Psychiatrie und Psychotherapie compact Das gesamte Facharztwissen von Siegfried Kasper, Hans-Peter Volz 2. vollst. überarb. Aufl. Thieme 2008 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 13 125112 1 Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG 19.5 Akzessorische Symptome bei Demenz bis auf Ausnahmefälle (z. B. intravenöse Gabe von Haloperidol) keine geeignete Therapie dar, da häufig zusätzlich noch anticholinerg wirksame Medikamente gegeben werden müssen, die zu einer Verschlechterung der kognitiven Situation führen. Hypnotika Aufgrund von Störungen des Schlafrhythmus und Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus ist bei demenziellen Syndromen häufig eine Hypnotikagabe notwendig. Benzodiazepine können eine mögliche paradoxe Wirkung zeigen. Eine gute Alternative stellen Nichtbenzodiazepine wie Zolpidem und Zopiclon dar, die aufgrund ihres geringen bis fehlenden Abhängigkeitspotenzials und fehlender motorischer Nebenwirkungen den Benzodiazepinen vorgezogen werden sollten. Vereinzelt kann auch das Trinken von Bohnenkaffee vor dem Zubettgehen bei dementen Patienten ausreichend schlafanstoßend sein. Eine ausreichend schlafanstoßende Wirkung zeigen auch niedrig potente Neuroleptika, z. B. Prothipendyl (40–80 mg). Literatur Burns A, Rossor M, Hecker J et al. Donezepil in the treatment of Alzheimer’s disease – results from a multinational clinical trial. Dement Geriat Cogn Disord 1999; 10: 237-244 Corey-Bloom J, Anand R, Veach J, for the ENA 713 B352 Study Group. A randomized trial evaluating the efficacy and safety of ENA 713 (rivastigmine tartrate), a new acetylcholinesterase inhibitor, in patients with mild to moderately severe Alzheimer’s disease. 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Welche Medikamente zählen zu den Nootropika und wie sieht ihr Nebenwirkungsprofil aus? 12. Welcher Wirkmechanismus wird für Memantin angenommen? 13. Welche Nebenwirkungen können bei Memantin auftreten? 14. Was versteht man unter vaskulärer Demenz? 15. Womit können akzessorische Symptome bei Demenz behandelt werden? 19 aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG 349 20 Anxiolytika Tarik Ugur und Hans-Peter Volz 20.1 Einleitung Die Pharmakotherapie der Angststörungen hat sich durch die Verfügbarkeit gut verträglicher Substanzen und im Zuge der fortschreitenden Validierung von Behandlungsverfahren in den letzten Jahren weiter etabliert. Sie gilt als kausale und gut praktikable Therapieform. Ihre Indikationen reichen von ihrem alleinigen Einsatz bis zur komplementären Behandlung in Verbindung mit einer Psychotherapie. In der Behandlung von Angststörungen bei älteren Erwachsenen kann die Pharmakotherapie inzwischen als eine Therapiemöglichkeit der ersten Wahl betrachtet werden. Allerdings erreichen nicht alle Patienten eine vollständige Remission, so dass im Einzelfall eine Therapieeskalation angezeigt ist. Nach einem erfolgreichen Ansprechen der Angstsymptome kann ein frühzeitiges Absetzen des Anxiolytikums erneut zu einer Exazerbation führen, weshalb die Pharmakotherapie der Angststörungen langfristig angelegt sein sollte. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass die Pharmakotherapie der Angststörungen auf eine Gruppe ätiologisch unterschiedlicher Krankheitsentitäten zielt, die von den Klassifikationensystemen ICD-10 und DSM-IV-TR näher definiert werden. Diese sind insbesondere Panikstörung, Agoraphobie mit und ohne Panikstörung, generalisierte Angststörung, soziale Phobie, spezifische Phobien sowie Angst und depressive Störung gemischt. Im weitesten Sinne wird auch die Zwangsstörung zu den Angststörungen gerechnet, wobei auf die somatische Therapie der Zwangsstörungen in Kap. 6 näher eingegangen wird. Trotz des gemeinsamen Symptoms übermäßiger Angst und einer sich daraus ergebenden Überlappung der Indikationen und des Zulassungsstatus hat sich die Entwicklung zu einer differenziellen Pharmakotherapie der einzelnen Angststörungen fortgesetzt. Die nachfolgende Darstellung der Anxiolytika orientiert sich an Wirksamkeitsnachweisen. Diese gehen zum Teil über den aktuellen Zulassungsstatus für einzelne Wirkstoffe hinaus. In der anxioly- tischen Pharmakotherapie werden neben den rasch wirksamen Benzodiazepinen auch Antidepressiva eingesetzt, deren anxiolytische Wirkung erst nach mehrwöchiger Behandlung eintritt, z. B. SSRI, trizyklische Antidepressiva und SNRI. Einen neuen Ansatz stellt in diesem Zusammenhang die Entwicklung von Pregabalin, einem selektiven Modulator spannungsabhängiger Kalziumkanäle dar. Daneben sind in der klinischen Praxis symptomatische Behandlungen mit Betablockern oder Neuroleptika gebräuchlich (Tab. 20.1). 20.2 Antidepressiva Antidepressiva sind fester Bestandteil der Pharmakotherapie von Angsterkrankungen. Neben den trizyklischen Antidepressiva wie Clomipramin und Imipramin und irreversiblen MAO-Hemmern liegen Wirksamkeitsnachweise für neuere Substanzklassen, insbesondere SSRI, RIMA und SNRI vor. Einige Substanzen sind für spezielle Angststörungen zugelassen, so dass sich der Trend zu einer differenziellen Therapie der einzelnen Angststörungen trotz einer gewissen Überlappung der Indikationen fortgesetzt hat. Die Substanzcharakteristika der Antidepressiva sind in Kap. 17 beschrieben. Unter der Behandlung mit Antidepressiva kann es initial zu einer Zunahme der Angstsymptomatik kommen, was auf eine erhöhte Serotoninempfindlichkeit bei der Panikerkrankung zurückzuführen ist. Mehr als bei den depressiven Störungen muss bei den Panikstörungen deshalb einschleichend dosiert werden. In Einzelfällen, insbesondere bei einer anfänglichen Zunahme der Symptomatik, ist eine zusätzliche Gabe von Benzodiazepinen (z. B. Alprazolam) gerechtfertigt. Diese symptomatische Therapie sollte spätestens mit dem Ende der Wirklatenz des Antidepressivums enden. Agoraphobie mit und ohne Panikstörungen. Entsprechend den Ausführungen in Kap. 6 hat „die Panikstörung im Vergleich zur Agoraphobie im DSM-IV eine hierarchisch höhere Wertigkeit als in der ICD10, da sie im DSM-IV als mit oder ohne Agoraphobie aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG 20 350 20 Anxiolytika Tab. 20.1 In der Pharmakotherapie von Angststörungen verwendete Substanzen. Substanzgruppe Substanz Antidepressiva SSRI Citalopram Escitalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin trizyklische Antidepressiva Imipramin Clomipramin SNRI Venlafaxin klassische MAO-Hemmer Tranylcypromin RIMA Moclobemid Antiepileptika Modulator spannungsabhängiger Kalziumkanäle Prägabalin Tranquillizer Benzodiazepine Alprazolam Lorazepam Clonazepam diagnostiziert werden kann, während dies in der ICD-10 umgekehrt ist“. Die meisten Studien liegen für diesen Bereich vor. In den letzten Jahren haben sich SSRI aufgrund ihrer guten Wirksamkeit bei guter Verträglichkeit etabliert. Neben dem SNRI Venlafaxin spielen trizyklische Antidepressiva eine wichtige Rolle, wobei bei Letzteren die Rate unerwünschter Nebenwirkungen höher ist als bei den modernen Substanzen. Imipramin und Clomipramin sind die Substanzen mit den am besten gesicherten Studienergebnissen (Modigh et al. 1992). Allerdings sind nicht alle Antidepressiva mit Wirksamkeitsnachweisen in Deutschland in dieser speziellen Indikation zugelassen, so dass der Einsatz nachweislich wirksamer Substanzen trotzdem ein Off-Label-Gebrauch sein kann. (Der jeweilige Zulassungsstatus ist in Tab. 20.2 angegeben.) Generalisierte Angststörung, soziale Phobie. Für die generalisierte Angststörung liegen aus der Gruppe der Antidepressiva Zulassungen für Escitalopram, Paroxetin und Venlafaxin vor. Alle drei Substanzen sowie Moclobemid haben ferner eine Zulassung für die Indikation soziale Phobie. In der Behandlung der generalisierten Angststörung liegen für Doxepin und Imipramin wiederholte Wirksamkeitsnachweise vor (Rickels et al. 1993). Empfehlung zur somatischen Therapie der posttraumalischen Belastungsstörung. Siehe Abschnitt 20.7 Diazepam 20.3 Antiepileptika Neuroleptika Thioxanthene Chlorprothixen Phenothiazine mit aliphatischer Seitenkette Promethazin Butyrophenone Melperon Levopromazin andere Substanzen Betarezeptorenblocker Propranolol Atenolol, Oxprenolol 20 Piperazinderivate Opipramol Antihistaminika Hydroxyzin Azapirone Buspiron RIMA: reversible und selektive Inhibitoren der Monoaminoxidase Typ A SNRI: selektiver Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer SSRI: selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Die Überlegungen zum Einsatz von Antiepileptika bei paroxymalen Ängsten reichen bis in die 1960er-Jahre zurück und basieren auf dem anfallsartigen Charakter der Panikstörung. Trotz positiver experimenteller Ergebnisse haben Antiepileptika nur zögerlich Eingang in die Angstbehandlung gefunden. Mit Pregabalin, einem Modulator spannungsabhängiger Kalziumkanäle, steht ein neuer und gut verträglicher Therapieansatz zur Verfügung. Wirkmechanismus und Pharmakokinetik. Pregabalin hat neben der anxiolytischen Wirkung antiepileptische und analgetische Eigenschaften, indem es den Kalziumeinstrom in die Zelle vermindert und so die Exozytose synaptischer Vesikel mit monoaminergen Transmittern, Glutamat, der Substanz P und dem calcitoningenverwandten Peptid drosselt. Die Wirkungsweise von Pregabalin an aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG 351 20.4 Benzodiazepine Tab. 20.2 In der Behandlung verschiedener Angststörungen zugelassene Substanzen mit Dosierungsvorschlägen (laut Rote Liste 2007). Substanzklasse Substanz Dosierung (mg) Agoraphobie ± Panikstörung SSRI generalisierte Angststörung soziale Phobie Citalopram 40–60 Escitalopram 10–30 10–30 10–30 Paroxetin 40–60 40–60 40–60 trizyklische Antidepressiva Clomipramin 100–200 SNRI Venlafaxin 75–225 75–225 75–225 RIMA Moclobemid Antiepileptika Pregabalin 150–600 Azapirone Buspiron 15–60 PTBS 20–50 300–600 PTBS: posttraumatische Belastungsstörung den im Nervensystem ubiquitär vorhandenen spannungsabhängigen Kalziumkanälen soll nur bei erhöhter Exzitation einsetzen. Bei neuronalen Funktionseinheiten im Normalzustand soll Pregabalin wirkneutral sein. In mehreren plazebokontrollierten Studien wurde eine gute Wirksamkeit gegen psychische und somatische Angstsymptome nachgewiesen. Im Vergleich zu Antidepressiva besteht keine mehrwöchige Wirklatenz. Die Bioverfügbarkeit der Substanz beträgt 90 %. Im therapeutischen Bereich ist die Dosis-Plasma-Relation linear. Eine nennenswerte Bindung an Plasmaproteine erfolgt nicht, die Blut-Hirn-Schranke wird schnell überwunden. Die Elimination erfolgt zu 98 % unverändert renal bei einer Eliminationshalbwertszeit von etwa 6 Stunden. Aufgrund der überwiegend unveränderten Elimination weist Pregabalin ein nur geringes Interaktionspotenzial auf, dieses betrifft insbesondere eine Wirkungsverstärkung von Alprazolam und Äthanol sowie eine kognitive und grobmotorische Beeinträchtigung als Interaktion mit Oxycodon (Fachinformation Lyrica). Indikation. Pregabalin ist zur Behandlung der generalisierten Angststörung zugelassen. Dosierung. Die Startdosis beträgt in der Regel 150 mg/Tag, wobei es zur Vermeidung einer initia- len Sedierung günstig sein kann, mit einer niedrigeren Startdosis (75 mg/Tag) zu beginnen. Eine Steigerung um 150 mg wöchentlich ist möglich. Bei höheren Dosen (450–600 mg/Tag) nehmen in der Regel die Nebenwirkungen zu. Die Einnahme erfolgt in 2–3 Einzeldosen. Bei Patienten mit einer Kreatininclearance X 60 ml/min ist eine Dosisreduktion notwendig. Kontraindikationen. Absolute Kontraindikationen außer einer Unverträglichkeit gegen die Inhaltsstoffe wurden bisher nicht berichtet. Als allgemeine Vorsichtsmaßnahme sollte von einer Anwendung während der Schwangerschaft und der Stillzeit abgesehen werden. 20.4 Benzodiazepine Indikation. Benzodiazepine zeichnen sich durch sedierende, anxiolytische, zentral muskelrelaxierende, antikonvulsive und amnestische Wirkungen aus. Das psychiatrische Indikationsgebiet von Benzodiazepinen reicht von der Behandlung akuter Angstzustände über die kurz- und mittelfristige Therapie von Angststörungen bis zum Einsatz als Hypnotika. Ein differenzieller Einsatz berücksichtigt neben dem klinischen Wirkprofil pharmakokinetische und pharmakodynamische Charakteristika. aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG 20 352 20 Anxiolytika Wirkmechanismus. Die Gamma-Aminobuttersäure (GABA) ist der wichtigste hemmende Botenstoff des ZNS. Sie entfaltet ihre Wirkung über die GABA-Rezeptoren. Benzodiazepine steigern das Bindungsvermögen von GABA an GABA-A-Rezeptoren. Als Folge davon kommt es zu einer Hyperpolarisation durch einen Einstrom von Chloridionen, die eine Mindererregbarkeit der betroffenen Nervenzelle bewirkt. Die spezifischen Benzodiazepinrezeptoren, die mit dem GABA-Rezeptor interagieren, werden als Omegarezeptoren bezeichnet. Eine Interaktion mit dem Omega-1-Rezeptor löst primär sedativ-hypnotische Effekte aus, eine Interaktion mit dem Omega-2-Rezeptor eine muskelrelaxierende Wirkung. 20 Pharmakokinetik. Benzodiazepine werden bei peroraler Verabreichung unterschiedlich rasch absorbiert und haben eine hohe Bioverfügbarkeit. Der zentralnervöse Wirkeintritt nach intravenöser Applikation wird entscheidend von der Lipophilie der einzelnen Präparate bestimmt und liegt in der Größenordnung von Sekunden bis Minuten. Ebenfalls rasch wirksam sind schleimhautlösliche Darreichungsformen und Suppositorien, wobei die Resorption der Letzteren größeren interindividuellen Schwankungen unterliegt. Bei intramuskulärer Verabreichung von Benzodiazepinen werden regelmäßig niedrigere Blutplasmaspiegel erreicht als bei intravenöser Gabe. Die Metabolisierung führt bei einer Reihe von Benzodiazepinen zu pharmakologisch aktiven Metaboliten, die ebenfalls eine Benzodiazepinwirkung entfalten. Die hepatische Metabolisierung ist der hauptsächliche Eliminationsweg der Benzodiazepine. Hierbei unterscheidet man Benzodiazepine, die einer Phase-I-Biotransformation unterliegen (z. B. Clonazepam), und Benzodiazepine, die durch Glukoronidierung eliminiert werden (Phase-II-Biotransformation; z. B. Lorazepam). Potenzielle Interaktionen mit anderen Pharmaka und pathologische Veränderungen der Leber (z. B. bei Leberzirrhose) beeinflussen insbesondere die oxidative Phase-I-Biotransformation. Darüber hinaus existieren Prodrugs (z. B. Prazepam), die erst durch Stoffwechselvorgänge in ihre aktive Form verwandelt werden. Je nach Eliminationshalbwertszeit werden Benzodiazepine in kurz-, mittellang- und langwirksame Substanzen unterteilt. In Abhängigkeit vom Einsatzgebiet können neben den unterschiedlich langen Halbwertszeiten auch Unterschiede in der sedierenden Begleitwirkung berücksichtigt werden. In Tab. 20.3 sind Beispiele für Benzodiazepine mit Wirksamkeitsnachweisen bei verschiedenen Angststörungen aufgeführt. Nebenwirkungen. Die Nebenwirkungen der Benzodiazepine sind abhängig von der jeweiligen Dosis, der Behandlungsdauer und teilweise auch vom Lebensalter der behandelten Patienten. > Benzodiazepine verlangsamen die Reaktionszeit und setzen Koordinationsleistungen herab, weshalb vonseiten des Behandlers über eingeschränkte Fahrtauglichkeit informiert werden muss. > Unter Benzodiazepingebrauch kann es zu Ataxie und Dysarthrie kommen. Anterograde Amnesien, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen aufgrund der sedierenden Eigenschaften sowie zentrale Muskelrelaxation sind in therapeutischer Dosis möglich. > Bei akuten Intoxikationen können darüber hinaus Doppelbilder, Schläfrigkeit, Apathie, Nausea und Erbrechen oder paradoxe Reaktionen mit Agitiertheit auftreten. Ausgeprägtere kognitive Störungen und paradoxe Reaktionen sind im Senium häufiger. > Unter chronischem Benzodiazepingebrauch sind Persönlichkeitsveränderungen mit Apathie, Dysphorie, Libidoverlust und kognitive Störungen mit zum Teil schlechter Rückbildungstendenz auch bei nachfolgender späterer Abstinenz beschrieben. > Zu den unerwünschten Nebenwirkungen nach chronischem Gebrauch zählen ferner Toleranzentwicklung, Missbrauch und Abhängigkeit. Entsprechend besteht die Gefahr von Reboundund Entzugsphänomenen. Während der Rebound häufig mit Angst, Unruhe und Insomnien einhergeht, treten beim Entzug vegetative Symptome wie Tachykardien, Tremor, Nausea, Kopfschmerzen und Erbrechen hinzu. Schwere Entzugssyndrome können mit sensorischen Wahrnehmungsstörungen, Ich-Störungen, paranoid-halluzinatorischen Syndromen, kognitiven Störungen, Delirien und Krampfanfällen einhergehen. Diese treten nach hoch dosiertem Benzodiazepingebrauch auf. Der Entzug nach Abhängigkeit mit Tagesdosen im therapeutischen Dosisbereich (Low-Dose-Abhängigkeit) verläuft fluktuierend über Wochen bis zu einem halben Jahr. aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG Neuroleptika 353 Tab. 20.3 Auswahl von Benzodiazepinen mit Zulassungen zur symptomatischen Behandlung akuter und chronischer Angstzustände sowie empfohlene und in plazebokontrollierten Studien an definierten Angststörungen eingesetzte Tagesdosen. Dosierung1) (mg/Tag) Substanzeigenschaften Agoraphobie ± Panik GAS soziale Phobie t1 ⁄ 2 Alprazolam 4–6 [10] 4–6 [10] 2–6[8] Bromazepam Substanz (h) Untergruppe Einteilung Sedierung 10–15 m + Triazolobenzodiazepin 3–6 [24] 10–20 m ++ 1,4-Benzodiazepin Clobazam 20–30 [60] 12–60 l + 1,5-Benzodiazepin Oxazepam 10–30 [60] 4–8 m + 1,4-Benzodiazepin Diazepam2) 5–20 [60] 5–20 [60] 20–40 l +++ 1,4-Benzodiazepin Lorazepam 0,5–10 [20] 0,5–10 [20] 8–24 m ++ 1,4-Benzodiazepin GAS: generalisierte Angststörung; t1⁄2: Eliminationshalbwertszeit m bzw. l: mittel- bzw. langwirksame Benzodiazepine +/ ++/ +++: geringer/ mittelstarker/ starker Sedierungsgrad 1): Höchstdosis in eckiger Klammer 2): zusätzlich Zulassung zur Sofortbehandlung akuter Angst Kontraindikationen, Interaktionen. Wegen der muskelrelaxierenden Wirkung dürfen Benzodiazepine nicht bei Myasthenia gravis und akuter respiratorischer Insuffizienz verwendet werden. Akute Intoxikationen mit Alkohol-, Analgetika- und Psychopharmaka stellen ebenfalls eine Gegenanzeige für den Einsatz von Benzodiazepinen dar. Wegen ihrer Plazentagängigkeit sollten Benzodiazepine im ersten Trimenon der Schwangerschaft aufgrund einer fraglich erhöhten Inzidenz von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten keine Verwendung finden. Pränatale Anwendungen können bei dem Neugeborenen eine Muskelschwäche mit Atemdepression, Hypothermie und Trinkschwäche auslösen, die von manchen Autoren auch als Floppy-Infant-Syndrom bezeichnet wird. Während der Stillzeit sollte der Einsatz von Benzodiazepinen ebenfalls vermieden werden. Leber- und Nierenerkrankungen erfordern in der Regel eine Dosisreduktion, wobei hohes Alter und eingeschränkte Leberfunktion insbesondere die Phase-I-Biotransformation beeinflusst. Pharmakologische Interaktionen über die Phase-I-Biotransformation können die Wirkung von Benzodiazepin verstärken (z. B. Cimetidin, Valproinsäure) oder vermindern (z. B. Carbamazepin). Aufgrund des Abhängigkeitspotenzials sind die in Tab. 20.4 aufgeführten Verordnungskriterien für Benzodiazepine zu beachten. 20.5 Neuroleptika Niederpotente Neuroleptika. Der Einsatz von Neuroleptika in anxiolytischer Indikation ist in der klinischen Praxis verbreitet. Meist kommen niederpotente Substanzen (z. B. Levopromazin, Melperon, Pipamperon, Chlorprothixen) aufgrund ihrer sedierenden Eigenschaften zur Anwendung. Da auch niederpotente Neuroleptika zu extrapyramidal-motorischen Symptomen und tardiven Dyskinesien führen können, gelten sie als Anxiolytika der zweiten Wahl. Sie werden eingesetzt, wenn Benzodiazepine kontraindiziert sind, z. B. bei bekannter Abhängigkeit oder paradoxer Benzodiazepinwirkung im Senium. Die jeweiligen Dosierungen für einige Neuroleptika sind Tab. 20.5 zu entnehmen. Die Anwendung niederpotenter Neuroleptika im Rahmen von Angststörungen erfolgt als Off-Label-Gebrauch. Melperon hat eine Zulassung für Psychoneurosen, wenn der Einsatz von Traquilizern wegen einer Unverträglichkeit oder einer Ab- aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG 20 354 20 Anxiolytika Tab. 20.4 Leitsätze zur Verordnung von Benzodiazepinen (mod. nach: Laux 1992, Möller 1992). klare Indikationsstellung Benzodiazepine sollten niemals rein symptomorientiert verordnet werden, sondern nur, nachdem eine möglichst eindeutige diagnostische Zuordnung des Beschwerdekomplexes erfolgt ist. Jede Behandlung mit Benzodiazepinen erfordert über die Medikamentenverordnung hinaus ein unverzichtbares Minimum an psychotherapeutischer Führung, Zeit und Zuwendung für den Patienten. Ausschluss von Patienten mit Abususrisiko Vor jeder Verordnung von Benzodiazepinen muss anamnestisch sorgfältig überprüft werden, ob bei dem Patienten Neigung zu Missbrauch von Medikamenten und/oder Alkohol und/oder Rauschmitteln bestehen könnte. Zurückhaltung bei jüngeren Patienten Da jüngere Patienten per se durch die Verordnung von Benzodiazepinen einem höheren Abususrisiko aufgrund der potenziell häufigeren Einnahme wegen der länger zu erwartenden Lebenszeit ausgesetzt werden, ist bei diesen die Indikationsstellung besonders kritisch vorzunehmen. niedrigst mögliche, aber ausreichende Dosis Am Behandlungsbeginn sollten ausreichend hohe Dosen verordnet werden, damit der Patient nicht dazu verleitet wird, von sich aus höhere als die verordnete Dosis einzunehmen. Durch zu hohe Dosen können zwar Angst und Unruhe eindrucksvoll unterdrückt werden, das Therapieziel der Rehabilitation des Patienten wird jedoch durch die überschießende Wirkung der Benzodiazepine verfehlt. adäquates Wirkprofil (Pharmakokinetik) Benzodiazepine mit langer Halbwertszeit sollten vermieden werden, um die Gefahr der Akkumulation zu minimieren. möglichst individuelle Bedarfs-/Intervallmedikation möglichst kurze Behandlungsdauer, langsame Dosisreduktion, Absetzversuche Benzodiazepine sollten immer nur so lange wie nötig, letztlich so kurz wie möglich verordnet werden. Nach kontinuierlicher Einnahme höherer, aber durchaus noch ambulanzüblicher Dosen über einen längeren Zeitraum (Monate) können bei abruptem Absetzen reboundbedingte Abstinenzsymptome auftreten. Rebound-Phänomene dürfen nicht mit dem Wiederauftreten der ursprünglichen Symptomatik verwechselt werden. Sie erfordern eine ausschleichende Beendigung der Therapie unter sorgfältiger ärztlicher Beobachtung und besonders intensiver psychotherapeutischer Patientenführung. Unkritische Weiterverordnung über einen längeren Zeitraum oder womöglich sogar ohne zeitliche Begrenzung muss unbedingt vermieden werden. Jede Weiterverordnung darf nur nach Analyse des bisherigen Therapieverlaufs (insbesondere der Dauer) und nach Überprüfung der weiterhin bestehenden Behandlungsindikation sowie nach Formulierung einer weiteren Behandlungsprognose erfolgen. 20 hängigkeit nicht möglich ist. Gegen die unspezifischen Begleitsymptome von Angststörungen „Unruhe und Erregungszustände“ haben die meisten niederpotenten Neuroleptika eine Zulassung. In einigen Fällen ist zu Beginn einer anxiolytischen Behandlung mit Antidepressiva eine zusätzliche Sedierung erforderlich, um einer anfänglichen Symptomverstärkung entgegenzuwirken. Auch in diesen Fällen können niederpotente Neu- roleptika verabreicht werden, wenn der Einsatz von Benzodiazepinen nicht möglich ist. Hochpotente Neuroleptika. Von der Gabe hochpotenter Neuroleptika (z. B. Fluphenazin, Flupentixol, Fluspirilen, Haloperidol) in der Behandlung von Angststörungen ist wegen der möglichen Induktion von extrapyramidal-motorischen Symptomen und tardiver Dyskinesien abzuraten. aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG 20.6 Andere Substanzen Tab. 20.5 Beispiele für Neuroleptika in der anxiolytischen Pharmakotherapie. Substanz Dosis (mg/Tag) Chlorprothixen 30–100 Levopromazin 25–100 Melperon 25–150 Perazin 25–100 Promethazin 50–300 20.6 Andere Substanzen Betarezeptorenblocker Indikation. Der Einsatz von Betarezeptorenblockern zur Behandlung von Angststörungen begann zunächst als rein symptomgeleiteter Ansatz. Aufgrund der uneinheitlichen Ergebnisse von Wirksamkeitsstudien, fraglicher zentraler Anxiolyse und zum Teil ausgeprägten Nebenwirkungen ist die Anwendung zur Behandlung von Angststörungen limitiert geblieben. Propranolol hat eine Zulassung zur Therapie des „primären Angstsyndroms“. Der Einsatz der anderen in der Tabelle 20.1 genannten Betarezeptorenblocker richtet sich gegen die sympathikotone Begleittachykardie von Angststörungen. Dennoch handelt es sich bei ihrem Einsatz um einen Off-Label-Gebrauch. Bei gleichzeitig bestehenden organischen Erkrankungen, die den Einsatz von Betablockern rechtfertigen, oder als Zusatztherapie bei vordergründigen somatischen Symptomen im Rahmen einer generalisierten Angststörung oder Panikstörung kann ihr Einsatz empfohlen werden. Dosierung. Propranolol, Oxprenolol und Atenolol werden im Zusammenhang mit Angststörungen in den folgenden Tagesdosierungen eingesetzt: Propranolol: 80 mg, Oxprenolol: 80 mg, Atenolol: 50 mg. Nebenwirkungen. Schwindel, Müdigkeit und Schlafstörungen sind wesentliche Nebenwirkungen. Darüber hinaus sollte die Toxizität bei Überdosierungen im Rahmen der Indikationsstellung berücksichtigt werden. 355 Kontraindikationen. Wichtigste Kontraindikationen sind Reizleitungsstörungen am Herzen, Diabetes mellitus und Asthma bronchiale. Piperazinderivate Wirkmechanismus. Opipramol ist ein trizyklisches Piperazinderivat, das seine sedierende Hauptwirkung ebenfalls über die Blockade von H1-Histaminrezeptoren entfaltet, daneben interagiert die Substanz mit Sigmarezeptoren. In einer plazebokontrollierten Studie war Opipramol Plazebo in der Behandlung von Patienten mit generalisierter Angsterkrankung überlegen und ebenso wirksam wie Alprazolam (Möller et al. 2001). Indikation. Für die generalisierte Angststörung besteht eine Zulassung. Das Indikationsgebiet von Opipramol umfasst neben der generalisierten Angststörung und der somatoformen Störung eine Reihe unspezifischer Symptome wie Angst, Spannung, Nervosität, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche und vegetativ-funktionelle Organbeschwerden. Dosierung. Die Dosis sollte 100–200 mg/Tag betragen. Nebenwirkungen. Es treten vor allem Entleerungsstörungen der Harnblase, Reizleitungsstörungen am Herzen sowie eine verzögerte Reaktionszeit auf. Kontraindikationen. Sie bestehen insbesondere für die Stillzeit, die Anwendung in der Schwangerschaft bedarf einer strengen Indikationsstellung. Bei Leber- und Nierenfunktionsstörungen sollte der Einsatz ebenfalls nur mit besonderer Vorsicht erfolgen. Antihistaminika Wirkmechanismus, Indikation. Den Antihistaminika (z. B. Hydroxyzin) werden aufgrund der Blockade von H1-Histaminrezeptoren anxiolytische und sedierende Eigenschaften bei der generalisierten Angststörung zugeschrieben. Diese bedürfen weiterer kontrollierter klinischer Studien für die verschiedenen Angststörungen. Die Substanz ist für Angst- und Spannungszustände zugelassen. Dosierung. Hydroxyzin wird in einer Dosierung von 30–75 (maximal 200) mg/Tag verabreicht. aus: Kasper u. a., Psychiatrie und Psychotherapie (ISBN 9783131251121) © 2008 Georg Thieme Verlag KG 20