet-i-Millije“ in den Dardanellen am 13.Mai 1915“ vom 15.Mai 1915,
„Ganz Geheim!“. BAMA Freiburg, N 155/ 24, Blatt 30.
1120
Brief von Firle an seine Mutter vom 1.11.1915. BAMA Freiburg, N 155/ 2, Blatt 94.
1119
290
schlüssigen Bild zusammen. Nach dem Krieg hielt Firle nämlich noch für lange Zeit
engen Kontakt mit dem türkischen Kommandanten des Torpedobootes „Muavenet“,
Ahmed Saffet Bey, der später sogar der Patenonkel seiner Tochter wurde, die als
zweiten Vornamen den Namen des Bootes trug. Die umfangreiche Korrespondenz
zwischen den beiden Offizieren zeigt, daß sie sich auch nach dem Kriege noch
mehrmals besuchten und recht engen Kontakt pflegten.1121 Trotz aller Ärgernisse und
Differenzen konnte das Zwischenmenschliche offenbar die kulturellen und mentalen
Grenzen zwischen Deutschen und Türken durchaus überschreiten. Allerdings muß
auch hier wieder einschränkend festgestellt werden, daß Kapitänleutnant Firle unter
den deutschen Marineangehörigen einen Einzelfall darstellt. Die Mehrzahl der
Berichte und Briefe über den türkischen Verbündeten findet nur wenig freundliche
Worte für die „Andersartigkeiten“ im Osmanischen Reich. Besonders rüde resümiert
der Chef der osmanischen Torpedobootsflottille, Korvettenkapitän Adolf Pfeiffer1122,
seine Meinung in einem Brief an Firle aus dem Jahre 1917:
„Die türkische Entwicklung ist materiell durch unser großes Entgegenkommen
festgelegt. Personell ist es nach meiner innersten Überzeugung hoffnungslos.
Erkenntnis für die Notwendigkeiten fehlt hier ganz u. wie wird das Material in kurzer
Zeit aussehen in der Hand dieser Rasse, die ihre 4 Wände nicht in Stand hält.“1123
Die feste Überzeugung, daß die türkische Marine ohne das deutsche Engagement zu
völligem Ruin verdammt sei, spiegelt sich in den meisten Aussagen der deutschen
Seeleute wieder. Auch Kurt Böcking, 1917-1918 als Kommandant der Marineschule
in Halki1124, berichtet, daß die türkischen Seeoffiziere lieber auf den Yachten in der
Sonne gelegen hätten, als der Ausbildung zu folgen. Erst der Einsatz deutscher
Unteroffiziere sorgte für den „nötigen Ernst“.1125 Ähnlich den Berichten der
Heeresangehörigen steht auch bei vielen Marinesoldaten die „türkische Faulheit“ oder
„orientalische Pflichtvergessenheit“ im Fokus. Das trifft sowohl für die
1121
Siehe Privatkorrespondenz Firles mit Ahmed Saffet Bey (1930-1934). BAMA Freiburg, N 155/ 8.
Zu Dienststellung und –zeit Pfeiffers siehe: Hildebrand, Hans: Die organisatorische Entwicklung
der Marine nebst Stellenbesetzung 1848 bis 1945, Band 3, Osnabrück 2000, S. 66. (Im Folgenden:
Hildebrand, Entwicklung der Marine, Bd. 3, 2000.)
1123
Brief von Pfeiffer an Firle vom 25.4.1917. BAMA Freiburg, N 155/ 4, Blatt 29f.
1124
Über den Dienstgrad Böckings liegen keine Angaben vor. Wahrscheinlich ist aber, daß er ebenso
wie sein Vorgänger (Boltz) den Rang eines Kapitänleutnants innehatte.
1125
Bericht Böckings „Berichte über die Zeit als Kdr. Marineschule Halki“. BAMA Freiburg, N 438/
7, Blatt 8.
1122
291
Flottenmitglieder als auch für die Offiziere der Euphrat- und Tigris-Gruppen der
Marine
zu.
Im
Kriegstagebuch
der
Euphrat-Fluß-Abteilung
schreibt
der
Kommandeur, Kapitänleutnant von Cappeln, daß die Versorgung durch angeworbene
Zivilflöße nur durch einen genügenden Nachschub an Hartgeld1126 zu gewährleisten
sei. Andernfalls würden die Schachturenführer nicht zu halten sein:
„Dies mit Gewalt zu verhindern ist nicht möglich, denn selbst wenn jedem Schachtur
ein türk. Posten mitgegeben wird fliehen die Leute doch und auch der Posten wird
häufig die Gelegenheit benutzen und mit den Schachturdschis gemeinsame Sache
machen.“1127
Neben der geringen Ausbildung und damit dem geringen „Kampfwert“ der türkischen
Verbündeten waren demnach die Zweifel an der Zuverlässigkeit „des Orientalen“
eindeutig. Dies konnte zu ernsthaften Selbstbeschränkungen im Dienstgeschäft
führen, denn wie der zuständige Admiralstabsoffizier für die Fluß-Abteilungen, „Asto
Syrak“1128, in seinem Kriegstagebuch notierte, zögerten die deutschen Stellen, den
türkischen Soldaten überhaupt das eigenständige Feuern mit den „Bootskanonen“ der
Flußboote zu erlauben.1129 Auch sind diese Einschränkungen nicht etwa erst für die
letzten
Kriegsjahre
nachzuweisen,
sondern
bereits
beim
Ausbau
der
Dardanellenbefestigungen schildert ein Marine-Bericht die „Unfähigkeit“ der
türkischen Festungsbesatzungen:
„[...] [T]ürkische A.O. [Artillerie-Offiziere] sind nicht imstande, auch von
vorgeschobenem Posten aus Scheinwerfer sachgemäss zu leiten. [...] „Leitung“
erzielte nur unnötiges Leuchten. [...] Gruppen- und Zonenkommandanten treten nicht
in Erscheinung; wenn es geschieht, kommt nichts Gutes dabei heraus.“1130
1126
Papiergeld jedweder Provenienz galt im Osmanischen Reich und besonders in den abgelegeneren
Regionen nichts. Die Zahlung in Goldmark hingegen zeigte Wirkung. Siehe etwa S. 243 u. S. 361.
1127
Kriegstagebuch Euphrat-Syrien (Februar 1918 – August 1918), Eintrag vom 1.-15.3.1918. BAMA
Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 13.
1128
Abkürzung für „Bevollmächtigter Admiralstabsoffizier bei der türkischen Obersten Heeresleitung
auf dem südöstlichen Kriegsschauplatz (Syrien und Irak)“. Zu den Änderungen in den
Kommandostrukturen bei den Flußabteilungen im Zuge des Unternehmens „Jildirim“ siehe: Lorey,
Krieg I, 1928, S. 354ff.
1129
Kriegstagebuch des Bevollmächtigten Admiralstabsoffiziers bei der Osmanischen OHL, „Ganz
Geheim!“, Eintrag vom 11.7.1918. BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 111.
1130
„Uebersicht ueber die bisherigen Massnahmen zur Verstaerkung der Meerengen= und
Kuestenverteidigung“ vom 16.2.1915 (ohne Verfasser). BAMA Freiburg, RM 40/ 104, Blatt 23 und
Blatt 25.
292
Als Lösung des Problems wird eine „große Ausbildungsarbeit“ angeführt, doch
zwischen den Zeilen wird auch in diesem Bericht die Überzeugung deutlich, daß nur
der verstärkte Einsatz deutscher Kräfte einen raschen Erfolg verspräche.
Die Überzeugung, daß die osmanische Marine auf die deutsche Hilfe zwingend
angewiesen sei, konnten die Seeoffiziere offenbar nicht besonders gut verbergen.
Dieser
Umstand
war
nicht
nur
für die
osmanischen
Marineangehörigen
demotivierend, sondern mußte sich nahezu zwangsläufig auch auf die politische
Ebene auswirken, da – wie erwähnt – eine Vielzahl hoher türkischer Offiziere eng mit
der jungtürkischen Partei verbunden war. Hinzukam, daß die deutsche Marine
verhältnismäßig großen Wert auf die Beobachtung und Beurteilung politischer
Sachverhalte im Osmanischen Reich legte, was mit großer Wahrscheinlichkeit auch
auf die Immediatstellung von immerhin zwei Marinestellen1131 in Konstantinopel
zurückzuführen ist. Zudem gab es an der deutschen Botschaft in Konstantinopel seit
dem Oktober 1915 den Posten eines Marine-Attachés.1132
Der erste Marine-Attaché, Korvettenkapitän Hans Humann, sammelte Briefe von
Marineoffizieren,
1133
berichteten.
die
von
Dienstreisen
über
innenpolitische
Verhältnisse
Ein solches Schreiben stammt beispielsweise von einem Leutnant zur
See der Reserve Schmiedicke, der aus Sivas schrieb, wie sehr ihm zunächst sämtliche
Teile der Bevölkerung deutschfreundlich erschienen:
„Alle, aber auch alle sehen das Heil der Türkei nur in einem ganz engen Bündnis der
Türkei mit Deutschland und möchte man in jeder Stellung nur Deutsche sehen.“1134
Dieses Bild habe sich jedoch schlagartig geändert, nachdem er Kaiserie (heute:
Kayseri) in Richtung Sivas verlassen habe. Die Stimmung unter türkischen Offizieren
und Beamten sei zunehmend „deutschfeindlicher“ geworden und in Sivas selbst sei
1131
Dies waren Admiral Souchon als Chef der Mittelmeerdivision und der osmanischen Flotte sowie
Admiral von Usedom als Leiter des „Sonderkommandos Türkei“ und Oberbefehlshaber der
Meerengen.
1132
Hildebrand, Hans: Die organisatorische Entwicklung der Marine nebst Stellenbesetzung 1848 bis
1945, Band 1, Osnabrück 2000, S. 38. (Im Folgenden: Hildebrand, Entwicklung der Marine, Bd. 1,
2000.)
1133
Unter der Archivsignatur BAMA Freiburg, RM 40/ 208 sind unter der Überschrift „Ganz Geheim!
Nachrichten über innerpolitische türk. Verhältnisse“ von der Disposition der Truppen über
wirtschaftliche Statistiken bis hin zum Schriftverkehr zahlreiche Unterlagen abgelegt.
1134
Brief Schmiedickes an das Flottenkommando in Konstantinopel vom 17.8.1916. BAMA Freiburg,
RM 40/ 208, Blatt 45.
293
jedem deutschen Offizier bekannt, daß eine Verschwörung gegen Deutschland
bestünde, deren Ziel es sei, einen Separatfrieden mit Russland zu schließen. Er sei
zudem ausdrücklich davor gewarnt worden, sich anmerken zu lassen, daß er die „antideutsche“ Stimmung bemerkt habe.1135
Die Formulierung „deutschfeindlich“ mag übertrieben erscheinen, die Beobachtungen
des Leutnants sind
jedoch
sehr plausibel, wenn
man das „übermäßige
Selbstbewußtsein“ vieler Marineoffiziere berücksichtigt. Selbst wenn man davon
ausgeht, daß Leutnant Schmiedicke sich keine Unhöflichkeiten gegenüber den
türkischen Offizieren erlaubte, so könnte doch bei dem vorherrschenden Glauben der
Marineoffiziere an die totale Abhängigkeit der Türkei von Deutschland bereits
„mangelnde Dankbarkeit“ oder Kritik als „Deutschfeindlichkeit“ ausgelegt werden.
Es geht aber auch häufig aus den Aufzeichnungen deutscher Marineangehöriger
hervor, daß sich die türkische Seite zurückgesetzt fühlte und mit großer Sorge einer
möglichen völligen Bevormundung durch die Deutschen entgegensah. Konteradmiral
Hopman schreibt in einem Brief an Großadmiral von Tirpitz sehr offen, daß in
Konstantinopel ein großes Mißtrauen gegenüber einer deutschen Bevormundung
bestehe.1136 Besonders deutlich wurde ihm dieser Umstand im türkischen
Marineministerium. Dessen Leiter war – in Abwesenheit von Djemal Pascha – der
türkische Kommodore Bassif Bey, der die Kommandierung Hopmans „als den ersten
Schritt zur restlosen Vereinnahmung der türkischen Marine durch Deutschland
betrachtete“.1137
Zusätzlich wurde Konteradmiral Hopman ein türkischer Marineoffizier „vor die
Nase gesetzt“, dessen Aufgabe seiner Meinung nach darin bestand, ihn unter
Kontrolle zu halten. Dieser Offizier opponierte in der Folge gegen jeden Vorschlag
Hopmans, der den Anschein erweckte, die türkische Marine in eine Abhängigkeit
vom Deutschen Reich oder deutschen Firmen zu bringen.1138 Das türkische Mißtrauen
ging schließlich soweit, daß im Marineministerium erkennbar bedauert wird, daß die
1135
Ebd., Blatt 47.
Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 775.
1137
Hopman, Albert: Das Kriegstagebuch eines deutschen Seeoffiziers, Berlin 1925, S. 145. (Im
Folgenden: Hopman, Kriegstagebuch 1925.)
1138
Hopman, Kriegstagebuch 1925, S. 158.
1136
294
Türkei sich „für Deutschland“ gegen England aufreibe, anstatt alle Kräfte gegen „den
Erbfeind“ Russland zu bündeln.1139
In der Folge läßt sich zwischen Hopmann und dem osmanischen Marineministerium
eher ein Gegeinander statt einer Kooperation beobachten. Aus türkischer Sicht hatte
das Deutsche Reich bereits großen oder zu großen Einfluß in den Streitkräften, dem
wichtigsten Machtfaktor im Orient, gewinnen können. Die Hohe Pforte geriet in eine
wachsende Abhängigkeit von deutschen Rüstungs- und Rohstofflieferungen, die
Eisenbahnen – „Lebensadern“ des kleinasiatischen Großreichs – standen zum größten
Teil unter Kontrolle deutscher Investoren und die Militärmission hatte unter dem
Eindruck des Krieges gravierenden Einfluß auf die Landstreitkräfte gewonnen. Auch
die Flotte wurde von einem Deutschen befehligt, eine Vielzahl der älteren Schiffe
kam aus Deutschland und ebenso die neuen und kampfkräftigsten Schiffe „Goeben“
und „Breslau“. Zu allem Überfluß machten die deutschen Marineoffiziere keinen
Hehl daraus, daß sie ihre Methoden für überlegen hielten und beabsichtigten, sie dem
türkischen
Verbündeten
mit
dem
Argument
der
„Kriegsnotwendigkeit“
aufzuzwingen.
Die deutsche Seite hatte hingegen schnell bemerkt, daß die Schilderungen der
deutschen Militärberater vor Kriegsausbruch über die militärische Leistungsfähigkeit
der Türkei sehr „optimistisch“ gewesen waren. Doch auf der verzweifelten Suche
nach Verbündeten im „Großen Krieg“ hatte Berlin auf ein Bündnis mit
Konstantinopel gedrängt. Nun mußte man dafür Sorge tragen, daß sich dieses
Bündnis auch „rentierte“. Das bedeutet, daß die Hohe Pforte auf keinen Fall aus der
Allianz ausscheiden durfte, da dies nicht allein die strategische Situation
verschlimmern, sondern auch die Stellung Deutschlands gegenüber seinen Gegnern,
Verbündeten und potentiellen Verbündeten schwächen sowie die Stimmung im
eigenen Land nachhaltig schädigen würde. Die deutschen Offiziere mußten demnach
militärische Erfolge vorweisen, um das Bündnis zu sichern. Solche Erfolge konnten
sie ihrer Ansicht nach aber nicht mit den osmanischen Mitteln und Methoden
erreichen, weshalb sie zum Teil mit Vehemenz auf den deutschen, als „überlegen“
erachteten Ausbildungs- und Führungsverfahren und auf die Befugnisse diese auch
durchzusetzen bestanden. Gegenseitiges Mißtrauen und – daraus resultierend – das
1139
Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 779.
295
eifersüchtige Wachen über die eigenen Kompetenzen waren die Folge. Dieses
grundlegende Dilemma des deutsch-türkischen „Waffenbündnisses“ wird auch bei
der Marine deutlich.
In den Augen Hopmans wird das Waffenbündnis mit der Hohen Pforte durch den
fortgesetzten Antagonismus zu einen „Fehler der deutschen Politik“. In einem
weiteren Schreiben an Tirpitz äußerte der Konteradmiral, „daß es unrichtig ist, wenn
wir d.h. nicht nur die Marine, sondern unsere gesamte Kriegführung sich an der
türkischen Kriegführung in Asien, besonders im Irak, zu intensiv beteiligen.“1140
Die Zweckmäßigkeit des Bündnisses endete seiner Ansicht nach, sobald deutsche
Interessen gefährdet waren. Beispielhaft für die Verbreitung dieser Ansicht ist das
Auftreten der deutschen Marine beim Waffenstillstand mit Russland, der die Schiffe
der Schwarzmeer-Flotte praktisch in deutsche Hände gab. Der Schriftverkehr der
verschiedenen deutschen Marinestellen mit dem Marineberater für die deutsche
Delegation in Transkaukasien, Kapitänleutnant von Haas, belegt, wie sehr man sich
darum bemühte, der türkischen Marine keine Zusagen zu machen. Der neue deutsche
Marine-Attaché1141 schrieb an den Militärbevollmächtigten in Konstantinopel:
„Um ungerechtfertigten tuerkischen Hoffnungen und Forderungen von vornherein zu
begegnen, erscheint es notwendig, der tuerkischen Regierung [...] den deutschen
Standpunkt zu Anspruechen an russischer Kriegsschiffbeute im Schwarzen Meer klar
zum Ausdruck zu bringen. [...] Alle uebrigen im Schwarzen Meer von deutschen
Streitkräften genommenen russischen Kriegsschiffe und Fahrzeuge sollten unbedingt
deutsch bleiben. Nach den seit Ostfrieden im Schwarzen Meer gemachten
Erfahrungen ist Staerkung der Mittelmeerdivision unbedingt notwendig sowohl zur
Vertretung unserer Interessen im Schwarzen Meer als im Hinblick auf die Aufgaben,
die [...] im oestl. Mittelmeer bevorstehen.“1142
1140
Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 781.
Am 28. November 1917 war Humann durch Korvettenkapitän Alexander Freiherr von SenarclensGrancy ersetzt worden. Hildebrand, Entwicklung der Marine, Bd. 1, 2000, S. 38.
1142
Telegramm Freiherrn von Senarclens-Grancys an von Lossow vom 9.5.1918 (04:10 Uhr mittags),
„Ganz Geheim!“. BAMA Freiburg, RM 40/ 649, Blatt 55.
1141
296
Überhaupt unternahm die deutsche Seite alles, um den osmanischen Marineminister
von einem Besuch der russischen Häfen abzuhalten, weil man fürchtete, daß dieser
dann „etwas von der Beute fordern“ würde.1143
Die vorstehenden Ausführungen lassen erkennen, daß in der Marine kaum Nährboden
für eine „deutsch-türkische Waffenbrüderschaft“ vorhanden war. Auch wenn nicht
alle Seeleute die türkischen Matrosen und Offiziere verachtet haben, so finden sich
doch keine Ausführungen, die ein kameradschaftlicheres Zusammenleben zwischen
beiden Parteien andeuten würden. Keine gemeinsamen Feierlichkeiten, keine engeren
persönlichen Beziehungen (abgesehen vom Beispiel Rudolph Firles) oder traurigen
Abschiedsszenen sind überliefert. Ganz im Gegenteil notierte Albert Hopman nach
nicht einmal 5 Tagen in Konstantinopel in sein Tagebuch:
„Ich sehe von Tag zu Tag ein, daß der Entschluß, hierher zu gehen, die größte
Dummheit meines Lebens gewesen ist. Mein einziger Gedanke geht dahin mich
wieder mit Anstand aus der Geschichte herauszuziehen. Das wird sehr schwer
werden.“1144
Die erhaltenen Aufzeichnungen und Memoiren der deutschen Marineangehörigen
stellen meist die eigenen Leistungen in den Vordergrund. Die Tatsache, daß die
beiden Schiffe „Goeben“ und „Breslau“ als modernste Fahrzeuge der Flotte den
Mittelpunkt der meisten Kampfhandlungen bildeten, leistete solchen Bildern
Vorschub. Da erst im August 1917 osmanische Matrosen und Heizer auf die „YavuzGoeben“ kommandiert wurden und auch die Zahl der auf der „Midilli-Breslau“
dienenden Türken mit 25 Mann sehr gering war, blieben die Besatzungen beinahe den
gesamten Krieg „unter sich“.1145 Bei den kleineren Begleitschiffen war die Trennung
nach Ethnien offenbar noch strikter. Da niemand die Sprache des jeweils anderen
beherrschte und Dolmetscher nicht in ausreichender Zahl vorhanden waren,
bestanden nur über die – im Gegensatz zu den französischsprachigen Offizieren des
osmanischen Heeres – meist englisch sprechenden Seeoffiziere Verständigungs-
1143
Telegramme Freiherrn von Senarclens-Grancys an von Lossow vom 8. und 9.5.1918. BAMA
Freiburg, RM 40/ 649, Blatt 56-58.
1144
Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 771.
1145
Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 130. Hüner, unter zwei
Flaggen 1930, S. 243.
297
möglichkeiten.1146 Die wenigsten deutschen Marineoffiziere lernten die türkische
Sprache. Lediglich Kurt Böcking berichtet, daß er und seine Ausbilder an der
Marineschule Halki die Sprache erlernt hätten.1147 Die Trennung zwischen Deutschen
und Türken in den Seestreitkräften war jedoch allgegenwärtig und wurde von der
deutschen
Seite
auch
absichtlich
aufrecht
erhalten.
Der
„Asto
Syrak“,
Korvettenkapitän von Janson, berichtete in seinem Kriegstagebuch:
„Da
bekannt
wird,
daß
Jildirim
die
gleichmäßige
Benutzung
deutscher
Sanitätseinrichtungen für deutsche und Türken anordnen will, wird vertraulich an
Kofluss [Kommandeur der Fluß-Abteilung] befohlen, daß es für Marineabteilung aus
hygienischen Gründen bei der bisherigen Trennung bleibt.“1148
Ebenso führt ein geheimer Tätigkeitsbericht der „Marine-Batterie II“, die in
Mesopotamien eingesetzt war, den guten Gesundheitszustand der Soldaten
hauptsächlich darauf zurück, „dass es gelang, alle tuerkischen Soldaten aus der
Naehe der deutschen Wohnhaeuser zu entfernen“.1149
Dieser Blick auf den türkischen Verbündeten als eine Art „Krankheitsüberträger“ läßt
gleichzeitig vermuten, daß nur wenigen Marineoffizieren überhaupt an näheren
Bekanntschaften mit Einheimischen gelegen war. Für die Angehörigen der deutschen
Seestreitkräfte war es allerdings auch einfacher, sich von den türkischen Verbündeten
abzukapseln, denn auf den Führungsebenen der Flotte waren sie oft isoliert eingesetzt
und auch der operative Oberbefehl lag bei einem deutschen Admiral. Die
Besatzungen der „Goeben“ und „Breslau“ hatten auch nur wenige türkische
Marineangehörige – zumeist als Heizer – übernommen. Die deutschen Seeleute
behielten ihre Unterkünfte auf den Schiffen bei und nahmen weiterhin an Bord die
Mahlzeiten ein. Hierdurch bildete sich, anders als bei den oftmals vereinzelt
eingesetzten Militärberatern im Heer, eine Gemeinschaft, die sich leicht von den
türkischen Verbündeten abgrenzen konnte.1150 Zudem lagen alle Schiffe zwischen
1146
Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 130f.
Bericht Böckings „Berichte über die Zeit als Kdr. Marineschule Halki“. BAMA Freiburg, N 438/
7, Blatt 6f.
1148
Kriegstagebuch des Bevollmächtigten Admiralstabsoffiziers bei der Osmanischen OHL, „Ganz
Geheim!“, Eintrag vom 23.3.1918. BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 27.
1149
Geheimer Tätigkeitsbericht der Mar.Batt. II für den 1.-15.4.18 (ohne Verfasser) vom 15.4.18.
BAMA Freiburg, RM 40/ 639, Blatt 51.
1150
Zudem pflegten die Marineoffiziere einen besonderen Korpsgeist, der sie auch gegenüber
deutschen Heeresangehörigen abgrenzte. Deist, Militär und Innenpolitik 1970, S. XVII.
1147
298
den Einsätzen im Hafen der osmanischen Hauptstadt vor Anker, wodurch auch die
auf osmanische Schiffe kommandierten Deutschen Möglichkeiten hatten, den
Kontakt zu den eigenen Landsleuten zu halten. Man war daher nicht darauf
angewiesen, mit türkischen Marineangehörigen einen näheren Umgang zu pflegen
und es war einfach, die Berührungspunkte mit der ungewohnten Kultur des
Verbündeten zu begrenzen. Bemühungen, die Andersartigkeit des Lebens im Orient
zu verstehen, erschienen unnötig. Die Kontakte zwischen deutschen und türkischen
Marineangehörigen blieben so während des gesamten Krieges in den meisten Fällen
eher oberflächlich und auf das Dienstliche beschränkt. Viele Deutsche versagten sich
damit aber die Möglichkeit, ihre Eindrücke von den „faulen und deutschfeindlichen
Orientalen“ zu relativieren, und nahmen ein negatives Bild mit in die Heimat.
Konteradmiral Hopman schrieb am 16. Februar 1916 zornig in sein Tagebuch:
„Die Kerle sind verrückt und mit der Bande soll ich Jahre lang arbeiten. Lieber
Steine kloppen in Deutschland.“1151
Hopman verallgemeinert seine begrenzte Erfahrung – er war zu diesem Zeitpunkt
noch keinen Monat im Osmanischen Reich und hatte auch nur Konstantinopel
gesehen – auf die ganze Türkei. 1925 schreibt er in seinem „Kriegstagebuch“:
„Bei aller Hochachtung für die kriegerischen Leistungen eines Enver und Kemal
glaube ich nicht an die Zukunft einer Türkei, die nur den Türken gehört.“1152
Damit sollte er allerdings nicht Recht behalten.
b) Die Flieger
Wie bereits deutlich geworden ist, gab es zwei unterschiedliche Verwendungen für
deutsches Flugpersonal im osmanischen Reich:
-
den Einsatz in den osmanischen Fliegerverbänden,
-
den Einsatz in den deutschen Fliegerabteilungen (FA) der „Pascha I und II“Verbände.
1151
1152
Epkenhans, Tagebücher von Albert Hopman 2004, S. 778.
Hopman, Kriegstagebuch 1925, S. 179.
299
Die wesentlichen Unterschiede bestanden darin, daß das deutsche Personal in der
türkischen Fliegertruppe der Deutschen Militärmission unterstand, während die
Angehörigen der FA 300-303, 304b und 305 ihren Status als deutsche
Heeresangehörige beibehielten. Die Deutschen in den osmanischen Luftstreitkräften
erhielten bekanntlich den um einen Rang höheren türkischen Dienstgrad. Eine
Vergünstigung, die den Soldaten rein deutscher Einheiten im Orient nicht zustand.1153
Zudem
hatten
die
den
osmanischen
Staffeln
zugeteilten
Deutschen
verständlicherweise einen anderen Kontakt mit ihrem Verbündeten. Im Dienstalltag
hatten sie ständig mit türkischem Personal zu tun. Mechaniker, Stabspersonal,
Beobachter und Flugzeugführer waren zum Teil Türken und eine Zusammenarbeit
war erforderlich, um eine funktionsfähige Fliegerwaffe im Reich des Sultans
aufzustellen. Die deutschen Fliegerabteilung blieben hingegen weitestgehend
„exklusiv“, also ohne türkische Soldaten, die als Angehörige des Verbandes Dienst
taten. So basierten die Erfahrungen dieser deutschen Flieger auf dem Kontakt mit
Soldaten und Zivilbevölkerung auf den Reisen an den Einsatzort oder im Hinterland
der Front sowie auf Begegnungen mit Angehörigen anderer, osmanischer Einheiten
während des Dienstes.
Diese Differenzierung gilt es zu berücksichtigen, wenn im Folgenden die
Erfahrungen „der deutschen Flieger“ erörtert werden.
Bereits bei den „Beweggründen“ für den Dienst im Osmanischen Reich treten
deutliche Unterschiede hervor. Richard Euringer, bayerischer Oberleutnant und
Flieger, berichtet in seinen etwa 20 Jahre später romanhaft verfassten Erinnerungen
über die Vorbedingungen, die bei der Aufstellung der FA 300 von den vorgesetzten
Stelle gefordert wurden:
„Freiwillige Meldung. Fronterfahrung. Bescheinigte Tropendiensttauglichkeit. Gutes
Gebiß. Nachweis, daß nicht geschlechtskrank gewesen. Keinerlei gerichtliche
Strafen.“1154
Die Betonung für ihn liegt hierbei, wie aus seinen Schilderungen eindeutig
hervorgeht, auf der Freiwilligkeit. Zwar wurden die Flugzeugbesatzungen aus der
1153
1154
PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 10.
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 26.
300
Gesamtheit der deutschen Flieger ausgewählt, sie besaßen jedoch – zumindest
theoretisch – noch die Möglichkeit, die Entsendung in die Türkei abzulehnen.
Allerdings wäre die Ablehnung einer solch „exklusiven“ Sondermission wohl kaum
ohne Prestigeverlust für den Piloten möglich gewesen.1155 Hinzu kam offenbar noch
eine beinahe „jugendliche Begeisterung“ für ein Osmanisches Reich, das in der
Vorstellung der jungen Flieger durch Enver Pascha verkörpert wurde. Der
jungtürkische Generalstabschef und Vizegeneralissimus stand laut Euringer für
Abenteuer, Heldentum und die Aussicht, mit genügend Tatkraft und Entschlossenheit
bis in höchste Positionen aufzusteigen:
„Asien, nein wir kannten es nicht. [...] E n v e r P a s c h a! [...] Wir wollten ihm
dienen; nicht einem Land, das wir nicht kannten: einem Mann, um den Gefahr und
Abenteuer und der Glanz des Helden war.“1156
Euringers spätere Ausführungen sind zweifellos nicht frei von einem „FührerPathos“,
das
sich
aus
seiner
Sympathie
zum
und
seiner
Stellung
im
Nationalsozialismus ergibt. Ebenso ist zu berücksichtigen, daß Euringer mit seinen
Schilderungen ein Bild vom „heldenhaften Grüppchen Deutscher“ zeichnet, das trotz
widrigster Umstände zusammenhält und sein Ziel schließlich erreicht. Dennoch
enthalten die Abenteuerbücher unbestritten starke autobiographische Elemente und
der Vergleich mit Schilderungen anderer Flieger belegt viele Aussagen Euringers.1157
Zudem tragen seine beiden Bücher „Vortrupp Pascha“ und „Der Zug durch die
Wüste“ nicht umsonst die Bezeichnung „Roman“, denn seine Schilderungen werden
häufig von sehr „blumigen“ Formulierungen begleitet und die Namen vieler
Fliegerkameraden sind absichtlich verändert.1158 Jedoch haben seine Beschreibungen
1155
Die Fliegertruppe im Deutschen Reich verwies offenbar nicht ohne einen gewissen Stolz darauf,
daß sich ihre Angehörigen ausschließlich aus Freiwilligen rekrutierten. Im Laufe des Krieges konnte
diese Art der Ergänzung Dank einer stets hohen Zahl an Meldungen beibehalten werden. Tatsächlich
waren manche Verwendungen – etwa die des Jagdpiloten – auch innerhalb der Fliegertruppe so
begehrt, daß Bewerber abgelehnt werden mußten. Potempa, Harald: Die Königlich-Bayerische
Fliegertruppe 1914-1918, Frankfurt am Main (u.a.) 1997, S. 160-164. Allerdings läßt sich zumindest
für die deutschen Fliegerformationen im Osmanischen Reich nicht nachweisen, daß Flugzeugführer bei
ihrer Meldung auf solche eine Position spekulierten. Für die Deutschen in den osmanischen Staffeln
liegen keine Angaben vor.
1156
Ebd., S. 29f.
1157
„Kritik“ zu den beiden Romanen Richard Euringers findet sich bei: Hillesheim, Jürgen: „Heil dir
Führer! Führ uns an! ...“ – Der Ausgburger Dichter Richard Euringer, Würzburg 1995, S. 118-121.
Hillesheim arbeitet auch deutlich Euringers Verhältnis zum Nationalsozialismus heraus.
1158
So nennt er den Chef der Abteilung „Hauptmann v. Elmskerk“ statt „Hauptmann v. Heemskerk“
und den zweiten Piloten des Vortrupps „Henkel“ statt „Henkelburg“. Interessanterweise ändert eben
301
von der Begeisterung für ein Land, von dem jene nur ein mythisch verklärtes Bild vor
Augen hatten, sicher einen wahren Kern, denn ähnliche Gedanken und Bilder des
Osmanischen Reiches finden sich auch in anderen Schilderungen wieder. So nahm
der deutsche Jagdflieger Hans Joachim Buddecke große Mühen auf sich, um einmal
Enver Pascha, den er in nahezu träumerischer Verklärung schildert, persönlich
gegenüber treten zu können:
„Seine knappen Worte verrieten außergewöhnliche Art tiefen Denkens. Sie waren wie
seine
Erscheinung:
schön
durch
Anspruchslosigkeit
und
anziehend
und
1159
freundlich.“
Eine weniger hohe Begeisterung für die Dienstnahme beim Sultan zeigt sich hingegen
bei Erich Serno, der mit dem Aufbau der türkischen Luftstreitkräfte beauftragt wurde.
In seinen Memoiren beschreibt er eindrücklich, wie geschockt er von der Nachricht
war, daß er kurz vor Weihnachten 1914 von der Westfront abgezogen und in den
Orient versetzt werden sollte:
„Ich fiel da wie aus allen Wolken! [...] Was hatte das zu bedeuten? Der Inspekteur
konnte und wollte mir nichts Genaueres sagen, ich sollte mich nur im
Kriegsministerium bei Oberst Oschmann melden. Dort würde ich Näheres erfahren.
Ich ging aber in meiner deprimierten Stimmung und zwar in Zivil direkt zum
Militärkabinett und bat um Aufklärung.“1160
Nachdem er rüde an das Kriegsministerium verwiesen wurde, wird ihm dort
mitgeteilt, daß es in der Türkei eine deutsche Militärmission unter Führung eines
„gewissen Liman“ gäbe, der um die Entsendung eines Fliegeroffiziers gebeten habe
und die Wahl sei auf ihn gefallen. Im Übrigen solle er diese Abberufung als
Anerkennung ansehen, zumal er später – unter Anrechnung der Dienstjahre – wieder
in deutsche Dienste übernommen werden könne.
Aus den Zeilen Sernos wird nicht nur seine geringe Begeisterung für die Versetzung
deutlich, sondern auch daß er offenbar keine näheren Kenntnisse über die
Verhältnisse im Osmanischen Reich besaß. Er wußte nicht einmal von der
dieser Leutnant Hans Henkelburg in seinen Aufzeichnungen den Namen „Euringer“ in „Ehringer“ ab,
was möglicherweise mit einer „Selbstzensur“ in Kriegszeiten erklärt werden kann. Henkelburg, Hans:
Als Kampfflieger am Suez-Kanal, Berlin 1917, S. 19. (Im Folgenden: Henkelburg, Kampfflieger
1917.)
1159
Buddecke, El Schahin 1918, S. 89.
1160
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 32.
302
Militärmission, obwohl die Berufung des Generals Liman von Sanders 1913 beinahe
zum Konflikt mit Russland geführt hatte.1161 Da zu diesem Zeitpunkt das
Waffenbündnis mit der Türkei noch jung war und keine für den Kriegsverlauf
entscheidenden Kampfhandlungen stattgefunden hatten, mag es jedoch nicht
ungewöhnlich erscheinen, daß sich ein Flieger-Oberleutnant eher auf den
„Hauptkriegsschauplatz“ im Westen konzentrierte. Dennoch gab es auch deutsche
Flugzeugführer, die sich feiwillig zum Dienst in der osmanischen Luftwaffe
meldeten, wie etwa Ende 1915 Oberleutnant Hans Joachim Buddecke, der als
Jagdflieger über den Dardanellen eingesetzt wurde.1162
Für die ersten deutschen Angehörigen der osmanischen Fliegertruppe kann ohne
Zweifel festgehalten werden, daß die Kenntnisse über das Osmanische Reich
bestenfalls rudimentär waren, gleichgültig ob die Meldung nun freiwillig erfolgte
oder nicht. Die einzigen zuverlässigen Informationen über den Stand der Fliegerei
erhielt Serno von der türkischen Botschaft und türkischen Offizieren, die zur
Ausbildung nach Berlin kommandiert waren Eine Vorbereitung durch deutsche
Stellen fand nicht statt und auch um die Beschaffung des Materials und des Personals
mußte er sich selber kümmern, wenngleich ihm die finanziellen Mittel von der
osmanischen Staatskasse und damit über deutsche Kredite zur Verfügung gestellt
wurden.1163
Im Osmanischen Reich angelangt, stießen die Deutschen auf das bereits häufig
erwähnte Grundproblem der Kooperation: Die Sprachbarriere.
Keiner der deutschen Flieger war der türkischen Sprache mächtig, so daß sie
entweder auf Dolmetscher zurückgreifen mußten oder auf das Französische, sofern
ihr Gegenüber diese Sprache beherrschte.1164 Die Kommunikation wurde noch
dadurch erschwert, daß es im Türkischen für viele technische Spezialbegriffe der
Fliegerei gar keine Wörter gab.1165 Serno konnte das Sprachproblem „entschärfen“,
1161
Siehe oben, S. 84-86.
Buddecke, Hans Joachim: El Schahin (Der Jagdfalke) – Aus meinem Fliegerleben, Berlin 1918, S.
64. (Im Folgenden: Buddecke, El Schahin 1918.) Nachdem Hans Joachim Buddecke am 10. März
1918 an der Westfront gefallen war, wurden diese Aufzeichnungen von seinem Vater herausgegeben.
1163
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 33ff.
1164
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 35. Buddecke, El Schahin 1918, S. 65.
1165
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 4.
1162
303
indem er einen türkischen Offizier namens Schakir als seinen „Adjutanten“ einstellte.
Dieser türkische Oberleutnant bildete mit seinen offenbar ausgezeichneten
Deutschkenntnissen und seiner deutschen Fliegerausbildung allerdings eine
Ausnahmeerscheinung, über die der Chef der Luftstreitkräfte wohl exklusiv verfügt
haben dürfte.1166 Die Sprachbarriere blieb auch für die nachfolgenden deutschen
Fliegerverbände oder die in osmanische Dienste tretenden Piloten eines der größten
Hindernisse im Umgang mit dem türkischen Verbündeten.
Daneben trafen die Flugzeugführer und Mechaniker auch auf die ungewohnten
kulturellen Eigenarten der verschiedenen Völkerschaften Kleinasiens. Zumeist
wurden bereits bei der Anreise erste Eindrücke über die türkischen Verbündeten
gesammelt. Dabei war folgenreich, daß viele Deutsche ein sehr romantisches Bild
vom Osmanischen Reich hatten. Neben den Vorstellungen von einem „heldenhaften
Enver Pascha“ malten sich die jungen Männer Bilder von Moscheen, Minaretten und
exotischen Wüstenlandschaften aus.1167 Solche Bilder wurden teilweise beim ersten
Besuch Konstantinopels bestätigt, da die Hauptstadt reich an prachtvollen Bauten
war. Konstantinopel war jedoch in keiner Weise repräsentativ für die Gesamtheit des
Osmanischen Reiches. Viele Gebiete waren nur dünn besiedelt und die karge,
unwirtliche Landschaft großer Reichsteile ließ schon bald den Träumereien der
Flieger Desillusionierungen folgen. So schreibt der deutsche Leutnant der Reserve
und osmanische Jagdpilot Bormann über seine Ankunft in Mesopotamien:
„Sehr interessant sah die Gegend nicht aus [...]. Im übrigen kein Baum, kein Strauch.
Steinhart gebrannter Lehmboden so weit das Auge reichte. Phantastische
Vorstellungen von den Wundern des Orients wurden grausam zerstört!“1168
Entsprachen schon diese landschaftlichen Eindrücke nicht den Vorstellungen der
deutschen Soldaten, so wurden sie von den Lebensgewohnheiten seiner Einwohner
überrascht. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Völker des Osmanischen
Reiches konnten sie zwar öfter genießen, jedoch trafen sie nicht überall auf ein
solches Verhalten, was sie sehr irritiert zur Kenntnis nahmen, wurde doch auch hier
wieder ein Teil des Orientbildes zerstört:
1166
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 35.
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 37.
1168
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 531.
1167
304
„Man betrachtete den Fremdling nicht als Gast, es hätte sonst zuviel Gäste
gegeben.“1169
Dazu kam, daß manche Gesten der Gastfreundschaft und der Höflichkeit von den
„uneingeweihten“ Piloten mit großer Befremdlichkeit aufgenommen wurden,
obgleich man sich anfangs bemühte, sein Gegenüber nicht durch die eigene
Unkenntnis der Gebräuche zu kränken. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der
Bericht von Richard Euringer über die Freundlichkeit zweier türkischer KavallerieOffiziere, die mit den Flieger-Offizieren in einem Zugabteil reisten. Da sich die
Passagiere nur durch freundliche Gesten verständigen konnten, wurden bald Speisen
und Zigaretten untereinander getauscht:
„Grauslich war nur, daß sie die ihren sich selber drehten und, sie mit der Zunge
festleckten und dann freundlichst überreichten. [...] Aber ich drückte die Augen zu: in
Gottes Namen Cholera, Pocken oder Syphilis! Was tut man nicht für sein Vaterland!
Ich schwur sogar es schmecke köstlich. Darauf haben sie jedesmal, wenn sie wieder
neue drehten, mir die erste überreicht. Mir schien sogar, sie leckten sie mit
besonderer Liebe ab. Gottlob sind sie in Konia, ihrem Endziel ausgestiegen.“1170
Ähnlich den Deutschen, die anderen Waffengattungen zugeteilt waren, bemerkten
auch die Flieger rasch die unterschiedliche Mentalität in Bezug auf Zeitverständnis
oder Arbeitsweise. Da die Piloten zusammen mit ihren Flugzeugen von Deutschland
aus in den Orient reisten, standen sie von Dienstantritt vor größeren Schwierigkeiten
als das deutsche Personal im osmanischen Heer, das sich zumeist nur mit dem
persönlichen Gepäck befassen mußte.1171 Die Maschinen waren ein sperriges und
zugleich sehr fragiles Gut, das unter Einhaltung eines strengen Zeitplanes zum
Einsatzort gebracht werden mußte. Doch schon bei der Ankunft am Bosporus stellte
sich heraus, daß die örtliche Infrastruktur auf solche Transporte nicht eingestellt war.
Die deutschen Transportwaggons waren zu lang, um auf dem Rangierbahnhof auf der
europäischen Seite der Meerenge problemlos auf wartende Fähren geladen werden zu
1169
Buddecke, El Schahin 1918, S. 74f.
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 94.
1171
Ausnahmen stellen hierbei die Kraftwagenkolonnen, Funker- und Flak-Abteilungen dar sowie
einige Artillerie- und Lazarettformationen, die vor allem im Rahmen des „Yildirim“-Unternehmens in
das Osmanische Reich verlegt wurden. Eine Aufstellung der Verbände bei: Mühlmann,
Waffenbündnis 1940, S. 320f.
1170
305
können. Das türkische Bahnhofspersonal, laut Euringer aus „schwermütigen Typen“
bestehend und einem vermutlich auf „Backschisch lauernden Fez“ als leitendem
Zivilbeamten, bot keine Hilfe an. Die Deutschen zeigten sich hier bereits von ihrer
ungeduldigen Seite und die Lösung des Problems bestand darin, die vorhandenen
Schienen zu zerlegen und damit ein improvisiertes Rangierkreuz zu fertigen, sehr
zum Entsetzen der türkischen Beamten.1172 Doch Euringer stellt fest:
„Elmskerk handelte nach dem Grundsatz, die Türken vor Tatsachen zu stellen, wie in
Berlin die OHL.“1173
Dieser „Affront“ gegen den türkischen Bahnhofsvorsteher hatte zur Folge, daß den
Fliegern bei der Ankunft auf der anderen Seite des Bosporus per Depesche befohlen
wurde, umgehend die Waggons wieder zurückzubringen, da diese am Bahnhof zu
verbleiben hätten. Auch hierfür fand sich sogleich eine „pragmatische Lösung“,
indem eine Schlechtwettervorhersage erdacht wurde, die eine Rückkehr zu gefährlich
machte.1174
Dieses Beispiel zeigt bereits die unterschiedlichen „Problemlösungsansätze“, die hier
aufeinandertrafen und noch häufiger aufeinandertreffen sollten. Die deutschen
Soldaten erwarteten, daß dem Militär absoluter Vorrang eingeräumt wurde, zumal
man sich im Kriegszustand befand. Die osmanische Seite hingegen war es gewohnt,
für Leistungen angemessen entlohnt zu werden, gleich von welcher Seite diese
Leistungen in Anspruch genommen wurden. Diese „Schmiergeld-“ oder BackschischZahlungen, häufig als Ausdruck der tiefverwurzelten Korruption im Lande gedeutet,
werden jedoch verständlicher, wenn man berücksichtigt, daß osmanische Staatsdiener
meist schlecht und zudem unregelmäßig oder gar nicht vom Dienstherrn bezahlt
wurden.1175 Von vielen Deutschen – und hier bildeten die Flieger keine Ausnahme –
wurden diese Umstände falsch interpretiert und dementsprechend sorgten die oftmals
strengen Reaktionen für Verstimmungen unter den Verbündeten. Für die türkischen
Arbeiter bestand kaum eine Motivation, den Deutschen uneigennützig zu helfen.
Während sie in unzulänglicher Weise von ihrem Staat versorgt wurden, mußten sich
die wohlgenährten, gut bezahlten und versorgten deutschen Flieger keine Sorgen um
1172
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 64-66.
Ebd., S. 63.
1174
Ebd., S. 72f.
1175
Emin, Turkey 1930, S. 94.
1173
306
ihr tägliches Auskommen machen. Zudem konnte „patriotische Begeisterung“ von
Seiten der türkischen Bevölkerung nur in seltenen Fällen erwartet werden.1176
Diese „Unsensibilität“ oder – positiver formuliert – „Unkenntnis der Verhältnisse“
sorgte während der langen und schwierigen Transporte für ständige Erschwernisse.
Da durchgängige Schienenstränge fehlten, einige Bahnabschnitte eingleisig oder mit
Schmalspurbahnen befahren wurden und starke Regenfälle die Stecken unterspülen
konnten, waren die Flugzeugtransporte zu häufigem Umladen und längeren
Aufenthalten an Bahnstationen gezwungen.1177 Diese Verzögerungen konnten im
Zusammenspiel mit dem engen Zeitplan die Nerven der Transportführer stark
belasten. Hierbei wirkte die „ruhige Art“ vieler Türken nur weiter provozierend. So
beklagten sich die deutschen Flieger darüber, daß ihnen von türkischer Seite stets die
Formulierung „Jawasch, jawasch“ – „Langsam, langsam“ – entgegengehalten
wurde.1178 Hauptmann Felmy, von Juli 1916 bis Januar 1918 Führer der FliegerAbteilung 3001179, brachte die Problematik auf den Punkt:
„Bisher hatte man in Feindesland Krieg geführt und war gewohnt, zu befehlen. Hier
war man in Freundesland!“1180
Wollten die deutschen Flieger aber im „Freundesland“ an ihr Ziel gelangen, waren sie
gezwungen, sich an die Umstände anzupassen, zumindest soweit es nötig war, um
ihren Auftrag zu erfüllen. Allerdings dauerte diese Phase des Lernens offenbar
ziemlich lange, denn die ersten erhaltenen derartigen Befehle, Richtlinien und
Anweisungen von allgemeiner Gültigkeit stammen aus dem Jahre 1917. Sie bieten
einen guten Einblick in die deutschen Erfahrungen bei Transporten. Dabei handelte es
sich zu einem Teil um technische oder hygienische Hinweise, wie etwa die Warnung
vor Funkenflug durch das Heizen der Lokomotiven mit Holz, vor dem Genuß roher,
ungewaschener Lebensmittel oder vor Läusen in ungereinigten Zugabteilen.
Allerdings wird auch vor Diebstählen durch mitreisende Zivilpersonen und sogar
durch türkische Soldaten gewarnt und als Lösung vorgeschlagen, diesem
1176
Siehe oben, S. 30f. u. 247.
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 519f.
1178
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 36. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege
1920, S. 520.
1179
Vgl.: Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. X und MSg 1/231, Bericht Sernos über die
türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Zusammenstellung der bei der türkischen Luftwaffe von 19151918 tätigen Deutschen, soweit soweit [sic] dies 1960 noch möglich war“, ohne Seitenzahl.
1180
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 520.
1177
307
Personenkreis von vorneherein die Mitfahrt in deutschen Waggons zu untersagen.
Außerdem wird der Umgang mit den türkischen Verbündeten reguliert:
„Allen türkischen Beamten und Offizieren gegenüber ruhig aber bestimmt auftreten.
Lautes Schimpfen nutzt nichts, sondern macht den Orientaler noch verschlossener.
[...] Beim Umladen türkische Arbeiter beaufsichtigen. 10 Türken leisten die Arbeit
eines Deutschen. Auch hier nicht ungeduldig werden. Die Mitarbeit Deutscher
Soldaten spornt auch den Orientaler an. Einige geschenkte Zigaretten bewirken oft
Wunder.“1181
Die Deutschen in den osmanischen Fliegereinheiten in Mesopotamien erhielten
ähnliche
Hinweise.
Hier
lief
der
Transport
aufgrund
mangelnder
Eisenbahnverbindungen über den Flußweg. Der deutsche Oberleutnant und
osmanische Hauptmann Franz von Aulock, Kommandeur der osmanischen FliegerAbteilung 2 in Baghdad1182, vermerkt in seinen „Technischen Notizen“:
„Bei Notlandungen [...] Maschinen nie allein stehen lassen, Araber montieren sonst
Andenken ab. [...]
Steht zum Transport ein türkisches Arbeitskommando zur Verfügung, so exerziere
man [...] mit den Soldaten die Handgriffe beim Verladen [...]. Es geht auch südlich
des Balkans nur das was geübt ist.“1183
Lassen schon diese Berichte die türkische Seite in keinem guten Licht erscheinen, so
bietet der Bericht des deutschen Unteroffiziers Otto Klein über Flußtransporte ein
tendenziell noch negativeres Bild:
„Ein anderer Vorwärtstrieb als die Strömung existiert nicht. Es ist deshalb falsch,
von den Führern zu verlangen, dass sie die Geschwindigkeit durch dauerndes Rudern
vergrössern. Die primitive Art der Ruder macht das unmöglich. Die Leute werden
durch solche Anordnungen nur erbittert. [...]
1181
Abschrift „Merkblatt für die Reise Konstantinopel – Aleppo!“, Kommandeur der Flieger
Heeresgruppe F. Abt. I 141/17. Geheim! vom 4.9.1917. KA München, Flieger u. Luftschiffer 52.
Ebenfalls abgedruckt bei: Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 278f. Die Unterstreichungen
entsprechen dem Original.
1182
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, Anhang „Zusammenstellung der
bei der türkischen Luftwaffe von 1915-1918 tätigen Deutschen, soweit soweit [sic] dies 1960 noch
möglich war“, ohne Seitenzahl.
1183
„Technische Notizen für Ausrüstung und Transport von Fl.Abt. in Mesopotamien“, Geheim! vom
5.8.1917. KA München, Flieger u. Luftschiffer 52.
308
Bei arger Widerspenstigkeit der [Boots-]Führer sind diese dem nächsten türkischen
Kommandanten zu melden, der sie verprügeln lässt.
Deutsche dürfen nie selbst Eingeborene schlagen. [...]
Eingeborene müssen an Land schlafen, damit sie nicht nachts wertvolle Kisten über
Bord gehen lassen, die sie beim Rückmarsch abholen. Am Ufer ist deutsche
Patrouille nötig. [...] Da von den Kelleksführern1184 besonders beim letzten Teil der
Reise infolge ihrer Faulheit viel gesündigt wird, ist grösste Aufmerksamkeit und
Energie nötig. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass diese Leute – meist Kurden –
noch grössere Diebe sind, als die am Euphrat.“1185
Aus sämtlichen Berichten läßt sich ein großes Mißtrauen gegenüber der osmanischen
Bevölkerung ersehen. Dabei wird kaum ein Unterschied zwischen Soldaten und
Zivilbevölkerung gemacht. Allerdings wird sehr wohl zwischen den verschiedenen
Ethnien des Osmanischen Reiches unterschieden. So sind es „die Araber“, die
Andenken abschrauben oder „die Kurden“, die sich als die größten Diebe erweisen.
Demnach unterscheiden auch die Angehörigen der Fliegertruppe, wie die deutschen
Heeressoldaten, sehr bald zwischen den Volksgruppen, mit denen sie interagieren.
Für die Flieger war dabei der Konflikt zwischen den beiden größten Volksgruppen,
den Arabern und den Türken, von besonderer Wichtigkeit. Andere Minderheiten, wie
Griechen, Armenier oder Kurden wurden nur am Rande und bei Durchreise durch
große Städte wahrgenommen. Die einzige Ausnahme bildeten die kleinen Gruppen
deutscher Siedler in Palästina, die – geht man nach den Schilderungen der Piloten –
deutsche Soldaten bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verschiedenen
Feierlichkeiten einluden.1186
1184
Siehe oben, S. 209.
„Bericht des Werkmeisters Unteroffizier Otto Klein über Erfahrungen bei Flusstransporten in
Mesopotamien. Transport auf dem Euphrat.“, Kommandeur der Flieger Heeresgruppe F. Abt. I 126/17.
Ohne Datum. KA München, Flieger u. Luftschiffer 52.
1186
Oberleutnant Euringer berichtet von deutschen Kolonisten in Aleppo, die zur Begrüßung deutsche
Fähnchen schwenkten und Geschenke an die Flieger verteilten: „Für sie schien unser Eintreffen etwas
wovon sie lang und heiß geträumt.“ Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 211. Leutnant Hans
Henkelburg, zusammen mit Euringer Flugzeugführer in der FA 300, wird in Jerusalem ebenfalls von
deutschen Siedlern empfangen, die ihm zu Ehren ein großes Fest organisieren, „fast wie auf einer
echten deutschen Kirmes“. Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 15. Rudolf Holzhausen, Angehöriger
der deutschen Flieger-Abteilung 302, faßt in seinem Bericht zusammen: „Die deutschen Kolonien in
Wilhelma und Haifa waren beliebte Urlaubsorte für erholungsbedürftige Truppenangehörige.“
PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 29.
1185
309
Dies liegt vor allem daran, daß die überlieferten Berichte deutscher Flieger meist aus
den Gebieten des Osmanischen Reiches stammen, in denen diese beiden Völker die
mit Abstand größten Anteile an der Einwohnerschaft stellten.
Dabei wird die arabische Bevölkerung nochmals in „seßhafte Araber“ und
„Beduinen“, also die nomadisch lebenden Wüstenstämme, unterschieden. Die
Beduinen spielten für die Flieger insofern eine Rolle, als sie wichtige
Aufklärungsergebnisse über feindliche Flugplätze oder Bombenziele liefern sollten.
Eine Aufgabe, die von den Wüstenbewohnern dank ihrer Ortskenntnisse offenbar
recht gut ausgeführt wurde. Jedoch sahen die Deutschen in „dem Beduinen“ den
Prototypen des käuflichen Söldners, der keine andere Loyalität kannte als die zum
Geld des Meistbietenden. Daher werden die Beduinen oft als „gierig“ und
„gewissenlos“ beschrieben.1187 Es wundert somit nicht, wenn die deutschen
Flugzeugführer arabischen Spionen den Verrat von Geheimnissen an das Royal
Flying Corps anlasteten1188 und schließlich sogar mit besonderer Verbitterung die
„illoyalen Beduinen“ für den Tod eines deutschen Flieger-Offiziers verantwortlich
machten.1189
Positive Äußerungen über die arabischen Bevölkerungsteile stehen ausschließlich im
Zusammenhang mit geselligen Veranstaltungen. Offenbar hat jeder Deutsche
während seiner Dienstzeit im Nahen Osten wenigstens einmal die sprichwörtliche
„arabische Gastfreundschaft“ genießen können. So durften die Angehörigen der FA
300 einer „Kamelreiterphantasie“, einer Art Tanzfest mit Schauspiel und Gesang,
beiwohnen. Die Deutschen waren fasziniert von den farbenfrohen, exotischen
„Künstlern“ und der fremden Musik.1190 Auch Holzhausen berichtet von
gemeinsamen Festen mit Tänzen, Essen, Musik und Reiterspielen. Ingesamt sei das
„freundschaftliche
Verhalten
der
deutschen
Truppen
zur
arabischen
In der ausgiebigen Nutzung der deutschen Kontakte im Orient mag eine gewisse Sehnsucht nach der
Heimat zum Ausdruck kommen, die in Anbetracht der Fremdheit des Orients verständlich sein kann.
Dennoch waren die Treffen mit deutschen Siedlern eher Ausnahmen, zumindest solange sich die
Fronten noch fernab der Siedlungen befanden.
1187
Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 64.
1188
Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 72.
1189
„Nun war er tot. Nach dem, was Mühlmann angedeutet, hat ihn seine Kamelschwadron einsam ins
Feuer hineinrennen lassen. Schließlich waren es . . Beduinen.“ Euringer, Zug durch die Wüste 1938,
S. 68. Der deutsche Flieger-Oberleutnant Soyter war während des zweiten Vorstoßes gegen den
Suezkanal als Bodenbeobachter eingesetzt. Vgl.: Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 33. Kreß von
Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 161f.
1190
Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 51f. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 275-279.
310
Landesbevölkerung aber auch ihre kämpferische Haltung dort, wo feindliche
Berührungen stattfanden, [...] bei den Arabern unvergessen geblieben“.1191
Diese Beurteilung kann durch „Verklärung“ der Erinnerung beeinflußt sein, spiegelt
aber gut die Ambivalenz des Verhältnisses zur arabischen Bevölkerung wieder. Im
zivilen und gesellschaftlichen Umgang mit den seßhaften arabischen Einwohnern gab
es offenbar weniger Konflikte, da man hier – beinahe schon als Reisender – lediglich
Nutznießer einer fremden Kultur war, in der die Gastfreundschaft große Bedeutung
besaß. Sobald allerdings dienstliche Ansprüche tangiert waren, kollidierten die
unterschiedlichen Ansichten miteinander. Während „die Araber“ und Beduinen
versuchten, ihre eigene Situation durch den Konflikt – ihrer Ansicht nach fremder
Mächte – zu verbessern, indem sie ihre Dienste „versteigerten“ oder für rar
gewordene Lebensmittel hohe Preise verlangten, fühlten sich die Deutschen
„verraten“. Immerhin wurde der Krieg in „Freundesland“ geführt und dort erwarteten
die Soldaten die Unterstützung der Bevölkerung und nicht passive oder gar aktive
Obstruktion. Unberücksichtigt ließ die deutsche Seite dabei, daß die arabischen
Untertanen des Sultans keinen Grund hatten, die deutschen Verbündeten der Hohen
Pforte selbstlos zu versorgen. Es war bekannt, wenn auch nur hinter vorgehaltener
Hand verbreitet, daß die türkischen Amtsinhaber mit größter Härte über die südlichen
Provinzen des Reiches herrschten:
„Der Türke herrscht, er unterwirft. Das was dem Wörtlein Pascha anhängt, dies
Reitpeitschenregiment, taugt nun just für den Araber schlecht. Man kann ihn
gewinnen, . . wenn man ihm bietet, was er sich träumt. [...] – Ihn treten; damit hat
man ihn nicht.“1192
Auf diese Erkenntnis oder besser den Mangel an Erkenntnis wird später noch einmal
einzugehen sein.
Zunächst muß der Blick noch auf die türkische Bevölkerung gerichtet werden, die
von den deutschen Fliegern nur geringfügig besser beurteilt wird als die arabische.
Zum Teil erinnern die Schilderungen an das Bild des „Edlen Fremden“, wie es sonst
1191
1192
PH 5 I/20, Aufsatz Holzhausens über die deutschen Truppen im Nahen Osten, S. 30.
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 112.
311
nur bei den Beschreibungen arabischer Scheichs verwendet wurde.1193 So beschreibt
der Jagdflieger Buddecke die Einwohner eines kleinen Dorfes in Süd-Anatolien:
„Sie haben schöne, braune, ebenmäßige Gesichter, offene Augen, guten
Charakter.“1194
Immer wieder tauchen auch Beschreibungen auf, die an die Bilder der orientalischen
Märchen erinnern, die den Fliegern wohl im Kopf spukten. Reichgekleidete Paschas,
muslimische Geistliche und zivile Würdenträger empfingen deutsche Flieger in
Konstantinopel. Über die verzierten Räumlichkeiten mit seidenen Diwanen,
schmuckvollen Teppichen, Gold und Kristall schreibt Euringer: „Ich kam mir vor wie
hingezaubert. Nur Fatime fehlte.“1195
Zudem werden die Piloten auf ihren Reisen durch das Osmanische Reich häufig zu
ausgiebigen türkischen Essen eingeladen. Schnell bemerkten auch die Flieger die
unterschiedliche Eßkultur: Die Menüs bestanden aus kleinen, aber zahlreichen
Gängen, während des Essens wurde kaum gesprochen und zur Beendigung des Mahls
gab es den schwarzen und starken Mokka, auch „café turque“ genannt. Erst nach dem
Essen zog man sich zum Rauchen in ein anderes Zimmer zurück und pflegte dort die
Konversation. Im Übrigen behielten die türkischen Gastgeber während des Essens die
Kopfbedeckung auf, während die deutschen Soldaten anfangs noch den Fehler
machten, die Mütze abzunehmen.1196
Die bevorzugte Behandlung der deutschen Flugzeugführer hatte ihren Grund wohl
darin, daß das Osmanische Reich kaum Erfahrung mit dieser Waffe hatte. Die Flieger
wurden als eine hochmoderne und beinahe mysteriöse Truppe angesehen und die
wenigsten Türken hatten überhaupt jemals ein Flugzeug zu Gesicht bekommen.
Entsprechende Wertschätzung erfuhren die Flugzeugbesatzungen. Noch bevor
überhaupt der erste Flugplatz bei San Stefano1197 in Betrieb genommen wurde oder
Flugzeuge aus Deutschland geliefert worden waren, hatte Enver Pascha bereits
persönlich eine Uniform für die Angehörigen der osmanischen Luftstreitkräfte
1193
Siehe zu Antrittsbesuchen bei Scheichs auch oben, S.260.
Buddecke, El Schahin 1918, S. 118.
1195
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 82.
1196
Buddecke, El Schahin 1918, S. 66f. u. S. 117. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 81f.
1197
Kleiner Ort am Marmarameer auf der europäischen Seite des Bosporus nahe Konstantinopel
gelegen.
1194
312
entworfen, die unbedingt zu tragen war.1198 Zu den „Nebenaufgaben“ der FliegerAbteilungen gehörte es dementsprechend auch, türkische Würdenträger oder
Befehlshaber
durch
Flugvorführungen
zu
erfreuen
oder
auf
Rundflüge
mitzunehmen.1199
Mit der Faszination der türkischen Bevölkerung für die Fliegerei ging jedoch zugleich
eine völlige Unkenntnis der technischen Neuerungen einher. Diese beeinflußte das
Urteil der Flieger über die Bevölkerung und auch ihre türkischen Verbündeten bald
negativ. Es begann zunächst mit leichtem Spott über die Angst einfacher Bauern vor
Motorfahrzeugen:
„Auch beim Anblick unseres recht neuartigen Verkehrsmittels entstand manche
komische Situation. Ich sah einen sehr braven Greis samt seinem Esel im Gebüsch
verschwinden und einen Abhang hinunterrollen. Wir mußten trotz des Mitleides mit
dem Alten über den unglücklichen Tölpel lächeln.“1200
Dieser Spott erhielt bald ärgerliche Untertöne, als man merkte, daß sich das
mangelnde technische Wissen nachteilig auf den Dienst oder die Einsatzbereitschaft
der Fliegerformationen auswirken konnte. Der Fahrstil des türkischen Kraftfahrers,
der Oberleutnant Buddecke zu seinem Flugfeld auf Gallipoli bringen sollte,
veranlaßte diesen zu der Vermutung, daß „der Orientale“ zum Autofahren nicht
geeignet sei.1201 Obwohl Buddecke gleich darauf seine Aussage relativierte und auch
von löblichen „Ausnahmen“ berichtete, blieb die Unfähigkeit der Türken für ihn
dennoch die Regel.
Auch Erich Serno, der das technische Bodenpersonal für die neue „Luftwaffe“ aus
örtlichen Klempnern, Schlossern, Schmieden und jeder halbwegs passenden
Berufsgruppe rekrutieren mußte, kommt zu dem Schluß:
„Wiewohl ich anfangs das Gefühl hatte, daß dem Türken ein gewisses technisches
Gefühl fehlt, so muß ich doch sagen, daß sie hier mit Lust, Liebe und Begeisterung
dabei waren. Aber es war natürlich ein Unding, die Leute nur annähernd auf den
1198
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 35.
Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 54. Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 267f.
1200
Buddecke, El Schahin 1918, S. 69.
1201
Buddecke, El Schahin 1918, S. 70f.
1199
313
Ausbildungsstand zu bringen, wie wir es von unserem deutschen technischen
Personal verlangen.“1202
Trotz des merklichen Wohlwollens, das Serno den türkischen Meschanikern
entgegenbrachte, sah er keine Möglichkeit, die Ausbildungs- und Wissensmängel zu
überbrücken. Der deutsche Jagdflieger Bormann bemerkt schließlich bissig, die
türkischen Monteure seien meist nur zum Wasserauffüllen zu gebrauchen
gewesen.1203
In dieser Äußerung wird bereits deutlich, daß sich die (Aus-)Bildungsunterschiede in
gravierendem Maße auf die dienstliche Zusammenarbeit auswirkten. Ganz besonders
machte den deutschen Fliegern zu schaffen, daß die Türkei kaum technische Mittel
für die Fliegerei besaß und über noch weniger ausgebildetes Personal verfügte. Schon
die Grundlagen der Arbeit am Boden waren im Osmanischen Reich unbekannt. Bei
seiner ersten Landung auf der Gallipoli-Halbinsel bemerkte Oberleutnant Buddecke,
daß zur Errichtung eines Flugfeldes das falsche Gelände ausgesucht worden war. Zu
diesem Zeitpunkt war seine Maschine aber bereits bis zu den Achsen im weichen
Boden versunken und hatte sich mit dem Propeller einen Meter tief in die Erde
gegraben.1204 Bei einer weiteren Landung wurde sein Jagdflugzeug ebenfalls schwer
beschädigt, als es mit den Feststellklötzen kollidierte, die von den türkischen
Mannschaften auf der Start- und Landebahn liegen gelassen worden waren.1205 In
beiden Fällen wurde nur das Flugzeug beschädigt, der Pilot blieb unverletzt. Umso
ärgerlicher war es für Buddecke, daß – ähnlich wie schon Bormann beobachtete – die
türkischen Mechaniker nicht für größere Reparaturen einsetzbar waren, sondern
deutsche Monteure aus Konstantinopel anreisen mußten. Er führt diese Problematik
allerdings explizit auf Ausrüstungsmängel zurück und nicht pauschal auf
„Unfähigkeit“ des türkischen Bodenpersonals.1206 Überhaupt werden häufig
Versorgungsmängel für Probleme verantwortlich gemacht, da alle Ersatzteile auf den
unzureichenden Verbindungswegen aus Deutschland herangeführt werden mußten.
1202
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 37 u. S. 63.
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 531.
1204
Buddecke, El Schahin 1918, S. 78.
1205
Buddecke, El Schahin 1918, S. 82f.
1206
Buddecke, El Schahin 1918, S. 83.
1203
314
Für Hauptmann Felmy von der Flieger-Abteilung 300 stellte die Nachschubfrage die
„Lebensfrage“ dar. Die Entfernung von Konstantinopel nach Birseba am Rande der
Sinai-Wüste betrug etwa 1.500 Bahnkilometer. Die Strecke war jedoch an mehreren
Stellen unfertig und unterbrochen oder besaß wechselnde Spurbreiten, so daß der
Nachschub mehrmals umgeladen werden mußte.1207 Das letzte Stück nach Birseba
wurde sogar nur noch von Feldbahnwagen angefahren, die wegen des Mangels an
Lokomotiven
von
Maultieren
gezogen
werden
mußten.1208
Während
der
Umlademanöver kam es häufig vor, daß Teile zu Bruch gingen oder vertauscht
wurden. Von einer Lieferung von 7 Maschinen nach Mesopotamien erreichte nur ein
einziges Flugzeug unbeschädigt seinen Zielort.1209 Die deutschen Flieger luden daher
die Maschinen lieber selbst um und ließen türkisches Personal nicht an die kostbare
Fracht heran.1210
Ein solches Mißtrauen gegenüber osmanischen Hilfskräften trug kaum zu einem
reibungsloseren Ablauf des Nachschubs bei. Er führte vielmehr dazu, daß an den
Umladestationen große Mengen von Material auf ihren Weitertransport warten
mußten.1211 Es kam jedoch auch vor, daß Etappenkommandeure, denen das
skeptische und manchmal abschätzige Verhalten der Deutschen keineswegs
verborgen blieb, mehr oder weniger absichtlich den Transport verzögerten. So mußte
Major Serno erst mit einer förmlichen Meldung bei Enver Pascha drohen, bevor eine
osmanische Fliegerabteilung unter Leitung eines türkischen Fliegerhauptmanns
weiterbefördert wurde.1212 Die Drohung, einen ranghohen osmanischen Vorgesetzten
einzuschalten, wurde auch für die Fliegertruppe zu einer unerläßlichen „Waffe“. Im
Kriegstagebuch der bayerischen Flieger-Abteilung 304b wird in den Einträgen vom
11./12.10.1917 davon berichtet, daß einem türkischen Bahnhofskommandanten
gedroht wurde, ihn bei Djemal Pascha zu melden, sollte er nicht aufhören, den
1207
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 519.
Hans Henkelburg nennt dieses Transportmittel scherzhaft „Sinai-Express“. Henkelburg,
Kampfflieger 1917, S. 109.
1209
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 540
1210
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 104.
1211
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 101f. Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 519.
1212
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 64.
1208
315
Weitertransport der Abteilung durch Untätigkeit zu behindern. Auch diese Drohung
zeigte das gewünschte Ergebnis.1213
Die tatsächliche Intervention bei einem hohen Würdenträger konnte jedoch zu
unerwarteten Entwicklungen führen. Für die Fliegertruppe erwies sich besonders der
Benzinnachschub als kritisch. Die Flugzeuge verbrauchten mehr Benzin, als durch
die spärlichen Nachschubkanäle sickerte. Zudem wurden mitunter beim Umfüllen
Fehler gemacht, die den Treibstoff unbrauchbar machten:
„Es war nicht nur Wasser in die Kanister sondern Sand ins Benzin gekommen. (So
geht es, wenn man Unterorganen und Türken das Abfüllen überläßt!) Verhör und
Wutanfall nutzten nichts.“1214
Die deutschen Soldaten entwickelten notgedrungen andere Alternativen, um den
Nachschub an Betriebsstoff sicher zu stellen. In Mesopotamien wurde das kostbare
Gut mit Flugzeugen zu den Einheiten gebracht. Ein Verfahren, das jedoch – ähnlich
der Situation bei den Kohletransporten der Marine – beinhaltete, daß die
Transportmaschine fast ebenso viel Treibstoff verbrauchte, wie sie lieferte.1215 Auf
ein anderes Problem stieß Oberleutnant Euringer als er nach Damaskus reiste, um
dort bei Djemal Pascha zu erreichen, daß eine Lieferung von zwölf Fässern Benzin
freigegeben werde, die an einer Etappenstation festgehalten worden war. Er traf dort
zufällig zeitgleich mit den Feierlichkeiten zum Geburtstag des Sultans ein und wurde
vom deutschen Konsul dem Pascha vorgestellt. Trotz der Ermahnung zu
„diplomatischer Zurückhaltung“ brachte Euringer sein Anliegen sehr direkt vor, zum
Entsetzen alle Anwesenden. Sein Vorgehen sorgte für größte Aufregung bei allen
beteiligten und unbeteiligten Stellen, da der Stab Djemal Paschas nun alles tat, um
Benzin für die Flieger zu besorgen. Sinnbild für die Wirkung ist die Reaktion eines
deutschen Transportchefs, der Euringer beim Verladen helfen sollte:
„Er sagte es sei der Teufel los. Man habe ihm einen Krach gemacht . . ! Er wisse
nicht einmal warum. Wie die Sendung weggekommen, ahne er nicht. Er vertrete einen
Türken, der es sicher auch nicht weiß. [...] Er werde den Dingen beschleunigt
1213
Kriegstagebuch der bayerischen Flieger-Abteilung 304b: 24.Juli 1917-3.April 1919, Einträge
11.Oktober 1917 und 12. Oktober 1917. KA München, Flieger und Luftschiffer 48.
1214
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 345.
1215
Neumann, Luftstreitkräfte im Weltkriege 1920, S. 538.
316
nachgehen. [...] Ich solle in Dreiteufels Namen heut abend, bitte, dem Pascha sagen,
es sei gut.“1216
Schließlich kam die FA 300 so zu ihrem Benzin, jedoch nicht ohne daß Euringer
Djemal Pascha, seinen Stabschef Ali Fuad Bey und weitere hochgestellte
Persönlichkeiten gegen sich aufbrachte. Ein Umstand, den er überraschenderweise
eher mit Genugtuung als mit Reue quittiert:
„Man hat mich „monoman“ geschimpft. Man gab mir schriftlich, es habe sich bisher
in Damaskus kein Deutscher derart lästig gemacht. Aber ich kam zu meinem
Benzin.“1217
Trotz des Erfolges bewies der bayerische Flieger eine schwerwiegende Nichtachtung
der Gepflogenheiten im Osmanischen Reich. Er verletzte die Ehre des Paschas, indem
er ihn offen und im Beisein vieler anderer auf Probleme innerhalb seines
Zuständigkeitsbereiches ansprach. In diesem speziellen Fall waren ihm die
Vorschriften des Protokolls sogar zuvor vom deutschen Konsul erläutert worden und
dennoch hatte er sie ignoriert. Es bleibt fraglich, ob sich Euringer auch gegenüber
einem deutschen Würdenträger so verhalten hätte. Aus seinen Aufzeichnungen lassen
sich solche Schlüsse leider nicht zweifelsfrei ziehen. Allerdings ist Euringer kein
Einzelfall. Auch Major Serno entschied sich bewußt dafür, türkische Landessitten zu
ignorieren, sobald sie – seiner Meinung nach – Einfluß auf seinen militärischen
Aufgabenbereich hatten. So verwendete er viel Energie darauf, dem einzigen
türkischen Jagdflieger Oberleutnant Fazil nach seinem Tod ein „Heldenbegräbnis“
zukommen zu lassen. Für ihn bedeutete dies ein „deutsches Heldenbegräbnis“ mit
Ehrenformation, Trauerzug und ähnlichen Zeremonien. Ein für das Osmanische
Reich völlig unüblicher Brauch. Serno weigerte sich jedoch, ein „gewöhnliches
türkisches“ Begräbnis für einen seiner Piloten zu akzeptieren, und erreichte
schließlich, daß der Gefallene zusätzlich zur landesüblichen Zeremonie in einem
flaggenbedeckten Sarg im Beisein einer Ehrenkompanie beigesetzt wurde.1218
Neben solchen bewußten Verstößen gegen die Sitten und Gebräuche durch das
Beharren auf deutschen Gepflogenheiten kam es aber auch zu ungewollten
„Ausrutschern“, deren Folgen nicht weniger gravierend sein konnten. Anläßlich eines
1216
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 353f.
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 357.
1218
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 134.
1217
317
Besuches von Djemal Pascha, dem Oberbefehlshaber der 4. Armee, bei der FA 300
wurde als Dekoration eine Laterne in Form des „Eisernen Halbmondes“ – eine
osmanische Auszeichnung in Form eines roten Metallsterns mit einem weißen
Halbmond darauf – angefertigt, die beim Essen den Raum beleuchten sollte.
Versehentlich stellten die Deutschen die Verzierung jedoch so auf, daß die
Mondsichel nicht etwa die zunehmende, sondern die abnehmende Mondphase zeigte:
„Da plötzlich starrt Djemal das unselige Symbol, den a b n e h m e n d e n
Halbmond, an und erbleicht: [...] Der Rest ist Panik, Menetekel, Unheil, das sich
ankündigt [...]!“1219
Die deutschen Flieger waren zwar peinlich berührt, weil sie durch einen solchen
Fehler als Gastgeber in einem schlechten Licht erschienen, zugleich machten sie sich
aber auch über den „Aberglauben“ des Paschas lustig und bezeichneten die Reaktion
als „Mumpitz“.1220
Ob gewollt oder ungewollt, in jedem Fall muß festgestellt werden, daß die deutschen
Angehörigen der Fliegertruppe den osmanischen Eigenarten, den Mängeln in der
Ausbildung und, allgemein gesprochen, dem Verbündeten nur wenig Sympathie
entgegenbrachten. Hierbei fällt besonders ins Gewicht, daß die Deutschen in
Unkenntnis der orientalischen Verhältnisse mit falschen Erwartungen ins Osmanische
Reich kamen und von der Realität bald bitter enttäuscht waren. Die bereits
angeführten negativen Urteile über „türkische Faulheit“ sowie „arabische Feigheit
und Gier“ sind nicht ungewöhnlich und finden sich in fast jeder Schilderung
deutscher Soldaten wieder. Bei der Fliegertruppe trat jedoch die technische
Rückständigkeit des Osmanischen Reiches stärker in den Vordergrund als bei den
anderen Waffengattungen und belastete direkt oder indirekt das Verhältnis zwischen
den Verbündeten. So waren die ersten Flugzeuge an den Dardanellen nur mit einem
Maschinengewehr für den Beobachter ausgestattet, das lediglich auf Gegner hinter
dem Flugzeug wirken konnte. Die Piloten mußten so zunächst auf einen Gegner
zufliegen, abdrehen und diesen dann mit dem rückwärtsgerichteten M.G. beschießen.
Da die türkischen Offiziere am Boden von diesen Bedingungen nicht wußten, sahen
1219
1220
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 262f.
Ebd., S. 263.
318
sie nur „flüchtende Deutsche“, eine Behauptung, welche die Flieger wiederum in
ihrem Ehrgefühl verletzte.1221
Die völlige Unkenntnis der Fliegerei brachte die Deutschen zudem oft in
lebensbedrohliche Situationen. Da die Bevölkerung des Osmanischen Reiches und
mit ihr die überwiegende Zahl der Soldaten noch nie ein Flugzeug gesehen hatte,
herrschte die Meinung vor, daß solche Maschinen nur dem Feind gehören könnten.
Das führte dazu, daß deutsche Flugzeuge auch über eigenem Gebiet häufig
beschossen wurden: „Wo man als Flugzeug erstmals auftaucht, wird man beknallt;
das kannten wir.“1222
Augenzeugen solcher Vorgänge wurden auch deutsche Heeressoldaten, wie etwa
Leutnant Ungerer, der in einem Brief an seine Eltern schreibt, daß eine osmanische
Fliegerstaffel von den eigenen Soldaten solange beschossen wurde, bis ein Flieger
hinter feindlichen Linien abstürzte und die Besatzung gefangen genommen wurde.
Damit hätten die türkischen Soldaten vollbracht, was das Royal Flying Corps in vier
Wochen nicht geschafft hätte.1223
Doch auch Notlandungen aus anderen Gründen erwiesen sich als sehr gefährlich für
die deutschen Piloten. Besonders bei Landungen in der Nähe von Siedlungen fand
sich rasch eine Menschenmenge ein, die den Fremden für einen feindlichen Flieger
hielt und ihm mit offener Gewalt drohte. Leutnant Henkelburg berichtet ausführlich
von einer solchen Situation. Als er sich mit seinem Beobachter auf dem Flug nach
Jerusalem befand, mußte er mit einem Motorschaden notlanden. Schon kurze Zeit
später erschienen bewaffnete Zivilisten, die sich durch die Gefangennahme der
„Engländer“ eine hohe Belohnung erhofften. Die vermeintliche Rettung durch
türkische Soldaten entpuppte sich nur als weitere Verschärfung der Situation, da nun
besser bewaffnete Türken die „Gefangenen“ übernahmen. Erst nach etwa einer
Stunde führte man die beiden in ein nahegelegenes Gebäude, wo sie von dem
ranghöchsten Offizier verhört wurden, bis die telegraphische Bestätigung ihrer
Identität eintraf. Obwohl Henkelburg in seiner Schilderung hauptsächlich die Sorge
um das Leben der Flugzeugbesatzung ausdrückt, wird doch seine Verärgerung über
die ungebildeten und aggressiven Bewacher deutlich:
1221
Buddecke, El Schahin 1918, S. 68.
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 18.
1223
Brief von Leutnant Ungerer an seine Eltern vom 4. Mai 1918. BAMA Freiburg, MSG 2/ 2888.
1222
319
„Und zu alledem die Dummheit und der kindliche Aberglaube der ganzen
Gesellschaft! Selbst unter schwerster Bedeckung dürfen wir nicht an die Maschine
herantreten, um zum Schutz gegen die stechende Sonnenhitze wenigstens unsere
Mützen aus dem Rumpf zu holen; denn alles ist der Meinung, daß das Flugzeug beim
bloßen Handauflegen durch irgendeine Zauberkraft mit uns davonfliegen könnte.“1224
Auch die Tatsache, daß Major Serno als Chef der osmanischen Luftstreitkräfte nur
einem einzigen Piloten – dem bereits genannten Oberleutnant Fazil – ein
Jagdflugzeug anvertraute, belegt die deutsche Meinung von den geringen türkischen
Fähigkeiten.1225 Allerdings wurde den türkischen Piloten durch diese Verhalten ein
wichtiger Teil der Ausbildung, nämlich der Erfahrungsgewinn durch Übung,
verwehrt und so kann es kaum verwundern, daß der Ausbildungsstand hinter dem der
deutschen Besatzungen hinterher hinkte.
Die vorstehenden Äußerungen sollten bereits verdeutlicht haben, wie stark die
Deutschen die Unterschiede zum Osmanischen Reich auf verschiedenen Ebenen
wahrnahmen. Die einzige Perspektive, die weitgehend unberücksichtigt blieb, war
das fremde politische System. Zwar wurden Beamte und Behörden zum Teil scharf
kritisiert, sie arbeiteten zu langsam, aber über Parteipolitik in Konstantinopel,
politische Stellenbesetzung bei türkischen Stäben oder Ränkespiele innerhalb des
türkischen Offizierkorps ist im Unterschied zu den Schilderungen der deutschen
Heeressoldaten
nichts
zu
finden.
Lediglich
wenn
das
Thema
der
„Armeniervertreibungen“ angeschnitten wird, erscheinen knappe Äußerungen
dazu.1226
Diese Zurückhaltung mag zum einen darin begründet liegen, daß die Flieger es nicht
als ihre Aufgabe ansahen, sich in die osmanische Politik einzumischen und damit das
deutsche Idealbild des „unpolitischen Offiziers“ wahren wollten. Zum anderen dürfte
einem Großteil der Flugzeugführer aber auch schlicht der Einblick in solche
politischen Vorgänge gefehlt haben. Im Unterschied zu deutschen Generälen oder
Generalstabsoffizieren handelt es sich bei den Piloten um Subaltern-Offiziere, die nur
1224
Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 11. Die ganze Beschreibung des Vorfalls erstreckt sich über
die Seiten 9-13.
1225
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 133.
1226
Siehe unten, S. 329.
320
bei
gesellschaftlichen
Anlässen
mit
den
politischen
Entscheidungsträgern
zusammentrafen, wenn sie überhaupt solche Persönlichkeiten zu Gesicht bekamen.
Zudem blieben die Angehörigen der deutschen Flieger-Abteilungen absichtlich unter
sich, zumal kaum die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit türkischen Offizieren
bestand. Es mag daher auch nicht verwundern, daß die häufigste Reaktion der
Deutschen auf die Andersartigkeit des Orients eher Ablehnung war als Anpassung.
Besonders Erich Serno weist immer wieder daraufhin, daß er lieber die „deutschen
Tugenden“ in der Türkei einführen wollte, als sich den örtlichen Gepflogenheiten
anzupassen. So schaffte er für das Personal der Luftstreitkräfte sämtliche (jüdischen,
islamischen und christlichen) Feiertage ab, denn im Krieg könne das nicht
berücksichtigt werden.1227 In einem stark religiösen Land, wie dem Osmanischen
Reich, wird diese Maßnahme, die zudem eindeutig ein Eingriff in die
Gepflogenheiten eines verbündeten Staates darstellt, kaum auf Gegenliebe gestoßen
sein. Ein Umstand, der Serno allerdings auch später nicht störte. Als er eine
osmanische Fliegerformation in der Nähe von Mekka inspizieren wollte, bedeutete
man ihm, daß „Ungläubigen“ – also Nicht-Muslimen – der Zutritt zu den heiligen
Orten des Islam verboten sei. Statt jedoch einen türkischen Offizier, zum Beispiel
seinen Adjutanten, mit der Aufgabe zu betrauen, verkleidete er sich als arabischer
Scheich und reiste dennoch nach Mekka.1228 Erneut setzte er sein deutsches
Dienstempfinden über die Gesetze des Landes. Es versteht sich von selbst, daß er
diesen Verstoß in seinem Bericht an den türkischen Generalstab nicht zugibt, sondern
von der Entsendung seines Adjutanten spricht.1229
Am deutlichsten macht der Chef der Luftstreitkräfte seine Einstellung gegenüber dem
„Türkentum“, wenn er über seine Ansicht der Sprachbarriere schreibt:
„Ich hatte mir aber zum Prinzip gemacht, im Dienst nur deutsch zu sprechen, das
glaubte ich unserem Deutschtum schuldig zu sein. [...] Das türkische Schreiben, das
damals ja noch in arabischer Schrift erfolgte, lehnte ich ab.“1230
Für
ein
„kameradschaftliches
Zusammenleben“
oder
eine
vielbesungene
„Waffenbrüderschaft“ sind solche Ansichten wenig geeignet. Der „Graben in den
1227
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 40.
Ebd., S. 139.
1229
MSg 1/231, Bericht Sernos über die türkischen Luftstreitkräfte, S. 22f.
1230
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 39.
1228
321
Köpfen“ wird zum Beispiel darin sichtbar, daß Oberleutnant Buddecke beim
Beziehen seiner Fliegerunterkunft auf Gallipoli feststellt, daß im Lager die türkischen
von den deutschen Unterkünften deutlich getrennt liegen oder Major Serno
gemeinsame Feiern von Deutschen und Türken mißbilligt.1231 In diesem
Zusammenhang muß auch das Erstaunen des Majors erwähnt werden, als er auf dem
Weg mit einer osmanischen Flieger-Abteilung nach Palästina dem Feldmarschall von
der Goltz begegnet, denn dieser begrüßt alle Flieger mit Handschlag und wechselt mit
dem türkischen Personal einige Worte auf Türkisch.1232 Eine solche Nähe eines
hochgestellten Offiziers ist für ihn in hohem Maße ungewohnt und die offensichtliche
Zuneigung des Feldmarschalls zu den Türken sogar noch verwunderlicher.
Angesichts derartiger Äußerungen der deutschen Flieger überrascht es nicht, daß
meist bei der Abreise aus dem Orient dem Freudengefühl, endlich wieder in die
Heimat zu kommen, freie Bahn gelassen wird. Lediglich der Abschied von den
(deutschen) Kameraden, mit denen man die Zeit in der Fremde verbrachte, fiel
schwer.1233 Doch dann ist es ausgerechnet Major Serno, der beweist, daß es auch
Kameradschaft und sogar Freundschaft zwischen türkischen und deutschen Fliegern
geben konnte. Mit seinem Adjutanten, Hauptmann Schakir, hielt er auch nach dem
Kriege noch Kontakt und beide Familien besuchten sich mehrfach gegenseitig,1234
eine Parallele zu der fortdauernden Freundschaft zwischen den kommandierenden
Offizieren des türkischen Torpedobootes „Muavenet-i-Millije“. Enge Kooperation
und persönliche Sympathie konnten demnach eine starke Vertrauensbasis bilden, die
offenkundige Vorurteile und negative Erfahrungen mit „den Türken“ überwinden
half. Diese engen persönlichen Beziehungen müssen jedoch als Ausnahmen
angesehen werden. Bei den in der Regel flüchtigen und seltenen Kontakten der
meisten Flieger mit türkischen Soldaten haben sich solche Beziehungen nicht
entwickelt. Daher ist der Abschied Sernos aus Konstantinopel eher ein Beispiel, wie
es hätte sein können:
„Ordnungsgemäß verabschiedete ich mich aber von meinen Türken [...]. Dieser
Abschied war schwer, es flossen Tränen. [...]
1231
Buddecke, El Schahin 1918, S. 74. MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 133.
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 102.
1233
Henkelburg, Kampfflieger 1917, S. 107f. Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 392-394.
1234
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 54.
1232
322
Sehr sehr schwer war der Abschied von meinem engeren Stabe, von meinen
Adjutanten und besonders von Schakir. In der kameradschaftlichen Weise brachten
sie mir noch Erinnerungsgeschenke und blieben bis zur Abfahrt des Dampfers bei
mir. Traurig recht traurig war die Abfahrt durch den Bosporus.“1235
1235
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 166.
323
Exkurs:
Die Armenierverfolgungen in der Wahrnehmung deutscher Soldaten
Das Vorgehen der osmanischen Führung gegen die armenische Minderheit ist bis
heute eines der meist debattierten Kapitel der Geschichte des Ersten Weltkrieges im
Orient. Schon die zeitgenössische Öffentlichkeit konnte die Ereignisse nicht einfach
übergehen, zumal besonders die „ententefreundliche“ Presse keine Gelegenheit
ausließ, um auf die Schrecken der Verfolgung einzugehen und eine deutsche
Mitverantwortung zu unterstellen. Diplomatische Kanäle der verbündeten und
neutraler Mächte (z.B. USA) waren bemüht, auf die Hohe Pforte einzuwirken, um
Gewalttaten zu verhindern. Die türkischen Stellen sperrten sich jedoch gegen alle
ausländischen
Interventionsversuche.
Ernst-Adolf
Mueller,
eingesetzt
als
„Sonderführer“ des deutschen Nachrichtendienstes im Osmanischen Reich1236,
formuliert:
„Der deutsche Botschafter wurde beim Innen-Minister vorstellig, verwahrte sich
gegen diese Vorgänge, wurde aber belehrt, daß man in Istambul von solchen
Vorgängen nichts wisse, also auch nichts unternehmen könne.“1237
Von strenger Geheimhaltung des später von diversen Staaten offiziell als Völkermord
deklarierten Geschehens kann demnach keine Rede sein, denn auch wenn nur wenige
Deutsche damals als Augenzeugen in den betroffenen Gebieten waren, so mußten
1236
Siehe zu Funktion und Stellung Muellers unten, S. 360f.
HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 30.
Neben der staatlichen Diplomatie mühten sich auch kirchliche Vertreter um eine deutsche Intervention
gegen Massaker an Christen. Der päpstliche Nuntius in München erreichte, daß die bayerische
Gesandtschaft offiziell beim Kaiser in Berlin vorstellig wurde (Ministerial Erlaß Nr. 29329/1091 vom
13. Nov. 1915). Der Reichskanzler und das Auswärtige Amt protestierten scharf über die Botschaft in
Konstantinopel bei der Hohen Pforte und verlangten die Einstellung der Mordtaten. Allerdings äußerte
der Unterstaatssekretär Zimmermann (Auswärtiges Amt) in einem vertraulichen Schreiben an den
königlich bayerischen Oberhofprediger Dryander wenig Hoffnung auf Erfolg:
„Leider wird uns unsere Aufgabe durch die Hetzarbeit unserer Gegner erschwert, die erst die
Armenier durch Gold und Versprechungen zur Auflehnung gegen die türkische Regierung verführt
haben und jetzt – angeblich zum Schutz ihrer Opfer, in Wirklichkeit zu eigennützigen politischen
Zwecken – eine Propaganda entfachen, die der Erbitterung der Türken immer neue Nahrung zuführt.
Wenn die engliche Presse dem armenischen Volk öffentlich als dem „siebenten Bundesgenossen“
huldigt, der von Kriegsbeginn an ohne Zögern noch Feilschen auf der Seite der Entente gefochten
habe (Daily Chronicle vom 23. September), so kann sie sich nicht wundern, daß die Türkei darin eine
Rechtfertigung ihres Verhaltens erblickt und ihre Neigung zur Duldsamkeit sich verringert.“
Abschrift eines Vertraulichen Schreibens von Zimmermann an Dryander vom 10.10.1915, HStA
München MA 97651. Im gleichen Akt findet sich auch der weitere Schriftverkehr zur Intervention des
päpstlichen Nuntius und der bayerischen und deutschen Regierung.
1237
324
sich doch zumindest Berichte oder Gerüchte über die blutigen Vertreibungen
herumgesprochen haben.
Dennoch widmet diese Arbeit dem Themenkomplex „nur“ einen Exkurs: Zum einen
weil die Problematik das Untersuchungsgebiet nur marginal berührt und deshalb nur
knapp zu skizzieren ist, um nach etwaigen Auswirkungen auf die deutschen Soldaten
zu fragen.1238 Zum anderen steht die Arbeit unter dem Aspekt der Wahrnehmung des
türkischen Verbündeten durch deutsche Soldaten, und auf diese hatten die Metzeleien
an der armenischen Bevölkerung kaum nachweisbare Auswirkungen. In den
Aufzeichnungen und Memoiren, die nach dem Kriege veröffentlicht wurden, finden
sich zwar häufig Passagen, die Massaker an der armenischen Minderheit – mehr oder
minder scharf – verurteilen, doch liegen keine Informationen, geschweige denn
amtliche Schriftstücke vor, aus denen hervorginge, daß die Zusammenarbeit durch
die Ereignisse konkret beeinflußt worden wäre. Das bedeutet nicht, daß die Ereignisse
von deutschen Soldaten gar nicht wahrgenommen und angesprochen worden wären.
Georg Mayer überreichte dem bayerischen Kriegsministerium offenbar nach seiner
Rückkehr aus dem Osmanischen Reich (Oktober 1915) unter anderem eine knappe
1238
Zur Diskussion über die Armenierverfolgungen siehe einführend: Kieser, Hans-Lukas/Plozza,
Elmar (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich 2006. Gust,
Wolfgang (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 – Dokumente aus dem Politischen
Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005. (Im Folgenden: Gust, Der Völkermord 2005.)
Baum, Wilhelm: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten. Geschichte – Völkermord –
Gegenwart, Klagenfurt/Wien 2005. (Im Folgenden: Baum, Die Türkei und ihre christlichen
Minderheiten 2005.) Aufgrund der ideologisch höchst aufgeladenen Diskussion um die Ereignisse im
Osmanischen Reich ist es äußerst schwierig, Literatur zu benennen, die auf wissenschaftlich
methodischem Weg zu einem abgewogenen Urteil gelangt. Schon der Terminus „Völkermord“ wird
bis heute von der Türkei abgelehnt. Es kann demnach nicht verwundern, daß die oben genannten
Werke dem „türkeikritischen“ Milieu zuzuordnen sind. Spätestens seit dem Bundestagsbeschluß, die
osmanischen Gewalttaten offiziell als „Genozid/Völkermord“ zu bezeichnen, ist deutschsprachige
Literatur zur Gegenposition kaum noch zu finden. Schon vorher wurde die Position einer
Verharmlosung oder gar Leugnung der Geschehnisse hauptsächlich in der türkischsprachigen
Forschung vertreten. Jüngere Bemühungen, beide Parteien zu gemeinsamen Konferenzen und einer
internationalen Forschungsdiskussion zu bewegen, haben häufig mit dem Problem vorurteilsbehafteter
Meinungsbildung zu kämpfen. Dazu das Vorwort in: Adanır, Fikret/Bonwetsch, Bernd (Hrsg.):
Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus – Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19.
und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. VII.
Eine aufschlußreiche Detailstudie bietet Martin Tamcke, der eine Arbeit über den Augenzeugen Armin
Wegner verfaßte und klar zwischen „Anspruch und Wirklichkeit“ der vermeintlichen „Augenzeugenberichte“ unterscheidet. Offenbar waren Schilderungen der Ereignisse Wegners – eines
kriegsfreiwilligen Sanitäters – zu einem bedeutenden Teil durch Hörensagen beeinflußt und beruhten
nur zum Teil auf eigenen Erfahrungen. Tamcke, Martin: Armin T. Wegner und die Armenier –
Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen, Hamburg 1996.
Zur Vorgeschichte der Geschehnisse: Saupp, Norbert: Das Deutsche Reich und die armenische Frage
1878-1914, Köln 1990.
325
Schilderung über „Die Armeniergreuel 1914/15“. Darin beschreibt er die Ermordung
und Verschleppung nicht nur von Armeniern, sondern auch von anderen religiösen
Minderheiten in telegrammartigem, aber eindrücklichen Stil. Sein Urteil über die
türkischen Verantwortlichen fiel dementsprechend aus:
„Hier [Khinis] als Wali: Dscheved, Schwager von Enver, energisch, elegant Halil
Truppenkommandeur Onkel von Enver. Befehl Halils, alle männlichen Armenier von
12-70 Jahren zu ermorden. [...] Tchefik [sic], Gouv.v.Baschk. Mörder.“1239
Interessanterweise findet sich in demselben Konvolut von Berichten des bayerischen
Mediziners ein Aufsatz über Flecktyphus im Osmanischen Reich und seine
Auswirkungen auf den Krieg. Darin beschreibt er, wie die türkischen Behörden
armenische Untertanen „umsiedelten“. Dagegen protestierte er auf das Schärfste,
jedoch nicht etwa aus „Menschenfreundlichkeit“, sondern weil die Gefahr der
Verbreitung von Epidemien durch die „verwahrlosten Züge von Vertriebenen“ sich
auch auf die türkischen Truppen, also auf seinen Aufgabenbereich des Sanitätswesens
auswirken könnten. Trotz mehrmaliger Intervention bei Enver Pascha persönlich
findet er kein Gehör. Der osmanische Kriegsminister soll ihm sogar gesagt haben:
„Nun, dann sterben sie eben!“1240
Obwohl er eine solch zynische Antwort bekam und obwohl sein Dienst alles andere
als konfliktfrei verlief, beeinflußten die Ereignisse sein Bild vom osmanischen
Verbündeten nicht nachweislich. Er spricht weiterhin vom „tapferen Türkenvolk“ und
auch seine teils sehr harte Kritik an verschiedenen Personen bezieht sich auf
dienstliche Vorgänge.1241
Ein weiteres Beispiel für geringe Auswirkungen auf das Urteil über die Verbündeten
bieten die Briefe des deutschen Majors (später türkischen Obersten) Eberhard Graf
Wolffskeel von Reichenberg.1242 Dieser war vornehmlich in Syrien eingesetzt, wo er
in Damaskus als Militärattaché fungierte. Wolffskeel war während seiner Dienstzeit
1239
Schreiben Georg Mayers „Die Armeniergreuel 1914/15“ o. Dat., KA München HS 2049, S. 2f.
Bericht von Georg Mayer „Der Flecktyphus in der Türkei im Weltkrieg“ o. Dat., KA München HS
2049, S. 15.
1241
Zum „tapferen Türkenvolk“ siehe: Bericht von Georg Mayer „Der Flecktyphus in der Türkei im
Weltkrieg“ o. Dat., KA München HS 2049, S. 16.
1242
Zur Verwendung Graf Wolffskeels siehe die Angaben bei: MSg 2/3284, Deutsche Offiziere in der
Türkei, Blatt 16.
1240
326
maßgeblich an Polizeiaktionen gegen die armenische Bevölkerung in verschiedenen
Orten beteiligt. So entsandte er beispielsweise eine verhältnismäßig große Abteilung
(4 Infanteriebataillone, mehrere Kavallerieschwadronen und eine Artilleriebatterie)
nach Zeitum1243, um eine – seiner Ansicht nach aufrührerische – Versammlung
bewaffneter Armenier, die „Räuberbanden“ Unterschlupf gewährt hätten, aufzulösen.
Die Aktion führte zum gewünschten Ergebnis, aber dennoch sah er anschließend die
Notwendigkeit zum Erlaß eines Befehls, der der muslimischen Zivilbevölkerung jede
Anwendung von Gewalt gegen die Armenier untersagte und allen friedlichen Bürgern
den Schutz der Armee zusagte;1244 unbegründet dürfte die Maßnahme wohl kaum
gewesen sein. Wenig später schreibt er auch über Gefechte gegen „Beduinen“ und
einen größeren Kampf gegen armenischen Bewaffnete, die sich an der Küste bei
Antiochia verschanzt hätten. Mit unverhohlenem Zynismus beschreibt er, daß sich die
Zivilisten dorthin vor den Maßnahmen der türkischen Behörden geflüchtet hätten,
allerdings mit zahlreichen Gewehren bewaffnet wären und zudem schwere
Artillerieunterstützung durch 6 französische Kreuzer vor der Küste gehabt hätten.1245
Aus seiner Sicht stellten diese Bewaffneten, zumal sie von der Entente unterstützt
wurden, eine Gefahr im Rücken der osmanischen Fronten dar. Nach der Evakuierung
der Armenier durch die Kriegsschiffe der Entente schrieb er in einem Privatbrief an
seinen Vater:
„Über die Berechtigung u. Wert der ursprünglichen Maßregel der Türken gegen die
Armenier kann man verschiedener Ansicht sein. [...]
An sich sind mir diese ewigen innenpolitischen Sachen widerwärtig, wie Du Dir
denken kannst, u. ein Ruhmesblatt der Türkei bildet die ganze Armenierfrage weiß
Gott nicht.
1243
Er selbst wählt diese Schreibweise. Es finden sich auch andere, wie etwa „Zeytun“ oder „Sejtun“.
Gemeint ist jedoch jedesmal eine Ortschaft im Bezirk Damaskus.
1244
Brief Eberhard Graf Wolffskeels an seinen Vater aus Damaskus vom 30.3.1915, BAMA Freiburg
N 138/32.
1245
Offenbar hatten sich in diesen Bergen an der Küste tatsächlich etwa 5.000 Armenier verschanzt.
Diese erhielten Waffen, Munition und Verpflegung von den vor der Küste kreuzenden Schiffen der
Entente (4 französische und ein britisches). Die Belagerung dauerte etwa anderthalb Monate (21.7.12.9.1915), bis sich die Admiralität des Marineverbandes darauf einigte, die Flüchtlinge nach Ägypten
zu evakuieren. Die Depesche des britischen Außenministers, diese Aktion auf keinen Fall
durchzuführen, traf erst ein, als die 4.058 Evakuierten bereits in Port Said waren. Baum, Die Türkei
und ihre christlichen Minderheiten 2005, S. 100.
327
Die Leute sind in ihrer ganzen Auffassung in ihrer inneren Politik eben mindestens
um 300 Jahre zurück.“1246
Hier wird – wie auch bei Georg Mayer – deutlich, daß zwar die Massaker an den
Armeniern wahrgenommen wurden, sie aber nicht in wesentlichem Maße negativ auf
die Meinung der Deutschen über den Verbündeten wirken. Wolffskeel muß schon vor
Dienstantritt in der Türkei keine allzu hohe Meinung von seinem neuen Einsatzgebiet
gehabt haben, denn er lehnte eine Versetzung in den Orient entschieden ab, fügte sich
aber schließlich der dienstlichen Entscheidung, zumal Liman persönlich ihm
zusicherte, daß Wolffskeels „Vertrag“ mit der Militärmission nur solange festgelegt
sei, wie der Krieg es erfordere.1247 Die Kämpfe gegen die „armenischen
Aufständischen“ fielen für ihn allerdings in den Bereich der „Dienstpflichten“ und so
hatte er offenbar keine Bedenken, im Hinterland „für Ordnung zu sorgen“, auch wenn
ihm der innenpolitische Konflikt, „widerwärtig“ war. Die Vorgänge passten
anscheinend nicht in sein durch militärische Sozialisation und offizielle Politikferne
geprägtes Kriegsverständnis, auch wenn seine Dienstauffassung ihm nicht erlaubte,
Befehle zu verweigern. Dieses Verhalten hat Wolffskeel zum Ziel zahlreicher,
harscher Kritik gemacht und er wird kurzerhand oft als bestes Beispiel für die
„deutsche Mittäterschaft“ am Völkermord angeführt.1248 Es ist allerdings nicht
Aufgabe dieser Arbeit, darüber zu urteilen, zumal die Forschungsdiskussion
angesichts spärlicher Quellen zur Haltung deutscher Militärs noch lange nicht
abgeschlossen zu sein scheint.1249
Anderen Deutschen läßt sich sogar ein (zumindest temporäres) Engagement für den
Schutz der Verfolgten nachweisen. So sollen etwa Liman von Sanders und Freiherr
1246
Brief Eberhard Graf Wolffskeels an seinen Vater aus Damaskus vom 15.9.1915, BAMA Freiburg,
N 138/32.
1247
Brief Liman von Sanders´ an Eberhard Graf von Wolffskeel vom 6.7.1915, BAMA Freiburg N
138/36.
1248
Als Beispiel hierfür: Kaiser, Hilmar (Bearb.): Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg –
Zeitoun, Mousa Dagh, Ourfa. Letters on the Armenian genocide, Princeton [u.a.] 2004. Auch
Wolfgang Gust und in der Einleitung zu seinem Buch der Direktor des Zoryan-Instituts für GenozidStudien in Toronto, Vahakn Dadrian, kommen zu ähnlichen Ansichten. Dadrian, Vahakn: Einleitung,
in: Gust, Der Völkermord 2005, S. 13. Gust, Der Völkermord 2005, S. 89.
1249
Hilmar Kaiser verweist darauf, daß die schwierige Quellenlage „eine abschließende Bewertung der
Rolle deutscher Soldaten vorerst nicht möglich“ macht. Kaiser, Hilmar: Die deutsche Diplomatie und
der armenische Völkermord, in: Adanır, Fikret/Bonwetsch, Bernd (Hrsg.): Osmanismus,
Nationalismus und der Kaukasus – Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20.
Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 205.
328
von der Goltz Deportationen in ihrem unmittelbaren Befehlsbereich unterbunden
haben.1250
Es überrascht auch kaum, daß viele Deutsche nach dem Krieg in ihren
Aufzeichnungen mit der Verurteilung der Verbrechen an der armenischen
Zivilbevölkerung nicht sparten.
Erich Serno zeigt zwar gewisses Verständnis für die Furcht der osmanischen
Behörden vor einem umfassenden armenischen Aufstand, kritisiert aber klar die
unmenschliche Durchführung der „Umsiedlungen“.1251 Kreß von Kressenstein
bezeichnete das türkische Vorgehen als „grausig, unbegreiflich und empörend“1252
und der Flugzeugführer Richard Euringer beschreibt, wie er auf der Bahnfahrt von
den Gerüchten über die Vertreibungen erfahren habe:
„Aber Mord! Massenmord an wehrlosen Völkerschaften!? Nein, wir wollten es nicht
glauben.“1253 Und wie zum Beweis der „Ungläubigkeit“ geht Euringer schnell wieder
zu Reise- und Landschaftsbeschreibungen über.1254
Demnach ist es unstrittig, daß deutsche Soldaten und Offiziere im Orient von dem
brutalen Vorgehen gegen die Armenier erfuhren und manche sogar Augenzeugen
wurden, denn die Massaker beschränkten sich nicht nur auf die entlegenen
Kaukasusregionen. Die Ereignisse waren aus deutscher Sicht „unvorstellbar“ oder
aber – im Falle von Augenzeugen – „grausames Morden“. Doch neben den Schrecken
der
blutigen
Verfolgungen
mußten
die
Deutschen
auch
ihre
begrenzten
Einflußmöglichkeiten auf das Geschehen erkennen. Die „Umsiedlungsmaßnahmen“
wurden
zum
größten
Teil
von
Jandarma-Truppen
durchgeführt,
die
als
paramilitärische Polizeitruppen bekanntlich dem osmanischen Innenministerium
unterstanden. Damit waren sie dem Einflußbereich des Kriegsministeriums und der
Militärmission offiziell entzogen. Das bedeutete aber nicht, daß ein deutscher
1250
Gencer, Mustafa: Die Armenische Frage im Kontext der deutsch-osmanischen Beziehungen (18781915), in: Adanır, Fikret/Bonwetsch, Bernd (Hrsg.): Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus –
Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 198.
(Im Folgenden: Gencer, Die Armenische Frage 2005.) Bemerkenswerterweise wird Goltz von
armenischer Seite aber zugleich als „Mitbegründer“ der Idee ethnischer Säuberung der Türkei
bezeichnet. Dadrian, Vahakn: Einleitung, in: Gust, Der Völkermord 2005, S. 11.
1251
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 103f.
1252
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 138.
1253
Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 97.
1254
Euringer berichtet zwar noch von Alpträumen, die er und seine Kameraden in der folgenden Nacht
gehabt hätten, doch bleibende Auswirkungen auf Verhalten und Einstellung der Deutschen sind nicht
erkennbar.
329
Kommandeur oder Generalstabschef einer osmanischen Armee auf solche Vorgänge
in seinem Befehlsbereich nicht hätte reagieren können. Liman von Sanders etwa
verhinderte im Herbst 1916 durch scharfen Protest und Androhung von Waffengewalt
gegen die durchführenden Polizisten Vetreibungen in Smyrna.1255 Der deutsche
Missionschef besaß jedoch aufgrund seiner Funktion und der Tatsache, daß er der
türkischen Führung als „schwierige Persönlichkeit“ galt, eine Ausnahmestellung.
Freiherrn von der Goltz etwa, der in Mosul eine ähnliche Aktion durch Androhung
seines Rücktritts verhindern konnte, wurde vom osmanischen Kriegsministerium sehr
deutlich gemacht, daß er damit seine Kompetenzen überschritten habe und ein
Wiederholung solcher Einmischung nicht geduldet werden würde.1256 Die Hohe
Pforte verwahrte sich deutlich gegen die Versuche der verbündeten Offiziere, Einfluß
auf „innertürkische Angelegenheiten“ zu nehmen, sondern erwartete, daß diese sich
auf ihren dienstlichen Auftrag beschränkten. Der deutsche Kriegsherr hatte seinen
Soldaten zwar genau diese Weisung mit auf den Weg gegeben, doch war damit kaum
die Billigung oder gar Unterstützung von Massakern an der Zivilbevölkerung
impliziert. Für die deutschen Offiziere hätte ein Widerspruch gegen die offiziell
sanktionierten Maßnahmen demnach einen Verstoß gegen den Auftrag des Kaisers
bedeutet, der allerdings innerhalb ihres Ermessensspielraumes gelegen haben dürfte.
Effektives Einschreiten hätte jedoch einer wesentlich stärkeren Machtposition
deutscher Militärreformer im Osmanischen Reich bedurft. Die erfolgreichen
Interventionen herausragender Persönlichkeiten wie Liman und Goltz sind
Ausnahmen, die einen Einfluß dokumentieren, den nur sehr wenige deutsche
Offiziere besaßen. Zudem waren die deutschen Kommandeure und Stabsoffiziere in
den betreffenden Regionen zumeist so verstreut eingesetzt, daß sie stets aus
Eigeninitiative hätten handeln müssen, also ohne Billigung ihrer Vorgesetzten. Liman
von Sanders, als ranghöchster Deutscher und Vorgesetzter der Offiziere der
Militärmission, beschränkte sich jedoch auf das Eingreifen in Smyrna und befahl
nicht etwa, solche Zwangsmaßnahmen generell zu unterbinden. Ihm muß bewußt
gewesen sein, daß die Angehörigen der Mission selbst als Divisionskommandeure gar
1255
Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 195f. Wallach bezeichnet den kaum selbstverständlichen
Erfolg Limans zu Unrecht als „unbedeutende Einmischung“. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe
1976, S. 207.
1256
Gencer, Die Armenische Frage 2005, S. 198.
330
nicht über die Mittel verfügten, Vetreibungen zu verhindern. Zu groß war der
Personalmangel an den Fronten und zu anspruchsvoll schon jetzt der militärische
Auftrag, der mit unzureichenden Mitteln bewältigt werden sollte. Ganz zu schweigen
davon, daß die osmanischen Armeechefs und Oberbefehlshaber kaum den Abzug
wertvoller Truppen gestattet hätten, um Einheiten des Innenministeriums zu
„bekämpfen“.
Der
ernsthafte
Versuch
deutscherseits,
seiner
moralischen
Verpflichtung
nachzukommen und die Vertreibungen zu unterbinden, hätte das deutsch-türkische
Bündnis ernsthaft gefährden können. Unter militärischen Gesichtspunkten konnte
sich Deutschland einen solchen Rückschlag keineswegs leisten, besonders nach dem
Beitritt Italiens und Rumäniens zur Entente.
Die deutschen Soldaten im Osmanischen Reich befanden sich demnach in einer
äußerst schwierigen Situation, die nur wenige Handlungsoptionen, dafür aber
mannigfaltigen politische Implikationen bot. Angesichts eines Dilemmas, das
zahlreiche Offiziere überfordert haben dürfte, stellte sich seitens der Militärberater
häufig Resignation ein. Daher nahmen viele – darunter auch der oben genannte Graf
von Wolfskeel – die Maßnahmen der türkischen Regierung als „Kriegsübel“ hin,
auch wenn ihnen der verbrecherische Charakter vor Augen trat. Oberst Gerold von
Gleich
schreibt
als
Augenzeuge
der
Verschleppung
der
armenischen
Zivilbevölkerung über die Situation deutscher Offiziere:
„Unser deutsches Gefühl empörte sich über solche Grausamkeit. Auch wenn die
Armenier wirklich die Gauner und Betrüger gewesen wären, als welche sie von
unserer
türkenfreundlichen
Propaganda
hingestellt
wurden,
waren
solche
Niederträchtigkeiten unerhört. [...] Wir Offiziere waren natürlich machtlos gegen die
türkischen Zivilbehörden, die überdies versicherten, sie würden die von der
Regierung befohlenen Maßnahmen so milde wie möglich ausführen. Für uns war es
schon schwierig genug, auf rein militärischem Gebiet einigermaßen Einfluß gegen
den passiven Widerstand zu gewinnen, in dem der Orientale Meister ist. Auch wird
jedes noch halbwegs selbständige Staatswesen Einmischungen Fremder in
innerpolitische Angelegenheiten unbedingt verhindern.“1257
1257
Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 91f.
331
Aus dieser Äußerung spricht das Gefühl der Machtlosigkeit gegen einen fremden
Staatsapparat, in dem – anders als in einem besetzten Gebiet – nicht die
Zivilverwaltung und die Polizei den militärischen Interessen nachgeordnet waren und
mit dem man auf Zusammenarbeit angewiesen war.1258
Die Deutschen reagierten auf diese beklemmende Situation offenbar mit Resignation
oder Verdrängung der schrecklichen Geschehnisse, zumindest solange der Krieg die
Zusammenarbeit erforderte. Zum ohnehin meist negativen Bild vom osmanischen
Verbündeten scheint das Vorgehen nur einen weiteren Aspekt hinzugefügt zu haben.
Dies erklärt auch die fehlenden Hinweise auf eine Verschlechterung der Kooperation,
obwohl viele spätere Veröffentlichungen von „Orientkämpfern“ zeigen, wie sehr sie
die Vorgänge als verabscheuungswürdig erachteten.
1258
Trotz des hohen gesellschaftlichen Einflusses des osmanischen Militärs blieben auch deutsche
Träger der osmanischen Uniform „Fremde“ im Land. Die strikte Ablehnung deutscher Einmischung
durch die türkische Regierung wird auch deutlich an der Abberufung des deutschen Botschafters, der
an der Hohen Pforte durch ständige Proteste in Ungnade gefallen war. Pomiankowski, Der
Zusammenbruch 1928, S. 175f.
332
V. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Fehlverhalten und
Leistungen der Deutschen im Orient
Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt worden ist, welche Eindrücke
die Deutschen von ihrem osmanischen Bündnispartner gewannen und mit welchem
Unverständnis sie den fremden Kulturen und den Eigenarten „des Orients“ gegenüber
standen, erscheint es geboten, ergänzend und detaillierter die deutschen
Verhaltensweisen zu untersuchen. Die Bemerkungen über die Vorbildung,
Ausbildung oder Motivation der deutschen Offiziere – und diese zeichnen nun einmal
für den weitaus größten Teil der Quellen verantwortlich – sollen hier nicht wiederholt
werden. Ebenso kann an dieser Stelle keine Charakterisierung „des deutschen
Soldaten“ geliefert werden, da vor dem Hintergrund der Wehrpflicht im Deutschen
Reich und der Anzahl der Mannschaften solche Ausführungen kaum zuverlässige
Angaben erbringen würden. Selbstverständlich ist dies eine Selbstbeschränkung, die
sich die deutschen Militärangehörigen gegenüber „dem türkischen Soldaten“ nicht
auferlegten. Es wäre jedoch verfehlt, an dieser Stelle ein „gegeneinander Aufrechnen“
von Fehlern zu versuchen. Vielmehr soll dargestellt werden, daß auch die deutsche
Seite durchaus Schwierigkeiten hatte, ihrem Selbstbild zu entsprechen.
V.1. „Abgesondert von aller Zivilisation“ – Deutsche Mannschaften und
Unteroffiziere
Zu
Anfang
des
Ersten
Weltkrieges
war
die
Anzahl
der
deutschen
Mannschaftsdienstgrade, die im Dienste des Sultans standen, noch leicht
„überschaubar“. Obwohl keine genauen Zahlenangaben für die Heeressoldaten
vorliegen, kann aus der Funktion der Militärmission gefolgert werden, daß die
deutschen Bundesstaaten hauptsächlich Offiziere für die Reformaufgaben an den
Bosporus entsandten. Die weitaus meisten „einfachen Soldaten“ oder Unteroffiziere
befanden sich auf den beiden deutschen Schiffen „Goeben“ und „Breslau“, die
offiziell Teil der türkischen Marine waren. Hinzu kamen noch einige Schreiber und
Etappenangehörige, die für den Bürodienst und die Versorgungsaufgaben innerhalb
der Militärmission zuständig waren. Die Mitnahme von Burschen war den deutschen
333
Offizieren der Mission untersagt.1259 Das hinderte die Offiziere allerdings nicht daran,
sie dennoch mitzunehmen und zum Teil sogar getarnt als angeblich „wichtige
Mechaniker“ regelrecht in die Türkei zu schmuggeln.1260 Die Menge der
Mannschaften und Unteroffiziere stieg ab dem Jahre 1916 merklich an, da nun auch
deutsche Fliegerabteilungen in den Orient verlegt wurden, die zahlreiche Mechaniker
mitführten, und da eine steigende Anzahl deutschen Militärpersonals zugleich mehr
logistischen Aufwand bedeutete, waren auch mehr Soldaten in der Etappe eingesetzt.
Bis zum August 1916 sollen etwa 5.900 Soldaten in den Orient verlegt worden sein.
Den Höhepunkt erreichte die deutsche Truppenpräsenz im Jahre 1918, als neben den
Fliegerabteilungen, den Marinesoldaten und dem stetig wachsenden Etappenbereich
die Formationen der Heeresgruppe F und die Einheiten im Kaukasus an den Fronten
des Osmanischen Reiches erschienen. Im letzten Kriegsjahr betrug die Stärke der hier
eingesetzten Deutschen zwischen 20.000 und 25.000 Mann, wobei Offiziere und
Militärbeamte eingerechnet sind.1261
Angesichts des steigenden Personaleinsatzes, vermag es kaum zu überraschen, daß
auch die Zahl von Fehltritten im Orient unerfahrener Soldaten zunahm. Das
Verhalten der deutschen Soldaten erlaubt dabei Rückschlüsse auf deren Einstellung
zum Dienst im Orient sowie zum osmanischen Verbündeten. Um Regelverstöße und
Abweichungen von dienstlichen Vorgaben einschätzen zu können, müssen die
Garnisonsbefehle aus Konstantinopel und die Tagesbefehle der osmanischen Marine
analysiert werden. Ebenso sind für die späteren Kriegsjahre die wenigen erhaltenen
Tagesbefehle der Heeresgruppe F und der „Yildirim“-Formationen sowie der 6.
osmanischen Armee in Mesopotamien heranzuziehen. Hierbei ist zu beachten, daß
Vergehen schon eine größere Bedeutung beigemessen werden mußte, damit diese
Eingang in die Garnisonsbefehle fanden und somit auch (teil-)öffentlich gemacht
wurden. Diese Bekanntmachungen lassen erkennen, daß deutsche Soldaten sich
Fehlverhaltens in verschiedenen Bereichen schuldig machten. Zuerst zu nennen wäre
der Bereich, der die Disziplin innerhalb der deutschen Streitkräfte abdeckte. An
1259
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 19.
Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 22. Euringer, Vortrupp „Pascha“ 1937, S. 40.
1261
Vergleiche: Erickson, Ordered to Die 2001, S. 233 und Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976,
S. 253.
1260
334
mehreren Stellen werden etwa die Fälschung von Urlaubsscheinen,1262 unerlaubtes
Entfernen von der Truppe1263 oder nachlässiges Verhalten gegenüber vorgesetzten
Offizieren erwähnt.1264
Ein nicht unwesentliches Problem der (Selbst-)Disziplin
führte zu besonders scharfen Sanktionen gegen die Truppe: Die rasante Verbreitung
von Geschlechtskrankheiten. Bereits seit dem Frühjahr 1915 finden sich ständig
Hinweise zur Vorbeugung gegen eine Ansteckung in den Befehlen, wobei eine
besonders wichtige Form der „Prophylaxe“ das Verbot näheren Kontakts mit Frauen
– insbesondere jenen „mit leichtem Umgang“1265 – auf dem orientalischen
Kriegsschauplatz sein sollte.1266 Außerdem hatten sich deutsche Soldaten nach jedem
Geschlechtsverkehr unverzüglich einer truppenärztlichen Behandlung zu unterziehen.
Die Unterlassung war ebenso strafbar wie die „geheime“ Behandlung durch türkische
Zivil-Ärzte.1267 In Konstantinopel wurde der Besuch bestimmter Lokale untersagt.
Zudem setzte man Zivilstreifen ein, die die Einhaltung der Verbote überprüfen
sollten.1268 Doch die Maßnahmen der Kommandobehörden zeigten nur sehr begrenzte
Wirkung; als zudem im Rahmen des Unternehmens „Yildirim“ die ersten größeren
deutschen Formationen auf dem Kriegsschauplatz eintrafen, nahm die Zahl der
Erkrankungen noch einmal stark zu. Liman von Sanders beklagt in einem
vertraulichen Bericht vom Mai 1918, daß insgesamt 572 Mann erkrankt seien.1269
Daher griffen deutsche Befehlshaber zu drakonischen Strafmaßen, um die
Dienstfähigkeit der Soldaten zu erhalten. Der Generalstabschef der osmanischen 6.
Armee, Oberstleutnant Paraquin, ordnete in einem Tagesbefehl an:
1262
Tagesbefehl Nr. 155 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel [1916], KA München, HS
2255.
1263
Flotten-Tages-Befehl Nr. 82, Konstantinopel 21.6.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 111.
1264
Anlage zum Flotten-Tages-Befehl Nr. 93, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 125. Tagesbefehl
der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 12.6.1916, KA München, HS 2255.
1265
Garnisonsbefehl Nr. 13, Konstantinopel 14.11.16, KA München, HS 2254.
1266
Flotten-Tages-Befehl Nr. 37, Konstantinopel 29.3.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 52.
Flotten-Tages-Befehl Nr. 165, Konstantinopel 18.11.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 209.
Tagesbefehl Nr.25 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 9.8.1917, KA München HS 2255.
1267
Allgemeine Garnisonbestimmungen für Konstantinopel, Punkt II.6., KA München HS 2254.
1268
Flotten-Tages-Befehl Nr. 19, Konstantinopel 13.2.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 30.
Allgemeine Garnisonbestimmungen für Konstantinopel, Punkt II.9., KA München HS 2254.
1269
Tagesbefehl Nr.13021 des deutschen Anteils „Jildirim“ (Vertraulich!) vom 27.5.1918, BAMA
Freiburg, RM 40/ 632, Blatt 12.
335
„Es ist allen Unteroffizieren und Mannschaften durch Offiziere bekannt zu geben,
dass Leute, die geschlechtkrank geworden sind, ein Jahr keinen Urlaub zu erwarten
haben.“1270
Die Militärmission gab sogar den Befehl aus, daß Erkrankten der Genesungsurlaub
gestrichen und Genesenen nur nachrangig Urlaub genehmigt werden solle. Außerdem
wurden
Truppenteile
mit
besonders
hohem
Geschlechtskrankenstand
bei
Auszeichnungen „weniger berücksichtigt“; Liman von Sanders drohte den
Formationen in Syrien und Palästina gar mit einem vollständigen Auszeichnungsstop
und „Zusatzbeschäftigung“ gegen die offenkundige Langeweile.1271
Das Problem war demnach gravierend für die deutschen Truppen im Orient. Das
Bedürfnis des Soldaten nach „Ablenkung“ ließ sich offenbar nicht durch vereinzelte
Soldatenheime befriedigen und anders als an der Westfront hatten die Deutschen
nicht die Möglichkeit, vom Militär kontrollierte Bordelle einzurichten.1272 Solche
„Etablissments“ drohten zudem das Ansehen Deutschlands im Ausland zu
beschädigen, was die Verantwortlichen – zumindest offiziell – unbedingt zu
verhindern suchten. Hauptmann von Aulock, der Kommandeur der osmanischen
Flieger-Abteilung 2 in Mesopotamien, forderte daher generell „Mannschaften von
guter Führung und gutem Benehmen und Aussehen, wegen des Ansehens bei der
Bevölkerung“.1273
Aus eben diesem Grunde untersagte Liman von Sanders auch den massenhaften
Ankauf von „Andenken“ auf den Basaren, denn während des ortsüblichen
„Feilschens“ sei es „mehrfach zu unangenehmen Zwischenfällen gekommen, die das
1270
Tagesbefehl Nr. 20 für den deutschen Anteil der türkischen 6. Armee vom 10.6.1918, BAMA
Freiburg, PH 5 I/ 105.
1271
Tagesbefehl Nr. 56 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 24.7.1918, KA München, HS
2255. Tagesbefehl Nr.13021 des deutschen Anteils „Jildirim“ (Vertraulich!) vom 27.5.1918, BAMA
Freiburg, RM 40/ 632, Blatt 12.
1272
Nach 1915 wurde offenbar auch an der Westfront die Gefahr der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten so groß, daß dort von der Militärverwaltung Bordelle eingerichtet wurden, in denen
sowohl die Frauen als auch die Soldaten ständiger medizinischer Kontrolle unterlagen. Dennoch blieb
„Gelegenheitsprostitution“ ein weiterer Bestandteil des „Lebens hinter der Front“. Siehe zu diesem
Themenfeld: Fasse, Alexander: Neben den Kampfhandlungen – Der Alltag deutscher Soldaten an der
Westfront 1914-18. Ruhe-, Ausbildungs- und Erholungsphasen [unveröffentlichte Magisterarbeit],
Münster 2002, S. 74-78.
1273
Technische Notizen für Ausrüstung und Transport von Fl.Abt. in Mesopotamien (Geheim!) vom
5.8.1917, KA München, Flieger und Luftschiffer 52.
336
deutsche Ansehen geschädigt haben“.1274 Mit solchen „Zwischenfällen“ konnten nur
Handgreiflichkeiten zwischen deutschen Soldaten und dem jeweiligen Händler
gemeint gewesen sein. Dies wird deutlich, wenn man einen weiteren – zeitlich
allerdings späteren – Tagesbefehl der Militärmission einbezieht:
„In letzter Zeit ist es in zahlreichen Fällen vorgekommen, dass deutsche
Heeresangehörige, insbesondere Unteroffiziere, die Befehle der türkischen Posten
und Polizei-Beamten außer Acht ließen, dieselben zur Seite schoben, ja sogar tätlich
angegriffen haben, was dann wiederholt zu Schlägereien und ernstlichen
Unannehmlichkeiten geführt hat.
Ich sehe mich veranlaßt, erneut darauf hinzuweisen, daß den Anordnungen der
türkischen Posten und Sicherheitsorgane unbedingt Folge zu leisten ist, und daß
Beleidigungen und Tätlichkeiten unter allen Umständen zu vermeiden sind.
Entsprechende Zuwiderhandlungen werde ich ohne Ansehung des Dienstgrades
unnachsichtlich auf das Strengste bestrafen.“1275
Das Verhältnis zwischen deutschen Mannschaften und Unteroffizieren und dem
türkischen Verbündeten barg demnach ein beachtliches Konfliktpotential und bildete
einen weiteren Gegenstand, der in den Tagesbefehlen angemahnt werden mußte. Es
wäre vermutlich auch sehr optimistisch gewesen, ein völlig reibungsfreies Verhältnis
zu erwarten. Das Zitat enthält noch einen weiteren Hinweis, der erstaunlich ist, denn
den türkischen Posten wird eine „Befehlsbefugnis“ zugesprochen. Für die Soldaten
der Militärmission, die zugleich Angehörige der osmanischen Streitkräfte waren, war
diese Formulierung zutreffend. Die erwähnten deutschen Heeresangehörigen
unterlagen hingegen der eigenen Befehlsstruktur. Die Unsicherheit, wie man sich
gegenüber den Exekutivorganen eines souveränen Verbündeten zu verhalten habe,
konnte offenbar selbst von der Militärmission bis kurz vor Kriegsende nicht
ausgeräumt werden. Den deutschen Mannschaften mußten die von türkischen
Ordnungskräften duchgesetzten Sitten, Gebräuche und Verhaltensregeln des Orients
ebenso fremd sein wie den meisten ihrer vorgesetzten Offiziere. Mißverständnisse
und Reibungen standen daher zu erwarten. Allerdings läßt die so ernstlich monierte
1274
Befehl Nr. 10698 M.16 des Armee-Oberkommandos der 5. türkischen Armee 20.6.1916, KA
München, HS 2255.
1275
Tagesbefehl Nr. 61 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel 9.9.1918, KA München, HS
2255.
337
Gewalttätigkeit doch aufhorchen. Daß es im Zuge einer angeheizten Debatte oder
unter Einfluß von Alkohol zu „Raufereien“ mit der Zivilbevölkerung gekommen war,
vermag kaum zu überraschen, denn auch an den europäischen Fronten war das
Verhältnis zur Bevölkerung nicht durchweg ungetrübt.1276 Außerdem betrachteten die
deutschen Soldaten die Zivilbevölkerung besonders der abgelegenen Teile des
Osmanischen Reiches zum Teil als „Halbwilde“, wie Unteroffizier Fritz Meyer in
einem Brief schrieb.1277 Der Unterschied war jedoch, daß es sich in der Türkei um das
Verhältnis zu einer verbündeten Macht handelte und nicht etwa um besetztes Gebiet.
Prügeleien unter einfachen Soldaten mögen wenig überraschen, doch Gewalt gegen
militärische Posten oder türkische Polizei deutet schon auf tieferliegende
Ressentiments gegen die osmanische Staatsmacht und Selbstüberschätzung der
eigenen Position seitens der deutschen Mannschaften hin. Allerdings geben die
Quellen nur sehr begrenzte Auskünfte über dieses Problemfeld auf den „unteren
militärischen Ebenen“. Immerhin findet sich ein sehr eindrückliches Beispiel in der
Regimentsgeschichte des I.R. 146, das Bestandteil der Heeresgruppe F in Palästina
war. Der Musketier Wischnewski berichtet dort über seine Gefangennahme im
Oktober 1918 und seine Zeit in Gefangenschaft. Nachdem er und einige Kameraden
längere Zeit von arabischen Bewaffneten gefangengehalten und mißhandelt worden
waren, mußten sie sich einem Gefangenentransport aus etwa 2.000 Türken und 300
Deutschen anschließen, die in ein britisches Lager überführt wurden. Durch die
vorherigen Haftbedingungen hatten Wischnewski und seine Kameraden jedoch
sämtliche
deutschen
Unformteile
verschlissen
und
sich
mit
türkischen
Uniformstücken behelfen müssen:
„Als wir dort [im Gefangenlager] angekommen waren, gingen wir drei Mann zu den
deutschen Kameraden, die jedoch auf uns schimpften, was wir bei ihnen suchten, da
wir bis zur Unkenntlichkeit abgemagert und in der zerrissenen Türkenkleidung
1276
Siehe hierzu einführend zur Westfront: Becker, Annette: Deutsche Besatzungsherrschaft in
Nordfrankreich, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina (Hrsg.): Die Deutschen an der
Somme 1914-1918 – Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde, Essen 2006. Zilch, Reinhold: Okkupation
und Währung im Ersten Weltkrieg – Die deutsche Bestatzungspolitik in Belgien und Russisch-Polen
1914-1918, Goldbach 1994, hier besonders S. 97-241. Zur Ostfront siehe: Strazhas, Abba: Deutsche
Ostpolitik im Ersten Weltkrieg – Der Fall Ober Ost 1915-1917, Wiesbaden 1993. Liulevicius, Vejas
Gabriel: Kriegsland im Osten – Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg,
Hamburg 2002.
1277
Brief von Fritz Meyer an Herrn Telemann vom 19.9.1917, BAMA Freiburg, MSg 2/ 2152.
338
waren. Wir erwiderten aber, daß wir ebenso Deutsche seien wie sie, und als wir
ihnen unsere Erlebnisse erzählten, beruhigten sie sich.“1278
Nach der Verlegung in ein weiteres Lager in Ägypten kam es dann auch zu
Ausschreitungen zwischen den ehemaligen Bundesgenossen:
„Eines Abends kam es zu einer Schlägerei zwischen uns und den Türken, wobei
Holzhammer und Knüppel eine Rolle spielten. Erst machten die Deutschen einen
Angriff und gingen auf die türkischen Zelte vor, dann wieder die Türken und es wurde
sehr laut. [...] Nun wurde es kein friedliches Zusammenleben mit den Türken mehr
[...]. Um Streit zu vermeiden, zogen die Engländer einen hohen Stacheldrahtzaun
durchs Lager und so waren wir von den Türken getrennt.“1279
Die Spannungen, die sich hier gewaltsam „entluden“, können lediglich einen
„Ventilcharakter“ für die aufgestauten Emotionen der Deutschen in Gefangenschaft
gehabt haben. Doch bei späteren „Raufereien“ mit britischen Soldaten, die immerhin
vor kurzem noch „der Feind“ waren, ging es keineswegs so brutal zu. Man schlug
eben nicht mit – wenngleich primitiven – Waffen aufeinander ein.1280 Gegenüber den
türkischen Mitgefangenen legten die Deutschen keine solche „Zurückhaltung“ an den
Tag. Die Beschreibung der Ankunft Wischnewskis läßt zudem erkennen, welchen
Wert die internierten „Orientkämpfer“ auf eine strikte Abgrenzung von den
gefangenen Osmanen legten. Damit folgten die Soldaten auch Empfehlungen der
deutschen Führung, wie aus einem geheimen Schreiben mit Transportanweisungen
für die Fliegertruppe hervorgeht:
„Bekleidung: Offiziere möglichst deutsche Uniform, jedenfalls Fliegen nur mit
deutschen Hoheitsabzeichen [...] sonst bei Gefangennahme Behandlung wie
Türke.“1281
Nicht allein deutsche Vorurteile spielten demnach eine Rolle, sondern man erwartete
ähnliche Ressentiments auch bei den europäischen Kriegsgegnern. Das Osmanische
Reich – der eigene Verbündete – wurde damit außerhalb des Kreises der „zivilisierten
Nationen Europas“ gesehen. Sonderführer Ernst-Adolf Mueller gehörte zwar nicht zu
1278
Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 309.
Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 310f.
1280
Das Infanterie-Regiment Nr. 146, 1929, S. 311.
1281
Technische Notizen für Ausrüstung und Transport von Fl.Abt. in Mesopotamien (Geheim!) vom
5.8.1917, KA München, Flieger und Luftschiffer 52.
1279
339
den Mannschaftsdienstgraden, schilderte die Stimmung in einem britischen
Gefangenenlager allerdings so eindrücklich, daß seine Memoiren hier angeführt
werden müssen:
„Und – das war das Wichtigste! – wir paar Deutschen in Tel el kebir waren
„Weiße“, wie der Engländer, gegenüber 35 000 farbigen Orientalen. Gefühlsmäßig
gehörten wird doch zum Engländer“1282
Ob diese Ansicht repräsentativ für die deutschen Mannschaften war, läßt sich nicht
verifizieren. In Kombination mit der Angst vor Ansteckung mit Krankheiten oder der
geringen Meinung von der Kampfkraft der türkischen Armee, der man dadurch leicht
eine Mitschuld am verlorenen Krieg geben konnte, ergäbe sich aber durchaus eine
„explosive“ Mischung verschiedener Vorurteile und eigenen Überlegenheitsgefühls,
die zu Massenschlägereien unter ehemaligen Verbündeten führen könnte.
Höchstwahrscheinlich war diese negative Haltung gegen das Osmanische Reich
schon vorher unterschwellig vorhanden und führte so zu Reibungen mit den
Repräsentanten dieses Staates. Sicher fassen lassen sich die Beweggründe aber
anhand des vorliegenden Materials nicht.
Ein drittes und ebenfalls besonders schwerwiegendes Problem bilden die
Straftatbestände, die normalerweise zu einem Militärgerichtsprozeß hätten führen
müssen. Hier sei zunächst das Beispiel der Desertion erwähnt. Diese wurde oft als
„Grundübel“ der türkischen Armee bezeichnet, traf aber gleichermaßen auf deutsche
Soldaten zu, auch wenn es dort nicht solche Ausmaße annahm wie bei den
verbündeten Truppen. Dafür deuten einige Berichte aber durchaus auf „bizarre“
Formen hin. So gab sich der fahnenflüchtige Kraftfahr-Soldat Josef Winkler offenbar
als Flieger-Unteroffizier oder Feldwebel aus, um sich unter dieser Tarnung weiterhin
im Osmanischen Reich kriminell betätigen zu können. Die Personenbeschreibung
erwähnt sogar, daß der Flüchtige sich zahlreiche deutsche und türkische Orden
beschaffte, um nicht aufzufallen.1283 Die osmanischen Fliegertruppen waren offenbar
eine geeignete Tarnung für Deserteure, da die neue Waffengattung noch im Aufbau
1282
Ernst-Adolf Mueller „Der Erste Weltkrieg – Erinnerungen an meine Tätigkeit bei der
Militärmission Türkei 1915/1919“ [vermutl. von 1975], KA München, HS 2884/1, S. 84a. (Im
Folgenden: HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“.)
1283
Flotten-Tages-Befehl Nr. 178, Konstantinopel 9.12.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 807, Blatt 227.
340
begriffen war und in der unübersichtlichen Kriegssituation ein Untertauchen einfach
erschien. Außerdem genossen die Flieger in der Türkei ein recht hohes Ansehen, was
einem Fahnenflüchtigen das Leben zusätzlich erleichtern konnte.1284
Major Serno, als Chef der Luftstreitkräfte, berichtet von dem Fall „Bommers“. Hier
war ein deutscher Sanitätsfeldwebel namens Bommers mit der Kompaniekasse von
der Westfront geflohen und hatte sich in das Osmanische Reich abgesetzt. Dort gab er
sich als Leutnant Dr. von Bommers aus, der als Angehöriger eines Vortrupps der
Flieger unterwegs sei. Als der vermeintliche Leutnant mehrere hohe „SpesenRechnungen“ an die Deutsche Botschaft schickte, stellte Serno Nachforschungen an,
da ihm kein solcher Leutnant bekannt war. Wie sich herausstellte, lag Bommers
geschlechtskrank in einem Lazarett. Mittlerweile war er von der Militärmission
„vertragsgemäß“ zum Oberleutnant befördert worden, da diese den Schwindel nicht
erkannt hatte. Major Serno ließ den Fahnenflüchtigen verhaften und auf einem
deutschen Schiff internieren. Nun zeigte sich aber sogleich ein Fehlverhalten von
Seiten der deutschen Stellen, das im Verlauf des Krieges mehrfach wiederholt werden
wird: Bommers wurde nicht etwa vor Ort der Prozeß gemacht, sondern der Vorfall
wurde vertuscht. Um die Ereignisse vor dem türkischen Bundesgenossen zu
verbergen, sollte der kranke „Oberleutnant“ mit einem Lazarettzug über den Balkan
nach Deutschland gebracht werden. Doch er entkam auf dem Weg dorthin und wurde
von da ab nicht nur als Fahnenflüchtiger, sondern auch als Spion gesucht. Als solchen
nahm man ihn später in Bulgarien fest und richtete ihn in Sofia hin.1285
Derart spektakuläre Fälle von Desertion bildeten jedoch die Ausnahme und ein
besonders schwerwiegendes, mit den Verhältnissen hinter der Front des türkischen
Bundesgenossen vergleichbares Problem läßt sich für die Deutschen im Orient nicht
nachweisen. Allerdings waren schon die wenigen Fälle von Fahnenflucht
ausreichend, um bei den deutschen Kommandostellen in Konstantinopel eine Art
„Vertuschungsreflex“ auszulösen. Auf keinen Fall sollte der „rückständige“
osmanische Bündnispartner den Eindruck bekommen, daß auch Deutsche Fehler
machten. Der Nimbus der Überlegenheit des deutschen Militärs mußte gewahrt
bleiben und die Feststellung, daß sich auch deutsche Soldaten ähnlicher Vergehen
1284
1285
Siehe hierzu auch Kapitel III.2.e) und IV.4.b)
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 38f.
341
schuldig machten, wie man sie beim türkischen Soldaten kritisiert hatte, erfüllte die
Verantwortlichen mit Sorge. Diese Befürchtung deutschen Ansehensverlustes wird
noch an einem weiteren Beispiel deutlich.
Ein häufig beobachteter und scharf kritisierter Mißstand in den osmanischen
Streitkräften war für die deutschen Beobachter der Verkauf von Heeresmaterial an die
Zivilbevölkerung. Aus deutscher Sicht war es bereits schlimm genug, daß die
türkische Intendantur in Konstantinopel den aus Deutschland gelieferten Zucker für
die Armee öffentlich feilbot oder gleich ganze Eisenbahnwaggons, die dringend für
den Nachschub an den Fronten gebraucht wurden, an zivile Händler vermietete, damit
dem militärischen Güterverkehr entzog.1286 Als geradezu unglaublich wurde jedoch
der Handel mit persönlicher Ausrüstung oder gar Waffen und Munition empfunden.
Besonders in Mesopotamien, das in den letzten Kriegsjahren von schweren
Hungersnöten heimgesucht wurde, mußten deutsche Offiziere feststellen, daß die
türkischen Soldaten ihre Waffen an die arabische Bevölkerung verkauften.1287 Da die
arabische Bevölkerung, wie oben erwähnt, zunehmend als „feindlich“ angesehen
wurde, schätzten die deutschen Offiziere diesen Handel als sehr gefährlich ein. Wie
so oft konnten die Deutschen aber für den türkischen „Asker“ auch „mildernden
Umstände“ geltend machen, denn auch der Soldat litt unter der Hungersnot in den
südlichen Provinzen, da er keinen Sold bekam, um sich verpflegen zu können, und
seine türkischen Vorgesetzten die Verpflegungsrationen oftmals unterschlugen:
„Diesen Umstand [Lebensmittelknappheit] machten sich zahlreiche türkische
Offiziere und Beamte zu Nutze, um die für die Truppe bestimmten Lebensmittel auf
eigene Rechnung zu verkaufen [...]. Andere Offiziere stellten [...] falsche Quittungen
1286
Aufzeichnungen von Kurt Böcking, BAMA Freiburg, N 438/ 5, o. Seitenzahl. Erich Serno
berichtet auch von einem Sanitätsoffizier, der seine medizinischen Instrumente verkaufte. MSg 1/228,
Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 55.
1287
Bericht des Majors Hartmann an den Chef des Stabes der Militärmission in Konstantinopel vom
20.5.1918, KA München, MKr. 1782/ 2. Bericht Oberstleutnant Paraquin „Aufgeben des JildirimUnternehmens auf Bagdad. Entwicklung der Lage zwischen August 1917 bis Mai 1918“, KA
München, MKr. 1782/ 2, [S. 28f.].
342
über die Lieferungen der Ankaufszehnten1288 aus und steckten das Geld selbst in die
Tasche.“1289
Für den deutschen Soldaten durften solche „Entschuldigungen“ nicht gelten, denn er
wurde durch ein deutsches Etappensystem versorgt und von eigenen Offizieren
geführt. Dennoch waren auch deutsche Soldaten offenbar einem Nebenverdienst
durch den illegalen Handel mit militärischen Gütern nicht abgeneigt. Dies begann
bereits mit der Veräußerung von Kleidungsstücken aus deutschen Militärbeständen,
deren Ausgabe daraufhin nur noch unter strengen Auflagen erfolgen durfte, und
setzte sich über den Verkauf „Heeresgütern“ an Kantinenbesitzer fort.1290 Diese
Vorfälle waren zwar noch von geringerer Bedeutung, da in den Befehlen keine
schwereren Sanktionen angedroht wurden, doch wurde auch mit „kriegswichtigen“
Materialien Handel getrieben. Der Stabsoffizier der Kraftfahrtruppen (Stokraft)
7711291 bei der Heeresgruppe F, Major Malbrand, stellte bei einer Besichtigungsreise
erhebliche Mängel bei den deutschen Kraftfahrern fest:
„Mehr Allgemeinsinn und Verständnis für die schwierige wirtschaftliche Lage muss
von den unteren Dienstgraden gefordert werden. Herumliegende Ersatzteile,
Missbrauch von Benzinfässern zum Aufbocken von Reparaturwagen, häufige
Werkzeugverluste,
Diebstähle,
ja
Verkauf,
Fahrten
unter
eigenmächtigem
Geldfordern schädigen das Ansehen der Kraftfahrtruppen in hohem Masse. Ich werde
beim
Oberbefehlshaber
erwirken,
das
gemeingefährliche
Handlungen
wie
Betriebstoff- und Gummiverkauf nicht mehr als Diebstahl oder Unterschlagung,
sondern als Hochverrat kriegsgerichtlich geahndet wird, weil dadurch das
1288
Aus dem Bericht Paraquins geht hervor, daß es sich hierbei vermutlich um den Anteil an der
Truppenverpflegung handelte, der durch Ankauf bei der Zivilbevölkerung im jeweiligen Einsatzgebiet
aufgebracht werden sollte.
1289
Bericht Oberstleutnant Paraquin „Aufgeben des Jildirim-Unternehmens auf Bagdad. Entwicklung
der Lage zwischen August 1917 bis Mai 1918“, KA München, MKr. 1782/ 2, [S. 20].
1290
Anmerkungen zu Pascha II–Vorschrift Abschnitt III und IX vom 22.8.1917, BAMA Freiburg, PH
20/ 10, Blatt 12. Tagesbefehl Nr.13709 des deutschen Anteils „Jildirim“ (Vertraulich!) vom 19.6.1918,
BAMA Freiburg, RM 40/ 632, Blatt 34. Die Art der „Heeresgüter“ ist nicht genauer angegeben. Da sie
jedoch an einen Kantinenbesitzer verkauft wurden, handelte es sich höchstwahrscheinlich um
Verpflegung oder andere sogenannte Marketenderware.
1291
Zur Gliederung der Kraftfahrtruppen und Verortung des Stokraft siehe: Mühlmann, Waffenbündnis
1940, S. 299-301.
343
Heeresinteresse in hohem Masse geschädigt, das des Feindes gefördert wird. (Str. G.
B. §82, 90,2.)“1292
Und auch das Tabu des Verkaufs der eigenen Waffen wurde von deutschen Soldaten
wiederholt gebrochen, wie aus zahlreichen Berichten und Befehlen hervorgeht.1293
Offenbar waren solche Fälle so häufig, daß Liman von Sanders sich genötigt sah,
ausdrücklich auf scharfe Bestrafung solchen Verhaltens hinzuweisen:
„Da sich in letzter Zeit die Fälle in denen deutsche Soldaten militärische
Ausrüstungsstücke verkauft haben, bedenklich mehren, wird auf folgendes
ausdrücklich hingewiesen: Ein Soldat [...] macht sich unter Umständen des
Kriegsverrats (§ 57 M.Str.G.B.) oder der Gefährdung der Kriegsmacht (§ 62) imFelde [sic] schuldig und kann deshalb mit Zuchthaus bestraft werden.“1294
Die deutschen Soldaten machten sich folglich ähnlicher Vergehen schuldig wie ihre
türkischen Pendants. Allerdings waren die deutschen Verfehlungen aus der Sicht der
Militärmission und der Vorgesetzten schlimmer als die der türkischen Verbündeten,
von denen man unter den gegebenen Umständen und nach den bisherigen
Erfahrungen „nichts anderes erwartete“. Dagegen war die beanspruchte deutsche
Vorbildfunktion durch das Verhalten einiger deutscher Mannschaften und
Unteroffiziere gefährdet, so daß harte Strafen angedroht werden mußten. Eine
Vertuschung des verbotenen Handels läßt sich hier allerdings nur eingeschränkt
nachweisen. Die Berichte waren zwar zum Teil „Interna“ der Heeresgruppe F und
wurden daher nur deutschen Stellen vorgelegt, doch die Tagesbefehle konnten ohne
größere Schwierigkeiten auch von türkischen Stellen eingesehen werden. Allerdings
waren die Tagesbefehle nur in deutscher Sprache abgefaßt und durch die
Sprachbarriere damit nicht „jedermann“ verständlich. Im Unterschied zur
Fahnenflucht und der Hochstapelei von Deserteuren war der Waffenhandel auch
unter Mitwirkung der osmanischen Bevölkerung durchgeführt worden und nicht
1292
Stokraft-Verfügung Nr. 2: Bemerkungen zur Besichtigungsreise Stokrafts (Dezember 1917) im
Bereich K.d.K.(Kommandeur der Kraftfahrtruppen) 7 und K.d.K. 8, BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt
46.
1293
Zum Beispiel: Stokraft-Verfügung Nr. 8: Bemerkungen zu Stokraft –Reise Ostjordanland vom 2.
bis 11.2.1918, BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 86. Tagesbefehl Nr. 59 der Deutschen
Militärmission, Konstantinopel vom 14.8.1918, KA München, HS 2255. Tagesbefehl Nr. 60 der
Deutschen Militärmission, Konstantinopel vom 21.8.1918, KA München, HS 2255.
1294
Tagesbefehl Nr. 49 der Deutschen Militärmission, Konstantinopel vom 31.5.1918, KA München,
HS 2255.
344
zuletzt durch die rasche mündliche Verbreitung von Neuigkeiten oder Gerüchten bei
dieser bekannt, so daß ein Abstreiten kaum Erfolg gehabt hätte. Eine weitaus größere
Tendenz zur Vertuschung unliebsamer Ereignisse offenbarte sich hingegen, wenn es
um das Fehlverhalten deutscher Offiziere ging.
V.2. Vorbild und Vorherrschaft, Konkurrenz und Intrigen – Die deutschen
Offiziere
Waren schon die Fehltritte der deutschen Mannschaften dazu angetan, das deutsche
Ansehen im Osmanischen Reich zu schädigen, so mußte dies in besonderer Weise für
die Offiziere gelten. Es wurde bereits erwähnt, daß nicht alle Offiziere freiwillig im
Osmanischen Reich waren und von diesen einige sogar recht offen ihren Unmut über
das neue Aufgabenfeld zeigten. Ebenso wurde bereits deutlich, daß viele Deutsche
mit den fremden Kulturen oder dem andersartigen Militärdienst im Orient Probleme
hatten und nicht immer angemessen darauf reagierten.
Unbeherrschtes, lautes Auftreten gegenüber einem angeblich „widerspenstigen“
türkischen Untergebenen oder Etappenkommandanten war ein verhältnismäßig
geringfügiges Fehlverhalten. Solche Vorfälle waren häufig und endeten meist mit
Drohungen, sich an den höchstmöglichen – und vor Ort besonders gefürchteten –
türkischen Vorgesetzten zu wenden. Ernstere Auswirkungen mußte hingegen die
Androhung von Waffengewalt gegenüber einem verbündeten Militärangehörigen
oder auch Zivilbeamten haben. So berichtet Hauptmann Paschasius, Kraftfahroffizier
bei der Heeresgruppe F, daß er den Auftrag hatte, Betriebsstoff in das
Operationsgebiet zu bringen, der am Bahnhof von Afule zurückgehalten wurde, weil
dort angeblich ein Befehl des Oberquartiermeisters der Heeresgruppe eingegangen
sei, daß der Treibstoff am Bahnhof zu verbleiben habe. Nachforschungen ergaben
jedoch, daß es einen solchen Befehl gar nicht gab und daher wurde der
Weitertransport angeordnet.1295 Der Treibstoff blieb allerdings in Afule, woraufhin
sich Paschasius selbst dorthin begab. In seinem Sonderbericht beschreibt er:
1295
„Sonderbericht zum Kriegstagebuch Stokraft´s“, Nazareth 13.12.1917,Eintrag vom 11.11.1917,
BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 43.
345
„Beförderung des Betriebsstoffs ab Afule nur unter größter Rücksichtslosigkeit und
Androhung des Waffengebrauchs im Weigerungsfalle gegenüber dem türkischen
Bahnhofskommandanten und dem Stationspersonal möglich.
Ein zur Abfahrt bereitstehender Zug, Richtung Jerusalem, der wiederum keinen
Betriebsstoff mit sich führt, wird auf Befehl des Hauptm. Paschasius festgehalten und
Doppel-Posten auf und vor die Maschine gestellt, die den ausdrücklichen Befehl
haben, den Zug nur dann fahren zu lassen, wenn von den 13 auf dieser Station
stehenden Betriebsstoffwagen mindestens 5 mit diesem Zuge weiterbefördert
werden.“1296
Auch wenn die Maßnahme des Hauptmanns zum Erfolg führte und auch wenn es die
schnellste Lösung gewesen sein mag, so erscheint das Verhalten gegenüber einem
offiziellen Verbündeten unangebracht. Die Androhung von Gewalt und regelrechte
Beschlagnahmung eines Zuges passen eher zu dem Verhalten einer Besatzungsmacht
als zu dem eines „Verbündeten in Freundesland“. Eine Ahndung dieser Aktion gab es
jedoch nicht, zumal viele Offiziere bereits ähnliche Erfahrungen mit der als „passiver
Widerstand des Orientalen“ geschmähten nachlässigen Erfüllung der dienstlichen
Aufgaben gemacht hatten. Empfindlich reagierte man jedoch, wenn deutsche
Offiziere tatsächlich zur körperlichen Gewalt gegenüber untergebenen Türken
griffen. Liman von Sanders verurteilte solches Verhalten auf das Schärfste:
„Trotz aller Warnungen ist es wieder vorgekommen, dass sich deutsche Offiziere zu
Misshandlungen bezw. vorschriftswidriger Behandlung türkischer oder anderer
Untergebener haben hinreissen lassen. Jeder deutsche Offizier wolle sich darüber
klar sein, dass er hier auf exponierter Stelle steht, ständig beobachtet wird, und das
jegliches Verschulden und Sichgehenlassen das Ansehen des deutschen Offizierkorps
in der Türkei schädigt und unseren Gegnern Waffen gegen uns in die Hand gibt.
Die älteren Kameraden haben die Pflicht, auf die jüngeren in der genannten Richtung
dauernd einzuwirken.
Dass ich die Ablösung jeden Offiziers beantrage, der sich zu diesen Verfehlungen
hinreissen lässt, habe ich bereits früher bekannt gegeben.“1297
1296
„Sonderbericht zum Kriegstagebuch Stokraft´s“, Nazareth 13.12.1917,Eintrag vom 13.11.1917,
BAMA Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 44.
1297
Befehl Nr. 11113 M.16 der deutschen Militärmission, Konstantinopel 13.7.1916, KA München,
HS 2255.
346
Doch dieser Befehl Limans, der den Vermerk „Persönlich“ trägt, zeigte offenbar
keine dauerhafte Wirkung, denn noch im Jahre 1917 mußte die Militärmission
deutschen Offizieren das Schlagen unterstellter Türken per Befehl untersagen.1298
Hierbei handelte es sich übrigens nur um die persönliche Bestrafung durch den
deutschen Offizier, nicht etwa um die Verhängung einer Körperstrafe, die einem
deutschen Disziplinarvorgesetzten bis in das letzte Kriegsjahr hinein ebenso erlaubt
war wie auch dem türkischen Offizier. Die Offiziere beider Nationalitäten machten
von diesem Recht durchaus Gebrauch, wenngleich nicht gesagt werden kann, in
welchem Ausmaße tatsächlich körperliche Züchtigung vorkam.1299 Besonders
bemerkenswert ist hier, daß manche Deutschen ohne weiteres Prügelstrafen gegen
osmanische Untergebene anordneten, obwohl ihnen im Dienst in der Heimat jedwede
Mißhandlung Untergebener verboten war.1300 Allein durch die Anwendung dieser
Strafe machte der jeweilige Offizier seine unterschiedliche Wahrnehmung des
türkischen im Vergleich zum deutschen Soldaten deutlich.
Daß Gewalt gegen türkische Soldaten sehr wohl ernsthafte Folgen für das deutschtürkische Verhältnis haben konnte, zeigt die Affäre um den deutschen Hauptmann
Salzmann. Im März 1918 hatte der Hauptmann einer Funkerabteilung in Mossul
einen türkischen Kavalleristen mit 15 Stockhieben bestrafen lassen, weil dieser ihn
nicht gegrüßt habe. Enver Pascha erfuhr von diesem Vorfall und wandte sich an das
Hauptquartier der 6. Armee:
„Den Offizieren ist es gesetzlich verboten die Mannschaften zu schlagen. Wenn diese
Handlung [...] von einem osmanischen Offizier begangen wird, ist derselbe gesetzlich
mit einer Haftstrafe von 2 Monaten bis 1 Jahr zu bestrafen. [...]
1298
Befehl Nr. 23469 M.17 der deutschen Militärmission, Konstantinopel 9.8.1917, KA München, HS
2255.
1299
Siehe hierzu auch S. 248f. u. 311.
1300
In §122 des deutschen Militärstrafgesetzbuches hieß es: „Wer vorsätzlich einen Untergebenen
stößt oder schlägt, oder auf andere Weise körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt,
wird mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu drei Jahren bestraft [...].“ Zitiert nach Koppman,
Clemens: Das Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst Einführungsgesetze, Nördlingen
1885, S. 449. Daß dennoch Mißhandlungen vorkamen, zeigt der skizzenhafte Aufsatz von Benjamin
Ziemann, der aufschlußreiche Dokumente (als Faksimile) mitliefert. Ziemann, Benjamin:
Soldatenmißhandlungen im deutschen Kaiserreich 1890-1914, in Dokumente zur Militärgeschichte
[o.Bd.], ohne Ort 2003.
347
Es wird daher gebeten ihn [Hauptmann Salzmann] sofort nach Deutschland
zurückzukommandieren, gegen ihn die Anleitung [sic] gesetzlicher Verfolgungen zu
bewirken, und das Ergebnis mitzuteilen.“1301
Ein handschriftlicher Vermerk in der Akte bestätigt, daß der Hauptmann am 12.4.
bereits unterwegs war, um sich vor einem Kriegsgericht zu verantworten. Allerdings
geht am 9.5.1918 bereits ein Schreiben aus dem türkischen Kriegsministerium ein, in
dem um die Einstellung des Verfahrens gebeten wird, da sich der Hauptmann
entschuldigt und in Unkenntnis des höheren Befehls gehandelt habe.1302 Juristische
Folgen des ohne Zweifel kritikwürdigen Verhaltens des deutschen Offiziers konnten
so noch abgewendet werden. Die „Affäre Salzmann“ zog jedoch innerhalb der 6.
Armee noch weitere Kreise. Nach dem Bericht des Generalstabchefs der 6. Armee,
Oberstleutnant Paraquin hatte Halil Pascha als Befehlshaber der Armee nämlich
direkt Enver um die Abberufung des Hautpmanns gebeten, ohne vorher Rücksprache
mit seinem deutschen Chef des Stabes zu halten. Außerdem war Paraquin der
Ansicht, daß eine Entscheidung des Generals von Falkenhayn noch Bestand hatte, die
auch deutschen Offizieren
1303
Untergebene zusprach.
eindeutig
die Disziplinargewalt über
türkische
Die türkische Seite, vertreten durch Halil Pascha und
seinen Neffen Enver Pascha, sah diesen Sachverhalt offenbar anders und versuchte
hier eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen. Die bisherige Regelung besagte
zwar, daß der Führer einer geschlossenen Formation des verbündeten Heeres auch die
Disziplinargewalt innehatte, in der Realität betraf diese Regelung jedoch nur
Deutsche. Die geschlossenen deutschen Formationen unterstanden niemals einem
türkischen Truppenführer, der die Disziplinargewalt besaß. Diese lag laut Vertrag bei
der deutschen Militärmission, einem Offizier der Militärmission vor Ort oder aber –
im Falle der Formationen des „Yildirim“-Unternehmens – bei den deutschen
Einheitsführern. Peinlich genau wurde von deutscher Seite darauf geachtet, daß keine
Situation entstand, in der einem türkischen Offizier die Disziplinargewalt über einen
deutschen Verband zufiel. Eine solche Regelung war auch aus Berlin gewollt, wie aus
1301
Übersetzung eines Schreibens von Enver Pascha an das Hauptquartier der 6. Armee vom 6.4.1918,
BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106.
1302
Schreiben Mahmud Kiamils an das Hauptquartier der 6. Armee vom 9.5.1918, BAMA Freiburg,
PH 5 I/ 106.
1303
Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 1.4.1918, BAMA
Freiburg, PH 5 I/ 106, S. 1.
348
einem geheimen Schreiben aus dem Kriegsministerium in Berlin hervorgeht, das
besagt, daß alle dem Osmanischen Reich geliehenen Kraftwagenkolonnen so lange
deutscher Führung unterstünden, wie sich deutsches Personal bei ihnen befinde.1304
Selbst in dem seltenen Falle, daß ein türkischer Offizier (wie etwa Halil Pascha als
Befehlshaber der 6. Armee) die Befehlsgewalt über deutsche Soldaten ausüben
konnte, so konnte er doch keine Disziplinarstrafen gegen sie verhängen. In solchen
Fällen half lediglich ein Bericht an die Militärmission oder den ranghöchsten
Deutschen vor Ort, der dann vermittelte oder entsprechend weitergehende
Maßnahmen veranlaßte. Es lag jedoch nicht im Interesse der deutschen Seite, die
eigenen Offiziere noch im Osmanischen Reich zur Rechenschaft zu ziehen, was
gleichbedeutend mit einem Eingeständnis eigener „Fehlbarkeit“ vor den Augen des
als „unzulänglich“ kritisierten Verbündeten gewesen wäre. Zumeist wurde so in
schwerwiegenden Fällen zügig die Abberufung des „Täters“ verfügt, um größeres
Aufsehen zu vermeiden. Allerdings ist nicht bekannt, daß solchermaßen Versetzte
noch weiteren disziplinarischen Maßnahmen unterlegen hätten. Offenbar gaben sich
die deutschen Stellen bereits mit der Entschärfung der akuten Situation zufrieden.
Ironischerweise wurde dieses Verfahren nahezu identisch von der osmanischen Seite
angewandt und von beteiligten Deutschen scharf kritisiert.1305
Gleich welche Nation den Einheitsführer stellte, es galt das Militärstrafrecht des
jeweiligen Mutterlandes. Dennoch konnten Deutsche Bestrafungen nach türkischem
Recht verhängen und (von Türken) vollstrecken lassen. Der Handlungsspielraum der
deutschen Offiziere scheint aber ebenfalls begrenzt gewesen zu sein. Geringere
Vergehen konnten – auch durch Körperstrafen – geahndet werden, doch über die
Verhängung etwa von Todesurteilen gegen Deserteure durch Deutsche ist nichts
bekannt. Hier mußten auch die Europäer den Weg über die vorgesetzten türkischen
Stellen wählen.
Zu Beginn des Krieges waren solche Regelungen nur selten durch die türkische
Führung angezweifelt worden, doch die Situation hatte sich bis zum Frühjahr 1918
deutlich geändert. Der „kranke Mann am Bosporus“ hatte die Weltöffentlichkeit
1304
Schreiben des Kriegsministeriums Berlin Nr. 1538/17.g.A. 7 V. vom 30.8.1917 (Geheim), BAMA
Freiburg, PH 20/ 10, Blatt 27.
1305
Siehe zum Beispiel die Beschwerde Major Sernos über den türkischen Ausbildungsoffizier
Hauptmann Fuad, die auf S. 363f. behandelt wird.
349
überrascht durch die Siege an den Dardanellen und bei Kut-el-Amara. Zwar befanden
sich die Briten in Palästina auf dem Vormarsch, aber aus Sicht Konstantinopels
konnte der Verlust der arabisch-dominierten Gebiete nach dem Zusammenbruch des
Zarenreiches leicht durch Gebietsgewinne im Kaukasus kompensiert werden. Das
Selbstbewußtsein der türkischen Seite war demnach keineswegs gesunken, sondern
eher noch gewachsen. Die steigende Zahl deutscher Truppen und deutscher Offiziere
sowie die schwelenden Streitigkeiten um die kaukasischen Interessensphären hatten
die osmanische Haltung gegenüber deutscher Einmischung oder gar Dominanz in
Militärfragen verändert. So kann es nicht verwundern, daß sich an dem Fall des
Hauptmanns Salzmann eine regelrechte Grundsatzdiskussion um die deutsche
Position im osmanischen Heer entzündete. Der Sachverhalt selbst war dabei eher
nebensächlich, denn wie Oberstleutnant Paraquin berichtete, kam es im Bereich der 6.
Armee zwar häufiger zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen deutschen
und türkischen Heeresangehörigen, jedoch konnten diese stets geschlichtet
werden.1306 Doch in diesem Falle ließ sich der Streit nicht so schnell aus der Welt
schaffen, vor allem da es sich diesmal nicht um ein Problem im Bereich der 6. Armee
handelte, sondern um ein Zerwürfnis in der Führungsspitze der Armee. Halil Pascha
verwies darauf, daß er mündlich den Befehl gegeben habe, deutsche Offiziere keine
Disziplinargewalt mehr über türkische Soldaten ausüben zu lassen. Immerhin sei es
nicht einzusehen, daß Deutsche zwar Türken, Türken aber nicht Deutsche bestrafen
könnten. Damit griff Halil eine alte Diskussion um die Gleichberechtigung im
eigenen (!) Land wieder auf, die bereits zur einseitigen Abschaffung der
Kapitulationen und indirekt auch zum deutsch-türkischen Bündnis geführt hatte,
durch das man hoffte, die vorherige britisch-französische Bevormundung
auszuschalten. Da im späteren Kriegsverlauf immer mehr deutsche Formationen und
Soldaten in den Orient verlegt wurden, verlor das deutsche Engagement den
„beratenden
Charakter“
und
die
ungeklärten
Kompetenzfragen
der
Koalitionskriegführung rückten in den Vordergrund, was dieser speziellen Diskussion
zusätzliche Brisanz verlieh.
1306
Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 1.4.1918, BAMA
Freiburg, PH 5 I/ 106, S. 2.
350
Paraquin argumentierte dagegen, daß es kein „ausgereiftes“ Militärrecht – wobei ihm
selbstverständlich das deutsche Recht als Idealbild vorschwebte – im Osmanischen
Reich gäbe, dem man „guten Gewissens“ auch deutsche Soldaten unterwerfen könne
und „[...] außerdem bestünde keine Gewähr, dass selbst ein ad hoc geschaffenes, den
deutschen
Rechts-
und
Dienstauffassungen
entsprechendes
gemeinsames
Disziplinarrecht von türkischer Seite richtig und gerecht angewandt werde“.1307 Die
Schuld an den Mißstimmungen gibt er der „Eifersucht und dem Eigendünkel der
herrschenden Schicht“.1308 Halil Pascha machte jedoch aus dem Ernst der Lage
keinen Hehl und schrieb an Paraquin:
„1- Da ich nunmehr fühle, dass die ursprünglich dienstliche Angelegenheit in eine
persönliche Form [etwa] [sic!] wie zwischen Türken- und Deutschtum übergeht, so
ersuche ich Sie, von jetzt ab weder schriftlich noch mündlich sich in dieser
Angelegenheit an mich zu wenden.
2- Ich habe heute dem Vizegeneralissimus gemeldet, dass trotz Ihrer guten Arbeit bis
jetzt ein weiteres Zusammenarbeiten infolge der zwischen uns eingetretenen Spaltung
nicht mehr möglich ist.“1309
Zu diesem Zeitpunkt hatte Paraquin aber bereits selbst um die Ablösung von seinem
Posten gebeten, da ihm ein weiteres Zusammenarbeiten „zur inneren Unmöglichkeit
geworden“ sei und er das Bedürfnis habe, „wieder einmal in reinlichen Verhältnissen
zu arbeiten“.1310 Am 11.4. beendete General von Seeckt jede weitere Diskussion mit
einem Schreiben, in dem er auf sehr deutliche Art und Weise zu einer gütlichen
Einigung im Sinne der Gesamtkriegführung mahnte.1311 Auch Halil muß eine
ähnliche Anweisung erhalten haben, denn tatsächlich arbeiteten er und Paraquin
weiter miteinander. Allerdings blieb ein „schaler Beigeschmack“, da beide Seiten
treffende Argumente hatten. Die deutsche „Bevormundung“ hatte durchaus militärfachliche Gründe, doch griff sie weit darüber hinaus und verfolgte auch eigennützige
Ziele. So trugen Paraquin und Halil gleichzeitig einen Streit über die Erschließung
1307
Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 8.4.1918, BAMA
Freiburg, PH 5 I/ 106.
1308
Ebd.
1309
Schreiben Halil Paschas an Oberstleutnant Paraquin vom 9.4.1918, , BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106.
1310
Schreiben Oberstleutnant Paraquins an Generalleutnant von Seeckt vom 1.4.1918, BAMA
Freiburg, PH 5 I/ 106, S. 4.
1311
Schreiben Generalleutnant von Seeckts an Oberstleutnant Paraquin vom 11.4.1918 (Von Offizier
zu Offizier – Nur über Kriegsleitung), BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106.
351
und Privatisierung einiger kleinerer Ölquellen in der Gegend um Mosul aus. Dabei
wollte Halil die Quellen in private türkische Hände geben, während Paraquin sie
gemäß Befehl dem (deutschen) Etappenkommandeur unterstellen wollte.1312 Ein
wesentliches Problem, aus dem häufig das Fehlverhalten deutscherseits resultierte,
wird hier offenbar: Das Deutsche Reich sah im Osmanischen Reich keinen
gleichwertigen Verbündeten. Daher versuchte es ständig, den eigenen Soldaten und
Offizieren Sonderstellungen zu verschaffen und sie – mehr oder weniger auffällig –
türkischen Einflußmöglichkeiten zu entziehen. Zugleich wurden, besonders gegen
Kriegsende im Kaukasus, deutsche Belange in den Vordergrund gestellt und die
türkische Interessenlage nur am Rande berücksichtigt. Diese Geringschätzung des
Bündnispartners kommt klar im Verhalten der Offiziere und ihren zahlreichen
Schriften zum Ausdruck, in denen die Hauptaufgabe und einzige Option des
Osmanischen Reiches darin gesehen wird, möglichst viele Kräfte des Gegners zu
binden, um deutsche Siege an den „wirklich wichtigen“ Fronten zu ermöglichen.1313
Die Möglichkeit, das osmanische Heer durchgreifend zu reformieren sah man
deutscherseits nicht, nachdem die vorherigen Militärberater augenscheinlich
gescheitert waren und der Krieg eine weitere Reformtätigkeit nahezu unmöglich
machte. Hingegen merkte Berlin schnell, daß der Türkei die wirtschaftlichen
Ressourcen für einen modernen und langen Krieg völlig fehlten. Schon bald wurde
deutlich, welche enormen Kosten die deutsche Wirtschaft tragen mußte, um den
Verbündeten am Bosporus militärisch und – in geringerem Umfange – auch
zivilwirtschaftlich mit dem Nötigsten zu versorgen. Berechnungen für den Januar
1916 beliefen sich auf einen Gesamtwarenwert von 138 656 983 Mark für die
Unterstützung der Hohen Pforte.1314 Bis zum Kriegsende sollten die militärischen
Lieferungen nach Kleinasien einen Wert von 435 Milllionen Mark erreichen, zu dem
1312
Schriftwechsel zwischen Halil Pascha und Oberstleutnant Paraquin vom 4.4.1918 bis 15.4.1918,
BAMA Freiburg, PH 5 I/ 106.
1313
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 243-249. Endres, Der Weltkrieg 1919, S. 10. Guse, Die
Kaukasusfront 1940, S. 119-122. Bericht des Generalmajors Bronsart von Schellendorff „Kurze
Darstellung der Grundzüge der türk. Kriegführung im Weltkrieg 1914/18“ vom 15.12.1917, BAMA
Freiburg, W 10/ 50325, S. 5. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 407-408.
1314
„Nachweisung über die aus Anlaß des Krieges für Rechnung der Türkei ausgeführten Lieferungen.
Ungefährer Stand Januar 1916.“ BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 105.
352
mindestens weitere 500 Milllionen Mark an nichtmilitärischen Leistungen kamen.1315
Zusätzlich zu diesen „Kriegsnotwendigkeiten“ stellte die deutsche Seite bereits Ende
1916 Berechnungen über die möglichen Kosten einer Militärreform der osmanischen
Streitkräfte nach Kriegsende an. Dabei schätzte der deutsche Marineattaché die
Summe auf weitere 1,3 Milliarden Mark.1316 Es stand außer Zweifel, daß die Hohe
Pforte auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein würde, diese Schulden
zurückzuzahlen.1317 Für die türkische Führung war es daher um so wichtiger,
wirtschaftlich lukrative Regionen – wie etwa die Region um Baku – zu besetzen, um
so die eigene Position zu stärken. Doch verfolgte Deutschland im Stillen andere
Pläne. Eine Stellungnahme des deutschen Militärbevollmächtigten in Konstantinopel
an die deutsche OHL vom Dezember 1915 deutet bereits die Richtung deutscher
Politik an:
„Nach dem Kriege wird die Haltung Deutschlands gegenüber der Türkei vielleicht
zurückhaltend, vielleicht sogar schr[o]ff sein müssen; während des Krieges müssen
wir uns jedoch mit der verbündeten Türkei und besonders mit der jetzigen Regierung
freundschaftlich stellen und die Grundlage zu einer gemeinsamen vertrauensvollen
Arbeit schaffen, wenn eine aktive und energische Weiterführung des Krieges von
Seiten der Türkei gewünscht wird. Hierzu müssen aber den Türken die als notwendig
erkannten Mittel gegeben werden, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass die
Türkei ihre eigenen Wege geht.“1318
Schon hier deutet sich an, daß wichtige deutsche Stellen das Bündnis mit dem
Osmanischen Reich als reine Zweckgemeinschaft ansahen, die man lediglich für die
Kriegszeit aufrecht erhalten mußte. Noch deutlicher geht dies aus einem Schreiben
Lossows an den deutschen Generalstab, das preußische Kriegsministerium und den
deutschen Botschafter vom November 1916 hervor. Anläßlich der hohen Schätzung
über die Kosten einer Militärreform meint er:
1315
Zu den nichtmilitärischen Lieferungen zählten unter anderem landwirtschaftliche Maschinen und
Geräte zur Verbesserung der Kohleförderung in der Türkei. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 297f.
1316
Anlage zum Schreiben des Marine-Attachés Humann an die Mittelmeer-Division vom 29.11.1916
(Ganz Geheim!), BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 21.
1317
Tatsächlich betrugen die türkischen Staatsschulden bereits 1914 etwa 171 Millionen Ltq (ca. 3,2
Milliarden Mark ) und stiegen durch deutsche und österreichisch-ungarische Kredite und Lieferungen
auf knapp 466 Millionen Ltq (ca. 8,5 Milliarden Mark). Emin, Turkey 1930, S. 163f.
1318
Schreiben von Lossow an Falkenhayn vom 20.12.1915, BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 102f.
353
„Es wird also notwendig sein, sich im Prinzip darüber klar zu werden, ob man in
Deutschland die für die Aufrichtung der Türkei nötigen sehr hohen Summen einsetzen
kann und will.+) [...]
+) Bemerkung:
Die bisher von Seiten des preußischen Kriegsministeriums an die in der Türkei
tätigen deutschen Offiziere ergangenen Weisungen lassen erkennen, daß man der
Entwicklung einer Waffen- und Kriegsmaterialindustrie größeren Umfanges in der
Türkei wenigstens bis jetzt ablehnend gegenüber gestanden hat.“1319
Die Eindrücke aus solchen Äußerungen werden noch durch die Handelsabkommen
zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn untermauert, die sowohl den
Balkan als auch die Türkei in „Interessensphären“ aufteilten und eine monopolartige
Handelsstruktur nach Kriegsende anstrebten, selbstverständlich ohne Konstantinopel
oder Sofia davon zu unterrichten oder gar Einfluß zu gewähren.1320
Eine uneigennützige Absicht der deutschen Seite, das kleinasiatische Großreich
militärisch und wirtschaftlich zu reformieren, muß in jedem Falle angezweifelt
werden. Vordringlich handelte es sich um ein Zweckbündnis mit der Hohen Pforte,
das eine deutsche Reformbereitschaft nicht ausschloß unter der Prämisse, daß man
dazu in der Lage war und sich diese „rechnete“. Sicher erhofften sich beide Seiten
gleichermaßen Vorteile von dem deutsch-osmanischen Bündnis und im Kriegsverlauf
zeigten sich – trotz vieler Rückschläge und Anstrengungen – einige solcher Vorteile
auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet. Deutschland scheint sich aber seiner
Position als „Senior-Partner“ überaus bewußt und sicher gewesen zu sein und
beabsichtigte offenkundig, die eigenen Vorteile auch auf Kosten des „Kranken
Mannes am Bosporus“ zu maximieren.
Die Sorge der osmanischen Führung, durch den deutschen Verbündeten dominiert zu
werden, war also keineswegs unbegründet. Für die Kooperation insbesondere in den
höheren Kommandostellen, deren Inhaber eher Einblick in solche übergeordneten
Zusammenhänge hatten, war gegenseitiges Mißtrauen aber kontraproduktiv.
1319
Schreiben Nr. 10478 von Lossow an den Chef des General-Stabes (politische Abteilung), das
preußische Kriegsministerium (Armee-Abteilung) und an den Botschafter vom 27.11.1916 (Ganz
Geheim!), BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 27.
1320
Anlagen zum Schreiben Nr. 6683/1.16.A.Z.(A).II.Ang. des Auswärtigen Amtes in Berlin an das
Kriegsministerium in München vom 10.2.1916, KA München, MKr. 224.
354
Die beiden wichtigsten deutschen Befehlshaber waren die (osmanischen) Marschälle
von Falkenhayn und Liman von Sanders. Falkenhayns negative Einstellung zu seinem
Kommando in Palästina führte schon bald zu ernsthafter Verstimmung unter den
Verbündeten.1321 Falkenhayn hatte alle wichtigen Dienstposten seines Stabes mit
deutschen Offizieren besetzt und griff nur auf wenige türkische Offiziere in niederen
Funktionen zurück. Offenbar wollte er so jegliche Einmischung des „inkompetenten“
Verbündeten
verhindern
und
den
von
vielen
Deutschen
angesprochenen
„Intrigenspielen“ vorbeugen.1322 Seit seiner Abberufung aus der OHL „witterte“ der
General überall Verrat, ein Problem, daß sich schon bei seinem Kommando an die
Rumänienfront bemerkbar gemacht hatte.1323 Nachdem er den Befehl über die
Heeresgruppe F in Palästina übernommen hatte, wollte Falkenhayn zudem dafür
sorgen, daß seinen Anweisungen im gesamten Operationsgebiet unbedingt Folge
geleistet würde. Daher kam es schon bald zum Zerwürfnis zwischen ihm und dem
Marineminister, Generalgouverneur von Syrien und Oberbefehlshaber der türkischen
Palästinafront, Djemal Pascha. Der folgende Konflikt endete mit dem Verlust des
Oberbefehls für Djemal, erzeugte jedoch den fortdauernden Widerstand der weiterhin
jenem als Gouverneur unterstehenden Zivil- und Nachschubverwaltung.1324 Franz von
Papen
als
Generalstabsoffizier
Falkenhayns
hatte
vergeblich
versucht
zu
verdeutlichen, daß Djemal eine Beschneidung seiner Macht niemals hinnehmen
würde. Nach dem erbitterten Streit aller hohen Stellen in der Türkei und in
Deutschland und dem „Erfolg“ Falkenhayns bemerkte Papen deprimiert: „Alle
vorausgesehenen Folgen traten ein.“1325
Ritter Mertz von Quirnheim findet für Falkenhayns Verhalten gegenüber dem
türkischen Verbündeten noch wesentlich deutlichere Worte:
„Er glaubte anscheinend als ‚Herrenmensch’ auftreten zu müssen um dadurch
Eindruck zu machen. So stiess er dann auch durch seine Forderungen den ‚Vizekönig
von Syrien’ Djemal Pascha vor den Kopf. [...T]ürkischen Führern stiess Falkenhayn
1321
Zu Falkenhayns Urteil über sein Kommando siehe S. 226.
Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 476.
1323
Afflerbach, Falkenhayn 1994, S. 468
1324
Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr von: Achmed Djemal Pascha, in: Zwischen Kaukasus
und Sinai – Jahrbuch des Bundes der Asienkämpfer, Bd. 2, Berlin 1922, S. 19f. Papen, Der Wahrheit
eine Gasse 1952, S. 93f.
1325
Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 94. Zu den vorstehenden Ereignissen siehe: Ebd., Seite
93.
1322
355
vor den Kopf, er scheute darin auch vor Enver selbst nicht zurück. So kam es in
Jerusalem zwischen beiden zu heftigen Auftritten. Enver forderte u.a. den General
v.F. auf, sich die türkischen Truppen an der Kampffront anzusehen. v.F. sah hierin
ein Anspielung Envers als ob er (v.F.) sich von der Kampfeszone fern halten wollte
und ‚behandelte’ Enver wie einen [‚]Negerhäuptling.’ “1326
Durch seine Art der „Führung“ schaffte es General von Falkenhayn noch weitere
hohe Offiziere aus seinem Befehlsbereich zu „vertreiben“. So ließ sich etwa Mustafa
Kemal Pascha – der spätere türkische Staatspräsident – als Führer der 7. Armee schon
wenige Wochen nach seinem Dienstantritt wieder versetzen, da die Differenzen mit
dem deutschen General unüberbrückbar waren.1327
Auch Liman von Sanders, der als Chef der deutschen Militärmission an besonders
exponierter Stelle tätig war, zeichnete sich bekanntlich nicht durch feinfühliges oder
diplomatisches Verhalten gegenüber dem Bundesgenossen aus. Von seinen
„gefürchteten“ Inspektionsreisen vor Kriegsausbruch war bereits die Rede.1328 In
diesem Zeitraum hatte sich schon gezeigt, daß sein Verhältnis zum Kriegsminister
Enver Pascha sehr gespannt war. Über die Gründe hierfür läßt sich nur spekulieren.
Es mag sich um rein fachliche Differenzen gehandelt haben, es könnte die
Verachtung für einen politischen Aufsteiger, wie es Enver zweifellos war,
mitgeschwungen haben oder beide könnten schlicht „inkompatible“ Persönlichkeiten
gewesen sein. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um eine Mischung aus allen
Faktoren. Liman selbst berichtet davon, daß Enver ihm geradezu „phantastische“
Pläne für die Kriegführung vorgelegt habe, wie sie nur ein militärischer Dilettant
habe entwerfen können. Diese wurden von Liman stets verworfen.1329 Daraufhin
setzte Enver, der de facto Oberbefehlshaber war, entweder seine Beschlüsse um, ohne
den Deutschen zu informieren, oder er bot dem Marschall Truppenkommandos an
entlegenen Fronten des Reiches an, um ihn aus Konstantinopel zu entfernen. Liman
sah dies als Autoritätsverletzung und Ehrabschneidung an und beschwerte sich bei
Enver sowie beim Deutschen Kaiser darüber, daß seine vertraglich festgelegte
1326
W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 20f.
Papen, Der Wahrheit eine Gasse 1952, S. 99.
1328
Siehe oben, S. 113f.
1329
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 51-58.
1327
356
Position unterminiert werde.1330 Otto von Lossow findet für dieses Verhalten einen
interessanten Vergleich:
„Daß diese Reibungen sich verschärften und chronisch wurden, dadurch, daß
General Liman bei jeder Gelegenheit sein Papier heraus zog und „auf seinen Schein
bestand“ habe ich schon früher erwähnt [...]. Im Gegenteil, wenn dort jemand in
Haltung und in Worten bei jeder Gelegenheit auftritt „mein Vater Parcival trägt eine
Kron´ und ich, sein Sohn, bin Lohengrin genannt“, so wirkt das teils verstimmend,
teils lächerlich.[...]
Es muß zugegeben werden, daß es für Liman nicht leicht war, das richtige Verhältnis
zu dem jungen Enver zu finden. Daß es möglich war, hat der viel ältere
Feldmarschall Goltz bewiesen.[...]
Höhere Eingriffe und neue §§§ [sic] hätten auch hier nichts genützt, wo fast alles auf
dem Gebiete des persönlichen Taktes lag.“1331
Der Konflikt zwischen Enver und Liman nahm immer heftigere Formen an. Im
Januar 1916 wollte Enver gar eine Reihe der Privilegien des Chefs der Militärmission
widerrufen, um die ständige Einmischung des deutschen Generals zu beenden. Da
Enver hierbei versuchte, sich selbst die Rechte zur Versetzung, Ernennung und
Abberufung deutscher Offiziere anzueignen und Liman nur die Befehlsgewalt über
die 5. Armee zu lassen, wäre dies einer partiellen Mediatisierung der Militärmission
gleichgekommen. Daran hatte Berlin jedoch keinerlei Interesse, zumal eine
Unterstellung aller deutschen Heeresangehörigen unter türkisches Kommando für die
deutsche Seite undenkbar war. Enver mußte seinen Vorstoß daher wieder
aufgeben.1332
In der Folge wurde das Verhältnis Limans zu dem „jungtürkischen Dilettanten“ noch
kühler, doch hatte der General sich durchsetzen können, was Envers Groll gegen ihn
ebenfalls steigerte.
Auch die spätere Berufung Limans zum Nachfolger des Generals von Falkenhayn als
Oberbefehlshaber in Syrien und Palästina brachte keinerlei Entspannung im
1330
Förmliche Beschwerde Liman von Sanders Paschas an Enver Pascha vom 13.11.1915,BAMA
Freiburg, W 10/ 50748. Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 67 u. 73f.
1331
Brief Otto von Lossows an den Präsidenten des Reichsarchivs Potsdam vom 25.11.1921, KA
München, HS 3158, S. 3.
1332
Schreiben von Enver Pascha an Liman von Sanders (Persönlich!) vom 28.1.1916, BAMA Freiburg,
W 10/ 50748.
357
Verhältnis zu Enver.1333 Freiherr Kreß von Kressenstein berichtet davon, daß Enver
und Liman sich so sehr verfeindet hatten, daß sie wochenlang kein Wort miteinander
sprachen und jede persönliche Begegnung vermieden.1334 Diese Abneigung steigerte
sich soweit, daß Liman es bei einem Besuch des Deutschen Kaisers ablehnte, mit
seinem Monarchen zusammen zu speisen, da er neben Enver hätte sitzen müssen.1335
Im Mai 1917 notierte Mertz von Quirnheim anläßlich der Suche nach einem
Nachfolger für Bronsart von Schellendorff als Chef des türkischen Generalstabes in
sein Tagebuch:
„Liman von Sanders wird von Enver schroff abgelehnt. Enver achtet in diesem
Manne nicht einmal einen besonders begabten Führer. Jedenfalls hat L.v.S. sich in
Konstantinopel politisch und gesellschaftlich so kompromittiert, daß er als rechte
Hand Envers gar nicht in Betracht kommen kann. Die politische Welt Cospolis würde
energischen Protest erheben. Ich weiß auch nicht, ob ich das bedauern sollte.“1336
Diese Beobachtungen lassen vermuten, daß es sich bei dem Konflikt zwischen Liman
und Enver um mehr als rein sachliche Meinungsverschiedenheiten handelte, wie
Eberhard Demm behauptet.1337 Vielmehr scheint die oben genannte „explosive
Mischung“ aus verschiedenen Faktoren vorzuliegen, bei der die persönliche Eitelkeit
oder besser das Gefühl einer „vertraglich zugesicherten Überlegenheit“ Limans
gegenüber dem höchsten türkischen Militär eine wichtige Rolle spielte. Zudem kann
nicht ausgeschlossen werden, daß der „Starrsinn“ eines hohen Offiziers, wie Liman
und das daraus folgende (erzwungene) Nachgeben Enver Paschas dazu beitrugen, daß
der osmanische Bündnispartner sich nach den Erfolgen des Jahres 1916 darum
bemühte, seine gestärkte Position gegenüber dem mitteleuropäischen Partner geltend
zu machen. Das unangemessene Auftreten der deutschen Generalität im Orient, die
stets auch im Fokus öffentlichen Interesses stand, hatte demnach spürbar negative
Auswirkungen auf die deutsch-türkische Kooperation. Im Vergleich dazu konnten
Verfehlungen rangniederer Offiziere mit geringeren Folgen auf das Bündnis
1333
Schriftwechsel zwischen Liman von Sanders, Hans von Seeckt und Enver Pascha vom 11. bis
26.4.1918, BAMA Freiburg, N 247/ 49.
1334
Kreß von Kressenstein: Mit den Türken 1938, S. 22.
1335
W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 17.
1336
W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 16.
1337
Demm, Kulturkonflikt 2005, S. 709.
358
„bereinigt“ oder vertuscht werden. Trotzdem deutet die Gesamtheit der Vorfälle
darauf hin, daß die deutschen Offiziere keinesfalls nur durch vorbildliches Verhalten
auffielen.
In einigen Bereichen wichen sie gar in extremer Weise vom „Idealbild“ ab. Auch
deutsche Offiziere waren keineswegs frei von Verhaltensweisen, Dienstverstößen
oder Übergriffen, die in Deutschland von Ehren- oder Militärgerichten geahndet
worden wären.
Vizewachtmeister Günter Popp, der wechselnd beim Licht-Meßtrupp 170 und der
Feld-Artillerie-Abteilung 701 in Palästina eingesetzt war, berichtet beispielsweise,
wie sein kommandierender Offizier reagierte, als 1918 britische Truppen gegen die
deutschen Stellungen vorrückten:
„Leutnant Kapitza ließ sich sein Pferd satteln und ritt mit seinem Burschen davon,
uns zurufend und ermunternd, unser Heil in der Flucht zu suchen.“1338
Von ihrem Einheitsführer im Stich gelassen, versuchten Popp und die verbliebenen
Angehörigen seiner Einheit den geordneten Rückzug anzutreten, kamen jedoch in
britische Gefangenschaft und wurden in Ägypten interniert.
Bei anderer Gelegenheit verweigerte der deutsche Abteilungsführer der osmanischen
Flieger-Abteilung 2 einen Befehl des Befehlshabers des türkischen Korps, dem er
unterstellt
war.
Die
Abteilung
sollte
ein
Flugzeug
losschicken,
um
Aufklärungsergebnisse über vorrückende britische Truppen zu bestätigen. Der
deutsche Führer lehnte dies jedoch mit dem fragwürdigen Argument ab, daß er für
einen solchen Flug zu wenig Sprit habe und es um 14:30 Uhr Ortszeit bereits zu spät
sei, noch einmal zu starten. Oberstleutnant Paraquin, Generalstabschef der
zuständigen 6. Armee, sah in solchen Aussagen lediglich Ausreden und befahl, daß
„solche voll berechtigten Klagen über mangelnde Selbsttätigkeit und Unterstützung
durch die Fliegerabteilung von dem Korps nicht mehr an die Armee gelangen“
sollten.1339 Aus dem Entwurf geht auch hervor, welche Aspekte an dem Verhalten des
betreffenden Offiziers das besondere Mißfallen Paraquins erregten:
1338
Günther Popp „Türkei, Palästina, Ägypten 1918/1919 (Meine Erlebnisse nach Briefen an meine
Angehörigen)“, BAMA Freiburg, MSg 2/ 4437, S. 56.
1339
Entwurf eines Schreibens von Oberstleutnant Paraquin an Kofl [Kommandeur der Flieger] 6,
FflAbt. [Feld-Flieger-Abteilungen] 2 und 13 sowie den kaiserlich osmanischen Oberstleutnant Reuss
359
„Ebenso erwarte ich, dass im dienstlichen Verkehr mit den türkischen Vorgesetzten
die soldatischen Formen streng gewahrt werden. Es verträgt sich nicht, wie es vor
einiger Zeit beim 13. Korps geschehen, dass der Führer der Fliegerabteilung dem
Generalstabschef des Korps, der sein dienstlicher Vorgesetzter ist, eine anmassende
und unmilitärische Antwort gibt. Abgesehen davon, dass es immer peinlich ist, sich
nachträglich entschuldigen zu müssen, wird in den Türken ein falscher Eindruck über
die Disziplinverhältnisse in unserer deutschen Armee erweckt.“1340
Erneut wird unter anderem die Sorge, das deutsche Ansehen gegenüber dem
Verbündeten zu wahren, deutlich. In diesem Zusammenhang mag es auch nicht
verwundern, daß der zitierte Passus im fertigen Schreiben gestrichen wurde, denn bei
der Zahl der Empfänger war es durchaus möglich, daß dieser Brief in türkische
Hände gelangte, was einem unverblümten Eingeständnis deutscher Fehler
gleichgekommen wäre.
Es wurde bereits erwähnt, daß die deutschen Stellen im Osmanischen Reich zu
absichtlicher Verschleierung von Fehlern tendierten, wenn dies als Option galt. Ein
Beispiel hierfür in kleinerem Rahmen ist in den Aufzeichnungen des Piloten Richard
Euringer zu finden. Ende Juni 1916 machten die deutschen Flieger aus seiner
Abteilung ein Übungsschießen auf Büsche in der Umgebung des Flugfeldes. Am
Abend des Tages entdeckten Posten im Zielgebiet einen toten türkischen
Infanteristen, der eindeutig durch einen Kopfschuß aus den Bordwaffen getötet
worden war, während er versuchte, seine Notdurft in den Büschen zu verrichten. Aus
Angst davor, einen „diplomatischen Zwischenfall“ zu erzeugen, da „ein
Christenhund [...] einen Muslim erschossen“ habe, wurde der Vorfall vertuscht.1341
Der verantwortliche Pilot mußte sich zwar bei den deutschen Vorgesetzten in Birseba
melden, aber auch diese waren offenbar der Ansicht, daß unauffälliges Vorgehen das
Richtige sei. Der Tote wird „in aller Stille versorgt“.1342 Der einzige Türke, der
zudem erst nach dem Abzug der Kompanie des Getöteten eingeweiht wurde, war der
und kaiserlich osmanischen Major Hartmann vom 13.2.1918 (Vertraulich!), BAMA Freiburg, PH 5
I/106. Der Name des deutschen Abteilungsführers ist nicht überliefert.
1340
Ebenda.
1341
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 325.
1342
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 326.
360
Verbindungsoffizier, der interessanterweise kein Verständnis für die deutsche
Aufregung zeigte:
„Unfall ist Unfall, im übrigen Krieg. Den Leuten sei zudem verboten, sich vom Lager
zu entfernen. Somit bleibt die Geschichte vertuscht.“1343
Abgesehen von der deutschen Tendenz, solche Vorfälle zu verschweigen, wird an
diesem Beispiel erneut die harte Einstellung osmanischer Offiziere gegenüber ihren
eigenen Soldaten manifest. Das Leben und Wohlergehen der Soldaten scheint bei den
türkischen Vorgesetzten nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Von
deutscher Seite wurde diese Einstellung zwar oft kritisiert, erscheint aber in dieser
Situation recht „hilfreich“. Wahrscheinlich hätte dieser Vorfall selbst bei sofortigem
Offenbaren der Flieger-Abteilung gar nicht zu den befürchteten Komplikationen
geführt. Doch diese Spekulation ist nebensächlich, denn es ist entscheidend, daß die
erste Reaktion der Deutschen vor Ort und an höherer Stelle das Vertuschen des
Vorfalls war. Es ist zumindest zweifelhaft, daß die Verantwortlichen auch in der
Heimat so hätten vorgehen können.
Um die Ausmaße der Taten, die von deutscher Seite verheimlicht wurden, zu
verdeutlichen, sollen hier noch zwei Zeugen angeführt werden. Der erste war der
junge Ernst Adolf Mueller, der sich als 17jähriger im Jahre 1915 freiwillig zum
bayerischen Militär meldete. Dort wurde er als Fahnenjunker angenommen und
aufgrund
vorhandener
Türkischkenntnisse,
die
er
durch
einen
türkischen
Gastdozenten erlangt hatte, zum Heeres-Nachrichten-Dienst nach Berlin versetzt. Im
Herbst 1915 kam er nach Konstantinopel, wo er als Angehöriger der Militärmission
den Auftrag bekam, „unauffällig“ die Gespräche von türkischen Würdenträgern und
Generälen zu belauschen, die von seinen Sprachkenntnissen nichts wußten.1344 Da er
so mit den höheren Schichten in der osmanischen Hauptstadt in Kontakt kam, wurde
er zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch bei Enver Pascha eingeladen. Vor
diesem Gespräch hatte er jedoch große Angst, da er „wußte, wie stark die Päderastie
in diesen Kreisen verbreitet war“.1345Als er seinem deutschen Vorgesetzten
deswegen Meldung machte, wurde er nur ausgelacht und dennoch zu dem Treffen
geschickt. Allerdings erwiesen sich seine Befürchtungen in diesem Fall als
1343
Euringer, Zug durch die Wüste 1938, S. 328.
HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 4f. u. S. 21.
1345
HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 25a.
1344
361
unbegründet. Offenbar beruhten sie aber nicht auf bloßen Hirngespinsten. Neben
seiner Tätigkeit bei Empfängen, wo er nach Bekanntwerden seiner Sprachkenntnisse
als Dolmetscher fungierte, wurde Mueller nämlich in Konstantinopel als eine der
Zivilstreifen eingesetzt, die Lokalverbote und das Verhalten deutscher Soldaten
überwachen sollten.1346 Obwohl er nicht detailliert schildert, welche Beobachtungen
er dort machte, so berichtet er doch, wie angeekelt er davon war, im Dienst Zeuge
„jeder erdenklichen Perversion“ zu werden:
„Fellationen durch Kinder waren da noch das Harmloseste.
Diese Tätigkeit in der „Unterwelt“ machte mich natürlich in gewissen, davon
betroffenen Kreisen denkbarst unbeliebt, sodaß ich nach einigen Monaten da
herausgezogen wurde und eine ganz andere Aufgabe erhielt.“1347
Da der junge Nachrichtendienstler durch sein Wissen offenbar eine Gefahr für das
Ansehen verschiedener deutscher (!) Persönlichkeiten darstellte, versuchte die
Militärmission die Zustände durch seine Versetzung verborgen zu halten. Mueller
sollte nunmehr ab Weihnachten 1915 die Nachschubtransporte nach Syrien, Palästina
und Mesopotamien „beschatten“, da hier vermehrt Diebstähle vorgekommen waren.
Schon bald konnte er beweisen, daß auf Bahnhöfen ganze Waggons mit
Versorgungsgütern abgekoppelt, auf Abstellgleise verschoben und dort vom
türkischen Bahnpersonal ausgeplündert worden waren. Die Bewachung wurde
verschärft
und
insbesondere
zum
Schutz
militärischer
Ausrüstung
der
Schußwaffengebrauch befohlen.1348 Trotzdem verschwanden während des Transports
über das Taurusgebirge immer wieder ganze Lasttierkarawanen, beladen mit Waffen
und Munition für die Truppen in den südlichen Provinzen. Zunächst machte Mueller
dafür Araber, Kurden und Armenier verantwortlich. Wie sich allerdings bald
herausstellte, steckte eine organisierte Räuberbande unter Führung eines deutschen
Majors hinter den Überfällen. Die Festnahme des – namentlich nicht genannten
Majors – sorgte bei den deutschen Stellen in Konstantinopel offenbar für großes
Aufsehen und brachte Mueller eine Versetzung nach Aleppo und Ende 1916
schließlich zum Stab der 4. osmanischen Armee (Damaskus) ein. Zudem wurde ihm
1346
Siehe hierzu auch oben, S. 335.
HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 30. Zum Sachverhalt siehe auch zuvor
S. 29.
1348
HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 36.
1347
362
ausdrücklich befohlen, Stillschweigen über die Vorgänge zu wahren.1349 Seine
Verwendungen in Syrien bezogen sich fortan offenbar auf „ungefährlichere“
Gegenstände, denn die weiteren Aufzeichnungen Muellers erwähnen keine weiteren
brisanten Vorfälle.
Daß der Nachrichtenoffizier mit seinen Erfahrungen nicht alleine stand, wird
deutlich, wenn man zusätzlich den Bericht von Major Serno über seine Zeit als Chef
der türkischen Fliegerwaffe heranzieht. Seine Dienstzeit im Orient war, wie bereits
mehrmals gezeigt, nicht frei von negativen Erfahrungen sowohl mit Deutschen als
auch mit Türken. Eine Begebenheit, die ihn besonders verärgerte, ereignete sich auf
dem Ausbildungsflugplatz bei San Stefano, wo er etwa 20-25 türkische Piloten und
Beobachter durch den türkischen Hauptmann Fuad Effendi ausbilden ließ. Wie sich
aber anläßlich eines Inspektionsbesuchs herausstellte, hatte der Hauptmann „seine
Kommandoge[w]alt dahin gehend ausgenutzt, daß er die Offiziere zu seiner
perversen Leidenschaft gezwungen habe, die nach deutschem Gesetz unter
Paragraph 175 mit Zuchthaus bestraft wird, ja sogar tätlich mit der Reitpeitsche
dabei vorgegangen sei.“1350
Serno echauffierte sich sehr über diese „Sauerei gegenüber ihm anvertrauten
Offizieren“, mußte jedoch feststellen, daß sowohl sein türkischer Adjutant als auch
die deutschen Stellen die Angelegenheit gelassener sahen. Er meldete den Vorfall bei
der deutschen Militärmission und sogar bei Bronsart von Schellendorff, dem
deutschen Stellvertreter Envers, und erhielt bei beiden ähnliche Reaktionen:
„Der [Major von König, Adjutant Limans] belustigte sich über meine
Niedergeschlagenheit und Sorge, lachte und setzte mir auseinander, daß ich da
türkisch umlernen müßte; denn das sei in der Türkei nicht strafbar und keinesfalls so
ehrenrührig, wie ich es nach deutschen Begriffen auffaßte. Ich sollte den Hauptmann
Fuad einfach rausschmeißen aus der Fliegertruppe.“1351
1349
HS 2884/1, Mueller „Erinnerungen an meine Tätigkeit“, S. 37f. u. S. 43f.
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 55. Der §175 des am 1. Januar 1872 inkraftgetretenen Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich besagte: „Die widernatürliche Unzucht, welche
zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren [sic] begangen wird, ist
mit Gefängniß [sic] zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt
werden.“ Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetze vom 31. Mai 1870
und dem Gesetze vom 15. Mai 1871, Berlin 1871, S. 52.
1351
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 55f.
1350
363
Das Ergebnis der Sache war, daß Hauptmann Fuad selbst um seine Versetzung
ersuchte, bevor er von Serno bestraft werden konnte, und eine weitere Verfolgung
damit endgültig unterblieb. Auffällig ist hier die nahezu „entspannte“ Reaktion der
Deutschen, wenn es sich nicht um Vergehen eigener Offiziere handelte. Daß in
solchen Fällen rascher und ernsthafter reagiert wurde, bestätigen auch zwei weitere
Erlebnisse Erich Sernos.
Im Laufe des Krieges ereignete sich ein ähnlicher Vorfall, wie der oben beschriebene,
allerdings mit deutscher Beteiligung. Serno hatte aus Gefälligkeit für Bronsart das
Versetzungsgesuch eines deutschen Oberleutnants bewilligt, der zur osmanischen
Fliegertruppe versetzt werden wollte, und zwar ohne zuvor dessen Personalakte zu
prüfen. Kurze Zeit später stellte sich heraus, daß der Offizier seine Versetzung
offenbar mit einem bestimmten Hintergrund angestrebt hatte, denn sein Vorgesetzter
Offizier beklagte sich „er betätige sich mit seinen türkischen Kameraden auf dem
Gebiete des § 175“.1352 Obwohl in diesem Falle nicht gewaltsam eine
Vorgesetztenposition ausgenutzt worden war, sondern es allem Anschein nach zu
einvernehmlichen Handlungen kam, stand die Reaktion Sernos seiner vorherigen in
keiner Weise nach, so daß rasch und energisch die Ablösung des Betreffenden
durchgesetzt wurde.
Als besäße dieses Vorkommnis allein nicht bereits genug Ähnlichkeit mit türkischem
Verhalten, das wohlgemerkt aus deutscher Sicht eine Straftat war, fiel ausgerechnet
auch noch der bekannteste deutsche Jagdflieger im Nahen Osten durch die „Adaption
orientalischer Sitten“ unangenehm auf. Oberleutnant Buddecke hatte beim
Glücksspiel gegen einen hohen Funktionär einer osmanischen Eisenbahn gewonnen.
Da der Verlierer nicht über genug Bargeld verfügte, stellte er dem deutschen Flieger
einen Güter-Waggon zur freien Verfügung, den dieser, genau wie es so häufig an den
türkischen Verbündeten kritisiert wurde, an einen Händler vermietete und einen
ansehnlichen Nebenverdienst einstrich. Als Major Serno davon erfuhr, legte er
sogleich an höchster Stelle Beschwerde gegen Buddecke ein, der dann aber selbst
seine Rückversetzung an die Westfront beantragte, als die OHL von den Vorgängen
erfuhr.1353 So wurde auch in diesem Fall wieder eine „Lösung“ gefunden, bevor ein
1352
1353
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 126.
MSg 1/228, Erinnerungen eines „Alten Adlers“, S. 126.
364
öffentlicher Skandal in Deutschland um den bekannten Jagdflieger entstehen konnte,
der möglicherweise der türkischen Seite „Angriffspunkte“ geboten hätte, um die
deutsche Überheblichkeit anzuprangern.
Zwei wichtige Erkenntnisse müssen bereits hier als Zwischenergebnis festgehalten
werden:
1. Die deutschen Offiziere im Osmanischen Reich entsprachen nicht alle dem
Idealbild, das so gern dem „verlausten türkischen Offizier“ gegenübergestellt
wurde. Im Gegenteil, manche machten sich ähnlicher Vergehen schuldig wie
die kritisierten Verbündeten.
2. Obwohl die verantwortlichen Stellen oft erstaunlich gut informiert waren, ist
ein aktives Gegenlenken, etwa eine ausdrückliche Belehrung neuversetzter
Offiziere oder die Abschreckung durch öffentliche Ahndung der Vergehen,
nicht zu erkennen. Die bekannten „Vorfälle“ waren offenkundig nicht mit
dem Selbstverständnis des Offizierkorps vereinbar, wurden anscheinend aber
als Ausnahmen angesehen, gegen die Prävention unnötig erschien. Die
häufigste Reaktion darauf war daher eine Vertuschung der Vorfälle, womit
eine weitgehende Straffreiheit des Täters einherging. Für den Fall, daß ein
Kaschieren unmöglich erschien oder die Person als „untragbar“ eingestuft
wurde, versetzte man den Betreffenden höchstens aus dem Orient zurück an
eine der europäischen Fronten.
Schließlich muß noch auf ein weiteres, bedeutendes Feld von „Fehlverhalten“
verwiesen werden, nämlich auf Konflikte deutscher Offiziere untereinander. Schon
bei flüchtigem Studium der Quellen läßt sich erkennen, daß die Deutschen im Orient
keineswegs eine „homogene“ Gruppe bildeten, die aufgrund nationaler Identität oder
der Zugehörigkeit zum Offizierstand – wenn man überhaupt von einem einheitlichen
„Stand“ sprechen kann – geschlossen gegenüber dem osmanischen Offizierkorps
auftrat.
Hier muß zunächst wieder auf die beiden bekanntesten deutschen Offiziere im
Osmanischen Reich verwiesen werden: die Marschälle Liman und Falkenhayn. Daß
diese keine diplomatisch geschickten Repräsentanten des Deutschen Reichs waren, ist
bereits angeklungen. Doch ihre Meinungsverschiedenheiten trugen sie eben nicht nur
365
mit dem türkischen Verbündeten aus, sondern auch mit deutschen Offizieren. Liman
von Sanders stand beispielsweise nicht etwa nur mit Enver Pascha in persönlichem
Streit, sondern gleichzeitig auch mit Bronsart von Schellendorff, den er 1914 zur
Verwendung als 2. Chef des türkischen Generalstabes von der Militärmission hatte
abgeben müssen.1354 Im Zuge des schlimmer werdenden Zerwürfnisses zwischen
dem türkischen Kriegsminister und dem Chef der Militärmission verschlechterte sich
auch das Verhältnis zwischen Bronsart und Liman. In vielen Fragen der Kriegführung
stand Bronsart auf der Seite Enver Paschas und für Liman von Sanders wurde er
damit vom Berater zum „Mittäter“ in Bezug auf den militärischen Dilettantismus des
Vizegeneralissmus. Ganz besonders deutlich wird diese Auffassung in einem
Privatbrief Limans, den er nach dem Kriege an Carl Mühlmann, seinen ehemaligen
Adjutanten bei der 5. Armee, schrieb und in dem er harsche Kritik an
Fehlentscheidungen bei den Dardanellenkämpfen übt, die seiner Ansicht nach durch
„Enver-Bronsart“ verursacht worden waren.1355 Die Liste derjenigen, mit denen
Liman von Sanders in Konflikt geriet, ist jedoch noch weitaus länger. So mußte auch
Freiherr von der Goltz bald feststellen, daß der Chef der Militärmission eifersüchtig
über seinen Befehlsbereich wachte. Als Liman 1915 den Oberbefehl über die
neuaufgestellte 5. Armee übernahm und Goltz den Befehl über die 1. Armee bekam,
stellten sich bald erste Kompetenzstreitigkeiten ein. Da die Verbände der 1. Armee
nicht unmittelbar in Kampfhandlungen an den Meerengen verwickelt waren, fiel
ihnen die Sicherung der Nachschublinien im Gebiet der 5. Armee zu. Deren
Befehlshaber hatte damit keine Befehlsgewalt über Truppen, die in seinem
rückwärtigen Raum standen, was ihn offenbar sehr verärgerte. Goltz schreibt dazu:
„Meine Beziehungen sind, mit allem was türkisch ist, die besten, die sich denken
lassen. General v. Liman freilich scheint in mir, obwohl ich seine Interessen nie
gekreuzt habe, einen gefährlichen Feind zu erblicken. Er spielt, wenn er irgendwas
erreichen will, den „wilden Mann“, womit er vielfach seinen Zweck erreicht. [...]
Ich beurteile die Lage weniger tragisch. Wo Liman festen Willen trifft, den er nicht zu
brechen vermag, fügt er sich. Ein Konflict [sic], wenn er kommt, was ich noch
bezweifle, wird Europa nicht mehr erschüttern, als es schon erschüttert ist. Meine
1354
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 30. Schon hier äußerte Liman „fachliche Bedenken“ gegen
Bronsart.
1355
Brief von Liman an Mühlmann aus München vom 30.1.1927, BAMA Freiburg, W 10/ 51475.
366
Abberufung würde bei den Türken, zumal beim Sultan, der mir aufrichtiges Vertrauen
schenkt, keine Freude erregen. Ich glaube auch, ihm und dem Lande bisher gute und
nicht unbedeutende Dienste geleistet zu haben.“1356
In der Tat hatte Liman versucht, über den Militärbevollmächtigten Otto von Lossow
die Abberufung des Freiherrn von der Goltz zu erwirken, was jedoch am türkischen
Widerstand scheiterte. Weitere Zusammenstöße blieben daher nicht aus, Goltz behielt
aber die Oberhand, was einerseits an seinem Ruf im Osmanischen Reich, aber
andererseits auch in seinem deutschen (!) Rang eines Generalfeldmarschalls gelegen
haben mag, der auf Liman sicher nicht ohne Eindruck blieb.1357 Freiherr von der
Goltz besaß allerdings noch einen weiteren gravierenden Vorteil in der
Auseinandersetzung mit Liman von Sanders: Er gehörte nicht der deutschen
Militärmission an, sondern war vom Deutschen Kaiser direkt dem Sultan unterstellt
worden. Diejenigen Offiziere, die der Mission unterstanden, mußten mit härteren
Maßnahmen des Chefs rechnen. Liman hatte offenbar schon kurz nach seiner
Ankunft in Konstantinopel stark unter psychischem Streß zu leiden, der sich nicht nur
negativ auf seine sozialen Kontakte, sondern auch auf den Dienst auswirkte.1358 Als
die britisch-französischen Landungen an den Dardanellen begannen, befahl er
ständige Gegenangriffe, die jedesmal unter hohen Verlusten fehlschlugen. Als er
erkannte, daß er zur Verteidigung übergehen mußte, wollte er dem preußischen
Oberst der Pioniertruppe und türkischen Generalmajor Weber – der zuvor die
französische Landung auf dem asiatischen Festland abgewehrt hatte – den
entsprechenden Abschnitt der Südfront übergeben. Als Limans Adjutant Prigge
jedoch eine unbestätigte Meldung brachte, daß die britischen Truppen sich auf dem
Rückzug befänden, änderte sich das Verhalten des Befehlshabers der 5. Armee
schlagartig:
„Jedenfalls änderte diese Meldung ohne weiteres die ungünstige Auffassung des O.B.
über die Lage; er sprach seine Genugtuung über den endlichen Erfolg seiner Angriffe
1356
Abschrift eines Privatbriefes von Goltz an Moltke vom 7.9.1915, BAMA Freiburg, N 78/ 3, Blatt
23.
1357
Abschrift eines Privatbriefes von Goltz an Moltke vom 27.9.1915 (Vertraulich!), BAMA Freiburg,
N 78/ 3, Blatt 24.
1358
Schreiben von Botschafter Wangenheim an das Auswärtige Amt in Berlin vom 16.3.1914 (Streng
Geheim!), BAMA Freiburg, W 10/ 50748. Siehe hierzu auch: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe
1976, S. 138-140.
367
aus, traf Anordnungen für eine kraftvolle Verfolgung und befahl meine Rückkehr zum
XV. A.K., da er meiner nun nicht mehr bedürfe.“1359
Weber blieb jedoch beim Stab der 5. Armee und bekam mit, wie Major Lange –
Divisionskommandeur im betreffenden Abschnitt – dem Oberbefehlshaber mitteilen
ließ, daß seine Truppen so erschöpft seien, daß sie keine weiteren Kampfhandlungen
überstehen würden, wenn die Angriffe nicht abgebrochen werden würden. Liman
wischte diese Meldung mit der Bemerkung beiseite, er kenne Lange als
„Flaumacher“. Erst als Aufklärungsflüge belegten, daß die britischen Truppen
keineswegs abzogen, befahl Liman die Einstellung der Angriffe und übergab Weber
doch das vorgesehene Kommando.1360 Generalmajor Weber zog aus dieser Erfahrung
die Lehre, seinen eigenen Wahrnehmungen der Lage vor Ort mehr zu vertrauen als
Befehlen des Armeechefs, denn Befehle, von deren Unrichtigkeit er überzeugt war,
führte er nur aus, wenn er von Liman eine schriftliche Bestätigung erhielt, die jedoch
in den meisten Fällen ausblieb.1361 Dies ist eine Handlungsweise, die sonst von
Deutschen nur gegenüber Türken angewandt wurde.1362 Es verwundert nicht, daß der
Konflikt erst mit der Ablösung Webers von seinem Kommando endete.
Wie schnell der Chef der Militärmission zu erzürnen war, zeigt auch ein Schreiben an
General von Seeckt, das Liman als Oberbefehlshaber in Syrien und Palästina
verfaßte. Hierin beschwert er sich über den deutschen Major von Feldmann, den Chef
der Operationsabteilung des türkischen Generalstabes, weil er sich mehrerer
„Achtungsverletzungen“ schuldig gemacht habe. So habe er es gewagt, einem
türkischen Offizier gegenüber ein Urteil über die Handlungsweise Limans abzugeben,
obwohl Feldmann doch keine Ahnung von der wahren Lage vor Ort habe. Außerdem
habe der Generalstabsoffizier ein Schreiben Envers in „ungebührlicher Weise“
übersetzt und an Liman von Sanders geschickt:
„So muß ich den Ausdruck ‚nachholen’ von einem deutschen Stabsoffizier aufgesetzt
an einen preuß. General der Kavallerie und Führer einer Heeresgruppe in dem
bestehenden Zusammenhang als gänzlich unpassend bezeichnen. Nachholen schließt
1359
Schreiben des General d. Inf. a.D. Weber an das Reichsarchiv (Ohne Datum, Eingangsstempel RA:
12.Januar 1924),BAMA Freiburg, W 10/ 51474, S. 10. (Im Folgenden: W 10/ 51474, Schreiben
General Webers an das Reichsarchiv.)
1360
W 10/ 51474, Schreiben General Webers an das Reichsarchiv, S. 11f.
1361
W 10/ 51474, Schreiben General Webers an das Reichsarchiv, S. 14f.
1362
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S. 27f. Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 28f.
368
ein Versäumnis ein. [...] Seit dem letzten Teile des Dardanellen-Feldzuges, nachdem
Major von Feldmann die Operationsabteilung übernommen hatte, sind viele
Vorgänge zu verzeichnen, welche nicht mit der in der preuß. Armee gebotenen
Achtung eines Majors gegen einen der ältesten Generale der Armee in
Übereinstimmung zu bringen sind. Ich habe bisher nur im Interesse unserer großen
Sache unterlassen durch Meldung an Seine Majestät einzuschreiten. Ich dulde aber
dieses Verhalten keineswegs länger.“ 1363
Wie der Konflikt mit Feldmarschall von der Goltz zeigte, nahm es Liman selbst nicht
„so genau“ mit der „gebotenen Achtung“ gegenüber einem dienstälteren und
ranghöheren Offizier. Eine Folge dieser ständigen Konflikte Limans mit anderen
deutschen Offizieren offenbarte sich jedoch spätestens nach der Ablösung des
Generals Weber im Sommer 1915, denn der Marschall besetzte die wichtigen
Stabspositionen und Kommandos innerhalb seiner Armee mit türkischen Offizieren
und entließ die deutschen Stabsoffiziere mit Ausnahme seiner engsten Vertrauten.1364
Allerdings tat er das in erster Linie nicht, um seinen Ruf beim türkischen
Verbündeten – der durch seine Opposition zu Enver als dem mächtigsten Mann im
Osmanischen Reich ohnehin irreparabel beschädigt war – zu verbessern oder gar auf
die Erfahrungen „ortskundiger“ Offiziere zurückgreifen zu können. Hier „säuberte“
ein deutscher General vielmehr seinen Stab von den „widerspenstigen, eigenwilligen“
Deutschen und setzte lieber auf die als unselbständig „bekannten“ türkischen
Offiziere. Ritter Mertz von Quirnheim spricht von einer „erklärten Absicht“ Limans,
die deutschen Offiziere im Stabe in den Hintergrund zu drängen. Als Beispiel dafür
führt er an, daß Liman seine deutschen Offiziere nicht von operativen Vorhaben wie
bestimmten Angriffen unterrichtete, sondern diese erst durch türkische Offiziere
davon erfuhren.1365 So wollte Marschall Liman wohl sicher gehen, daß gegen seine
Pläne keine Einsprüche laut wurden.
1363
Abschrift eines Briefes von Liman von Sanders an General von Seeckt vom 26.4.1918, BAMA
Freiburg, N 247/ 49, Blatt 8.
1364
Abschrift eines Privatbriefes von Goltz an Moltke vom 3.8.1915 (Vertraulich!), BAMA Freiburg,
N 78/ 3, Blatt 20.
1365
W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 22.
369
In ähnlicher Weise „säuberte“ auch General von Falkenhayn seinen Stab von
deutschen Offizieren. Er besetzte die Stellen jedoch wieder mit anderen deutschen
Offizieren, vorzugsweise mit solchen, die von der Westfront kamen und keine
Orienterfahrung besaßen. Erneut ist es Mertz von Quirnheim, der darüber berichtet:
„General von Falkenhayn tat sich geradezu etwas Gutes darauf, alle deutschen
Offiziere, die vor dem Frühjahr 1917 in den osmanischen Armeen und Diensten
standen, als ‚vertürkt’ zu betrachten und ohne irgendwelche Rücksicht auf diese seine
eigenen Wege zu gehen. [...] Den General von Bronsart straft er eigentlich mit
Verachtung und lehnte auch meine Anregung mit der deutschen Militärmission,
besonders mit deren Chef, in persönliche Verbindung zu treten, schroff ab. – Auf
seiner Erkundungsreise nach Mosul (Mai 1917) sprach er mit den bei der 6. Armee
befindlichen deutschen Offizieren kein Wort. In Palästina war es bei seinem ersten
Aufenthalt (ebenfalls Mai 1917) kaum besser. [...] Die deutschen Grundsätze sollten
auch für die Türken gelten. Als ein deutscher älterer Stabsoffizier den General auf die
Bedenken einer solchen Forderung hinwies, drohte Falkenhayn ihn ‚sofort nach
Europa’ zurückzuschicken und erklärte solche ‚Aeusserung als Boykott seiner
Anordnungen’. [...] Was v.F. mit dieser ‚Personalpolitik’ bezweckte, ist völlig unklar.
In seinem Stabe erhoben sich keine warnenden Stimme[n], sie wären wohl auch nicht
gehört worden.“1366
Auch wenn Mertz hier augenscheinlich Zweifel hegt, so dürfte er das Ziel der
„Personalpolitik“ Falkenhayns deutlich erkannt haben: Jeden Widerspruch oder die
zeitverzögerte Umsetzung seiner Befehle, den er bei türkischen Stellen und offenbar
auch „vertürkten“ Deutschen erwartete, im Ansatz zu unterbinden und seine
uneingeschränkte Autorität zu verdeutlichen. Ironischerweise war es die Straffung der
Hierarchie, durch die er das Zerwürfnis mit Djemal Pascha provozierte, das später zur
Ablösung Falkenhayns führte.
Auf eine wichtige Vokabel in diesem Bericht ist noch näher einzugehen. Das Wort
„vertürkt“ wurde von Falkenhayn offenbar als „Schimpfwort“ für länger im
Osmanischen Reich dienende Offiziere benutzt. Oberstleutnant Hans von Kiesling,
Generalstabsoffizier der 6. Armee in Mesopotamien, gibt eine Definition des
Begriffes:
1366
W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 2-4.
370
„Vertürkt war in jener Zeit ein Eigenschaftswort, das die in Konstantinopel sitzenden,
weit vom Schuß befindlichen Herren ebenso wie mancherlei Leute in Deutschland
gerne auf diejenigen Offiziere anwendeten, die bestrebt waren, zum Nutzen des
großen Ganzen harmonisch mit den Türken zusammenzuarbeiten, und die vielfach
keinen Hehl daraus machten, wie die am grünen Tisch beschlossenen Anordnungen
sich den realen Tatsachen und der rauhen Wirklichkeit gegenüber als
undurchführbar erwiesen.“1367
Auch Generalmajor Oskar Gressmann Pascha und der spätere osmanische
Generalmajor von Gleich bestätigen diese Verachtung gegenüber „vertürkten
Deutschen“.1368 Das bekannteste mit diesem „Etikett“ versehene Opfer war Freiherr
Kreß von Kressenstein, der nach dem britischen Durchbruch in der 3. Schlacht um
Gaza durch General von Falkenhayn von seinem Posten als Befehlshaber der 8.
Armee abgelöst und in den Stab der Heeresgruppe F versetzt wurde. Er beklagt sich
über das Verhalten Falkenhayns bei Bronsart von Schellendorff:
„(Leider bildete sich vom ersten Tage an ein gewisser Gegensatz zwischen dem
Heeresgruppen-Kommando und mir heraus, den Exz. von Falkenhayn, wie ich
vermute, darauf zurückführt, dass es mir am nötigen Offensivgeist, an der Freude an
aktiven Unternehmungen und an der nötigen Schärfe gegenüber den Türken fehlt.)
Ich führe den Gegensatz darauf zurück, dass Exz.Falkenhayn [sic] weder (die Armeen
die er kommandiert, noch) den Charakter des türkischen Volkes, noch den
Kriegsschauplatz kannte, (oder ich darf sagen: kennt.) (Exz. Hatte nichts von den
Truppen, mit denen er arbeitete, gesehen.) Meine Berichte und Erzählungen und
Wahrnehmungen wurden, (wie dies ja bei uns Deutschen leider immer der Fall ist,)
als Uebertreibungen und als der Ausfluss des Pessimismus und der Vertürkung
angesehen und man glaubte, durch festen Willen, durch Energie und rücksichtsloser
[sic] Grobheit in kurzer Zeit alle Uebelstände, die aus einer hundertjährigen
Verbummelung hervorgehen, beseitigen und beheben zu können. Exz.v.F. führte die
1367
Kiesling, Hans von [d.i. Hans Edler von Kiesling auf Kieslingstein]: Mit Feldmarschall von der
Goltz Pascha in Mesopotamien und Persien, Leipzig 1922, S. 109.
1368
Aus den Erinnerungen von Oskar Gressmann, Exc., General und Pascha, KA München, M 68, S.
24. Oberst von Gleich, dem lange Zeit das Tragen der türkischen Uniform untersagt war, wurde nach
dem Tode des Feldmarschalls von der Goltz als Generalmajor in die osmanische Armee aufgenommen.
Obwohl er damit erst verhältnismäßig spät in den Dienst des Sultans übertritt, haftet bald auch ihm der
Ruf an, er sei „vertürkt“. Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 111f. u. S. 134.
371
türkische Armee im Grenzgebiet der Wüste, wie man eine deutsche Armee im
zivilisierten Europa führt.“1369
Fehlende Härte gegenüber dem rückständigen Bündnispartner und Kritik an harten
Entscheidungen deutscher Vorgesetzter beim Einsatz von Türken waren demnach die
wichtigsten „Symptome der Vertürkung“. Die gesammelten Erfahrungswerte der
bereits länger im Orient dienenden Offiziere wurden auf eine eigenartige Weise
pervertiert, denn man glaubte nicht nur, sich über solche Ratschläge hinwegsetzen zu
können, sondern man sah in Verweisen auf die Realitäten vor Ort eine unzulässige
Kritik oder gar Insubordination, unter Umstäden auch einen Grund, den betreffenden
„Orientkämpfer“ zu maßregeln oder gar von seinem Posten abzulösen.
Einschränkend
muß
jedoch
festgestellt
werden,
daß
keineswegs
alle
Neuankömmlinge aus Deutschland so über ihre erfahrenen Kameraden im
Osmanischen Reich dachten. Hans Guhr und Ludwig Schraudenbach etwa sammelten
während ihrer Reise in die Türkei so viele Berichte von deutschen Offizieren, wie sie
konnten.1370 Gerold von Gleich schreibt die Verachtung für „vertürkte“, „zu lasche“
Offiziere auch eher einem bestimmten Personenkreis zu:
„Nichts war verfehlter und erfolgloser, als wenn manche Deutsche mit dem festen
Vorsatz nach der Türkei kamen, den trägen Türken ‚tüchtig auf den Schwung zu
bringen’. Derartigen Gelüsten sind meist solche erlegen, deren eigenes Können
weniger vorbildlich war.“1371
Zu diesem Personenkreis zählten offenbar besonders die hohen Stabsoffiziere der
Heeresgruppe F, wie Falkenhayn selbst, aber eben auch sein Stabschef, der
preußische Oberst und später Generalmajor von Dommes, der deutschen Offizieren
voller Zorn Kriegsgerichtsverfahren androhte, wenn es auf den türkischen
Nachschublinien
zu
Verzögerungen
bei
Treibstofflieferungen
kam.1372
Die
türkeiunerfahrenen Offiziere des Stabes der Heeresgruppe waren sich der
1369
Auszug aus einem Brief von Kreß von Kressenstein an Bronsart von Schellendorff aus Nablus vom
2.12.1917, BAMA Freiburg, N 247/ 40, Blatt 10. Die runden Klammern sind im Original
handschriftlich eingefügt worden.
1370
Guhr, Türkischer Divisionskommandeur 1937, S.20 u. S. 26-28. Schraudenbach, Muharebe 1925,
S. 29, S. 34f. u. S. 50.
1371
Gleich, Vom Balkan nach Bagdad 1921, S. 94.
1372
Aktenvermerk des Hauptmann Paschasius aus Jerusalem vom 7.11.1917, BAMA Freiburg, PH 20/
11, Blatt 65-68.
372
Schwierigkeiten im fremden Land offenbar nicht bewußt, was sogar nachweislich
„nicht-vertürkten“ Beobachtern wie Oberst Mertz von Quirnheim negativ auffiel:
„Die Illusionen waren unerhört. Der Generalstabschef General von Dommes glaubte
in vollem Ernste eine Angriffsarmee bei Berseba versammeln und mit dieser durch
die Wüste gegen die rechte englische Flanke vorstossen zu können. Die
Transportleistungen der Eisenbahn wurden auf dem Papier einfach in die
entsprechende Höhe gesetzt und dann damit als gegebene Faktoren gerechnet. Das
Wasser
wollte
man
in
allem
Ernste
den
angreifenden
Truppen
auf
Automobiltankwagen nachführen! ! [...] Wie verheerend musste die harte Wirklichkeit
im Oktober November 1917 [sic] auf solche Phantasien wirken, kein Wunder wenn
‚die Nerven bald versagten’. Und nun suchte man einen ‚Schuldigen’.“1373
Diese Schuldigen fand man zum einen in den unzulänglichen türkischen Ressourcen,
aber zum anderen auch in Form „vertürkter“ Deutscher. Für den Betrachter stellt sich
allerdings die Frage, ob die angesprochenen „Illusionen“ entstanden, weil unter dem
Druck britischer Angriffe schnelles Handeln erforderlich war, das ein ausführliches
Einarbeiten in das Operationsgebiet nicht erlaubte, oder ob nicht tatsächlich hier auch
deutschen Offizieren – zumindest in Teilen – „militärischer Dilettantismus“ zumal
auf fremdem Kriegsschauplatz vorgeworfen werden muß. Daß jedenfalls nicht alle
Stabsoffiziere Falkenhayns die Augen vor der „orientalischen Realität“ verschlossen,
beweist das Beispiel des mahnenden Franz von Papen, dessen Stimme
bezeichnenderweise ungehört blieb.
Eines machen die Beispiele auf jeden Fall deutlich: Die deutschen Offiziere im
Osmanischen Reich, insbesondere die höheren Offiziere, trugen zahlreiche Konflikte
untereinander aus, die sich äußerst hinderlich auf die Dienstgeschäfte auswirkten. Die
sturkturellen Bedingungen des Einsatzes im Orient trugen zu Mißverständnissen und
Reibungen ihren Teil bei, denn viele Details der deutsch-türkischen Zusammenarbeit
waren nicht festgelegt worden und die „Zwitterstellung“ deutscher Offiziere in
türkischer Uniform konnte auch im Umgang mit ihren Landsleuten zu
Komplikationen führen von denen das Stigma der „Vertürkung“ nur eine war. Solche
Streitigkeiten waren geeignet, das Ansehen der Deutschen bei ihrem osmanischen
1373
W 10/ 50592, Bemerkungen Ritter Mertz v. Quirnheims, S. 20f.
373
Bündnispartner zu schädigen. Ausgerechnet General von Falkenhayn warnt in einem
Tagesbefehl des Heeresgruppenkommandos F vor den Folgen:
„Sie [die deutschen Offiziere und Angehörigen der Heeresgruppe] dürfen niemals
vergessen, daß sie fortgesetzt unter schärfster Beobachtung stehen, und daß jeder
Fehler des Einzelnen der Gesammtheit [sic] zur Last gelegt wird. Von der
überwiegenden Mehrheit hier werden wir, wie es nicht anders sein kann, durchaus
nicht durch verschönernde Gläser vielmehr mit sehr kritischen Augen betrachtet.“1374
Eine „ordnende Hand“, die solche Vorgänge hätte unterbinden können, gab es für die
Deutschen im Osmanischen Reich jedoch nicht. Die Militärmission, ursprünglich als
ein solches Zentralorgan für die deutschen Militärberater im Orient konzipiert,
versagte in dieser Aufgabe völlig, da sie zu deren Wahrnehmung unter
Kriegsbedingungen nicht angelegt war und zudem auf viele Hindernisse beim
Verbündeten stieß, aber auch, weil der Posten des Chefs sehr unvorteilhaft besetzt
worden war. Daneben wurde die zentrale, bündelnde Funktion der Mission dadurch
ausgehebelt, daß der deutsche Chef der Flotte, der Militärbevollmächtigte in
Konstantinopel, Freiherr von der Goltz in seiner Stellung beim Sultan und später auch
der Befehlshaber der Heeresgruppe F sowie zahlreiche weitere deutsche Stellen –
sowohl militärische und diplomatische – unmittelbar nach Deutschland berichten
konnten.1375 In Deutschland trafen diese Meldungen wiederum bei verschiedenen
Stellen, wie OHL, Auswärtigem Amt oder beim Kaiser direkt ein. Von einem
einheitlichen Instanzenzug kann demnach keine Rede sein, die strukturellen
Schwächen in der Exekutive des Reichs spiegelten sich demnach auf der deutschen
Seite in der Türkei und erhielten unter den schwierigen Kriegsbedingungen eine
besondere Brisanz.1376 Außerdem war der deutsche Große Generalstab zu weit vom
Osmanischen Reich entfernt, um effektiv zur Lösung von Kompetenzfragen oder
Klärung von Befehlsverhältnissen beitragen zu können. In der Regel beschränkte sich
ein Eingreifen auf die Ermahnung aller Beteiligten, doch „um des großen Ganzen
Willen“ eine Einigung zu finden.
1374
Tagesbefehl Nr. 1521 des Heeresgruppenkommandos F vom 30.07.1917, BAMA Freiburg PH 20/
10, Blatt 15.
1375
Liman, Fünf Jahre Türkei 1920, S. 27-29. Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 295f.
1376
Siehe hierzu: Deist, Militär und Innenpolitik 1970, S. XL-LI.
374
In gewisser Hinsicht boten diese Mängel des deutschen Engagements im Orient daher
einen „rechtsfreien Raum“ für ambitionierte Offiziere. In Ermangelung einer
allgemein anerkannten Autorität mag es kaum überraschen, daß zum Teil mit
übertriebener Härte versucht wurde, den eigenen Befehlsbereich abzusichern. Daß ein
solches Verhalten den eigentlichen militärischen Auftrag gefährden konnte, wurde
dabei häufig übersehen. Von den Konflikten zwischen den militärischen und den
diplomatischen Vertretern Deutschlands ist dabei noch gar nicht gesprochen
worden.1377
Abschließend muß für die deutschen Soldaten und auch Offiziere festgestellt werden,
daß sie keineswegs immer Repräsentanten eines „zivilisatorisch höherstehenden
Europas“ waren. Sie machten sich teilweise der gleichen Vergehen schuldig, für die
sie die türkischen Militärangehörigen verurteilten. Diese Tatsachen wurden allerdings
tunlichst geheim gehalten oder vertuscht, um gegenüber der Türkei den Anschein der
deutschen Überlegenheit zu wahren. Ein solches Verhalten trug jedoch kaum zu
einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen den Bündnispartnern bei, da hier
künstlich eine Kluft konstruiert wurde, statt eine „Brücke des gegenseitigen
Verständnisses“ zu errichten. Deutschen und insbesondere türkeiunerfahrenen
Offizieren wurde es daher sehr einfach gemacht, gegenüber dem „rückständigen
Osmanen“ arrogant aufzutreten. Diese Haltung stieß jedoch mit zunehmender
Kriegsdauer auf deutliches Mißfallen beim Verbündeten, der sich wohl nicht völlig
zu Unrecht an die „kolonialherrliche“ Einstellung der Großmächte erinnert fühlte,
deren Kapitulationen die Hohe Pforte so zielstrebig verworfen hatte. Außerdem
hatten die Erfolge an den Meerengen und bei Kut-el-Amara das osmanische
Selbstvertrauen soweit gestärkt, daß man glaubte, als gleichberechtigter Partner
angesehen werden zu können. Wenn aber der deutsche Bundesgenosse seinen eigenen
Überlegenheitsdünkel offen zur Schau trug, so war der Konflikt zwischen Orient und
Okkzident vorprogrammiert. Umgekehrt gibt es aber auch viele Beispiele für
deutsche Offiziere, die bereit waren, sich bis zu einem gewissen Maße auf die
„Eigentümlichkeiten“ des Osmanischen Reiches einzulassen, und zu Kompromissen
1377
Siehe hierzu die bereits mehrmals zitierten Werke: Wallach, Anatomie einer Militärhilfe 1976;
Weber, Eagles on the Crescent 1970; Trumpener, Germany and the Ottoman Empire 1968.
375
gelangen konnten, die ihnen erlaubten, den Rahmen der Möglichkeiten an den
kleinasiatischen Fronten voll auszuschöpfen. Freiherr Colmar von der Goltz, Freiherr
Kreß von Kressenstein, Hans Guhr, Erich Serno oder Rudolf Firle sind einige dieser
positiven Beispiele.
V.3. „Am deutschen Wesen.....“1378 – Erfolge deutscher Militärhilfe?
Die Ausführungen über das deutsch-osmanische Bündnis lassen erkennen, daß
Reibungen und Mißverständnisse beinahe alltäglich waren. Dabei trug das Verhalten
der deutschen Militärberater meist nicht zum Ausgleich, geschweige denn zum
Spannungsabbau bei.1379 Die oftmals starre Dienstauffassung der Deutschen
erschwerte eine Zusammenarbeit besonders dann, wenn die Europäer versuchten, ihre
Ausbildungs-
und
Führungsgrundsätze
unverändert
auf
die
orientalischen
Verhältnisse zu übertragen. Die „erfolgreiche Tätigkeit“ – die Dimensionen von
„Erfolg“ sind im Folgenden noch zu eruieren – hing eben nicht allein von der
fachlichen Bildung der Missionsoffiziere ab, sondern auch von der sozialen und
politischen Kompetenz sowie dem Verständnis für andere Kulturen und Mentalitäten,
die diese mitbrachten. Nur so konnten die „Fremden“ hoffen, sich in den
orientalischen Strukturen das Vertrauen und Ansehen zu sichern, das nötig war, um
zumindest ansatzweise osmanische Unterstützung zu erfahren. Doch nur wenige
1378
Frei nach dem Gedicht „Deutschlands Beruf“ von Emanuel Geibel (1815-1884) in dem es heißt:
„Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen.“ Zit. nach: Conrady, Karl Otto
(Hrsg.): Der Neue Conrady – Das große deutsche Gedichtbuch. Von den Anfängen bis zur Gegenwart,
Düsseldorf/Zürich 2000, S. 493. In abgewandelter Form wird diese Zeile häufig als Versinnbildlichung
des deutschen Weltmachtstrebens unter Wilhelm II. genutzt. Dabei wird jedoch oft die eigentliche
Intention des Dichters verkannt, der diese Zeilen bereits 1861 verfasste, um seinem Wunsch nach einer
Vereinigung der deutschen Staaten Ausdruck zu verleihen. In der hiesigen Überschrift soll die Zeile
die deutsche Militärhilfe mit dem Ziel eines siegreichen Kriegsverlaufs, aber auch den
Führungsanspruch im Bündnis sowie den Überlegenheitsanspruch der Berater thematisieren.
1379
Auch wenn die türkische Seite nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist, so läßt sich doch
erkennen, daß auch osmanische Stellen manchen Konflikt durch ihr Verhalten auslösten oder gar
verschärften. Insbesondere die Wahrnehmung der Siege an den Meerengen und in Mesopotamien als
osmanische Erfolge resultierte in einem zunehmenden „türkischen Chauvinismus“ – wie Weber es
nennt – , der wiederum zu einem Beharren auf den jeweiligen Selbst- und Fremdeinschätzungen statt
zu gegenseitiger Anerkennung der (Hilfs-)Leistungen führte. Weber, Eagles on the Crescent 1970, S.
159.
376
Deutsche waren sich solcher Implikationen ihrer Stellung am Bosporus bewußt.1380
Dies kann insofern kaum verwundern, als sich der Auftrag der Militärmission und des
selbständigen „Asienkorps“ ausschließlich auf den militärischen Sektor beschränken
sollte. Zudem hatte die türkische Seite mehr als einmal deutlich gemacht, daß
Einmischungen in innenpolitische oder administrative Angelegenheiten unerwünscht
waren. Doch realiter war das Politisch-Zivile mit dem Militärisch-Dienstlichen häufig
so stark verwoben, daß es sich nicht voneinander trennen ließ. Unter dieser
Problematik mußte besonders die Tätigkeit der Militärmission leiden, hatten General
Liman von Sanders und die Hohe Pforte in ihrem Vertragswerk doch absichtlich
einen unpolitischen Ansatz verfolgt. Die nur vage – aber großzügig – definierten
Einflußsphären des Missionschefs machten ein nachträgliches „Ausloten“ der
tatsächlichen
Kompetenzen
ebenso
notwendig
wie
die
unklare
und
auf
Friedensbedingungen gemünzte Auftragsformulierung. Liman besaß jedoch weder
das notwendige Einfühlungsvermögen noch die Kompromißbereitschaft, um seine
Position etwa mit Hilfe von Enver Pascha und der jungtürkischen Partei zu festigen.
Für die Offiziere der geschlossenen deutschen Formationen der Heeresgruppe F
gestalteten sich die Einflußmöglichkeiten noch schwieriger, denn sie unterstanden
nicht der Mission, waren damit keine Angehörigen des osmanischen Heeres und
besaßen somit keinen festen Platz in der orientalischen Hierarchie. Dennoch
versuchten die Deutschen – ohne Rücksicht auf das systemimmanente und –
stabiliserende Geflecht parteilicher, gruppenspezifischer oder persönlicher Bindungen
der türkischen Offiziere – die Führung zu übernehmen, da sie nur so glaubten, eine
effektive und letzlich erfolgreiche Kriegführung auf den orientalischen Schauplätzen
gewährleitsen zu können. Dadurch provozierten sie beim Verbündeten oft Unwillen
zur Kooperation. Der Konflikt zwischen General von Falkenhayn und Djemal Pascha
in Palästina zeigt zudem, daß im Orient politische Faktoren den Dienstbetrieb bishin
1380
Neben den mehrmals erwähnten Beispielen Goltz und Kreß sei hier auch auf General von Seeckt
hingewiesen, der als Nachfolger Bronsart von Schellendorfs im Amt des stellvertretenden Chefs des
osmanischen Großen Generalstabes rasch feststellen mußte, daß er unentwegt in innen- und
außenpolitischen Fragen zu Rate gezogen wurde. Obwohl ihm dabei kaum mangelnder Enthusiasmus
vorgeworfen werden kann, war ihm dieses zusätzliche Betätigungsfeld offenbar recht unangenehm.
Rabenau, Seeckt 1940, S. 70.
377
zur Gefährdung der Operationen eines gesamten Kriegsschauplatzes überschatten
konnten.1381
Es stellt sich demnach die Frage, was im Zusammenhang des Militärbündnisses als
„Erfolg“ oder „Leistung“ im Rahmen des deutschen Engagements bezeichnet werden
kann. Leistungskategorien sind in diesem Fall nur äußerst schwer festzulegen.
Hierbei wirkt sich die militärische Provenienz der Quellen hinderlich aus, sind doch
die erhaltenen Stücke fast ausschließlich auf unmittelbar dienstliche Belange des
jeweiligen Verfassers fokussiert. So sind zwar Meldungen über Ausbildungs- und
Versorgungsmängel
bei
den
Truppen
ebensowenig
eine
Seltenheit
wie
Gefechtsberichte, hingegen finden sich keine „Evaluierungen“ der deutschen
Militärhilfe. Dies führt dazu, daß Verfehlungen oder Probleme sehr ausführlich
analysiert werden können, während Verbesserungen oder Lernerfolge höchstens
implizit zu erkennen sind.
Zunächst sollten allerdings die Ebenen erläutert werden, auf denen sich die
„Leistungen“ überhaupt hätten niederschlagen sollen oder können. Der generelle
Auftrag der Militärberater bestand in der strukturellen Modernisierung der
osmanischen Streitkräfte. Mit Ausbruch des Krieges wurden die Missionsoffiziere
jedoch zunehmend in Stabs- oder Kommandofunktionen eingesetzt. Diese deutschen
Truppenführer nahmen die Erfolge der Reformbemühungen primär als Faktoren
wahr, die sich auf Sieg oder Niederlage im Kampf auswirkten. Die Führung der
Militärmission aber auch die Deutschem im osmanischen Großen Generalstab mußten
zudem die Gesamtentwicklung auf den Kriegsschauplätzen und deren Auswirkungen
auf bündnispolitischer Ebene berücksichtigen. Für Etappenoffiziere hingegen stand
eine funktionierende Versorgung und zugleich Zusammenarbeit mit (häufig zivilen)
türkischen Behörden im Vordergrund, während Ausbildungsoffiziere die Leistungen
ihrer „Schüler“ hauptsächlich im Übungsrahmen bewerten mußten. Somit waren die
deutschen Bewertungsmaßstäbe nicht zwangsläufig einheitliche, zumal individuelle
Leistungsansprüche stark differieren konnten.
Dennoch sind allgemein zwei „Leistungs-Ebenen“ zu berücksichtigen:
-
Zum einen die militär-fachliche Ebene. Hiermit sind zunächst die Reformen der
Grundstrukturen
1381
des osmanischen
Streitkräfte
Siehe oben, S. 277f.
378
(Ausbildung, Ausrüstung,
Formation) gemeint. Zugleich umfaßt sie die Erfahrung militärischer Siege (oder
Niederlagen) deutscher Offiziere im türkischen Generalstab sowie der
Kommandeure deutscher und osmanischer Verbände im Orient.
-
Zum anderen muß die Bündnis-Ebene angesprochen werden, womit die Beiträge
gemeint sind, die Militärberater leisteten, um die deutschen (!) Erwartungen an
das Bündnis mit der Hohen Pforte zu erfüllen.
Auf den ersten Blick erscheint der Begriff „Erfolg“ auf militär-fachlicher Ebene
unangebracht. Die Quellen belegen, daß die gravierenden Ausbildungsmängel der
osmanischen Mannschaften und Offiziere kaum abgestellt werden konnten, und die
operationsgeschichtlichen Betrachtungen zeigen, daß die türkischen Operationen in
der
überwiegenden
Mehrheit
an
eben
diesen
und
zahlreichen
weiteren
Unzulänglichkeiten scheiterten. Schließlich waren die Verbündeten im Jahre 1918
gezwungen zu kapitulieren und ihre militärische Niederlage einzugestehen.
Doch solche Betrachtung greift zu kurz, denn die Tatsache, daß die Armee eines
Landes, das kurz vor Kriegsausbruch noch als „nicht bündnisfähig“, ja sogar als
„Sterbender“ bezeichnet wurde, vier Jahre an der Seite der Mittelmächte kämpfte,
muß bereits als großer Erfolg gelten. Fraglich ist allerdings, wie groß der deutsche
Anteil an diesem Erfolg war. Edward Erickson behauptet in seiner Geschichte der
osmanischen Armee im Ersten Weltkrieg, daß die deutsche Beteiligung überschätzt
werde. Die deutsche Dominanz sei ein „Mythos“, der geschaffen worden sei, um die
Leistung der türkischen Armee als „formidable fighting machine much feared by its
enemies“1382 herunterzuspielen. Dementsprechend ignoriert Erickson in seiner Arbeit
weitgehend den deutschen Einfluß auf die bewaffnete Macht des Sultans und widmet
der militärischen Unterstützung nur ein kurzes Kapitel im Anhang. Dort muß er bei
näherer Betrachtung der Waffen- und Versorgungslieferungen aus Deutschland und
der beachtlichen Anzahl deutscher (Generalstabs-)Offiziere im Orient jedoch
einräumen, daß die Unterstützung für die türkischen Kriegsanstrengungen
beträchtlich war.1383 Dieses Vorgehen deutet daraufhin, daß Erickson daran gelegen
1382
1383
Erickson, Ordered to Die 2001, S. xvii.
Erickson, Ordered to Die 2001, S. 234.
379
ist, die militärische Leistungsfähigkeit der türkischen Seite besonders und
augenscheinlich auch über Gebühr hervorzuheben.
Die deutsche Forschung nach 1945 tut sich hingegen schwer mit Urteilen über die
Leistungen der deutschen Waffenhilfe. Wenn überhaupt, werden Auswirkungen des
Ersten Weltkrieges im politischen wie gesellschaftlichen Verhältnis der beiden
Völker gesucht.1384 Lediglich Klaus Wolf kommt in seinem 2008 erschienen Buch
über Gallipoli zu dem Urteil, daß deutsche Militärberater wesentlichen Einfluß auf
die
Entwicklung
der
militärischen
Fähigkeiten
gehabt
und
zugleich
die
Rüstungsindustrie sowie das Sanitätswesen erheblich ausgebaut hätten.1385 Trotz des
zweifelhaften wissenschaftlichen Wertes der „Schlussbetrachtung“ Wolfs1386 ist
dieser Einschätzung grundsätzlich beizupflichten. Es kann nicht ignoriert werden, daß
die deutsche Hilfe für den Verbündeten in materieller und personeller Hinsicht von
großer Bedeutung war. Das völlige Fehlen modernster Kriegsmittel mußte sich im
Ersten Weltkrieg – im Gegensatz zu den Balkankriegen – deswegen fühlbar negativer
auswirken, weil die Streitkräfte der westlichen Ententemächte über solche Mittel
verfügten. Flugzeuge, U-Boote, drahtlose Kommunikation, gepanzerte Kraftwagen,
präzise oder großkalibrige Artillerie und weitere Entwicklungen begegneten den
osmanischen Soldaten im Kriegsverlauf. Das Deutsche Reich war bereit, einige, aber
nicht alle derartigen Neuerungen dem Bündnispartner zu liefern. Bei manchen
Erfindungen, wie etwa den Flugzeugen und den U-Booten, war man ebenfalls sehr
zurückhaltend, wenn es darum ging, den Türken das Material zu überlassen und
1384
Lothar Krecker verweist darauf, daß die Parallelität der harten Friedensbedingungen dazu führte,
daß beide Länder so bald wie möglich wieder diplomatische Kontakte pflegten. Krecker, Lothar:
Deutschland und die Türkei im zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1964, S. 11-14. Hans Werner
Neulen begreift die Zusammenarbeit während des Ersten Weltkrieges eher als Grundstein für eine –
allerdings von ihm beinahe mythisch verklärte – deutsch-türkische Freundschaft. Neulen, Feldgrau in
Jerusalem 2002, S. 266f.
1385
Wolf, Klaus: Gallipoli 1915 – Das deutsch-türkische Bündnis im Ersten Weltkrieg, Sulzbach/Bonn
2008, S. 201f. (Im Folgenden: Wolf, Gallipoli 2008.)
1386
Wolf kommt allerdings nicht umher, seine hauptsächlich operationsgeschichtlichen Ausführungen
mit einer pathetischen Bitte um Verzeihung zu beschließen: „Die Art und Weise, wie dieses Land in
den Krieg gedrängt, die Regierung getäuscht, viele ahnungslose und gutgläubige Menschen in den Tod
geschickt und Soldaten achtungslos und überheblich behandelt wurden, beschämen. [...] Da es im
heutigen Deutschland kaum einen Verantwortlichen für eine solche Entschuldigung geben wird,
möchte ich stellvertretend, auch mit diesem Buch, für das entstandene Leid um Verzeihung bitten.“
Wolf, Gallipoli 2008, S. 206. Abgesehen davon, daß der Autor – die grundlegenden Forschungen von
Trumpener, Wallach und Weber ignorierend – das Osmanische Reich in eine undifferenzierte
Opferrolle drängt, zeigen diese Zeilen eine Überschätzung und sogar „Kriminalisiserung“ der
deutschen Militärhilfe.
380
setzte lieber deutsche Mannschaften ein. Ein plausibler Grund dafür war die
mangelnde Ausbildung des türkischen Personals für solches Kriegsgerät, obwohl
deutsche Instrukteure ihren Dienst an den neuerrichteten Militärschulen und in den
„Modellregimentern“1387 angetreten hatten. Doch diese „Ausbildungsreform“ ging
wie so vieles noch auf Friedenszeiten zurück und zeigte sich den Anforderungen des
Krieges nicht gewachsen. Die Zahl der Einrichtungen war zu gering, um den hohen
Personalbedarf decken zu können, und die Zeit für die Ausbildung reichte nicht aus,
denn oftmals fehlten den Schülern grundlegende militärische Kenntnisse.1388
Außerdem wurde das wenige geschulte türkische Personal auf die zahlreichen
Kriegsschauplätze verteilt, wo sie mit kaum oder gar nicht ausgebildeten
Ausgehobenen zusammenarbeiten mußten, die mit modernen Führungsverfahren
nicht vertraut waren. Liman von Sanders kritisiert diese Dispersion der
Militärschulabsolventen als eine der Ursachen für die schlechte Kampffähigkeit der
osmanischen Verbände.1389 Dabei ähnelt diese Art der Verwendung dem Vorgehen
der Militärmission, die ihre wenigen ausgebildeten Berater ebenfalls auf eine große
Zahl türkischer Einheiten verteilte.
Es entsteht außerdem der Eindruck, daß die Erwartungen an die Effektivität der
„verschulten“ Ausbildung unter den Gegebenheiten zu hoch waren. Die Wirksamkeit
der praktischen Ausbildung im Gefecht ist hingegen nicht von der Hand zu weisen.
Türkische, mit modernen Waffen nicht oder wenig vertraute Soldaten lernten rasch,
wie ein Maschinengewehr richtig einzusetzen war, was den britischen Truppen auf
Gallipoli und in Palästina schmerzhafte Verluste bereitete. Ebenso konnten die
deutschen Berater ihnen zumindest die grundlegenden Kenntnisse zum Betrieb
moderner Kriegsschiffe und sogar Flugzeuge vermitteln. Aus der deutschen
Nachkriegsplanung für das Kraftfahrwesen im Osmanischen Reich ist sogar
erkennbar, daß die Anzahl der als „brauchbar“ eingeschätzten türkischen Fahrer und
1387
Siehe hierzu auch Anhang A.
Als Beispiel sei hier erneut auf den Erfahrungsbericht des Generalmajors a.D. Back verwiesen, der
den Analphabethismus der auszubildenden Offiziere und Stabsoffiziere beklagte und zudem feststellen
mußte, daß einige Offiziere noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatten und von dienstlichen
Abläufen wie von der Befehlsgebung keine Kenntnis besaßen. RH 61/ 413, Bericht von GenMaj. a.D.
Back, S. 3 u. S. 17. Hier rächte sich das strikt hierarchisch geprägte osmanische System, das die
Selbständigkeit der Offiziere in keiner Weise förderte, um diese in ständiger Abhängigkeit zu halten.
1389
Denkschrift Marschall Liman von Sanders „Der heutige Zustand der tuerkischen Armee“ vom
13.12.1917, BAMA Freiburg N 247/ 40, [S. 4f.].
1388
381
Mechaniker offenbar hoch genug war, daß man glaubte der Hohen Pforte die
Militärfahrzeuge überlassen zu können. Diese sollten dann zum Aufbau von (zivilen)
Transportlinien dienen, die jedoch – kaum überraschend – nur deutsches
Führungspersonal bekommen sollten.1390 Nachweislich wurden auch Erfolge in der
sanitätsdienstlichen Ausbildung und Versorgung erzielt, auch wenn es sich hierbei
nur um Ansätze handelte, die während des Krieges keine spürbaren Auswirkungen
mehr auf das militärische Sanitätswesen zeitigten.1391 Die Personalstärke und der
Einfluß der Berater in der Türkei reichten eben trotz allem nicht aus, um unter den
örtlichen Gegebenheiten die notwendigen und vor allem
tiefgreifenden
Militärreformen umzusetzen.
Zudem stellte sich heraus, daß deutsche Offiziere, die versuchten, unter Umgehung
oder Mißachtung türkischer Stellen zu handeln, auf wachsenden Widerstand des
Verbündeten trafen. Deutliches Beispiel hierfür ist der Versuch Falkenhayns, das
„Unternehmen Yildirim“ vollständig unter deutsche Kontrolle zu bringen, das in
einen Eklat mündete und die Palästinafront gefährdete.1392 An den Dardanellen
zeigten sich die Einsätze deutscher Maschinengewehrabteilungen ohne genügende
Absprache mit der türkischen Seite ebenso verlustreich wie mangelhaft koordinierte
Gefechte des Asienkorps an der Palästinafront im Sommer 1918.1393 Die Deutschen
schoben solche Fehlschläge zwar auf „türkische Unfähigkeit“, es kann aber nicht
abgestritten werden, daß mangelnde Kommunikation mit dem Bündnispartner auch
bei dem europäischen Verbündeten zu finden ist.
Dies wird besonders deutlich, berücksichtigt man die Beispiele, bei denen das
Eingehen auf die Ansprüche sowie die Leistungsfähigkeit des Verbündeten sich
positiv auf die gemeinsame Kriegführung auswirkte.
Kreß von Kressenstein paßte sich rasch sowohl den türkischen, wie auch den – in den
südlichen Provinzen bedeutsamen – arabisch geprägten Umgangsformen an und
gewann so offenbar das Vertrauen eines großen Teils seiner Untergebenen. Zwar
1390
Geheimbericht über das Kraftfahrwesen der Türkei im Frieden vom 10.4.1918, BAMA Freiburg
PH 20/ 11, Blatt 84-86.
1391
Becker, Äskulap 1990, S. 443-449.
1392
Siehe oben, S. 277f.
1393
Siebe oben, S. 243f.
382
waren seine Berichte über den gescheiterten Vorstoß zum Suez-Kanal 1915
niederschmetternd, doch hatte er zu diesem Zeitpunkt seinen Dienst noch nicht lange
angetreten und daher wenig Erfahrung mit den örtlichen Gegebenheiten. In den
folgenden Jahren änderte er seine Taktik entsprechend und konnte damit in
begrenztem Rahmen die britischen Operationen stören. Ebenso konnten die von ihm
geführten Truppen bei Gaza mehrfach eine britische Übermacht abwehren. Die
Hauptlast der Kämpfe trugen dabei stets osmanische Verbände, die wiederum zum
größten Teil von türkischen Offizieren geführt wurden. Im Einzelnen ist nicht
nachvollziehbar, in welchem Maße von deutschen Instrukteuren Erlerntes
ausschlaggebend für den siegreichen Ausgang der Kämpfe war. Zudem darf nicht
außer Acht gelassen werden, daß bestimmte Umstände auf britischer Seite den
osmanischen Abwehrerfolg begünstigt haben mögen.
Dennoch ist es auffällig, daß türkische Truppen, geführt von einem deutschen
Generalstabsoffizier, der im Orient ein hohes Maß an Ansehen genoß und wußte,
welche Anforderungen er an seine Einheiten stellen konnte, zu solchen – nicht nur für
die Briten überraschenden – Leistungen fähig waren.
Ähnlich verhält es sich mit den Kämpfen um Kut-el-Amara. Feldmarschall von der
Goltz leitete zwar die Gesamtoperationen in Mesopotamien, die direkte
Truppenführung oblag jedoch türkischen Offizieren, welche die Belagerung auch
nach dem Tode des Freiherrn zu einem für die Türkei siegreichen Ausgang brachten.
Erneut ist die Kombination aus einem im Osmanischen Reich angesehenen deutschen
Feldherrn und dessen Fähigkeit, die orientalischen Truppen unter „örtlichangepassten“
Grundsätzen
zu
führen,
augenfällig,
wenngleich
britische
Fehlplanungen eine nicht unerhebliche Rolle spielten.
Bei Marine und Fliegertruppe müssen ebenfalls Lernerfolge konstatiert werden.
Schon die Gewöhnung an die neuartige Technik und die Ausbildung von
Flugzeugführern und Mechanikern waren für die Modernisierung der osmanischen
Armee unerläßlich, auch wenn die deutsche Seite der Vorwurf treffen muß, die
Ausbildungsbemühungen nicht mit voller Energie vorangetrieben, sondern der
Einfachheit halber zu oft auf eigenes Personal zurückgegriffen zu haben. Ebenso
konnten die Besatzungen der Kriegsschiffe trotz der begrenzten Zahl von
383
Kampfeinsätzen wertvolle Erfahrungen sammeln.1394 Aufsehenerregende Erfolge, wie
derjenige des Torpedobootes „Muavenet“ waren nur möglich, weil die osmanische
Mannschaft offenkundig ihre Aufgaben in tadelloser Weise erfüllte und der türkische
Kommandant unter Zurückstellung persönlicher Eitelkeiten dem deutschen
Kapitänleutnant Firle die Führung des Schiffes überließ. Glaubt man den
Ausführungen des deutschen Kommandantenstellvertreters, so war es die freiwillige –
also ohne deutschen Zwang erfolgte – Überlassung des Kommandos, welche die volle
Kooperation der osmanischen Besatzung ermöglichte. Es bleibt jedoch der Eindruck,
daß die positive Bewertung der türkischen Fähigkeiten stark vom siegreichen
Ausgang beeinflußt wurde, den Firle in nicht geringem Maße auch auf die eigene
Leistung zurückführte.
Für die „militär-fachliche Erfolgsebene“ läßt sich demnach festhalten, daß die
Deutschen durchaus eine Reihe positiver Ergebnisse sahen. Obwohl sich die
Umsetzung der Ausbildung nicht en detail nachweisen läßt, konnten osmanische
Verbände unterstützt durch deutsches Gerät und Personal beachtliche Siege erringen.
Die erfolgreiche Zusammenarbeit war allerdings überall dort gefährdet, wo
Militärberater dienstliche Belange rücksichtslos nach
deutschen
Maßgaben
durchzusetzen versuchten. Deutsche Offiziere, die willens waren, Kompromisse
zwischen
den
eigenen
dienstlichen
Vorgaben
und
den
orientalischen
Rahmenbedingungen zu finden, konnten auf größere Erfolge in der Kooperation
verweisen. Es mag banal klingen, doch gegenseitiger Respekt scheint die Erfüllung
gemeinsamer militärischer Aufgaben wesentlich erleichtert zu haben.
Diese letzte Erkenntnis läßt sich leicht auf die „Bündnis-Ebene“ übertragen. Denn
überall dort, wo die europäischen Militärreformer erkennen ließen, daß sie die
eigenen Interessen über diejenigen des Bündnisses mit dem Osmanischen Reiches
stellten, brachte ihnen der türkische Verbündeten gesteigertes Mißtrauen entgegen.
Dazu zählt auch „selektive Ausbildung“, in der türkischen Piloten der Einsatz als
Jagdflieger oder Marineangehörigen die Verwendung als U-Boot-Besatzungen
1394
Für die „Goeben” und die „Breslau” gelten diese Beobachtungen nur eingeschränkt, da dort
überwiegend deutsche Besatzungsmitglieder eingesetzt waren.
384
verweigert wurde, weil man offenbar ihren Fähigkeiten von vorneherein mißtraute,
was von türkischer Seite als auch als Vernachlässigung des Auftrages vollständiger
struktureller Modernisierung gedeutet werden konnte, wodurch das Osmanische
Reich weiterhin von Deutschland abhängig bleiben würde. Obschon die
Militärreformer sich idealiter auf das militärische Aufgabenfeld beschränken sollten,
läßt sich die Verzahnung ihrer Tätigkeit mit den bündnispolitischen Vorgaben des
Deutschen Reiches erkennen. Das Konfliktpotential wurde noch dadurch vergrößert,
daß die beiden Bündnispartner unterschiedliche außenpolitische Ziele verfolgten.1395
Das
eindrücklichste
und
zugleich
extremste
Beispiel
hierfür
waren
die
Auseinandersetzungen über die Interessensphären im Kaukasus im letzten Kriegsjahr.
Dort trafen deutsche und jungtürkisch-panturanische Expansionsziele aufeinander.
Hier rächte sich, daß vor Kriegsausbruch die „Weltmachtpolitik“ des Deutschen
Reiches sehr sprunghaft war, denn so traf der entstehende heftige Streit um die
rohstoffreiche Region am Schwarzen Meer beide Seiten weitgehend unvorbereitet.
Dadurch wurde der militärische Zusammenhalt in einer bedrohlichen strategischen
Lage zusätzlich geschwächt. Zwar waren an den Scharmützeln zwischen deutschen
und osmanischen Truppen in den kaukasischen Gebieten keine Angehörigen der
Militärmission beteiligt, doch deutsche Offiziere in türkischen Diensten – wie etwa
der bayerische Major/osmanische Oberstleutnant Paraquin1396 – erhielten eindeutige
Anweisungen, den türkischen Vormarsch in Armenien zu behindern. Die Befehle aus
Deutschland wurden über die Militärmission weitergeleitet und schließlich sogar von
türkischer Seite abgefangen und zurückgehalten, um die deutschen Absichten (mit
Erfolg) zu vereiteln. Demnach waren höchste militärische Stellen auf beiden Seiten in
dieses Ränkespiel eingeweiht. Es kann nicht verwundern, daß dieser Umstand die
Position der Militärberater, die sich bereits seit 1916 über das überbordende türkische
Selbstbewußtsein beklagten, weiter schwächte. Da die militärischen Führer des
Osmanischen Reiches enge Verbindungen zur politischen Elite besaßen oder selbst
Teil derselben waren, mußte sich der „Verrat“ an den Zielen der Hohen Pforte rasch
herumsprechen. Mißtrauen, weitere Reibungen und Konflikte in der dienstlichen
1395
1396
Siehe zu dieser Problematik oben, S. 98-101.
Siehe oben, S. 172.
385
Zusammenarbeit wurden so geschürt und erschwerten die Kampfführung gegen die
materiell ohnehin überlegenen Ententetruppen.
Dabei konnten Deutsche, die sich den Respekt des türkischen Verbündeten verdient
hatten, entscheidenden Einfluß auf die Durchsetzung deutscher Interessen im Bündnis
nehmen. Der Einsatz Kreß von Kressensteins im Sinai etwa verschlang Ressourcen,
die Enver nur zu gerne an anderen Fronten eingesetzt hätte. Die jungtürkische
Führung erachtete die Eroberung des Suez-Kanals und die anschließende Besetzung
Ägyptens für weniger wichtig als die deutsche Seite. Auch Freiherr von der Goltz
konnte dem Kriegsschauplatz in Mesopotamien eine gesteigerte Bedeutung
verschaffen, wenngleich er das Kommando dort eher unfreiwillig übernahm. Das
sogenannte „Persien-Abenteuer“, die Expeditionen in Richtung Afghanistan und nicht
zuletzt die Weiterführung der Baghdadbahn waren originär deutsche Interessen.1397
Dennoch unterstützte das Osmanische Reich diese Ziele. Dabei wäre es irrig zu
glauben, daß Konstantinopel sich nicht eigene Erfolge von diesem Vorgehen
versprach, doch zeichnete sich – besonders in den letzten Kriegsjahren – ab, daß die
Hohe Pforte bereit war, Gebietsverluste in den südlichen Provinzen hinzunehmen und
eine Entschädigung an anderer Stelle zu suchen. Allerdings scheint die Präsenz
anerkannter und respektierter deutscher Befehlshaber die Verteilung von Kräften auf
die verschiedenen Fronten positiv beeinflußt zu haben. So erhielt von der Goltz
Einheiten, die eigentlich für die den Jungtürken wichtigere Kaukasusfront gedacht
waren und gegen den Suez-Kanal wurde sogar noch ein zweiter Vorstoß avisiert.
Zugegebenermaßen läßt sich ein solcher Zusammenhang nicht nachweisen, da er
schriftlich nirgends fixiert wurde, doch die bisherigen Ausführungen haben mehr als
deutlich die Bedeutung von Beziehungen und persönlichem Prestige im osmanischen
System gezeigt. Wo diese „Eigenschaften“ fehlten, waren die Möglichkeiten für
Europäer sehr begrenzt. Liman von Sanders mußte mehrfach mit Rücktritt drohen
und so seinen Forderungen Gehör verschaffen, da Enver Pascha jeden Gesichtsverlust
vermeiden wollte. Der Missionschef gefährdete durch sein Verhalten das Bündnis
1397
Zur Baghdadbahn siehe oben, S. 43-47. Siehe zur Zielsetzung der Expeditionen: Kröger, Martin:
Revolution als Programm. Ziele und Realität deutscher Orientpolitik im Ersten Weltkrieg, in:
Michalka, Wolfgang (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – Wirkung, Wahrnehmung, Analysen, München
(u.a.) 1994, S. 376f. u. 380-383. Kröger macht deutlich, daß es sich hierbei um außenpolitisch oder
wirtschaftlich motivierte Unternehmungen handelt, die jedoch vom Militär personell und materiell
unterstützt werden mußten.
386
jedoch unnötig, denn es wäre mehr als fraglich gewesen, ob Berlin einen neuen
Missionschef mit ähnlichen Vollmachten hätte durchsetzen können. Der Vertrag des
Marschalls war rechtlich gesehen kein Staatsvertrag, sondern ein persönlicher
Anstellungsvertrag. Wäre Liman während des Krieges abberufen worden, hätte
Deutschland weitere Konzessionen an die Hohe Pforte machen müssen, um ihn zu
ersetzen, und diese Zugeständnisse wären mit Sicherheit nach der Verteidigung der
Meerengen und der Eroberung Kut-el-Amaras noch weitaus größer gewesen. Dieses
Risiko muß auch den Entscheidungsträgern an der Spree bewußt gewesen sein, denn
bei späteren Rücktrittsgesuchen Limans war es nicht Enver, der reagierte, sondern der
Deutsche Kaiser, der seinen Offizier zur Ordnung rief.
Für die „bündnispolitische Ebene“ muß demnach ebenfalls eine Ambivalenz des
deutschen Engagements konstatiert werden. Erneut sind es diejenigen Offiziere, die
sich an die orientalischen Verhältnisse anzupassen wußten und in der Folge Einfluß
und Ansehen im Osmanischen Reich erlangten, die deutsche Interessen fördern
konnten, ohne (!) den Bündnispartner offensichtlich zu verärgern. Andere
Militärberater, die durch barsches oder herablassendes Verhalten aufgefallen waren,
standen
hingegen
unter
kritischer
Beobachtung
und
das
mangelnde
Einfühlungsvermögen bei ihren Versuchen, deutsche – oder schlimmer noch
persönliche Interessen – durchzusetzen, gefährdete das Bündnis und damit die
Mittelmächte insgesamt mehr, als es nutzte.
Abschließend kann festgehalten werden, daß der militärische Einsatz des Deutschen
Reiches im Orient durchaus Erfolge in Ausbildung, Modernisierung und Führung
vorweisen konnte, die über das schon von den Zeitgenossen gelobte Endergebnis des
„Durchhaltens bis zum Schluß“ hinausgingen. Von den deutschen Offizieren wird
nach dem Kriege oftmals hervorgehoben, daß die Sperrung der Dardanellen die
Verbindung zwischen den Westmächten und Russland gekappt und zum
Zusammenbruch
des Zarenreichs
beigetragen
habe. Außerdem
hätten
die
osmanischen Streitkräfte überlegene britische, französische und russische Truppen
gebunden, die andernfalls an den europäischen Fronten eingesetzt worden wären.1398
1398
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 243f. u. 254. Ähnlich positiv bewertet General von Seeckt das
deutsch-türkische Bündnis bereits im November 1918. Rabenau, Seeckt 1940, S. 102.
387
Gleichfalls konnten einige Offiziere im Sinne deutscher Weltmachtpolitik arbeiten,
wenn auch der Kriegsverlauf den Bemühungen keinen dauerhaften Erfolg verlieh.
Von deutscher Seite wurde behauptet, daß die Türkei sich übernommen habe, als sie
in den Krieg eintrat, da sie nicht die Mittel besessen hätte, um ihre Interessen
durchzusetzen.1399 Auch wenn diese Behauptung nicht gänzlich von der Hand zu
weisen ist, so greift sie doch zu kurz. Es war das Deutsche Reich, daß die Hohe Pforte
zum Kriegseintritt drängte, wenngleich die ambitionierten jungtürkischen Machthaber
schließlich die endgültige Entscheidung fällten. Ebenso sollte die militärische
Unterstützung der Türkei von Beginn an deutschen Interessen dienen. Der Glaube,
daß die Osmanen in selbstloser Weise die deutschen Ziele unterstützen würden, war
jedoch genauso abwegig wie die Vermutung, daß Deutschland sich lediglich zum
Wohle der orientalischen Macht engagieren würde. Daher mag es nicht verwundern,
wenn es innerhalb einer Bündniskonstellation, deren Mitglieder unterschiedliche
Ziele verfolgen, zu Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Vorgehensweisen
kam. Der deutschen Politik und dem Militär muß allerdings der Vorwurf gemacht
werden, daß sie ihre Unterstützung der Türkei ungeschickt umsetzten. Große Teile
des Personals – auch in exponierten Positionen – waren für den Einsatz im Nahen
Osten nicht genügend ausgebildet worden. Zudem machten die militärische
Sozialisation und das Festhalten an den internalisierten Maximen manchen
Militärberater für einen Einsatz im Osmanischen Reich ungeeignet. Diejenigen
Offiziere, die es dennoch verstanden, sich den Gegebenheiten anzupassen, wurden
von den eigenen Standesgenossen als „vertürkt“ gebrandmarkt.
Es ist müßig über mögliche Entwicklungen des Bündnisses unter anderen Vorzeichen
zu spekulieren. Dennoch bleibt der Eindruck, daß die deutschen Militärreformer
einem positiveren Ergebnis ihrer Tätigkeit zu häufig selbst im Wege standen. Carl
Mühlmann liefert einen möglichen Grund für das deutsche Verhalten:
„Denn eine so große Bedeutung der Türkei im Gesamtkriege auch zukam, sie blieb
doch ein Nebenkriegsschauplatz.“1400
1399
Siehe zum Beispiel: Schraudenbach, Muharebe 1925, S. 9. Noch kritischer, jedoch auch von
persönlicher Enttäuschung geprägt sind die Ausführungen des Marschalls Liman von Sanders. Liman,
Fünf Jahre Türkei 1920, S. 407f.
1400
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 285.
388
VI. Ergebnisse
Der gemeinsame Kriegseinsatz endete für das Deutsche und das Osmanische Reich
mit dem Abschluß des Waffenstillstandes auf der Insel Mudros am 30. Oktober 1918.
Zu diesem Zeitpunkt war der Zusammenbruch der Mittelmächte nicht mehr
aufzuhalten und die deutschen Soldaten, die zum Teil erst Anfang 1919 – oder als
Kriegsgefangene
gar
Ende
1919
–
vom
orientalischen
Kriegsschauplatz
zurückkehrten, erwarteten gravierende Veränderungen, Revolution, Unruhen und
Bürgerkrieg im eigenen Land.1401
Ein bestimmter Begriff für die deutsch-türkische Zusammenarbeit fällt jedoch in
älteren und neueren Darstellungen gleichermaßen ins Auge, und zwar der der
„Waffenbrüderschaft“.1402 Manche Autoren behaupten zwar, es hätte gar keine
„Waffenbrüderschaft“ gegeben, doch das Wort ist aus der Diskussion nicht
wegzudenken.1403
Wie so häufig bei Wörtern, denen eine „mystifizierende Wirkung“ innewohnt – und
die daher bevorzugt zur Propaganda genutzt werden –, weckt „Waffenbrüderschaft“
bestimmte Assoziationen bei einem großen Rezipientenkreis und läßt zugleich
individuelle Ausdeutungen zu. Dabei spielt vor allem die politisch-emotionale
Bedeutungsebene des Begriffes eine Rolle, wird hier doch eine Art gleichberechtigter
Partnerschaft entworfen, die zugleich selbstlosen Einsatz für den „Bruder“ suggeriert.
„Die existenzielle Bedrohung durch den Feind erforderte eine Waffenbruderschaft in
der es keine Konflikte gab.“1404 Nach den vorangegangenen Ausführungen läßt sich
jedoch feststellen, daß dieses Wort das deutsch-türkische Bündnis nicht wirklich
kennzeichnet.
Die
deutsch-türkische
militärische
Zusammenarbeit
basierte
auf
einem
Zweckbündnis, das in außenpolitisch schwieriger, wenn nicht krisenhafter
1401
Siehe hierzu zum Beispiel die Aufzeichnungen von Kurt Böcking, dem ehemaligen Kommndanten
der osmanischen Marineschule, BAMA Freiburg N 438/ 5 und N 438/ 6.
1402
Mühlmann, Waffenbündnis 1940, S. 314. Neulen, Feldgrau in Jerusalem 2002, S. 265f.
1403
Langensiepen/Nottelmann/Krüsmann, Halbmond und Kaiseradler 1999, S. 129.
1404
Buschmann, Nikolaus: Einkreisung und Waffenbruderschaft – Die öffentliche Deutung von Krieg
und Nation in Deutschland 1850-1871, Göttingen 2003, S. 151. Diese Definition bestand spätestens
seit dem deutsch-französischen Kriege und dürfte daher auch den zeitgenössischen Autoren bekannt
gewesen sein. Es liegt die Vermutung nahe, daß der Begriff auf diesem Wege in die militärhistorischen
Darstellungen eingeflossen ist.
389
Konstellation zustande kam. Das Deutsche Reich suchte dringend Verbündete im
Zwei-Fronten-Krieg, und das Osmanische Reich erhoffte sich durch einen Sieg
innenpolitische
Konsolidierung
und
eine
außenpolitische
Aufwertung
im
Mächtekonzert. Im Ergebnis profitierte Deutschland als stärkerer und führender
Bundesgenosse – trotz aller Kosten für Hilfsleistungen – mehr von diesem Bündnis
als sein Verbündeter. Dieser band unter erheblichen eigenen Verlusten vor allem
britische und russische Truppen, die ansonsten gegen die Mittelmächte eingesetzt
worden wären.1405 „Waffenbrüderschaft“ scheint für diese Zusammenarbeit also der
falsche Begriff zu sein.
Das deutsche (und vor der Reichsgründung 1871 hauptsächlich preußische)
Engagement im Osmanischen Reich war lange Zeit kaum als „bedeutend“ zu
bezeichnen. Zwar dienten preußische Offiziere in der Armee des Sultans, um als
Militärreformer die bewaffnete Macht an mitteleuropäische Standards heranzuführen,
doch blieben die Erfolge begrenzt, oft auch völlig aus. Das Engagement wurde
allerdings nicht verstärkt, denn für Preußen und später das Deutsche Reich besaß eine
Militärreform der osmanischen Armee im 19. Jahrhundert nur untergeordnete
Bedeutung. Bismarck hatte deutlich gemacht, daß Berlin keine militärischen
Interessen am Bosporus verfolgte, und die Diplomatie zielte eher auf einen
Prestigegewinn als „uneigennütziger“ Vermittler in den zahlreichen Konflikten
zwischen
den
europäischen
preußischen/deutschen
Offiziere
Großmächten
waren
mehr
und
ein
der
Hohen
Symbol
für
Pforte.
Die
verbesserte
diplomatische Beziehungen zwischen Kaiser und Sultan als Ausdruck eines
geostrategischen Engagements in der Region.
Nach 1871 nahm das Interesse der deutschen Politik an dem weitläufigen
kleinasiatischen Reich allmählich zu. Die junge europäische Großmacht suchte sich
ihren Platz als Weltmacht zu sichern. Trotz all seiner Schwächen war das Osmanische
Reich mit seinen Schlüsselstellungen an den Dardanellen und – zumindest bis zur
Besetzung durch Großbritannien – am Suez-Kanal ein interessanter Handelspartner.
1405
Dabei ist fraglich, ob besonders die indischen Truppen in diesem Maße an der Westfront hätten
eingesetzt werden können.
390
Das deutsche Engagement für das Osmanische Reich blieb jedoch immer noch
begrenzt. Nur wenige deutsche Militärberater befanden sich in Konstantinopel und
die innenpolitischen Veränderungen durch den Sturz Sultan Abdul Hamids II.
(1908/09) versetzten der Zusammenarbeit eher einen Rückschlag, als sie zu fördern.
Durchgreifende militärische Reformen wurden auch mangels entsprechender
Voraussetzungen im Osmanischen Reich nicht erreicht, dafür hatten die Offiziere
zahlreiche Rüstungsaufträge für deutsche Firmen initiiert, damit aber auch ihren
Beitrag dazu geleistet, daß die osmanischen Truppen über viele verschiedene zum
Teil vom deutschen Heer ausgemusterte Waffen-Modelle verfügten. Doch die
Materiallieferungen und Rüstungsverträge der Vorkriegsjahre waren bestenfalls als
„zweitklassig“ zu bewerten. Wirklich moderne Ausrüstung aus Deutschland bekam
die osmanische Armee oder Marine bis Kriegsausbruch nicht.
Die osmanische Niederlage im ersten Balkankrieg fiel bezeichnenderweise auf
Deutschland zurück. Obwohl auch britische und französische Offiziere in den
osmanischen Streitkräften dienten, sah „die öffentliche Meinung“ vor allem das
Versagen deutscher Ausbildungsbemühungen. In einer ohnehin aufgeheizten
Stimmung in Europa fürchteten die Verantwortlichen in Berlin längerfristig einen
Prestigeverlust. Daher sollte die Idee einer umfangreichen Militärmission zum
Wiederaufbau und zur Reform des osmanischen Heeres jetzt umgesetzt werden. Doch
trotz der Erfolglosigkeit vorhergehender Reformversuche wurde die Aufstellung der
neuen Institution nur halbherzig vorangetrieben. Zwar sicherte ein Vertragswerk dem
Missionschef umfassende Kompetenzen zu, doch die Auswahlkriterien für das
Personal, allen voran für Liman von Sanders als Chef, waren den Verhältnissen vor
Ort
kaum
angemessen.
Auf
Offiziere
mit
Türkeierfahrung
wurde
nicht
zurückgegriffen, sondern allein die Kategorien der Ausbildung und Eignung nach
mitteleuropäischen Maßstäben angewendet. Eine spezifische Vorausbildung der
Angehörigen der Mission unterblieb. Die Vorbedingungen für einen erfolgreichen
Reformeinsatz waren somit ungünstig, doch die Prioritäten in Deutschland lagen
offenbar auf der Rückgewinnung des eingebüßten Prestiges. Eine demonstrativ
personell aufgestockte Mission konnte zumindest den Anschein deutscher Stärke am
Bosporus erwecken, wie die Reaktion Russlands auf die Berufung Limans als
391
Armeeoberfehlshaber in der Region von Konstantiopel zeigt. Die Militärmission kam
somit primär unter politischen Gesichtspunkten zustande und schloß die Gefahr eines
neuerlichen Scheiterns der eigentlichen Reformbemühungen ein. Zudem wurde den
Offizieren durch diese außenpolitische Komponente des Engagements eine
Bedeutung verliehen, die ihre Arbeit in den komplizierten Strukturen des Orients
erschwerte und sie häufig zwang, das kaiserliche Dogma der „politischen
Nichtbetätigung“ zu mißachten.
Der Kriegsausbruch in Europa brachte eine tiefgreifende Veränderung für die
Offiziere der Militärmission mit sich. Als Paris nicht wie erwartet in deutsche Hände
fiel und die Marneschlacht verloren ging, wurde rasch klar, daß der Krieg länger
dauern würde. Berlin brauchte zusätzliche Verbündete im Zwei-Fronten-Krieg. Die
Hoffnungen ruhten auf den neutralen Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich.
Der Schwerpunkt der Militärmission verlagerte sich. Nun stand nicht mehr die
Modernisierung der türkischen Armee oder die Akquise von Rüstungsaufträgen im
Vordergrund, sondern das Bemühen um einen Kriegseintritt der Hohen Pforte auf
seiten der Mittelmächte. Die deutschen Offiziere gerieten ungewollt in die Situation,
zum Krieg schürenden Organ der Außenpolitik des Deutschen Reiches zu werden,
obwohl der Kaiser ihnen Einmischung in politische Belange verboten hatte. Doch die
Vorstellung, die militärischen Belange von den (außen-) politischen trennen zu
können, war – nicht zuletzt durch Rücksicht auf innen- und personalpolitische
Implikationen in der Türkei – von Anfang an illusorisch.
Die Befehle aus Berlin waren nunmehr eindeutig, denn das Osmanische Reich sollte
unbedingt als Verbündeter gewonnen werden. Alle Berichte der Militärmission und
der Beobachter aus den Balkankriegen, die von desolaten Zuständen der bewaffneten
Macht des Sultans sprachen, waren plötzlich „vergessen“. Liman von Sanders
meldete „pflichtgemäß“ in die Heimat, daß die Militärmission, die erst wenige
Monate zuvor die Arbeit aufgenommen hatte, erfolgreich tätig gewesen sei und dem
Heer wurde eine gesteigerte Schlagkraft attestiert.
Als die Türkei unter tatkräftiger Mithilfe deutscher Marineeinheiten in den Krieg
eintrat, sollte sich rasch zeigen, wie „krank“ der „Kranke Mann am Bosporus“
wirklich war. Die Marine war ungeübt, das Heer mußte dringend reorganisiert
392
werden, Ausrüstung und Versorgung mußten verbessert werden, und technische
Neuerungen wie Telephon, Flugzeuge oder Automobile waren rar. Die Meldungen
der „Reformoffiziere“, die nun in direkt beratender Funktion in den Stäben oder als
Kommandeure eingesetzt wurden, quollen über von Vorwürfen über „orientalische
Faulheit“, Korruption in der Etappe, mangelnde Ausbildung von türkischen Soldaten
und Offizieren und andere „unzumutbare“ Zustände. Nach deutschen (!) Maßstäben
war die osmanische Armee zur erfolgreichen Kriegführung nicht in der Lage. Die
Lösung sollte eine verstärkte Präsenz deutscher Offiziere und Soldaten an nahezu
allen bedeutsamen Stellen der verbündeten Streitmacht sein. Außerdem sollte ein
Großteil der benötigten Güter – militärische und zivile – aus Deutschland importiert
werden, während
zeitgleich das entsprechende Fachpersonal die wenigen
osmanischen Rüstungsbetriebe de facto übernehmen sollte, um eine effiziente
Produktion zu gewährleisten.
Dennoch läßt sich kaum nachweisen, daß Berlin ein ernsthaftes Interesse an
langanhaltenden und umfassenden Militärreformen gehabt hätte. Wirklich moderne
Ausrüstung aus Deutschland erhielt die osmanische Armee oder Marine nur in den
seltensten Fällen. Das osmanische Heer bekam kaum neuere Artillerie zur Verfügung
gestellt und auch die Versorgung mit Infanteriewaffen und Munition war
unzureichend. Moderne Kommunikationsmittel (etwa Funkentelegraphen) oder die
mit LKW ausgestatten Versorgungs-Kolonnen blieben meist in deutscher Hand. Die
Flugzeuge für das Osmanische Reich gehörten nur ausnahmsweise zu den modernen
Modellen und wenn leistungsstarkes Gerät eingesetzt wurde, dann vertraute man es
eher deutschen als türkischen Piloten an. Hier offenbarte sich, daß bündnispolitische
Erwägungen militärische Notwendigkeiten negativ beeinflußen konnten, die ihrerseits
selbstverständlich politisch nicht ohne Rückwirkungen blieben. Die Begeisterung der
führenden türkischen Militärs für die Fliegerei und die militärischen Erfordernisse
hatten zur Verlegung von Maschinen und Personal in den Orient geführt. Doch die
Kontrolle über die Kräfte lag praktisch ganz in deutschen Händen, so daß von einer
osmanischen Fliegertruppe kaum die Rede sein konnte. Ähnliches zeigt sich bei der
Marine, denn U-Boote wurden dem türkischen Verbündeten erst gar nicht zur
Verfügung gestellt, ja nicht einmal Hilfe bei der Ausbildung einer Besatzung für das
einzige
von
der
Türkei
erbeutete
U-Boot
393
angeboten.
Die
Hilfs-
und
Reformbereitschaft Deutschlands bewegte sich demnach in den engen Grenzen der
eigenen Interessen, denn man beabsichtigte offenkundig nicht, den „Kranken Mann“
zu einem „Starken Mann“ zu machen. Aus deutscher Sicht wäre solch ein Vorgehen
auch „fahrlässig“ gewesen, da es die eigene Verhandlungsposition nach einem
gewonnen Krieg – etwa bei Ansprüchen im Kaukasus oder auf dem Balkan – unnötig
geschwächt hätte. Dem aufmerksamen Verbündeten entging sicherlich nicht, wie die
osmanischen Erwartungen an eine Modernisierung beschnitten wurden. Das
Mißtrauen
gegenüber
der
zunehmenden
wirtschaftlichen
und
politischen
Abhängigkeit von Deutschland und die Sorge vor dem Rückfall in die Schwäche der
Zeiten der „Kapitulationen“ wuchsen, was das Bündnis zwangsläufig stark belasten
mußte.
Es erscheint auch fraglich, ob der Einsatz (nach mitteleuropäischen Maßstäben)
modernster
Militärtechnik
unter
den
Bedingungen
des
Orients
überhaupt
erfolgversprechend gewesen wäre. Der Einsatz der Flieger war militärisch durchaus
sinnvoll, denn ihre Aufklärungstätigkeit war an den weitläufigen Fronten des Orients
von großem Wert und zugleich konnte man die gegnerischen Piloten an der Erfüllung
ihres Auftrages hindern. Allerdings hatte das osmanische Militär keinerlei Erfahrung
im Umgang mit der Technik und für eine entsprechende Ausbildung fehlten sowohl
die Zeit als auch die strukturellen Voraussetzungen. Außerdem zeigten große Teile
der Bevölkerung ein beachtliches Mißtrauen und manchmal auch Furcht – von den
Deutschen gern als „Aberglaube“ bezeichnet – gegenüber den technischen
Erfindungen der „fortschrittsgläubigen“ Europäer, die sie weder kannten noch
verstanden. So behinderten Mentalitätsunterschiede die Ausbildung des osmanischen
Personals ebenso wie mangelnde Bildung und Materialknappheit. Ähnliche Probleme
zeigten
sich
bei
fast
allem
schweren
Gerät,
wie
etwa
Fuß-Artillerie,
Pionierausrüstung, Fernmeldemittel oder Kraftwagen. Besonders die großen Schiffe
der osmanischen Marine litten unter ganz ähnlichen Mängeln. Die Ereignisse der
Jahre 1917/1918 im Rahmen des Unternehmens „Yildirim“ machen zudem deutlich,
daß auch ein vermehrter Einsatz zusammenhängender deutscher Truppenverbände –
etwa von mehreren deutschen Divisionen – kaum erfolgreich gewesen wäre. Im
Orient mit seinen großen Entfernungen, schwierigen topographischen Verhältnissen
394
und mehreren entlegenen Kriegsschauplätzen fehlten grundlegende Voraussetzungen,
die zum „Funktionieren“ europäischer Armeen beitrugen. Krankheiten und Seuchen,
die entweder durch das belastende Klima oder die mangelnden hygienischen
Bedingungen und unzureichende medizinische Versorgung – die dennoch wesentlich
besser als die in der osmanischen Armee war – verursacht wurden, schwächten die
„Asienkämpfer“ in gravierendem Maße. Das Deutsche Reich hätte demnach jeder
kämpfenden Einheit wesentlich mehr Kriegsmaterial und Verbrauchsgüter sowie eine
deutlich größere Zahl an Versorgungstruppenteilen mitgeben müssen, denen der
Aufbau und die Unterhaltung einer funktionierenden Etappe unter schwierigsten
Bedingungen zugefallen wäre. In der Tat geschah dies bereits bei den
verhältnismäßig geringen deutschen „Pascha II“-Kräften, ohne jedoch ernste
Versorgungsmängel bei der Truppe verhindern zu können. Daß das bereits stark
belastete Deutsche Reich einen noch größeren Personal- und Materialansatz hätte
bewältigen können, erscheint ebenso zweifelhaft wie die Annahme, daß die türkische
Führung bei ihrem steigenden Mißtrauen gegenüber deutscher Einflußnahme die
Verlegung starker Verbände gestattet hätte.
In einem – für die türkische Seite verständlicherweise – erschreckenden Maße hatte
nach Kriegsausbruch der deutsche Einfluß, also das Durchsetzen primär deutscher
Ziele im Osmanischen Reich zugenommen. Die türkische Entscheidung für ein
Bündnis mit Deutschland beruhte dagegen auf der Überlegung, daß diese Großmacht
immer betont hatte, keine Interessen in Kleinasien und dem Nahen Osten zu haben,
sondern dem Sultan stets freundschaftlich verbunden zu sein. Schon mit dem Bau der
Baghdadbahn zeichnete sich aber das steigende Engagement Deutschlands im
„Wirtschaftsraum
Orient“
ab.
Die
völlige
Vereinnahmung
der
geplanten
„Lebensader“ durch die „deutschen Freunde“ wurde in Konstantinopel bereits mit
Besorgnis registriert. Unter dem Eindruck der Kriegserfordernisse gewann der
orientalische Verbündete dann vollends den Eindruck, daß er kein gleichberechtigter
Partner sei, sondern bestenfalls ein „Junior-Partner“. Die deutsche Dominanz schien
diejenige Großbritanniens und Frankreichs in den Jahrhunderten zuvor noch zu
überschreiten. Für das Osmanische Reich und insbesondere die jungtürkische
Führung war der Erste Weltkrieg ein Kampf um die Stabilisierung der neuen
395
Machtstrukturen und zugleich die Neuorientierung der gesamten Staatsordnung. Der
Panturanismus verfolgte nicht nur territorial andere Ziele als die Regierungen vor
1913/14, sondern bot auch einen ideologischen Überbau, der in seinen
nationalistischen Ansätzen neu war. Damit einher ging die Erwartung, das
Osmanische Reich in einen starken, türkisch-dominierten Nationalstaat zu
transformieren, der vor allem von den europäischen Mächten unabhängig war. Das
Deutsche Reich hatte seine Unterstützung dabei angeboten und – insbesondere durch
Rückhalt bei der Abschaffung der Kapitulationen, um die Türkei zum Kriegseintritt
zu bewegen – Hoffnungen geweckt. Daher mußte es die Hohe Pforte als
Zurücksetzung empfinden, daß Deutschland den Orient recht offensichtlich als
Nebenkriegsschauplatz betrachtete. Prominente deutsche Offiziere, wie etwa General
von Falkenhayn, machten keinen Hehl aus ihrer Ansicht, daß eine Versetzung in die
Türkei einer „Verbannung von den richtigen Fronten“ gleichkäme. Außerdem waren
deutsche Vorschläge zur Regelung von Unterstützungsleistungen öfter in einer Art
und Weise formuliert, die „ehrverletzend“ für die Verantwortlichen in Konstantinopel
waren, da sie keinen Zweifel an der Überlegenheit Deutschlands und der
Abhängigkeit der Türkei ließen.1406 Diese negative Erfahrung mit dem Deutschen
Reich als Verbündetem teilte das Osmanische Reich mit Österreich-Ungarn – das als
mit Deutschland kulturell vergleichbarer Staat und europäische Großmacht allerdings
einen anderen Status gegenüber Berlin beanspruchen konnte – und insbesondere mit
Bulgarien. Auch diese beiden Länder fühlten sich im Bündnis zurückgesetzt.1407
1406
Bericht des deutschen Marine-Attachés Korvettenkapitän Humann „Zur Lage am 20.Dezember
[1915]“, BAMA Freiburg, RM 40/ 208, Blatt 99-103.
1407
Der k.u.k. Genralstabschef Conrad von Hötzendorf ging sogar schon Anfang 1915 so weit, die
deutschen Verbündeten als „heimliche Feinde“ zu bezeichnen, da sie sich überall einmischen und die
österreichischen Planungen behindern würden. Stürgkh, Josef Graf von: Im Deutschen Großen
Hauptquartier, Leipzg 1921, S. 116.
Der deutsche Oberstleutnant von Bardenleben, Verbindungsoffizier zwischen den bulgarischen und
türkischen Truppen auf dem Balkan, berichtet von einem Gespräch mit dem Kommandeur der 2.
bulgarischen Armee, General Lukow, vom 26. August 1918, der ihm berichtet, welchen Stellenwert
Ludendorff den Hilfsgesuchen des Verbündeten einräumte: „Sie sehen zu schwarz, mein lieber
General; Ihr Kriegsschauplatz ist nicht so wichtig.“ Oberstleutnant F.v.Bardenleben: Bei Türken und
Bulgaren als Verbindungsoffizier im Weltkriege, KA München, HS 2150, S. 20. Beiden Quellen kann
vorgeworfen werden, daß sie Ansprüche formulieren, die wirklichkeitsfremd waren, denn niemand
konnte von einem Bündnispartner völlige „Selbstaufopferung“ erwarten. Dennoch wird deutlich, daß
eine solche Hoffnung auf „das starke Deutschen Reich“ bestanden hatte, die – so unrealistisch sie auch
gewesen sein mag – enttäuscht worden war.
396
Die Situation änderte sich grundlegend, als der Angriff auf die Meerengen
abgewiesen wurde und die Belagerung von Kut-el-Amara ebenfalls für die
Mittelmächte siegreich verlief. Das Jahr 1916 sollte sich nicht nur für den
Kriegsverlauf, sondern auch für das deutsch-türkische Bündnis als gravierend
herausstellen. Die Hauptlast der Kämpfe hatten nämlich stets – aus naheliegenden
Gründen – osmanische Truppen getragen, wenngleich oftmals unter deutschen
Kommandeuren oder Generalstabschefs. Insgesamt war das deutsche Engagement
aber zahlenmäßig nicht so groß, daß sich nicht auch zahlreiche türkische Offiziere
einen Ruf machen konnten. Mustafa Kemal, der später als Atatürk berühmt wurde,
wurde durch seine herausragenden Leistungen bei der Verteidigung der Dardanellen
bekannt und Halil Pascha, der Onkel Enver Paschas, nahm die britische Kapitulation
bei Kut entgegen. Fortan begegneten die Türken den deutschen Beratern mit
gestärktem Selbstbewußtsein. Angeheizt durch die Propagandameldungen einiger
Zeitungen der Mittelmächte, die nicht zuletzt die Entente verwirren und die
Rückschläge im Kaukasus vergessen machen sollten, ging dieses Selbstbewußtsein
oftmals über die realen Verhältnisse hinaus. In jedem Fall kollidierte es mit dem
Selbstbewußtsein der Militärberater, die hofften, ihre als „richtig“ empfundenen
Doktrinen in den osmanischen Streitkräften durchsetzen zu können und zwar zur Not
gegen türkischen Widerstand. Dieser war seit April 1916 aber zusehends schwerer zu
„brechen“ und die Reibungen zwischen den Verbündeten wurden stärker. Die
deutschen Militärberater und -reformer empfanden das türkische Verhalten als
undankbar, denn schließlich hätte „ihre“ Hilfe die Siege überhaupt erst ermöglicht.
Die Frage, wie groß der deutsche Anteil an den besagten Siegen war und welche
Selbstüberschätzung des Bündnispartners sich daraus ergeben hatte, beschäftigte die
Beteiligten daher auch noch nach Kriegsende.1408 Während der Kämpfe um Kut-elAmara hatte zwar Feldmarschall von der Goltz den nominellen Oberbefehl inne, aber
die Operationen wurden von türkischer Seite geleitet und noch nach dem Tode des
Freiherrn erfolgreich beendet, weshalb es schwer war, die türkischen Leistungen zu
ignorieren.1409
1408
Siehe hierzu die Briefe von Liman von Sanders an seinen ehemaligen Adjutanten Mühlmann vom
31.5. und 21.7.1927, BAMA Freiburg W10/ 51475.
1409
Ein interessanter Versuch der deutschen Unterstützung diesen Sieg in Mesopotamien
zuzuschreiben, ist in dem „vaterländisch“ geprägten Sammelwerk „Deutsche Stunden“ aus dem Jahre
397
Die erwähnten Spannungen und Reibungen bei der gemeinsamen Kriegführung sind
hauptsächlich durch deutsche Offiziere dokumentiert. In der Mehrzahl der Fälle
entstanden solche Reibungen mit osmanischen Offizieren, denn aus der Sicht der
deutschen Militärberater erfüllten nur wenige Türken die fachlichen oder „ethischen“
Anforderungen
dieses
Standes.
Die
Deutschen
besaßen
stark
idealisierte
Vorstellungen davon, wie ein „professioneller Offizier“ sozialisiert und ausgebildet
zu sein hatte und welchem Standesethos er folgen sollte, um Anerkennung zu finden.
Die Kriterien der Militärberater waren auf die Situation in der türkischen Armee aber
nur sehr bedingt anzuwenden. Die innenpolitischen Wirren um Sultan Abdul Hamid
II. und der Umsturz durch Enver Pascha hatten Staat und Armee in Aufruhr versetzt
und zugleich destabilisiert. Die Armee war stets das Instrument zur Machtausübung
und Machtakkumulation im Orient gewesen. Der in Konstantinopel residierende
Sultan mußte seinen Anordnungen besonders in den entfernteren Provinzen seines
multikulturellen Riesenreiches oftmals mit Waffengewalt Nachdruck verleihen.
Umgekehrt konnten seine – muslimischen – Untertanen Einfluß durch Aufstieg in der
Armee gewinnen, wenn ihnen der Weg über die Zivilverwaltung verwehrt geblieben
war. Eine streng reglementierte Beamtenlaufbahn, wie sie in vielen europäischen
Staaten vorhanden war, fehlte im osmanischen System ebenso wie regelmäßige
Besoldung oder eine Form sozialer Sicherung durch „den Staat“. Für die
aufstrebenden Untertanen des Sultans war daher „Günstlingswirtschaft“ die
bevorzugte Methode der Absicherung und für den Herrscher war die bewaffnete
Macht nicht nur ein militärisches, sondern auch in höchstem Maße politisches
Instrument. Enver Pascha, der sich in jungen Jahren zum Kriegsminister putschte und
den schwachen Sultan Mehmet V. vollends zu einer nur noch repräsentativen Figur
im Schatten der jungtürkischen Partei machte, wußte natürlich um diese Verhältnisse.
Zur Sicherung seiner nicht unumstrittenen Macht mußte er die Armee mit seinen
1941 zu finden. Hier werden neben den Schlachten von Leuthen und Belle-Alliance (auch als Schlacht
von Waterloo bekannt) sowie nicht-militärischen Ereignissen (Erstaufführung von Schillers
„Räubern“, Tod Heinrich Schliemanns) Kämpfe aus dem Ersten Weltkrieg genannt. Als Beispiel für
„Deutsche Stunden“ auf dem orientalischen Kriegsschauplatz wird hierbei nicht etwa die wesentlich
bekanntere Verteidigung der Gallipoli-Halbinsel gewählt, sondern die Belagerung Kut-el-Amaras. Hier
bestand offenbar noch der Bedarf, die deutsche „Urheberschaft“ für den Sieg besonders
herauszustellen. Prugel, Alfred: „Haltet Fellahiye ...!“ – Der Kampf um Kut el Amara und Fellahiye im
Jahre 1916, in: Langenbucher, Erich/Losch, Sebastian (Hrsg.): Deutsche Stunden – Zeugnisse der
Tapferkeit, des Glaubens und der Treue, Braunschweig/Berlin/Hamburg 1941, S. 258-270.
398
loyalen Offizieren besetzen. Viele alte Offiziere wurden durch jüngere ersetzt und
zwar vor allem nach politischen Erwägungen und weniger unter Berücksichtigung
militärischer Eignung. Wäre Enver anders vorgegangen, wäre es fraglich gewesen, ob
er seine Stellung lange behalten hätte.
Dem deutschen Beobachter und Offizier erschlossen sich diese Strukturen offenbar
selten bis gar nicht oder er ignorierte sie. Der Kaiser hatte Liman von Sanders die
Weisung der „politischen Nichteinmischung“ mit auf den Weg gegeben. Bei
realistischer Betrachtung war sie jedoch für die Militärmission kaum einzuhalten.
Doch deckte sich die Forderung mit dem Idealbild des „unpolitischen“, auf den
Kriegsherrn verpflichteten Offiziers im Deutschen Reich. Im Osmanischen Reich
wurden die Reformer aber mit dem Gegenteil konfrontiert. Besonders nach
Kriegseintritt der Türkei wurde Kritik laut. Die Tatsache, daß Enver Pascha wenig
Alternativen blieben, wollte er seine Macht konsolidieren, fiel den Deutschen
offenbar nicht ins Auge. Ebenso überrascht waren sie, als sie merkten, daß die
mitteleuropäischen
Ausbildungsgrundsätze
und
Kampfdoktrinen
kaum
im
osmanischen Heer umzusetzen waren, ja sich der Bundesgenosse sogar gegen eine
radikale und rasche Veränderung der Verhältnisse nach deutschem Vorbild wehrte,
obwohl der Reformauftrag der Militärmission vertraglich festgelegt war. Offenbar
war türkischerseits eine rein funktionale Verbesserung zur Steigerung der Effizienz –
etwa durch technische Modernsierung – der Streitkräfte erwünscht, da man sich in
Konstantinopel um weitreichende Konsequenzen größerer Reformen für das
bestehende osmanische System sorgte. Der Auftrag der Militärmission war diesen
systembedingten Schwierigkeiten jedoch nicht angepasst worden und den deutschen
Offizieren fehlte häufig die Sensibilität, sich den andersartigen Voraussetzungen des
Osmanischen Reiches anzupassen. Allerdings muß man berücksichtigen, daß das
Deutsche Reich stets beabsichtigte, seine Stellung als wirtschaftliche und militärische
Großmacht auszubauen. Man glaubte sich durch Demonstrationen der eigenen Stärke
und Überlegenheit gegenüber anderen Großmächten abgrenzen zu müssen. Schwache
Bündnispartner konnte sich das Reich daher nicht leisten, doch abhängige
Bündnispartner waren erwünscht. Eine Umformung nach dem eigenen, als überlegen
empfundenen Modell erschien bei diesen angebracht und möglich. Jede Rücksicht auf
politische Befindlichkeiten war dabei durch den Dienstherrn ausgeklammert worden.
399
Der deutsche Offizier sollte sich als militärischer Spezialist nur auf die Durchführung
seines Auftrages konzentrieren.
Aus deutscher Sicht tat der türkische Offizier das nicht. Die Berichte und Memoiren
zeichnen ein Bild vom unselbständigen Türken, der mehr auf den eigenen Vorteil
bedacht war und nur durch ständige Kontrolle und Androhung (oder Durchführung)
scharfer Sanktionen zur Erfüllung seiner Aufgaben gebracht werden konnte. Der
militärisch unprofessionelle Osmane, faule Türke oder gar feige Orientale sind
gängige Stereotype, die von den Deutschen gezeichnet wurden. Es läßt sich auch
nicht leugnen, daß in einer zahlenmäßig starken, wenngleich quantitativ erheblich
fluktuierenden Armee, dazu noch unter Kriegsbedingungen, viele Soldaten Dienst
taten,
die
solch
einem
Negativbild
entsprachen.
Die
strukturellen
Rahmenbedingungen leisteten weniger qualifizierten Offizieren zudem eher
Vorschub als in anderen Armeen, aber auch das Osmanische Reich verfügte über
fähige Führer. Diese wurden jedoch nur am Rande erwähnt, da die „simple“
Pflichterfüllung für die deutschen Offiziere so selbstverständlich war, daß sie keiner
besonderen Erwähnung bedurfte. Bei genauem Hinsehen finden sich solche positiven
Erwähnungen türkischer Offiziere aber durchaus.1410 Besonders gute Führer in der
osmanischen Armee wurden eher als „Ausnahmen, welche die Regel bestätigen“,
angesehen. Die bekannten und erfolgreichen türkischen Offiziere, wie etwa Mustafa
Kemal, verfügten meist auch über ein selbstbewußtes Auftreten gegenüber dem
europäischen Verbündeten, das durch die Siege 1916 nicht geschmälert wurde. Sie
gerieten schnell in den Verdacht „Deutschenhasser“ zu sein oder zumindest
ausgewiesene Kritiker des deutsch-türkischen Bündnisses.1411
Einige wenige Deutsche, besonders jüngere Subaltern-Offiziere, hegten allerdings so
etwas wie Bewunderung für die Leistung der ebenfalls „jugendlichen“ Militärs des
Osmanischen Reiches. Enver Pascha wurde von ihnen als Inbegriff des
„Draufgängertums“ angesehen, zumal er mit kaum über 30 Jahren „Kriegsheld“ und
1410
Z.B.: Vertraulicher Bericht des Obersten Freiherrn Kreß von Kressenstein an den Chef der
Militärmission über die erste Expedition gegen den Suez-Kanal vom 21.2.1915, KA München, MKr.
1782/ 2, S. 15ff. Abschrift des Berichtes „Orientierung über die Ereignisse bei der rechten Kolonne“
von Major Welsch an Oberst Freiherrn Kreß von Kressenstein vom 25.2.1915, KA München, MKr.
1782/2, S. 2.
1411
Brief von Oberstleutnant a.D. Willmer an Liman von Sanders vom 12.5.1927, BAMA Freiburg
W10/ 51475.
400
Kriegsminister war. Diese sehr „träumerisch-idealisierte“ Vorstellung war aber nicht
repräsentativ für das deutsche Bild vom türkischen Offizier und betraf mit dem
Vizegeneralissimus eine Ausnahmeerscheinung. Die Mehrheit der deutschen
Offiziere hatte kein positives Bild vom türkischen Gegenüber, weil die Maßstäbe
beider Armeen zu unterschiedlich waren. In einigen Fällen lag es wohl auch nahe, die
Schuld für eigenes Versagen auf den „unfähigen Verbündeten“ abzuwälzen,
insbesondere
wenn
Andere
eine
„generelle
Verrottung“
und
„mangelnde
Funktionalität“ des osmanischen Offizierkorps bestätigten.
Anders war hingegen die deutsche Einschätzung des türkischen Soldaten. Warf man
den Offizieren Unselbständigkeit, Verantwortungsscheu und „stumpfen“ Gehorsam
vor, so waren dies ins Positive gewendet Tugenden, die man am Soldaten schätzte.
Der anatolische Soldat wurde für seine Leidensfähigkeit, seine Duldsamkeit und
seinen Gehorsam unter den extremen Bedingungen der unterschiedlichen Fronten des
orientalischen Kriegsschauplatzes gelobt. Praktisch ohne Verpflegung, ausreichende
Ausrüstung und Munition, effiziente Unterstützung durch andere Waffengattungen
oder Sanitätsdienst, Heimaturlaub, Sold und von seinen eigenen Offizieren mit Härte,
wenn nicht Verachtung behandelt, kämpfte und starb er klaglos. So attestierte es ihm
die Mehrzahl der deutschen Beobachter, die sich zugleich nicht vorstellen konnte, den
eigenen Soldaten solche Umstände zuzumuten. Die hohe Desertionsquote –
insbesondere auf den Märschen zur Front – wurde zwar kritisiert, trat aber hinter den
positiven Eigenschaften des „türkischen Soldatenmaterials“ zurück. Der türkische
Soldat „funktionierte“ nach dem Prinzip von „Befehl und Gehorsam“, das für eine
„moderne“ Kriegführung nach deutschem Modell nur bedingt geeignet war. Hierbei
war konsequente und „richtige“ Führung entscheidend, die durch das türkische
Offizierkorps kaum geleistet werden konnte. Das „Funktionieren“ beschränkte sich
daher hauptsächlich auf die Verteidigung, denn bei Angriffen oder gar speziellen
Operationen (wie etwa dem amphibischen Übergang über den Suez-Kanal)
offenbarten sich die gravierenden Mängel der osmanischen Streitkräfte; ein Umstand,
der von einigen deutschen Führern erst sehr spät und nach verlustreichen Kämpfen
erkannt wurde. Vielleicht wehrte man sich gegen diese Erkenntnis auch deshalb so
vehement, weil die Maxime deutscher Kriegführung stets der Angriff war, denn nur
durch erfolgreiche Offensiven sollte ein Krieg zu gewinnen sein. Doch wie so häufig
401
trafen auch in diesem Punkt die europäischen Vorstellungen nicht auf die
Bedingungen des Osmanischen Reiches zu.
Nach den bisherigen stark verallgemeinernden Äußerungen der Deutschen über den
Zustand des türkischen Bundesgenossen verwundert es zunächst, daß die deutschen
Soldaten im Orient zwischen den verschiedenen Völkerschaften des Osmanischen
Reiches unterschieden und bestimmte „schlechte Eigenschaften“ unterschiedlichen
Ethnien zuordneten. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch rasch klar, daß die
Unterschiede zwischen Arabern und Türken, Kurden und „Beduinen“ sowie den
zahlreichen anderen Völkerschaften schon innerhalb der osmanischen Gesellschaft
deutlich zum Ausdruck kamen. Einige der Stereotype deutscher Soldaten wurden
anscheinend auch von bestehenden Vorurteilen türkischer Offiziere beeinflußt, wie
etwa das Urteil über die politische Unzuverlässigkeit der arabischen Bevölkerung.
Zudem waren die Europäer solche Art von Differenzierung im Zeitalter der
Nationalstaaten durchaus gewohnt und auch innerhalb des Deutschen Reiches wurde
etwa der Unterschied zwischen Polen und Deutschen wahrgenommen.
Im Unterschied zum ethnisch türkischen Soldaten wurden die Soldaten der anderen
Völker durchweg schlecht beurteilt. Die arabischstämmigen Bevölkerungsteile, die
für den Dienst in regulären Einheiten herangezogen wurden, galten unter Deutschen
bestenfalls als unzuverlässig und im schlimmsten Falle als Feiglinge, Diebe oder
Gefahr für die eigene Seite. Auch hier wurden die Rahmenbedingungen geflissentlich
ignoriert. Wie die letzten Kriegsmonate überdeutlich zeigen, herrschte zwischen den
beiden Völkerschaften eine unterschwellige Feindschaft, die sich im Angesicht des
Zusammenbruchs 1918 in blutigen Ausschreitungen Bahn brach. Da auch für die
arabischen Regimenter ähnliche Bedingungen der Ausbildung, Ausrüstung und
Versorgung galten wie für die anatolischen Einheiten, verwundert es nicht, daß die
Bereitschaft, für die „herrschenden Türken“ zu kämpfen, begrenzt war.
Einige Deutsche nahmen diese ethnischen Konflikte sehr wohl wahr, denn deren
politischen Dimensionen nahmen – teilweise von den Ententemächten forciert – im
Kriegsverlauf zu. Doch die Konsequenz war die Stigmatisierung arabischer Einheiten
als „unbrauchbar“, denn über Möglichkeiten, die erkannten Mißstände abzustellen,
verfügten die Europäer nicht. Die Einmischung in politische Belange des
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Osmanischen Reiches war ihnen untersagt worden, wenngleich dies nicht bedeutete,
daß sie es – wie zum Beispiel die Marschälle Liman von Sanders und Falkenhayn –
nicht mittelbar und unter dem Vorwand militärischer Notwendigkeit taten. Doch der
Kriegsverlauf ließ wenig Spielraum für ein konzilianteres Verhalten seitens der
Jungtürken und diese standen der offensichtlichen deutschen Einflußnahme auf
innenpolitische Angelegenheiten stets – und mit zunehmender Empfindlichkeit –
ablehnend gegenüber.
Die „irregulären“ Einheiten, die für den Sultan kämpften und sich zumeist aus
berittenen „Beduinen“ im Süden und Kurden, Tscherkessen oder anderen
kaukasischen Ethnien im Nordosten des Reiches zusammensetzten, „genossen“ das
mit Abstand geringste Ansehen bei den Deutschen. Die „feigen Araber“ der regulären
Regimenter wurden als Soldaten unter der Flagge des Sultans wahrgenommen und an
ihr Verhalten die Maßstäbe soldatischer Rechte und Pflichten angelegt, wenngleich
sie diesen aus europäischer Sicht meist nicht entsprachen. Die „Irregulären“ besaßen
nicht einmal diesen geringen „moralischen“ Vorteil, sondern sie vereinten die
„schlechten Charaktereigenschaften“ ihrer Ethnien1412 mit einer für die deutschen
Beobachter unerträglichen Profitgier. Für die Dienste solcher Einheiten mußte in
Gold bezahlt werden und damit konnte nur eine sehr begrenzte Loyalität erkauft
werden, die sehr häufig die Bereitschaft, sich größeren Gefahren für Leib und Leben
auszusetzen, nicht einschloß. Unter militärischen Gesichtspunkten waren solche
Formationen für einen Einsatz in den vorderen Frontlinien gegen reguläre britische,
russische oder französische Truppen vollkommen ungeeignet. Im Rahmen des
„Kleinen Krieges“ konnten sie jedoch effektiv sein. Wie bei der Verwendung hinter
der eigenen Front zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ gingen sie dabei aber mit
großer Brutalität vor. Mit dem Dienstethos deutscher Offiziere ließen sich
Käuflichkeit und zugleich übermäßige Härte gegen Unterlegene nicht vereinbaren.
Sie bezeichneten diese Formationen daher verächtlich als „Banden“ und scheuten
sich auch nicht, ihre Mitglieder und vor allem Anführer als Halunken, Lügner,
Räuber oder gar Mörder zu titulieren. Möglicherweise spiegelt sich in dieser
1412
Die Klischees über „die Araber“ wurden bereits erwähnt. Im Falle der kaukasischen Stämme
kamen noch Stereotype, wie Wildheit, Blutdurst oder Rücksichtlosigkeit gegenüber Besiegten hinzu.
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auffallend deutlich artikulierten Verachtung auch die Erfahrung der deutschen
Armeen mit „Franctireuren“ in Westeuropa sowohl 1870/71 als auch 1914-1918
wider.1413
Entsprachen also schon die türkischen Truppen und die türkischen Führer nur sehr
eingeschränkt den Vorstellungen der deutschen Offiziere, so konnten die
Formationen aus anderen Völkern diesen Ansprüchen noch weniger gerecht werden.
Allerdings taten sich auch die deutschen „Vorbilder“ öfter schwer, den eigenen
Ansprüchen zu genügen. Die Militärreformer hatten nämlich einen rein militärischen
Auftrag. Auf den schwierigen Aufgabenbereich in einer unterschiedlich geprägten
Kultur, in der jede Geste, jeder Fehler, jede Schwäche und Stärke sehr genau
wahrgenommen wurde und in der zudem die Parteipolitik das Militär in wesentlich
stärkerem Maße beeinflußte als es in Deutschland der Fall war, waren sie nicht
vorbereitet worden. Dies ist durchaus im wörtlichen Sinne gemeint, denn es ist nicht
gesagt, daß eine solche Vorbereitung nicht hätte stattfinden können. Ganz im
Gegenteil, bei einer engeren Kooperation zwischen dem diplomatischen Korps und
dem Militär sowie einem Rückgriff auf die Erfahrungen vorheriger Miltiärreformer
hätte vermutlich so manche Reibung vermieden werden können. Doch nichts
dergleichen geschah. Vielmehr befand sich die Botschaft in Konstantinopel und deren
Militärattché (später Militärbevollmächtigter) in ständigem Konflikt mit der Führung
der Militärmission. Diese wiederum hatte nicht das beste Verhältnis zum Stab der
Mittelmeerdivision oder zu Freiherrn von der Goltz und ebenfalls nicht zum
(deutschen) stellvertretenden Chef des osmanischen Generalstabes. Unscharf
formulierte Aufträge, fehlende Koordination sowie die Unklarheit über die Grenzen
der Kompetenzbereiche waren von Beginn an strukturelle Unzulänglichkeiten, die
während des Krieges nicht behoben werden konnten, was nicht zuletzt an der Person
1413
Siehe zu den Kämpfen mit „Franctireuren“ einführend: Krüger, Christine: Die Wahrnehmung der
Gewalt im deutsch-französischen Krieg in württembergischen Zeitungen, in: Zeitschrift für
Württembergische Landesgeschichte, Bd. 62, Stuttgart 2003, S. 319-343. Wieland, Lothar: Belgien
1914 – Die Frage des belgischen "Franktireurkrieges" und der deutschen öffentlichen Meinung von
1914 – 1936, Fankfurt am Main (u.a.) 1994. Tatsächlich macht die Diskussion über „unrechtmäßige
und rechtmäßige Mittel des Krieges“ (z.B. Kennzeichnung als Kombattanten bei irregulären
Verbänden, Rechte und Pflichten der Bevölkerung besetzter Gebiete) in militärtheoretischen Schriften
des Kaiserreichs die Beschäftigung mit dem Franctireurkrieg und dessen Ablehnung als
völkerrechtswidrig deutlich. Der „Kleine Krieg“ irregulärer Truppen wird dabei kritisch beurteilt, da er
„leicht in Räuberei und unerlaubte Gewalttat ausartet“. Kriegsgeschichtliche Abteilung I des Großen
Generalstabes (Hrsg.): Kriegsgebrauch im Landkriege, Berlin 1902, S. 5.
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des Generals Liman von Sanders lag, der seine Machtbefugnisse verbissen
verteidigte. Vertraglich waren lediglich seine Kompetenzen festgelegt worden. Über
den Auftrag der Angehörigen der Militärmission sowie deren Status in der
verbündeten Armee lagen bestenfalls Richtlinien vor, die unter die veränderten
Anforderungen des Krieges kaum anwendbar waren. Diese verworrene Konstellation
führte dazu, daß die deutschen Stellen ständig ihre jeweiligen Führungsansprüche
gegeneinander
abzugrenzen
suchten.
Zwischen
dem
hohen
deutschen
Führungspersonal im Orient gab es daher starke Spannungen, so daß deren Berichte,
die aufgrund des Immediatrechts vieler Stellen unmittelbar nach Berlin gingen, nicht
abgestimmt waren. Dabei verfügte das Kriegsministerium in Berlin nur über sehr
begrenzte Mittel, um die Soldaten auf ihren Auslandseinsatz vorzubereiten und nahm
sich in Anbetracht des Kriegsverlaufs in Europa weder die Zeit noch eignete es sich
die Kenntnisse an, um die Lageberichte, Meldungen und Eingaben aus dem
Osmanischen Reich sachdienlich auszuwerten und die entsprechenden Konsequenzen
zu ziehen. Man griff daher auf in den eigenen Kolonien oder bei Verwendungen im
europäischen Ausland „bewährte“ Auswahlkriterien zurück. Tropendiensttauglichkeit
und Fremdsprachenkenntnisse (allerdings nicht der osmanischen Landessprachen)
wurden vorausgesetzt und darüberhinaus noch der militärische Werdegang einer
Versetzung in den Orient zugrundegelegt. Daß die berufliche Qualifikation nach
europäischer Schulung im Osmanischen Reich gegenüber charakterlicher Eignung
zum Umgang mit einer islamisch geprägten Kultur weniger wichtig war, fand im
Deutschen Reich keine Berücksichtigung. Im Gegenteil, in manchen Fällen (zum
Beispiel: Liman, Falkenhayn, Mayer, Schraudenbach) wurden sogar Offiziere in den
Orient versetzt, deren Persönlichkeit als „schwierig“ bekannt war und denen nur
bedingt eine beeindruckende militärische Laufbahn attestiert werden konnte. In sehr
vielen Fällen erwies sich die Auswahl der Offiziere als unglücklich und die wenigen
„glücklichen“ Fälle blieben Ausnahmen. Eine besondere Befähigung zum Dienst für
den Sultan fehlte zahlreichen Militärreformern. Selbst speziell ausgebildetete
Offiziere,
wie
Pioniere,
Fernmelde-,
Artillerie-,
Flieger-
und
sogar
Versorgungsoffiziere konnten ihre Fähigkeiten nur verzögert und unvollständig zum
Einsatz bringen, da das Osmanische Reich die technischen, strukturellen, personellen
und operativen Voraussetzungen dafür nicht aufwies. Die Grundlagen mußten zum
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Teil erst noch während des Krieges geschaffen werden. Dies konnten die Deutschen
aber nur vor Ort erkennen und dann versuchen, mit der Situation umzugehen. Vor
allem in Konstantinopel, wo die meisten Deutschen tätig waren, oder während ihrer
Dienstreisen konnten sich die Neuankömmlinge mit erfahrenen „Orientkämpfern“
austauschen. Die fremden Umgangsformen, Sitten und Gebräuche mußten erst im
Osmanischen Reich von Grund auf erlernt werden. Zudem blieb die Sprachbarriere
eines der größten Hindernisse für eine störungsfreie Zusammenarbeit, auch wenn
einige Deutsche sich während ihres Dienstes geringfügige Kenntnisse der türkischen
Sprache aneigneten. Die stereotypen Vorstellungen von „dem Orient“, wie sie die
Deutschen aus Märchen, Romanen oder antiker Literatur besaßen, hielten der Realität
nicht stand. Entsprechend groß war das Unverständnis, mit dem die Europäer den
Osmanen begegneten. Ob und wie sich dieses Unverständnis wandelte, hing vom
Einzelnen ab. Der Kommandeur des I.R. 146, Major Frithjof Freiherr von
Hammerstein Gesmold, beschrieb in seinem Tagebuch die sechs Stadien, die jeder
Fremde in Konstantinopel zu durchlaufen habe:
„1) Helle Begeisterung 2) Basses Erstaunen 3) Stille Abscheulichkeit 4) Tobsucht
5) „Wir machen mit“ 6) „Ich kann nicht mehr“.“1414
Bei der Mehrheit der deutschen Soldaten war die eigene Sozialisation offenbar so
stark verwurzelt, daß sie kaum über „Phase 4“ hinaus kamen, denn sie ließen
gegenüber den veränderten Rahmenbedingungen keine Kompromißbereitschaft
erkennen. Mit großer Entschlossenheit versuchten sie, ihre mitteleuropäischen
Doktrinen und Verhaltensweisen dem Verbündeten aufzuzwingen.
Andere hingegen (zum Beispiel: Kreß, Guhr, Serno und Firle) waren bemüht, sich mit
dem für sie ungewohnten Umfeld bestmöglich zu arrangieren, auch wenn sie dabei
einen Teil ihrer Vorstellungen zunächst hintanstellen mußten. Dadurch konnten sie
beim Verbündeten hohes Ansehen erlangen und so ihren Dienst wesentlich
reibungsfreier und erfolgreicher gestalten. Die eigenen Kameraden oder auch
Vorgesetzten, zumeist diejenigen, denen eine längere Erfahrung im Osmanischen
Reich fehlte, kritisierten diese Kompromißbereitschaft aber als Schwäche und
1414
Kriegstagebuch des Freiherrn von Hammerstein-Gesmold, Heft 12, Eintrag vom 8.4.1918, BAMA
Freiburg N 309/ 12.
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Preisgeben des deutschen militärischen Selbstverständnisses. So entstand das Stigma
der „Vertürkung“. Schon diese Wortkreation zeigt, wie es um das deutsch-türkische
Bündnis bestellt war. War ein Offizier als „vertürkt“ diffamiert worden, so war es
ihm beinahe unmöglich, seine Ansichten, Ratschläge oder auch handfesten
Kenntnisse bei den deutschen Stellen erfolgreich vorzubringen. Zugleich mußte die
Angst vor einer solchen Stigmatisierung sich hinderlich auf die Kooperation
zwischen anderen Deutschen und dem osmanischen Bündnispartner auswirken.
Die Begrifflichkeit unterstreicht weiterhin das Überlegenheitsgefühl, mit dem
zahlreiche Deutsche im Dienst auftraten. Auch wenn es stimmte, daß Deutschland
strukturell weiterentwickelt war als das Osmanische Reich, so war es doch mehr als
unklug, dem eigenen Verbündeten diesen Umstand vorzuhalten. Türkischerseits
entstand nicht zu Unrecht der Eindruck deutscher Arroganz gegenüber dem
orientalischen Bundesgenossen, was sehr empfindlich registriert wurde. Immerhin
handelte es sich beim Osmanischen Reich – trotz aller Defizite – um eine souveräne
Macht. Das Verhalten vieler Deutscher machte hingegen deutlich, daß diese den
„Kranken Mann“ am Bosporus keineswegs als gleichberechtigten Partner ansahen.
Dabei stand der „gefühlten Überlegenheit“ nicht immer eine „tatsächliche
Überlegenheit“ gegenüber. Die Leistungen und Führungsqualitäten schwankten unter
den deutschen Armeeangehörigen ebenso wie u
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