4 Zur Praxis der Blutegeltherapie E. Wittke-Michalsen 44 Grundsätzlich ist die Blutegeltherapie nicht tageszeitenabhängig. Aus organisatorischen Gründen kann es jedoch sinnvoll sein, die Egel morgens bzw. in der ersten Tageshälfte anzusetzen, weil die Zeitdauer des Saugens sich gelegentlich über mehr als zwei Stunden ausdehnen kann und der Patient ggf. dann noch mehrere Stunden problemlos kontrolliert werden kann, weil die Praxis für Rückfragen bzw. eine etwaige Nachversorgung geöffnet ist. Bei Patienten, die zuverlässig und in der selbstständigen Nachbeobachtung erfahren sind, kann bei geringer Egelanzahl ebenso gut der Nachmittag gewählt werden. Allerdings können Blutegel sehr empfindlich auf die Wetterlage reagieren. Beispielsweise kann es bei Schwüle und Gewitterneigung Probleme beim erfolgreichen Ansetzen geben. Hier ist möglicherweise größere Geduld erforderlich. Andererseits können auch Patienten mit Neigung zu niedrigem Blutdruck bei solchen Wetterlagen vermehrt vegetativ reagieren und Kreislaufprobleme bekommen. Ablauf und begleitende Umstände sollten so organisiert werden, dass ruhig und ohne jeden Zeitdruck gearbeitet werden kann. Der Therapeut selbst sollte nicht unter Zeitdruck stehen. Zu leicht überträgt sich sonst seine Aufregung störend auf alle Beteiligten. Besonders wichtig für die Vorbereitung ist eine umfassende Aufklärung des Patienten über das Procedere des Blutegelsetzens und das anschließende Verhalten. Auch erscheint eine beruhigende Einflussnahme auf den Patienten sinnvoll. Eine zu große Aufregung kann entsprechend zu dominierender sympathikotoner Regulationslage führen mit konsekutiv kalten und schlechter durchbluteten Akren. In diesem Falle bereitet dann das Ansetzen von Blutegeln an peripheren Lokalisationen (z. B. Rhizarthrose) erfahrungsgemäß größere Anlaufschwierigkeiten. In dieser Situation können die zu behandelnden Stellen geeigneterweise auch vorher mittels Wärmebehandlungen vorbereitet werden (s.u.). Vor Beginn einer Blutegeltherapie sollten die folgenden notwendigen Materialien bereitgehalten werden (Abb. 4.1): * * * * * * * * * * Frische, ungebrauchte, gut gereinigte Blutegel (mindestens 24 Stunden zuvor angeliefert) Behältnis für voll gesogene benutzte Egel Wasserdichte Unterlagen, Handtücher Kompressen, Rollbinden, saugfähige Vlieswindel Warmes und kaltes Wasser Schere, Einmalrasierer Einweghandschuhe Eventuell Glasröhre, kleiner Schröpfkopf oder abgeschnittene Einwegspritze Allergiemedikation, Injektionsbesteck, Lanzette oder Kanüle Blutdruckmessgerät aus: Michalsen u.a., Blutegeltherapie (ISBN 3830471696) F 2006 Haug Verlag 4.1 Vorbereitung der Hautstelle 45 Abb. 4.1 Materialien, die bei einer Blutegelbehandlung bereitgehalten werden sollten. 4.1 Vorbereitung der Hautstelle An der vorgesehenen Applikationsstelle sollte die Haut ein bis zwei Tage lang frei von Duftstoffen, Chemikalien oder lokalen Therapeutika gehalten werden. Eine Desinfektion vor dem Ansetzen ist nicht sinnvoll, da die Blutegel empfindlich reagieren, so dass sie dann evtl. nicht anbeißen. Asepsis lässt sich ohnehin nicht erreichen, ohne die Blutegel dabei zu töten. An dicht behaarten Applikationsstellen kann das Rasieren erforderlich werden und sollte sehr gründlich erfolgen, da spitze Haarborsten den Egel behindern. Anschließendes Trockenreiben bis zur Hautrötung begünstigt durch die Hyperämisierung das Anbeißen. Andere durchblutungsfördernde Maßnahmen, welche gleichzeitig die Haut erweichen, (heißer Schwamm oder Kompresse, Rotlicht, warme bzw. heiße Teilbäder von Armen und Füßen) unterstützen rasches Saugen, sind aber relativ selten notwendig, außer bei peripheren Lokalisationen wie Behandlung der Rhizarthrose oder der Füße. Hyperämisierend wirkt auch eine vorherige Schröpfkopfapplikation, Einreibungen sind ungeeignet. Das Befeuchten der Haut mit Wasser kann das Anbeißen begünstigen, da die Egel so einen besseren Halt für die Saugnäpfe finden. Das „Anlocken“ von Blutegeln mit Zuckerlösung ist nicht notwendig. aus: Michalsen u.a., Blutegeltherapie (ISBN 3830471696) F 2006 Haug Verlag 4 Zur Praxis der Blutegeltherapie 4.2 Applikation Auswahl Es werden nur gesunde und beißwillige Egel aus dem Glas genommen, keine die z. B. gerade im Häutungsprozess stecken oder träge auf dem Boden des Gefäßes ruhen. Am besten geeignet sind Egel, * * 46 * die sich rasch und lebhaft durch das Wasser schlängeln, die sich gleich an die Hand des Therapeuten heften, wenn er in das Gefäß fasst, die sich auf Berührung sofort reflexartig zur Olivenform zusammenziehen, um gleich darauf den Vorderkörper wieder in tastender Bewegung auszustrecken. Man bevorzuge eher kleine bis mittelgroße Egel. Bisse kleiner Egel sind weniger schmerzhaft und die Bisswunden heilen i.d.R. schneller ab. Ansetzen Die Egel werden mit den Fingern aus dem Glasbehälter geholt. Einweghandschuhe schützen den Therapeuten davor gebissen zu werden. Eine Kompresse kann beim Greifen der Egel hilfreich sein. Am Handschuh festgesaugte Egel können durch vorsichtiges Lösen des Saugnapfes abgenommen werden. Unbedingt zu vermeiden sind Pinzetten oder scharfe Instrumente, welche den Blutegel verletzen könnten. Wenn die Egel nicht punktuell auf eine bestimmte Stelle gesetzt werden sollen, beispielsweise wenn es sich um einen ausgedehnteren schmerzhaften Bereich am Rücken (Dermatom) handelt, legt man eine größere Kompresse in die Hohlhand und darauf ein bis drei Blutegel. Dann drückt man diese gemeinsam sanft auf die Haut und fixiert die Kompresse mit der Hand an den Rändern. Verspürt der Patient mehrere Bisse bzw. einen lokalen Schmerz und sind rhythmische pulsierende Bewegungen am gekrümmten Hals der Egel zu erkennen, kann die Hand gelöst und der Bereich provisorisch warm und dunkel gehalten werden, z. B. durch lockeres Abdecken mit einem Frotteehandtuch. Kommt es auf punktgenaues Ansetzen an, müssen die Egel einzeln nacheinander gesetzt werden. Man fasst einen Egel mit Daumen und Zeigefinger am Schwanzende (ohne zu quetschen) – eventuell mit Hilfe einer Kompresse – und hält den Kopf (schmaleres, spitzeres, suchendes Körperende) an die gewünschte Stelle. Er wird vorsichtig immer wieder an die gewünschte Stelle geführt, bis er angebissen hat und zu saugen beginnt. Manchmal ist es sinnvoll, die Applikationsstelle mit etwas Wasser anzufeuchten, um die Beißbereitschaft zu erhöhen. Falls er sich an unerwünschter Stelle anheftet, kann er vor dem Beißen behutsam mit dem Fingernagel, der unter den Saugnapfrand geschoben wird, abgelöst werden. Eine andere Möglichkeit wäre, eine gut haftende Folie mit dem Ausschnitt für die gewünschte Applikationsstelle aufzulegen bzw. mit Pflaster den gewünschten Applikationsort einzugrenzen (z. B. sinnvoll bei Rhizarthrose-Behandlung). Als Hilfsmittel können auch ein kleines Glasröhrchen, eine abgeschnittene Einmalspritze oder ein kleines Schröpfglas dienen, welches dann mit einem oder mehreren Egeln auf die aus: Michalsen u.a., Blutegeltherapie (ISBN 3830471696) F 2006 Haug Verlag 4.2 Applikation entsprechende Stelle aufgesetzt wird, so kann an mehreren Stellen gleichzeitig angesetzt werden. Beim Abheben des Glases muss allerdings darauf geachtet werden, dass die Egel nicht noch saugen. Eine Einwegspritze (2ml oder 5ml, je nach Egelgröße) kann an der Spitze je nach Bedarf gerade oder schräg abgeschnitten werden, die Kanten sollten am besten über einer Flamme geglättet werden. Der Stempel wird herausgezogen, so dass der Egel hinein kriechen kann. Dann schiebt man ihn mit dem Stempel oder etwas Mull soweit hinein, dass der Kopf die Ansatzstelle berührt. Sobald er angebissen hat, schiebt man ihn ganz aus der Spritze hinaus, damit er ausreichend Platz zum Vollsaugen hat. Wenn die Blutegel ohne objektiven Grund nicht beißen, kann die Haut mit einer sterilen Kanüle oder einer Lanzette angeritzt werden, so dass etwas Blut austritt und der Egel nicht widerstehen kann. ! Cave Hatte der Egel so Kontakt mit Blut, beißt aber trotzdem nicht, kann er auf keinen Fall mehr an einen anderen Patienten angesetzt werden und darf auch nicht in das Glas mit frischen Egeln zurückgesetzt werden! Saugprozess Während des Saugens sollte man die Blutegel ungestört lassen. Nach Möglichkeit sollte man sie mit einer Kompresse und Watte zudecken, damit sie weder Kälte noch Licht ausgesetzt sind und die Hautstelle nicht abkühlt. Die Abdeckung dient auch zur Aufnahme der wässrigen Flüssigkeit (Wasser sowie überflüssige Serumbestandteile), welche die Egel während des Saugens absondern. Der Patient sollte bequem gelagert werden, und die Egel sollten genügend Platz zum Saugen haben, so dass sie während der Behandlung nicht abgerissen oder gequetscht werden können. ! Cave Die abgesonderten Serumbestandteile können genauso infektiös wie Blut sein, daher sollte der Therapeut sich schützen! Die Egel lassen von selbst los, sobald sie voll gesogen sind, normalerweise nach etwa 20 bis 60 Minuten. An sehr gut durchbluteten Hautstellen können sie schon nach 10 Minuten fertig sein (selten). Unter ungünstigen Umständen kann es aber auch zwei Stunden dauern. Manchmal bleiben sie dann prall gefüllt und bewegungslos liegen. Hilfreich ist dann gelegentliches Anstoßen oder Streichen mit einer Kompresse, so dass sie aufwachen und weitersaugen oder abfallen. Beim Ablösen darf niemals Gewalt angewendet werden, sonst sind Komplikationen in Form von Entzündungen möglich. Ganz besonders ist das Erbrechen von Mageninhalt durch starke Manipulationen denkbar. Richtig ist es, sanft mehrmals ihren ganzen Körper zu schütteln, den hinteren Saugnapf, der als Stütze dient, mit dem Fingernagel zu lösen, so dass der Egel durch sein Eigengewicht, welches einen Zug auf das Kopfteil ausübt, von selbst abfällt. aus: Michalsen u.a., Blutegeltherapie (ISBN 3830471696) F 2006 Haug Verlag 47 4 Zur Praxis der Blutegeltherapie Vom Versuch, Salz oder andere Substanzen zu verwenden, um den Egel durch Schmerz oder Erschrecken zum Ablösen zu bringen, ist abzuraten, dies kann ein Erbrechen des Egels auslösen und in der Folge eine Wundinfektion befördern. Nachbehandlung 48 Nach dem Abfallen der Blutegel dauert es gewöhnlich drei bis zwölf Stunden, bis die Blutung aus den dreizackigen Bisswunden zum Stillstand gekommen ist. Aber auch mehr als 24 Stunden können bei Bissen größerer Tiere noch als normal gelten. Das langsame Ausströmen des Blutes ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie und führt i.d.R. nicht zu systemisch relevantem Blutverlust. Bei rascher Blutstillung sind die Behandlungserfolge erfahrungsgemäß geringer und die Wunden zeigen eine erhöhte Entzündungsbereitschaft. Der nach außen gerichtete Blutstrom sichert die entstauende Wirkung und verhindert Komplikationen, da eventuell beim Beißen eingedrungene Keime ausgespült werden. Bei guter Nachblutung deckt man die Wunden zunächst nur provisorisch ab, kontrolliert nach 15–30 Minuten das Ausmaß der Nachblutung und legt dann erst den endgültigen Verband locker an. Vorsorglich sollte der Patient darauf hingewiesen werden, bis zur spontanen Blutstillung auf stärkere körperliche Aktivitäten zu verzichten, denn die eintretende Erleichterung und Besserung führt schnell zu einer Überbelastung und möglicherweise zu stärkerer Blutung. Auch zu vermehrter Flüssigkeitsaufnahme sollte geraten werden, da es durch die Anregung des Lymphstromes zu gesteigerter Wasserausscheidung kommen kann und der Blutdruck durch die Nachblutung und Nachruhe etwas niedriger als vor der Behandlung sein kann. Über die Wunden wird nur ein steriler Tupfer oder eine Kompresse gelegt, darüber mehrere Zentimeter dick und weit über den Wundbereich Zellstoff oder Watte in solcher Menge, dass alles austretende Blut gut aufgenommen werden kann. Die Schichten werden durch Mullbinden locker befestigt, um den Blutstrom nicht durch Kompression zu behindern. Bei weiter ausgedehnten Bereichen, besonders im Rumpfgebiet, ist es praktischer, den Verband durch ein größeres Handtuch zu fixieren, das mit einer Sicherheitsnadel oder einem Pflasterband zusammengehalten werden kann. Vorteilhaft ist, dass der Patient am Behandlungstag leicht waschbare und entsprechend weite Kleidung trägt, um dem lockeren Verband Platz zu schaffen. Am nächsten Tag steht die Blutung gewöhnlich und der Verband kann reduziert werden. Beim Verbandswechsel kann es durch versehentliches Lösen der Krusten zu geringfügigem Blutaustritt kommen. Die Krusten fallen nach ca. einer Woche von selbst ab. Um eine nachfolgende Infektion zu verhindern, empfiehlt es sich in dieser Zeit Pflaster zu tragen, da diese das Aufkratzen bei eventuell auftretendem Juckreiz (s. Kap. 11: Unerwünschte Wirkungen) verhindern und der Wundverschluss vor der Zug- und Scherbelastung der Kleidung geschützt ist. Längere Aufenthalte im Wasser sind in den nachfolgenden Tagen ebenfalls zu vermeiden, damit die Krusten sich nicht vorzeitig lösen. Für Patienten, die nach einigen Tagen wieder an hydrotherapeutischen Anwendungen teilnehmen sollen oder schwimmen wollen, haben sich Aquapflaster bewährt, die aber anschließend wieder durch einfache Pflaster ersetzt werden sollen. aus: Michalsen u.a., Blutegeltherapie (ISBN 3830471696) F 2006 Haug Verlag 4.2 Applikation Es ist sinnvoll, dem Patienten ein Merkblatt mitzugeben (siehe Anhang), auf welchem Verhaltensregeln aufgezeigt sind, und die Ausgabe des Merkblattes in seiner Karteikarte zu verzeichnen. Darüber hinaus sollte dem Patienten immer eine (Bereitschafts-)Telefonnummer angegeben werden, für den Fall, dass es zum Auftreten unerwünschter Wirkungen kommt. Unvermeidbar sind selbstverständlich die Bisswunden, die bei Keloidneigung unter Narbenbildung abheilen können. Im Regelfall kommt es je nach Hauttyp zu einer Depigmentierung im Bereich der Bissstelle, welche unterschiedlich lange anhält. Die Ränder der dreizackigen Wunde schwellen in einem Zeitraum von 12–48 Stunden an, verbunden mit einem Spannungsgefühl, leichter Wärme und Rötung durch erweiterte Blutgefäße. Auch ein leichtes Ziehen und Pulsieren kann fühlbar sein. Die Umgebung der Wunde verfärbt sich blassrot bis violett und wie bei einem normalen Bluterguss nach einigen Tagen für ca. zwei Wochen gelblich. Diese Erscheinungen sind normal, sie sind nicht Ausdruck einer Infektion und bedürfen keiner Nachbehandlung. Die Bissstellen sind noch etwas länger zu erkennen. Sie verkleinern sich rasch, blassen ab und werden nach wenigen Wochen unsichtbar. Fast immer geht die Heilung mit einem mehr oder minder stark ausgeprägten Juckreiz einher, ähnlich wie nach einem stärkeren Mückenstich. Zu starker Juckreiz kann durch feuchte Umschläge mit Essigwasser oder Quark gelindert werden. Eine seltene Komplikation ist die übermäßige Blutung. Die aus der Geschichte bekannten Komplikationen wurden durch den Einsatz übertrieben großer Mengen von Egeln oder Nichtbeachtung von Kontraindikationen herbeigeführt. Bei Applikation an ein großes, oberflächlich gelegenes Gefäß kann ein großer Blutegel u. U. bereits zu starkem Blutverlust führen. Die einfachste und fast immer ausreichend wirksame Methode der Blutstillung ist die Kompression der Wunde mittels eines Druckverbandes. Eine Wundnaht oder Kauterisation wirkt im Bedarfsfall noch sicherer. Häufigste Komplikation ist die sekundäre Wundinfektion, die dann vor allem zu erwarten ist, wenn die Blutung unsachgemäß gestillt oder der Wundverband zu schnell gewechselt wurde, wobei die Wunde aufriss, und vor allem wenn der Patient sich kratzt, so dass Hautbakterien eindringen können. Deshalb ist es besonders wichtig, den Patienten auf den Juckreiz vorzubereiten und durch entsprechende Verbände vorzubeugen. Besondere Vorsicht ist bei Körperstellen geboten, wo mechanische Reize den Juckreiz weiter provozieren, d. h. Kleidungsstücke scheuern. aus: Michalsen u.a., Blutegeltherapie (ISBN 3830471696) F 2006 Haug Verlag 49