- Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

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EZW-TEXTE
ISSN 0085-0357
202
Friedmann Eißler (Hg.)
Muslimische
Einladung
zum Dialog
Dokumentation
zum Brief der 138 Gelehrten
(„A Common Word“)
Evangelische Zentralstelle
für Weltanschauungsfragen
INHALT
EZW-Texte 202/2009
Vo r w o r t 3
Friedmann Eißler
E inl e i tung 5
1.Ein Wort das uns und euch gemeinsam ist
Ein Offener Brief und Aufruf von Religiösen Führern der Muslime
an die Religiösen Führer des Christentums
(in der Übersetzung von Abd al-Hafidh Wentzel, 13. Oktober 2007)
16
2.Ein Kommuniqué muslimischer Gelehrter anlässlich der Begegnung
„Für eine Welt ohne Gewalt: Religionen und Kulturen im Dialog“
(Neapel, 21. – 23. Oktober 2007)
44
A nt wor ten
und
R eakt ion en
3.Center for Faith and Culture, Yale Divinity School (Yale Statement)
Miteinander Gott und den Nächsten lieben
Eine christliche Antwort auf „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“
(12. Oktober 2007)
46
4.Barnabas Fund
Antwort auf den offenen Brief und Aufruf von religiösen Führern der
Muslime an die religiösen Führer der Christen vom 13. Oktober 2007
(17. Oktober 2007)
51
5. S
amir Khalil Samir SJ
Der Brief von 138 muslimischen Gelehrten an den Papst
und christliche Führer
(17. Oktober 2007)
61
6.Christian Troll SJ
Irenische Interpretationen?
Eine Analyse des „Briefs der 138 Muslime“
(18. Oktober 2007)
68
7.Mor Eustathius Matta Roham, Erzbischof von Mesopotamien und Euphrat
Eine Antwort auf den Brief der 138 hochgeschätzten
islamischen Gelehrten
(31. Januar 2008)
76
8.Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften
Zum Brief von 138 muslimischen Gelehrten an Papst Benedikt XVI.
und die ganze Christenheit
(24. Februar 2008)
80
9.World Council of Churches / Ökumenischer Rat der Kirchen
Gemeinsam das Verständnis der Liebe erschließen
Ein Lernprozess – Vorschläge an die Kirchen für eine Antwort auf den Brief
„Ein gemeinsames Wort”
(20. März 2008)
88
10.World Evangelical Alliance / Weltweite Evangelische Allianz
Auch wir wollen in Liebe, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit leben
Eine Antwort auf A Common Word Between Us and You
(4. April 2008)
93
11.Alexij II. (†), Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche
Die Menschen an Gott erinnern
Christen und Muslime als Initiatoren interreligiöser Dialoge
(14. April 2008)
99
12.Evangelische Akademie Bad Boll
Von gemeinsamen Worten zu gemeinsamen Taten
Antwort auf das Schreiben der 138 Islamgelehrten „Ein Gemeinsames Wort ...“
(17. Juni 2008)
104
13.Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury
Ein gemeinsames Wort für das gemeinsame Wohl
(14. Juli 2008)
107
14.Abschlusserklärung der Yale Common Word Conference
(31. Juli 2008)
130
D e r H erausgeb er 132
V o r wo r t
Die vorliegende Dokumentation enthält den Offenen Brief „A Common Word Between Us
and You“1 und das Kommuniqué von Neapel (beide vom Oktober 2007) sowie ein Dutzend
Erstreaktionen aus dem christlichen Raum.
So überwältigend die Resonanz unter Christen in aller Welt auf den Brief von 138 muslimischen Persönlichkeiten an den Papst und die Weltchristenheit war, so unübersichtlich
mögen sich für den interessierten Betrachter die vielfältigen Reaktionen, Erwiderungen und
Gesprächsprozesse darstellen, die durch ihn ausgelöst worden sind. Zumal die Praxis zeigt,
dass Antworten bisher weithin auf der Ebene von Dialogspezialisten, Akademien, Kirchenleitungen und deren Repräsentanten gesucht und formuliert worden sind, der Funke auf die
Basis der Gemeinden und dialogbereiten Gesprächsgruppen hingegen noch kaum übergesprungen ist. Ein Grund unter anderen dafür ist, dass die Debatte weitgehend auf Englisch
stattfindet, ein anderer, dass die ökumenische Bewegung sich auf dem Weg des Dialogs
auf Verständigungs- und Abstimmungsprozesse einlassen muss, die raschen und öffentlichkeitswirksamen Reaktionen entgegenstehen.
Vor allem in zwei Hinsichten möchte diese Zusammenstellung den neuen Impuls für den
Dia­log aufnehmen und verstärken. Zum einen stellt sie elf ursprünglich auf Englisch verfasste Texte in Übersetzung zur Verfügung, um dadurch den Zugang für Gemeinden und Gruppen zu erleichtern; die Texte 2 bis 5, 7 und 14 werden hier erstmals auf Deutsch veröffentlicht.
Zum andern ist zu hoffen, dass die Bündelung bisher bekannt gewordener Äußerungen nicht
nur die Bedeutung des muslimischen Vorstoßes aufzuzeigen vermag, sondern auch zu weiteren und intensiveren Überlegungen auf allen Ebenen anregt, wie sich der Offene Brief zu
bereits bestehenden Initiativen verhält und welche Taten den Worten konkret folgen sollen.
Nicht in der Absicht der Dokumentation liegt es, den Ertrag von Tagungen und Dialogveranstaltungen, die es zum Thema gegeben hat, fruchtbar zu machen, geschweige denn die
inzwischen weitverzweigte Diskussion im Ganzen nachzuzeichnen. Auch die inhaltliche
Auseinandersetzung ist nicht eigenes Thema, sie erfolgt jedoch auf ihre Weise im Spiegel der
christlichen Erstreaktionen.
Insofern ist dies ein erster Schritt, dem weitere folgen mögen in der Würdigung eines der
bedeutendsten Ereignisse im islamisch-christlichen Dialog der letzten Jahrzehnte.
Mein herzlicher Dank gilt Torsten Matzke, M.A., der die Übersetzungen aus dem Englischen
kompetent besorgt hat. Dank auch an die Verlage und Personen, die dem erneuten Abdruck
schon veröffentlichter Texte zugestimmt haben.
Friedmann Eißler
Berlin, im März 2009
Offizielle Internetseite der muslimischen Initiative: www.acommonword.com.
1
EZW-Texte Nr. 202/2009
3
4
EZW-Texte Nr. 202/2009
Friedmann Eißler
E inl e i t u ng
Der Brief von 138 muslimischen Religionsführern und Gelehrten an Papst Benedikt XVI. und
die Weltchristenheit vom 13. Oktober 2007 hat schon heute Geschichte geschrieben.1 Wohl
noch nie ist eine muslimische Dialoginitiative auf eine solch breite Resonanz in der christlichen Welt gestoßen. Die offizielle Website verzeichnet knapp 70 Eintragungen unter der
Rubrik „Christliche Antworten“ (Anfang Februar 2009, einschließlich französischer und italienischer Beiträge). Der Ökumenische Rat der Kirchen, der Vatikan, orthodoxe Kirchen, Lutheraner und Reformierte, Baptisten und Methodisten, die Weltweite Evangelische Allianz und
viele andere, darunter eine Reihe hochrangiger Repräsentanten aus Kirchen, Universitäten
und unabhängigen Werken, haben sich zu Wort gemeldet.
Der Ökumenische Rat der Kirchen hat einen weitreichenden Gesprächsprozess in Gang gebracht, der andauert und im Herbst 2009 anlässlich einer Weltkonferenz sichtbar werden
soll. Vom Vatikan wurde im März 2008 die Gründung eines Katholisch-Muslimischen Forums
angekündigt, dessen erstes Treffen unter großem öffentlichem Interesse im November 2008
in Rom stattfand. Auf dieser hohen Ebene hat der Anstoß der muslimischen Dialoginitiative
große Wirkung entfaltet,2 die allerdings auf der Ebene der Kirchen- und Moscheegemeinden kaum eine Entsprechung gefunden hat. Das Echo an der Basis ist verhalten bis nicht
existent, unter Christen und noch mehr unter Muslimen ist der „Brief der 138“ noch weithin
Der Brief trägt im englischen Original den Titel „An Open Letter and Call from Muslim Religious Leaders“
und ist in der Zusammenfassung wie auch im Haupttext mit dem Zitat aus Sure 3,64 „A Common Word
Between Us and You“ (Ein Wort das uns und euch gemeinsam ist) überschrieben. So ist er als Open Letter
oder A Common Word (auch abgekürzt ACW) bekannt, häufig wird er einfach nach der Zahl der Erstunterzeichner „Brief der 138 muslimischen Gelehrten“ genannt.
2
1.-2.6.2008 Konsultation auf Einladung des Erzbischofs von Canterbury, Rowan Williams, in London mit
Kirchenvertretern aus aller Welt zur Diskussion des derzeitigen Stands des christlich-muslimischen Dialogs und von „A Common Word“. – 28.-31.7.2008 internationale christlich-muslimische Konferenz „Loving
God and Neighbour in Word and Deed. Implications for Christians and Muslims“ auf Einladung des „Yale
Center for Faith and Culture“ (Reconciliation Program), USA. – 12.-15.10.2008 internationale christlich-muslimische Konferenz zu „A Common Word and Future Muslim-Christian Engagement“ in London auf Einladung des Erzbischofs von Canterbury. – 18.-20.10.2008 Konsultation christlicher Vertreter auf Einladung
des Ökumenischen Rates der Kirchen zum Austausch über Dialoginitiativen und Grundfragen christlicher
Theologie im Zusammenhang mit dem christlich-muslimischen Dialog in Chavannes-de-Bogis bei Genf. –
4.-6.11.2008 erste Sitzung des vom Vatikan initiierten Katholisch-Islamischen Forums zum Thema „Gottesliebe – Nächstenliebe“.
1
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5
unbekannt.3 Die hier dokumentierten Texte sollen deshalb mit dem Offenen Brief und den
wichtigsten Antworten bekannt machen. Wer sich auf die damit eröffnete theologische Debatte einlässt, wird auf ebenso grundlegende wie aktuelle Fragen des islamisch-christlichen
Dialogs stoßen, die für eine beharrliche und orientierende Weiterarbeit wegweisend sind.
In dieser Einleitung erfahren Sie etwas über die Vorgeschichte des Briefes und den Kontext
seiner Entstehung, über seine wesentlichen Inhalte sowie über die unterschiedlichen Reaktionen von Christen aus Ost und West.
Zur Vorgeschichte des Offenen Briefes
und zu seinem Entstehungskontext
Am 9. November 2004, nach dem islamischen Kalender am 27. Ramadan 1425, trat das in
Amman in Jordanien ansässige „Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought“ (Königliches
Aal al-Bayt-Institut für Islamisches Denken) mit einer Botschaft an die Öffentlichkeit, die als
Amman Message bekannt geworden ist.4 Diese Erklärung ist ein innerislamisches Verständigungspapier zur gegenseitigen Anerkennung der unterschiedlichen Glaubensrichtungen
und zur Stärkung gegenseitiger Solidarität, dem kaum Aufmerksamkeit beschieden war.
Der jordanische König Abdullah II., der persönlich hinter der Initiative stand, lancierte im Juli
2005 parallel dazu eine erweiterte interreligiöse Botschaft an alle Angehörigen der abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sowie an alle Monotheisten unter
dem Titel Amman Interfaith Message.5 Erklärtes Ziel dieser erweiterten Botschaft war nicht
nur, die Spannungen zwischen Muslimen, Christen und Juden abzubauen und für Toleranz
zu werben, sondern „volle Akzeptanz und vertrauensvolles Wohlwollen“ zwischen ihnen herzustellen.
Schon in diesem Dokument wird an prominenter Stelle auf die koranische Verfügung
Sure 3,64 als Grundlage für die Friedensinitiative, als die sie sich ausdrücklich versteht,
hingewiesen: Sprich: O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das uns und euch ge
Am 23.4.2008 fand ein Studientag der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche zum Brief der 138
statt, am 28.4.2008 eine Podiumsdiskussion zum selben Thema in Frankenberg/Eder (Kurhessen-Waldeck).
Im Rahmen einer Islamkonsultation „Erneuerungsbewegungen im Islam“ am 31.5.2008 in Kassel wurde
der Brief thematisiert. Verschiedene Akademietagungen widmeten sich dem Thema, so z. B. „‚Auf ein gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch!’ Eine islamische Stimme zur Dialog-Debatte“, Missionsakademie
Hamburg, 10.10.2008; „Wende im Dialog? Ein Jahr nach der islamischen Friedensinitiative der 138“, Evangelische Akademie Bad Boll, 21.-22.11.2008, sowie „Gottesliebe und Nächstenliebe im Dialog. Wie Christen
und Muslime den offenen Brief der 138 muslimischen Gelehrten aus 2007 verstehen“, Evangelische Akademie zu Berlin, Muslimische Akademie in Deutschland, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Schwanenwerder 5.-6.12.2008.
4
www.ammanmessage.com. Das Ende des Monats Ramadan ist ein symbolträchtiges Datum, da der „Nacht
der Offenbarung“ (des Korans) gedacht wird und deshalb auf den letzten Tagen des Ramadan nach Auffassung vieler Muslime ein besonderer Segen liegt.
5
http://ammanmessage.com/index.php?option=com_content&task=view&id=80&Itemid=54.
3
6
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meinsam ist: dass wir niemandem außer Gott dienen und wir Ihm nichts zur Seite stellen, und
dass nicht die einen von uns die anderen anstelle von Gott zu Herren nehmen ... Auch der
Hinweis auf die Zahl von „ungefähr 60 Prozent der Weltbevölkerung“, die Muslime und
Christen zusammen ausmachten, erfolgt schon hier und soll die Dringlichkeit gemeinsamen Friedenshandelns unterstreichen. Der Glaube an die Ein(s)heit Gottes, die Verehrung
und Hingabe an Gott sowie Liebe und Gerechtigkeit gegenüber allen Menschen werden als die zentralen Glaubensinhalte von Judentum, Christentum und Islam benannt.
Dies sind alles Themen, die im Offenen Brief der 138 erörtert werden. Hinzu kommt zwei
Monate später eine nicht unerhebliche Weichenstellung durch eine Rede des jordanischen
Königs, die er im September 2005 an der Katholischen Universität in Washington D.C. hielt.
Hatte man sich bis dahin nur auf Koranstellen berufen, so zitiert Abdullah II. nun das Doppelgebot der Liebe nach Mk 12,29-31 vor Sure 3,64, womit erstmals Bibelverse im Wortlaut
in den Prozess Eingang finden. Auffällig ist, dass in diesem Stadium die Juden zumindest
jeweils mit genannt sind, während sie später gegenüber dem muslimisch-christlichen Verhältnis offensichtlich in den Hintergrund rücken.
Eine gewisse internationale Öffentlichkeit erreichte die Friedensinitiative des Königlichen
Instituts durch den Brief von 38 muslimischen Intellektuellen und führenden Vertretern des
Islam an Papst Benedikt XVI., der vom 12. Oktober 2006 datiert. Dieser erste Offene Brief reagiert auf die folgenreiche Regensburger Rede des Papstes über Glauben und Vernunft vom
12. September 2006, nimmt Richtigstellungen aus muslimischer Sicht vor und endet mit
der Aufnahme der oben angesprochenen Themen bis hin zum Zitat des Doppelgebots der
Liebe aus Mk 12 und Parallelen.6
Schließlich fand ein Jahr später, vom 4. – 7. September 2007, unmittelbar vor der Publikation
des „Briefes der 138“ in Amman eine Konferenz statt, in deren Rahmen der einzige deutsche
Unterzeichner, Murad Wilfried Hofmann, „Unterschiede zwischen der muslimischen und der
christlichen Vorstellung göttlicher Liebe“ herausstellte.7
„Open Letter to His Holiness Pope Benedict XVI“ von 38 muslimischen Unterzeichnern, 12. Oktober 2006:
www.islamicamagazine.com/online-analysis/open-letter-to-his-holiness-pope-benedict-xvi.html. – Papst
Benedikt XVI. sprach am 12.9.2006 in der Universität Regensburg zum Thema „Glaube, Vernunft und Universität“ und löste durch das islamkritische Zitat eines mittelalterlichen byzantinischen Kaisers eine Protestwelle aus.
7
Ohne auf diesen Vortrag an dieser Stelle eingehen zu können sei nur darauf hingewiesen, dass Hofmann
im Gegensatz zum danach publizierten Brief die Unvereinbarkeit der Konzepte klar ins Auge fasst, und
dies mit den klassischen Argumenten der Selbstgenügsamkeit, Unabhängigkeit und Apathie Gottes (Freiheit von Leidenschaften; Sure 64,6 u.a.). Es sei sicherer und angemessener, nicht von „Liebe“ Gottes zu
sprechen, sondern etwa von Milde, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Güte u.a. Der Ausdruck Liebe werde auch
hinsichtlich des Nächsten zugunsten von „Brüderlichkeit“ eher vermieden. Die Feindesliebe schließlich sei
eine unrealistische Forderung, die ohnehin menschlich unerreichbar sei. ������������������������������
(„Differences between the Muslim and the Christian Concepts of Divine Love“, jetzt in: P. Sookhdeo, The Challenge of Islam to the Church
and its Mission, McLean 2008, 145-157.)
6
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7
Genau ein Jahr nach dem Brief der 38 kam es zur Veröffentlichung des „Briefes der 138“, symbolisch in Anlehnung an das Vorjahr sowohl in dieser Zahl von Unterzeichnenden als auch
im Datum, das nun, am 13. Oktober 2007, wieder mit dem Ende des Ramadan zusammenfiel,
so dass auch ein impliziter Bezug zur Amman Message mit ihrem Streben nach islamischer
Einheit gegeben war. Dieses wohldurchdachte und an Vertreter aller Kirchen und Denominationen gerichtete Schreiben löste vom ersten Tag an ein beispielloses Echo auf internationaler Bühne aus.
Um den Entstehungsprozess in das weitere Feld muslimisch-christlicher Dialogbemühungen einordnen zu können, seien folgende knappe Hinweise gegeben: Das „Royal Aal al-Bayt
Institute“, 1980 gegründet8 und seit 2000 von Prinz Ghazi bin Muhammad geführt, besteht in
Amman neben dem „Royal Institute for Inter-Faith Studies“ (Königliches Institut für interreligiöse Studien, RIIFS), das 1994 eingerichtet wurde und ebenfalls unter der Schirmherrschaft der
Königsfamilie steht, nämlich der des Prinzen El Hassan bin Talal, des preisgekrönten Förderers
des Dialogs und Onkels des Königs. Beide Institute stehen für die Bedeutung Jordaniens im
interreligiösen Dialog, die in früheren Jahren nahezu unangefochten war und besonders mit
dem RIIFS in Verbindung gebracht wurde. Doch ist nicht nur der Stern des RIIFS aus innenpolitischen Gründen gesunken, inzwischen haben sich auch andere Regenten und Staaten
mit Ambitionen im internationalen Kultur- und Religionsdialog positioniert. Dazu gehört
beispielsweise das „International Islamic Forum for Dialogue“ (Internationales Islamisches
Forum für Dialog, IIFD) in Dschidda, Saudi-Arabien. Dabei handelt es sich um ein Projekt des
weltweit engagierten „International Council for Daw‘a and Relief“ (Internationaler Rat für die
Einladung zum Islam und Nothilfe, IICDR). Präsident ist Hamid bin Ahmad Al-Rifaie. In Mekka
fand Anfang Juni 2008 eine Tagung statt, der auf Initiative König Abdullahs bin Abdulaziz
von Saudi-Arabien eine weithin beachtete interreligiöse Konferenz in Madrid folgte, zu der
die Muslimische Weltliga vom 16. – 18.7.2008 eingeladen hatte. Auch die „Doha Conferences
of Interfaith Dialogue“, deren sechste Tagung vom 13. – 15.5.2008 mit 155 Teilnehmern aus
44 Ländern abgehalten wurde, lassen nicht übersehen, dass das arabische Emirat Qatar sich
ebenfalls als ein Zentrum des interreligiösen Dialogs versteht und präsentiert.
Vor diesem Hintergrund einer sich differenzierenden und zunehmend mehrstimmigen Dialoglandschaft ist zu sehen, dass die Rezeption des Briefes der 138 Gelehrten im muslimischen
Raum nicht so eindeutig positiv und breit erfolgte, wie dies im christlichen Kontext der Fall
war.
8
8
Als „The Royal Academy for Islamic Civilization Research (Aal al-Bayt Institute)“.
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Zum Offenen Brief „A Common Word“
Der „Offene Brief und Aufruf“ enthält eine ausführliche Liste der christlichen Adressaten, eine
vorangestellte Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte, sodann den Brief in seinen drei
Hauptteilen (I. Die Liebe zu Gott, II. Die Nächstenliebe, III. Kommt herbei zu einem Wort das
uns gemeinsam ist) sowie abschließend die alphabetische Auflistung der Erstunterzeichner.
Das Schreiben entfaltet eine Deutung des islamischen Glaubensbekenntnisses, die Gottesund Nächstenliebe als fundamentale islamische Gebote benennt und in verschiedenen
Bibelstellen Alten und Neuen Testaments die volle inhaltliche Übereinstimmung mit den
damit in den Blick genommenen (islamischen) Grundsätzen erkennt: Bekenntnis der Ein(s)heit Gottes, Ablehnung jeglichen „Teilhabers“ Gottes, Gehorsam gegenüber Gott und Freigebigkeit (Almosen) gegenüber dem Nächsten. Auf dieser Grundlage wird die Zukunft des interreligiösen Dialogs gesehen, die nicht allein für den Frieden unter den Religionen, sondern
geradezu für das Überleben der Welt entscheidend sein werde.
Drei herausragende Besonderheiten kennzeichnen den Offenen Brief, der im Original auf
Englisch verfasst und kurz darauf in der arabischen Fassung in einer arabischen Zeitung veröffentlicht wurde:
• Die vom Aal al-Bayt Institute unter Federführung von Prinz Ghazi bin Muhammad ausgehenden Bemühungen haben 138 Gelehrte aus allen wichtigen islamischen Glaubensrichtungen vereint, um in einem offenen Brief auf die Christenheit zuzugehen und ein
gemeinsames Wort der Ermutigung zum Dialog an Christen aller Konfessionen und in
aller Welt zu richten. Sowohl die breiten Konsensbestrebungen als auch die umfassende
internationale Adressatenschaft sind historisch beispiellos. Inzwischen ist die Zahl der Unterzeichnenden auf über 300 angestiegen.
• Dieses Wort ist ohne jede äußere Polemik bestrebt, den common ground zwischen Islam
und Christentum aufzusuchen und ihn gerade in der Gottesliebe und in der Nächstenliebe zu finden (wobei die Gottesliebe mit Abstand überwiegend im Sinne des Genitivus
objectivus als Liebe zu Gott zu verstehen ist).
• Das Doppelgebot der Liebe (so auch explizit genannt) wird nicht nur als Gemeinsamkeit
festgestellt, sondern anhand biblischer Texte dokumentiert. Auch dies ist in dieser Form
durchaus neu und bemerkenswert.
Die Unterzeichnenden würdigen die Beziehung zwischen den beiden weltweit größten Religionsgemeinschaften Christentum und Islam als wichtigsten Faktor für den Weltfrieden und
treten für die Verbesserung und die Vertiefung der wechselseitigen Beziehung in Frieden
und Harmonie ein. Dieser Weg wird von den Autoren freilich so beschritten, dass an die
Christen aller Kirchen von vornherein der Ruf (call) und die Einladung (invitation) ergeht, sich
auf diejenigen Grundlagen des Christentums zu besinnen, die – putativ – mit dem islamischen Glaubensbekenntnis, der Schahada, kompatibel sind. Der Ruf (zum Islam) ist ausdrückEZW-Texte Nr. 202/2009
9
lich – die Formulierung vom Vorjahr ergänzend – in den Titel aufgenommen worden.9 Dem
entspricht, dass die Darstellung des Islam in dem Schreiben ungefähr doppelt so viel Raum
einnimmt wie die christlicher Inhalte.
Die Briefüberschrift Ein Wort das uns und euch gemeinsam ist entstammt dem Koran, Sure 3,64.
Der Kontext Sure 3 wird häufig als ein wichtiger koranischer Bezugspunkt für den interreligiösen Dialog herangezogen. Traditionell steht die Geschichte der Begegnung Muhammads
mit der „Delegation der Christen aus Nadschran“ dahinter: Christen aus dem Jemen kommen
nach Medina, es gibt heftige Auseinandersetzungen über die Person Jesu. Die Verse 3,5961 werden offenbart. Am Ende entziehen sich die Christen dem durch ein angekündigtes
Gottesurteil ausgeübten Druck und ziehen ein gesichertes Vertragsverhältnis als Dhimmis
(„Schutzbefohlene“ der Muslime) vor. Sure 3,64 bietet ein „Wort des Ausgleichs“ an, wie Rudi
Paret den arabischen Ausdruck kalimatun sawā‘ („a common word“) übersetzt.10 Freilich beinhaltet der Aufruf ursprünglich kein Dialogangebot, sondern vielmehr die klare Bedingung,
Gott allein zu dienen, ihm fortan keinen Partner/Teilhaber (mehr) zuzuschreiben (beizugesellen, arab. Wortfeld schirk) und niemanden außer Allah zum Herrn zu nehmen. Wenn wir
schließlich noch drei Verse weiter auf Sure 3,67 blicken, folgt der bekannte Abrahamsvers,
der Abraham als Hanif und Muslim der jüdischen ebenso wie der christlichen Tradition entschieden entgegenstellt.
Im Anschluss an die Überschrift zitiert der Offene Brief als Vorspruch den koranischen locus
classicus für den Aufruf zum Islam, Sure 16,125: Lade ein zum Weg deines Herrn mit Weisheit
und trefflicher Ermahnung, und streite mit ihnen in bester Art und Weise! Wahrlich, dein Herr weiß
am besten, wer von seinem Weg abirrt, und er weiß am besten, wer die Rechtgeleiteten sind.
Auch wenn von Unterzeichnern erklärtermaßen politische Bemühungen um den Frieden
in den Vordergrund gestellt werden, liegt die islamisch-theologische Stoßrichtung des Textes von Anfang an offen zu Tage. So findet an keiner Stelle eine Würdigung authentischer
christlicher Glaubensgrund­lagen und -äuße­run­gen statt,11 im Gegenteil: Der Bezug auf die
Bibel und christliche Grundaussagen vollzieht sich uneingeschränkt und explizit im Rahmen
des islamischen Offenbarungsverständnisses, das Christen einen Platz gleichsam im Islam
zuweist. Christen werden eingeladen, sich der „ursprünglichen“ – und gemeint ist wohl: recht
verstandenen – Worte Jesu und damit gleichsam des Islamischen im Christentum zu erin Wo im englischen Text call (oder invite) steht, finden sich in der arabischen Version Formen des Terminus
für die islamische Mission da‘wa (= Ruf, Aufforderung, Einladung). In der Überschrift wird allerdings ein
neutraleres Wort gebraucht, nadā‘ = (Auf-)Ruf. – Zum Thema: Henning Wrogemann, Missio­narischer Islam
und gesellschaftlicher Dialog, Frankfurt a.M. 2006.
10
Es wird auch übersetzt „ein Wort in aller Klarheit“ (T. Nagel) oder „ein offenes, deutliches Wort“.
11
Abgesehen von der marginalen Erwähnung des mittelalterlichen orthodoxen Erzbischofs von Ochrid und
Bulgarien, Theophylakt, der einmal herangezogen wird, um „Widersprüche“ in den Evangelien aufzulösen.
Die Lebensdaten Theophylakts sind umstritten und im Brief übrigens nicht korrekt angegeben, s. zu seiner
Person: R. Janin, Théophylacte de Bulgarie, in: DTC 14, 536-538; P. Gautier, L’épiscopat de Théophylacte
Héphaistos, archevêque de Bulgarie, in: Revue des Etudes byz. 21 (1963), 159-178. (Letztere Hinweise verdanke ich Dipl. Theol. Georgios Vlantis, München.)
9
10
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nern. Christen sind in Liebe auf Gott ausgerichtet, wenn und insofern sie islamische Grundwerte beherzigen.
Dies ist einerseits islamisch plausibel und als ein authentischer Beitrag der muslimischen
Dialogpartner zu würdigen, doch auch ein nur oberflächlicher Blick in die Geschichte des
Dialogs lehrt, dass das Interesse an einem wahrhaft dialogischen Prozess eine andere Sensibilität füreinander bewirken kann und heute bewirken muss. Es ist bezeichnend, dass die
Geschichte des Dialogs im Offenen Brief nicht gestreift wird. Die vielfältigen, über Jahrzehnte
gesammelten Erfahrungen in der Einübung, die Gesprächspartner in ihrem Selbstverständnis so zu respektieren, dass dieses in die Darstellung einfließt, werden mit Schweigen übergangen.12 Von hier aus gesehen bleibt die neue Initiative hinter Erreichtem zurück.
Sind somit kritische Rückfragen im Sinne des Respekts vor dem, was hier Christen in aller
Form angeboten wird, nicht nur erlaubt, sondern geboten, so ist damit nicht in Abrede gestellt, dass „A Common Word“ einen einzigartigen Anstoß gegeben hat, neu über das Verhältnis von Bibel und Koran und von Christen und Muslimen nachzudenken, um durch einen
langfristigen, offenen Gesprächsprozess eine neue Qualität im Dialog zu erreichen.
Unterschiedliche Reaktionen
Die bisher verlauteten Erstreaktionen von christlicher Seite lassen sich im Wesentlichen in vier
Gruppen gliedern, die untereinander nicht klar abgegrenzt sind, jedoch jeweils prominente
Tendenzen erkennen lassen. Sie sollen hier mit Hinweisen auf exemplarisch ausgewählte
Texte vorgestellt werden und so als Orientierung zum Umgang mit weiteren Texten dienen.
1. Positive Aufnahme
Die überwiegende Mehrzahl aller Reaktionen begrüßt die muslimische Friedensinitiative
freundlich und erklärt sich zu weiteren Schritten auf einem gemeinsamen Weg des gegenseitigen Kennenlernens und des Dialogs bereit. Einige Reaktionen nehmen das kommunikative
Angebot uneingeschränkt positiv bis enthusiastisch entgegen. Dazu gehört das sogenannte
„Yale Statement“ Loving God and Neighbor Together – Miteinander Gott und den Nächsten lie Ich weise stellvertretend und exemplarisch für einen diesbezüglich sensiblen Ansatz nur auf ein Dialogpapier hin, das anlässlich einer christlich-muslimischen Konferenz in Amersfoort/NL verabschiedet wurde,
zu der der Ökumenische Rat der Kirchen im Jahr 2000 eingeladen hatte: Striving Together in Dialogue. A
Muslim-Christian Call to Reflection and Action (durchnummerierte Fassung http://eif-pcusa.org/striving_
together.pdf ). Dort werden alle wesentlichen Grundgedanken, die „A Common Word“ thematisiert, schon
verhandelt, einschließlich gemeinsamer Prinzipien für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung (§ 19f ), gemeinsamer Grundlagen und Unterschiede (§ 28), sogar Gottes- und Nächstenliebe sind hier schon Thema
(§ 25). Darüber hinaus finden viele weitere Themen wie religiöse Identität, Frauen, Bildung, gemeinsame
Geschichte und gemeinsame Ziele Berücksichtigung.
12
EZW-Texte Nr. 202/2009
11
ben vom 12.10.2007 (Text 3). Es wurde von Vertretern des „Center for Faith and Culture“ der
Yale Divinity School in New Haven/USA verfasst und zunächst mit vier Unterschriften veröffentlicht, um rund einen Monat später (18.11.2007) mit annähernd 300 Unterzeichnenden
als ganzseitige Anzeige in der New York Times zu erscheinen. Die Stellungnahme gehört
zu den ersten und sicher zu den wichtigsten Reaktionen aus der christlichen Welt. Mit den
Themen Frieden – Gemeinsamkeiten – Gottesliebe – Nächstenliebe und einem Ausblick auf
die „vor uns liegende Aufgabe“ nehmen die Autoren das Dialogangebot der Muslime ohne
Wenn und Aber als ausgestreckte Hand des freundschaftlichen Zusammenlebens und der
Zusammenarbeit an.
2. Kritische Hinterfragung
Andere nehmen das Dialogangebot ebenfalls aufmerksam wahr, äußern jedoch Skepsis bezüglich der Dialogabsichten der muslimischen Autorinnen und Autoren und analysieren den
Offenen Brief daher kritisch. Die Antwort des britischen „Barnabas Fund“, einem auf der Basis
der Evangelischen Allianz arbeitenden christlichen Hilfswerk zur Unterstützung von Christen
in mehrheitlich islamischer Umgebung, ist mit Erscheinungsdatum vom 17. Oktober 2007
und 10 Seiten eine der frühesten und umfangreichsten Reaktionen dieser Art (Text 4).13 In
dem Offenen Brief wird ein Aufruf an die Christenheit gesehen, das muslimische Konzept
der Einheit Gottes (tauhid) anzunehmen und mithin die damit unvereinbaren christlichen
trinitarischen und christologischen Ansichten fallen zu lassen. Obschon die Initiative als
interreligiöses Dialogangebot präsentiert werde, so könne der Brief doch ebenso auch als
ein klassisches Beispiel islamischer Da‘wa (Mission) gelesen werden. Das im Ton durchaus
unpolemische Papier fragt gleichsam nach der Botschaft „zwischen den Zeilen“ und eruiert
diese zum einen aus den Koranzitaten und deren traditionellen islamtheologischen und islamrechtlichen Auslegungen, zum anderen aus dem Sprachgebrauch, der an verschiedenen Stellen Rückschlüsse auf die Verhältnisbestimmung von Muslimen und Nichtmuslimen
zulässt. Unter Heranziehung der arabischen Version des Briefes wird argumentiert, das verwendete christliche Vokabular solle die christliche Leserschaft von den grundlegenden Gemeinsamkeiten in Islam und Christentum überzeugen, während die für Muslime bestimmte
hidden message weitgehend in den polemischen Koranzitaten enthalten sei.
3. Orientierung am Kontext der Adressaten
Einige nach Umfang und Inhalt ebenfalls gewichtige Antworten verorten den Offenen Brief
in der Perspektive eines spezifischen Kontextes. Die Texte 5 und 7 etwa dokumentieren eine
„Barnabas Fund“ ist eng verbunden mit dem „Institute for the Study of Islam and Christianity“, Coventry/UK,
das dem Hilfswerk wissenschaftlich zuarbeitet und dessen Direktor Patrick Sookhdeo ist.
13
12
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durch die Situation christlicher Minderheiten im mehrheitlich islamischen Umfeld sensibilisierte Wahrnehmung der Friedensinitiative.
Der im Libanon lehrende Jesuit Samir Khalil Samir (Text 5) versteht es in besonderer Weise, in
freundlicher Klarheit kenntnisreich und dialogbereit die positive Würdigung mit einer kritischen Lektüre zu verbinden. In einiger Ausführlichkeit analysiert Khalil Samir, ausgehend von
der arabischen Version, die Sprache des Briefes. Es werde christliches Vokabular benutzt, „Liebe“, zumal „Gottesliebe“ stehe islamisch bei weitem nicht so im Vordergrund wie im christlichen Sprachgebrauch. Auch sei beispielsweise die Rede vom „Nächsten“ nicht koranischislamisch, sondern typisch für das Neue Testament. Tatsächlich gebrauche der Brief nicht das
arabische Wort für „Nächster“ im Sinne des Bruders, sondern das Wort für Nachbar (dschar),
das eine geographisch-räumliche Konnotation hat. Dabei hätte durchaus ein christliches
Wort zur Verfügung gestanden, qarib, was auch für „Bruder“ benutzt wird.
Die absolute Neuheit der Betonung, dass Christen, Juden und Muslime die Liebe zu Gott und
den Nächsten als Zentrum des Glaubens hätten, wird positiv gewürdigt und die muslimische Leistung anerkannt, die dazu notwendig war. Insgesamt sei der Brief ein erster Schritt,
dem nächste Schritte mit Fokus auf den sensibleren Themen der aktuellen Debatten folgen
sollten.
4. Eigenständige Beantwortung in trinitarischer Perspektive
Die allerwenigsten Reaktionen formulieren eine eigenständige Antwort auf den Brief der 138
aus eigener Perspektive. Die bislang profilierteste Antwort dieser Art kommt aus Canterbury.
Der anglikanische Erzbischof Rowan Williams hat am 14. Juli 2008 unter dem Titel A Common
Word for the Common Good – Ein gemeinsames Wort für das gemeinsame Wohl eine Antwort
auf den Offenen Brief der 138 veröffentlicht (Text 13). Ihr waren weltweite Konsultationen mit
Vertretern christlicher Denominationen vorangegangen. Das von Williams unterzeichnete
Schreiben begrüßt die muslimische Initiative, knüpft in grundsätzlicher Reflexion und eigener inhaltlicher Entfaltung an die thematische Intention des Offenen Briefes an und eröffnet
ausgehend von der konkreten Typologie dialogischer Begegnungen, wie sie in Dialogue and
Proclamation von 1991 entwickelt wurden,14 Perspektiven für weitere Schritte eines langfristig angelegten Dialogs. Dieser Dialog soll „ehrlich und kreativ“ im gegenseitigen Respekt auf
das gemeinsame Wohl aus sein. Von Anfang an wird der Horizont des Dialogs weit gehalten
und durchgehend die Verbundenheit mit dem Judentum betont. Jede voreilige Feststellung von Gemeinsamkeiten wird vermieden, Begrifflichkeiten werden nicht vorausgesetzt,
sondern explorativ und deskriptiv ins Gespräch eingebracht und der Bewährung im Dialog
ausgesetzt. Angesichts von Erwartungen, nun sollte ein gemeinsam getragenes Verständnis
www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/interelg/documents/rc_pc_interelg_doc_19051991_
dialogue-and-proclamatio_en.html.
14
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13
von Gott bekräftigt werden können, klärt schon das Vorwort: „... eine solche Bestätigung würde keiner unserer Traditionen gerecht“.
Im Abschnitt Der eine Gott der Liebe nimmt eine ausführliche, verständliche und zugleich einfühlsame Entfaltung des trinitarischen Glaubens, die von der Liebe als Wesen und nicht als
Eigenschaft Gottes ausgeht, rund ein Viertel des Briefes ein. In teilweise dichter systematischtheologischer Sprache und dennoch anschaulich wird die lebendige Beziehung zwischen
Vater, Sohn und Heiligem Geist wesenhaft als Liebe beschrieben, die bedingungslos und
selbstaufopfernd ist. Gott hat nicht Liebe, sondern ist Liebe, und diese ist nicht Belohnung
für gute Taten, sondern Voraussetzung dafür. Auf den missverständlichen Begriff des Monotheismus wird ganz verzichtet. Der zweite Teil ist der praktischen Umsetzung brüderlicher
Liebe und dem Umgang mit Fremden gewidmet. Problemfelder werden nicht ausgeklammert, sondern direkt angesprochen (z.B. Gewaltfrage, aber auch Religionsfreiheit, Menschenrechte, Frau und Familie). Ausführlich beschreibt und begründet das Papier zum Teil in sehr
grundsätzlichem Duktus die Zusammenhänge von dem Überwundensein durch absolute
religiöse Wahrheit und daraus erwachsender „radikaler und transformativer Gewaltlosigkeit“
einerseits sowie von tiefer religiöser Unsicherheit und tendenzieller Gewaltbereitschaft andererseits.
Es scheint ein vielversprechender Weg zu sein, die kritischen Tendenzen des Offenen Briefes
auf diese differenzierte Weise in einen konstruktiven Prozess reflektierter dialogischer Offenheit einzubinden. In diesem Sinne stellt gerade die Antwort des Erzbischofs ein bemerkenswertes Dokument „überzeugter Toleranz“ dar.15
Zur Auswahl der Texte
Die exemplarische Auswahl der Texte, die in diesem EZW-Text in chronologischer Reihenfolge dokumentiert werden, richtet sich im Wesentlichen danach, ob es sich um Erstreaktionen
handelt und ob der Inhalt substanziell über eine freundliche Begrüßung der Initiative hinausgeht. Auch sollte ein möglichst breites Spektrum christlicher Prägungen und Denominationen vertreten sein. Durch die Auswahl sind die zustimmenden Antworten rein quantitativ
unterrepräsentiert. Eine größere Anzahl von Reaktionen begrüßt die Initiative positiv, bleibt
aber eher unverbindlich und bezieht nicht selbst Stellung.
Zwei Texte gehen über das Kriterium der Erstreaktionen hin­aus, und zwar das Kommuniqué
von Neapel (Text 2) sowie die Abschlusserklärung der Yale-Konferenz (Text 14). Das Kommuniqué wurde anlässlich des von der Gemeinschaft Sant’Egidio verantworteten Weltfriedens Die an dem Papier geäußerte Kritik, die sich an dem einen (allerdings unnötig weit gehenden) Satz im
Schreiben des Erzbischofs entzündet hat, dass die trinitarische Sprache für Muslime „schwierig und manchmal verletzend“ sei, sollte den Blick für die intendierte Verbindung von christlichem Selbstbewusstsein und
dialogischer Offenheit nicht verstellen.
15
14
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gebets in Neapel vom 21. – 23.10.2007 bekanntgegeben. Abgesehen von der etwas beleidigt klingenden Feststellung, man warte (acht Tage nach der Veröffentlichung des Briefes
der 138) „immer noch“ auf eine Antwort des Papstes, bringt dieser kurze Text Entscheidendes
für ein angemessenes Dialogverständnis zum Ausdruck. Dialog finde definitionsgemäß zwischen Menschen unterschiedlicher Sichtweisen statt, daher gehe es im Dialog darum, „auf
die andere Seite zu hören, wenn sie frei für sich selbst redet, wie auch darum, die eigene
Denkweise zum Ausdruck zu bringen“. Durch die Nähe zur Veröffentlichung des Offenen
Briefes und die ebenso bemerkenswerte wie offensichtliche Diskrepanz zwischen den hier
formulierten Grundsätzen und den Ausführungen des Briefes erscheint das Kommuniqué als
notwendige Ergänzung, die zur Kenntnis genommen werden sollte.
Die Abschlusserklärung der Yale-Konferenz wurde aufgenommen, weil sie den mit der sehr
frühen Stellungnahme der Yale Universität (Text 3) angestoßenen Prozess bündelt, daher
ganz eng zu diesem Text gehört und durch ihre Zwischenbilanz im Dialog mit Muslimen
auch anzeigen kann, wie die „erste Runde“ abgeschlossen worden ist.
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1.EIN WORT DAS UNS UND EUCH GEMEINSAM IST
Ein Offener Brief und Aufruf von Religiösen Führern der
Muslime an die Religiösen Führer des Christentums
Ins Deutsche übersetzt von Abd al-Hafidh Wentzel
Im Namen Gottes, des Allgnädigen, des Allbarmherzigen
Anläßlich des ’Īd al-Fitr al-Mubārak 1428 H. / 13. Oktober 2007 n. Chr. sowie des Ersten Jahrestages der Veröffentlichung des Offenen Briefes von 38 Muslimischen Gelehrten an Seine
Heiligkeit Papst Benedikt XVI.,
Ein Offener Brief und Aufruf von Religiösen Führern der Muslime an:
Seine Heiligkeit Papst Benedikt XVI,
Seine All-Heiligkeit Bartholomäus I., Patriarch von Konstantinopel, Neu Rom,
Seine Seligkeit Theodoros II, Papst und Patriarch von Alexandria und Ganz Afrika,
Seine Seligkeit Ignatius IV., Patriarch Antiochs und des Gesamten Ostens,
Seine Seligkeit Theophilos III., Patriarch der Heiligen Stadt Jerusalem,
Seine Seligkeit Alexy II., Patriarch von Moskau und Ganz Russland,
Seine Seligkeit Pavle, Patriarch von Belgrad und Serbien,
Seine Seligkeit Daniel, Patriarch von Rumänien,
Seine Seligkeit Maxim, Patriarch von Bulgarien,
Seine Seligkeit Ilia II., Erzbischof von Mtskheta-Tbilisi, Katholikos-Patriarch von Ganz Georgien,
Seine Seligkeit Chrisostomos, Erzbischof von Zypern,
Seine Seligkeit Christodoulos, Erzbischof von Athen und Ganz Griechenland,
Seine Seligkeit Sawa, Metropolit von Warschau und Ganz Polen,
Seine Seligkeit Anastasios, Erzbischof von Tirana, Duerres und Ganz Albanien,
Seine Seligkeit Christoforos, Metropolit der Tschechischen und Slowakischen Republiken,
Seine Heiligkeit Papst Shenouda III., Papst von Alexandria und Patriarch von Ganz Afrika auf
dem Apostolischen Thron des Heiligen Markus,
Seine Seligkeit Karekin II., Oberster Patriarch und Katholikos Aller Armenier,
Seine Seligkeit Ignatius Zakka I., Patriarch Antiochs und [und] des Gesamten Ostens, Oberster
Führer der Universellen Syrianisch-Orthodoxen Kirche,
Seine Heiligkeit Mar Thoma Didymos I., Katholikos des Ostens auf dem Apostolischen Thron
des Apostels Thomas und Metropolit von Malankara,
Seine Heiligkeit Abune Paulos, Fünfter Patriarch und Katholikos von Äthiopien, Echege des
Stuhls von St. Teklas Haymanot, Erzbischof von Axum,
16
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Seine Seligkeit Mar Dinkha IV., Patriarch der Heiligen Katholischen Apostolischen Assyrischen
Kirche des Ostens,
Seine Bischöfliche Gnaden Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury,
Hochwürden Mark S. Hanson, Vorsitzender Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in
Amerika und Präsident des Lutherischen Weltbundes,
Hochwürden George H. Freeman, Generalsekretär des Weltrates Methodistischer Kirchen,
Hochwürden David Coffey, Präsident des Baptistischen Weltbundes,
Hochwürden Setri Nyomi, Generalsekretär des Reformierten Weltbundes,
Hochwürden Dr. Samuel Kobia, Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen,
und die Führer Christlicher Kirchen überall ...
Im Namen Gottes, des Allgnädigen, des Allbarmherzigen
EIN WORT DAS UNS UND EUCH GEMEINSAM IST*
(Inhaltsangabe und Kurzfassung)
Muslime und Christen zusammen stellen weit über die Hälfte der Weltbevölkerung dar.
Ohne Frieden und Gerechtigkeit zwischen diesen beiden Religionsgemeinschaften kann es
keinen echten Frieden geben. Die Zukunft der Welt hängt vom Frieden zwischen Musli­men
und Christen ab.
Die Grundlage für diesen Frieden existiert bereits. Sie besteht in den grundlegenden Prinzipien beider Religionen selbst: der Liebe zu dem Einen Gott und der Nächstenliebe. Diese
Prinzipien finden sich immer wieder in den heiligen Texten des Islam und des Christentums.
Die Einheit Gottes, die Notwendigkeit, Ihn zu lieben, und die Notwendig­keit der Nächstenliebe bilden somit die verbindenden Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum. Die
folgenden Beispiele sind nur einige von vielen:
Bezüglich der Einheit Gottes sagt Gott im Heiligen Qur’ān: {Sprich: „Er, Gott, ist Einer. Gott, der
ewig aus sich selbst Bestehende.“} (Al-Ikhlās, 112, 1-2). Über die Notwendigkeit Gott zu lieben
sagt Gott im Heiligen Qur’ān: {So gedenke des Name[n]s deines Herrn und wende dich Ihm von
*
Aus dem Englischen übersetzt von Abd al-Hafidh Wentzel. Anmerkung des Übersetzers: Das Original kann
im Internet heruntergeladen werden unter: http://www.acommonword.com/lib/downloads/CW-TotalFinal-v-12g-Eng-9-10-07.pdf. Die erste deutsche Übersetzung des Textes hat dankenswerterweise M. M.
Hanel verfaßt (möge Gott ihm seine Arbeit vergelten!). Sie ist unter http://www.acommonword.com/lib/
downloads/gemeinsames_wort.pdf im Internet zu finden. Nach einigem Zögern habe ich mich – in der
Hoffnung auf den Lohn Gottes, des Allgroßzügigen – entschlossen, meine Übersetzung, die zu drei Viertel
fertig war, als ich von M. M. Hanels Übersetzung erfuhr, zu Ende zu bringen.
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ganzem Herzen zu!} (Al-Muzzammil, 73,8) In Bezug auf die Nächstenliebe sagte der Prophet
Muhammad s.a.: „Keiner von euch glaubt wirklich, bis er für seinen Nächsten das liebt, was er für
sich selbst liebt!“
Im Neuen Testament sagte Jesus Christus s.a.: Das erste (Gebot) ist: „Höre, Israel: der Herr, unser
Gott, ist ein Herr; und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus
deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft!“ Das zweite
(Gebot) ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Größer als diese ist kein anderes
Gebot. (Markus 12,29-31)
Im Heiligen Qur’ān fordert Gott, der Hocherhabene, die Muslime auf, folgenden Aufruf an die
Christen (und Juden – das Volk der Schrift) zu richten:
{Sprich: „O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das uns und euch gemeinsam ist: daß wir
niemandem außer Gott dienen und wir Ihm nichts zur Seite stellen, und daß nicht die einen von
uns die anderen anstelle von Gott zu Herren nehmen.“ Wenn sie sich jedoch abwenden, dann sagt:
„Bezeugt, daß wir Gottergebene sind!“} (Āl ’Imrān, 3,64)
Die Worte „daß wir Ihm nichts zur Seite stellen“ beziehen sich eindeutig auf die Einheit Gottes,
und die Worte „niemandem außer Gott dienen“ beziehen sich auf vollkommene Hingabe an
Gott. Damit beziehen sie sich alle auf das Erste und Höchste Gebot. Laut einem der ältesten
und anerkanntesten Kommentare des Heiligen Qur’ān bedeuten die Worte „daß nicht die
einen von uns die anderen anstelle von Gott zu Herren nehmen“ daß „keiner von uns dem anderen im Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes Gehorsam leisten sollte.“ Dies bezieht
sich auf das Zweite Gebot, denn Gerechtigkeit und Religions­freiheit sind unverzichtbarer
Bestandteil der Nächstenliebe.
So laden wir als Muslime, im Gehorsam gegenüber dem Heiligen Qur’ān, die Christen ein,
mit uns auf der Grundlage dessen, was uns verbindet – welches zugleich die Hauptbestandteile unseres Glaubens und unserer Praxis darstellt – zusammen zu kommen: auf der Grundlage dieser Zwei Gebote der Liebe.
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Im Namen Gottes, des Allgnädigen, des Allbarmherzigen
Und mögen Segen und Friede auf dem Propheten Muhammad sein
EIN WORT DAS UNS UND EUCH GEMEINSAM IST
Im Namen Gottes, des Allgnädigen, des Allbarmherzigen
{Lade ein zum Weg Deines Herrn mit Weisheit und trefflicher Ermahnung,
und streite mit ihnen in bester Art und Weise! Wahrlich, Dein Herr weiß am besten,
wer von seinem Weg abirrt, und Er weiß am besten, wer die Rechgeleiteten sind.}
(Der Heilige Qur’ān, Al-Nahl, 16,125)
(I) DIE LIEBE ZU GOTT
DIE LIEBE ZU GOTT IM ISLAM
Die Bezeugungen des Glaubens
Das zentrale Glaubensbekenntnis des Islam besteht aus den zwei Bezeugungen des Glaubens
oder Schahādas,1 welche lauten: Es gibt keine Gottheit außer Gott und Muhammad ist Gottes
Gesandter. Diese zwei Bezeugungen sind das sine qua non des Islam. Der- oder diejenige, der
sie bezeugt, ist Muslim; der- oder diejenige, der sie leugnet, ist kein Muslim. Darüber hinaus
sagte der Prophet Muhammad s.a.: „Das beste (Gottes-)Gedenken ist: ‚Es gibt keine Gottheit
außer Gott ...’“2
Das Beste, das alle Propheten gesagt haben
Von seiner Äußerung über das beste (Gottes-)Gedenken ausgehend, führte der Prophet
Muhammad s.a. weiterhin aus: „Das Beste, das ich gesagt habe – ich selbst und die Propheten,
die vor mir kamen – ist: Es gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner,
Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge.“ 3 Die
Arabisch: Lā ilāha ill-Allāh Muhammadun Rasūlullāh. Die zwei Schahādas kommen – wenngleich an unterschiedlichen Stellen – beide als Aussagen im Heiligen Qur’ān vor (in Muhammad, 47,19, beziehungsweise
al-Fath, 48,29).
2
Sunan al-Tirmidhī, Kitāb al-Da’wāt, 462/5, Nr. 3383; Sunan Ibn Mājah, 1249/2.
3
Sunan al-Tirmidhī, Kitāb al-Da’wāt, Bāb al-Du’ā fī Yaum ’Arafa, Hadīth Nr. 3934. Dabei ist wichtig zu bemerken,
daß die zusätzlichen Redewendungen „Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm
gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge“ allesamt wortwörtlich – wenngleich an unterschiedlichen Passagen – dem Heiligen Qur’ān entstammen. Die Aussage „Er ist Al­lein“ findet sich – in Bezug
auf Gott – mindestens sechs Mal im Heiligen Qur’ān (7,70; 14,40; 39,45; 40,12; 40,84 sowie 60,4). „Er besitzt
1
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der Ersten Glaubensbezeugung folgenden Redewendungen entstammen allesamt dem
Heiligen Qur’ān; wobei jede von ihnen eine Form, Gott zu lieben und Ihm ergeben zu sein,
beschreibt. Die Worte „Er ist Allein“ erinnern Muslime daran, daß ihre Herzen4 sich Gott Allein
hingeben müssen, denn Gott sagt im Heiligen Qur’ān: {Gott hat keinem Mann zwei Herzen in
seiner Brust gegeben.} (Al-Ahzāb, 33,4) Gott ist Absolut und deshalb muß die Hingabe an Ihn
vollkommen aufrichtig sein.
Die Worte „Er besitzt keinen Partner“ erinnern Muslime daran, daß sie einzig und alleine Gott,
ohne Seinesgleichen in ihren Seelen, lieben müssen, denn Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Unter den Menschen gibt es solche, die sich neben Gott andere als Seinesgleichen nehmen,
und diese lieben, wie man Gott liebt. Doch diejenigen, die glauben, empfinden größere Liebe für
Gott ...} (Al-Baqara, 2,165). {Sodann werden ihre Haut und ihre Herzen weich in Hinwendung zum
Gedenken Gottes.} (Al-Zumar, 39,23)
Die Worte „Sein ist die Herrschaft“ erinnern Muslime daran, daß ihr Verstand und ihr
Verständnis sich gänzlich Gott hingeben müssen, denn die Herrschaft betrifft genau gesagt
alles innerhalb der Schöpfung oder der Existenz und alles, was der Verstand begreifen kann.
keinen Partner“ findet sich in exakt dieser Formulierung zumindest einmal (Al-An’ām, 6,173). Die Wendung
„Sein ist die Herr­schaft und ihm gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge“ findet sich in genau dieser Formulierung einmal im Heiligen Qur’ān (Al-Taghābūn, 64,1), Teile davon finden sich mehrfach
(z.B. die Worte Er besitzt Macht über alle Dinge finden sich mindestens fünf Mal: 5,120; 11,4; 30,50; 42,9 und
57,2).
4
Das Herz – Im Islam ist das (spirituelle, nicht das physische) Herz das Organ der Wahrnehmung spirituellen
und metaphysischen Wissens. In Be­zug auf eine der bedeutendsten Visionen des Propheten Muhammad
s.a. sagt Gott im Heiligen Qur’ān: {Das Herz log nicht, in dem was es sah!} (al-Najm, 53,11). Und Gott sagt in
der Tat an anderer Stelle im Heiligen Qur’ān: {Denn wahrlich, es sind nicht die Augen, die blind sind, sondern
die Herzen in der Brust sind blind!} (al-Hajj, 22,46, siehe den vollständigen Vers und ebenso 2,9-10; 2,74; 8,24;
26,88-89; 48,4; 83,14 et al. Insgesamt wird das Herz mit seinen Synonymen im Heiligen Qur’ān über hundert Mal erwähnt).
Was die direkte Vision Gottes (im Gegensatz zu spirituellen Wirklichkeiten an sich) – sei es in diesem Leben
oder im Jenseits – an­belangt, existieren unter Muslimen unterschiedliche Auffassungen. Gott sagt im Heiligen Qur’ān (bezüglich des Tages des Jüngsten Gerichts): {An jenem Tage wird es strahlende Gesichter geben,
die zu ihrem Herrn schauen.} (al-Qiyyāma, 75, 22-23) Gleichzeitig sagt Gott jedoch im Heiligen Qur’ān auch:
{Er ist Allah, euer Herr. Es gibt keine Gottheit außer Ihm, dem Schöpfer aller Dinge; so dient Ihm – und Er ist es, der
über alle Dinge wacht. Die Blicke erreichen Ihn nicht, Er aber erreicht die Blicke. Und Er ist der allgütig Feine, der
von allem Kenntnis hat. Zu euch sind wohl einsichtbringende Zeichen von eurem Herrn gekommen. Wer einsichtig ist, ist einsichtig zu seinem eigenen Vorteil, und wer blind ist, ist blind zu seinem eigenen Schaden – und ich
bin nicht der Wächter über euch.} {al-An’ām, 6,102-104).
Wie dem auch sei – es ist offenkundig, daß die muslimische Aufassung hinsichtlich des (spirituellen) Herzens nicht allzu verschieden von der christlichen Auf[f ]assung bezüglich des (spirituellen) Herzens ist, wie
sie sich im Worte Jesu s.a. im Neuen Testament darstellt: „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden
Gott schauen.“ (Matthäus 5,8); und in den Worten Paulus`: „Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie
auch ich er­kannt worden bin.“ (1. Korinther 13,12).
20
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All dies ist in Gottes Hand, denn Gott sagt im Heiligen Qur’ān: {Segensreich ist Der, in dessen
Hand die Herrschaft liegt, und Er besitzt Macht über alle Dinge.} (Al-Mulk, 67,1)
Die Worte „Ihm gebührt der Lobpreis“ erinnern Muslime daran, daß sie Gott dankbar sein und
Ihm mit all ihren Empfindungen und Gefühlen vertrauen sollen. Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Wenn du sie fragst „Wer hat die Himmel und die Erde erschaffen und die Sonne und den Mond
dienstbar gemacht?“, sagen sie bestimmt „Gott.“ Warum also lassen sie sich abwendig machen?
Allah gewährt unter Seinen Dienern die Versorgung großzügig, wem Er will, und Er beschränkt sie
ihm auch. Wahrlich, Allah hat Kenntnis von allen Dingen. Und wenn du sie fragst: „Wer läßt Wasser
vom Himmel herabkommen und schenkt der Erde damit Leben, nachdem sie abgestorben war,
sagen sie bestimmt: „Gott.“ Sprich: „Lobpreis sei Gott!“ Doch die meisten von ihnen denken nicht
nach.} (Al-’Ankabūt, 29,61-63)5
Für all diese und viele weitere Segnungen müssen die Menschen stets wirklich dankbar sein:
{Gott ist derjenige, der die Himmel und die Erde erschuf, und vom Himmel Wasser herabkommen
ließ, und von den Früchten Lebensunterhalt für euch hervorbrachte. Und Er stellte die Schiffe in
eure Dienste, auf daß sie auf dem Meer gemäß seinem Befehl fahren; und Er machte euch die
Flüsse dienstbar. Er ließ die Sonne und den Mond unablässig euch zu Diensten sein; und Er stellte
die Nacht und den Tag in euren Dienst. Und Er gewährte euch von allem, worum ihr batet. Wolltet
ihr die Gnaden Gottes aufzählen, ihr könntet sie nicht erfassen. Wahrlich, der Mensch ist äußerst
ungerecht und undankbar.} (Ibrāhīm, 14,32-34)6
In der Tat beginnt die Fātiha – das bedeutendste Kapitel des Heiligen Qur’ān7 – mit dem
Lobpreis Gottes:
{Im Namen Gottes, des Allnädigen, des Allbarmherzigen
Lobpreis sei Gott, dem Herrn der Welten,
dem Allgnädigen, dem Allbarmherzigen
Herrscher am Tage des Gerichts.
Dir allein dienen wir und Dich allein bitten wir um Hilfe.
Führe uns den geraden Weg,
den Weg jener, auf denen Dein Wohlgefallen ruht,
nicht den derer, die Deinen Zorn verdienen, noch den derjenigen, die irregehen.}
(Al-Fātiha, 1,1-7)
7
5
6
Siehe auch: Luqmān, 31,25.
Siehe auch: Al-Nahl, 16,3-18.
Sahīh Bukhārī, Kitāb Tafsīr Al-Qur’ān, Bāb Mā Jā’a fī Fātiha al-Kitāb {Hadīth Nr. 1); siehe auch: Sahīh Bukhārī,
Kitāb Fadā’il al-Qur’ān, Bāb Fadl Fātiha al-Kitāb, (Hadīth Nr. 9), Nr. 5006.
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Die Fātiha, die von Muslimen mindestens siebzehn Mal täglich in ihren vorgeschriebenen
Gebeten rezitiert wird, erinnert uns an den Lobpreis und die Dankbarkeit, die wir Gott für
Seine Eigenschaften der endlosen Güte und Allbarmherzigkeit schuldig sind; nicht nur
für Seine Güte und Barmherzigkeit in diesem Leben, sondern viel mehr noch für die am
Tage des Jüngsten Gerichts,8 wenn wir ihrer am meisten bedürfen und darauf hoffen, daß
uns unsere Sünden vergeben werden. So endet sie mit der Bitte um göttliche Gunst und
Rechtleitung, damit wir – mit dem, was mit Lobpreis und Danksagung beginnt – Seelen­heil
und Liebe erlangen mögen, denn Gott sagt im Heiligen Qur’ān: {Denjenigen, die glau­ben und
rechtschaffene Werke tun, wird der Allbarmherzige Liebe schenken.} {Maryam, 19,96)
Die Worte „und Er besitzt Macht über alle Dinge“ erinnern Muslime daran, daß sie sich der
Allmacht Gottes bewußt sein und Gott fürchten9 müssen. Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Und fürchtet Gott; und wisset, daß Gott mit den Gottesfürchtigen ist. Und spendet auf dem Wege
Gottes und stürzt euch nicht selbst ins Verderben; und tut Gutes – wahrlich, Gott liebt diejenigen,
die Gutes tun.} (Al-Baqara, 2,194-5)
{Und fürchtet Gott, und wisset, daß Gott streng im Vergelten ist.} (Al-Baqara, 2,196)
Aufgrund von Gottesfurcht sollten alle Taten, jedes Vermögen und alle Stärke der Muslime
vollkommen Gott gewidmet sein. Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Und wisset, daß Gott mit denen ist, die Ihn fürchten.} (Al-Tauba, 9,36)
{O ihr, die ihr glaubt, was ist mit euch, daß ihr euch schwer zur Erde sinken laßt, wenn euch gesagt
wird: „Ziehet aus auf Gottes Weg“? Wollt ihr euch denn mit dem diesseitigen Leben anstelle des
jenseitigen zufrieden geben? Der Nutzen des irdischen Lebens ist doch gegenüber dem des Jenseits
sehr gering. Wenn ihr nicht auszieht, wird Er euch mit schmerzlicher Strafe strafen und ein anderes
Volk an eure Stelle setzen; Ihm fügt ihr keinen Schaden zu – und Er besitzt Macht über alle Dinge.}
(Al-Tauba, 9,38-39)
Der Prophet Muhammad s.a. sagte: „Gott besitzt einhundert Barmherzigkeiten. Eine davon hat Er herabgesandt und sie auf die Jinnen [Geistwesen] und die Menschen, die Bestien und die Tiere verteilt; und deswegen sind
sie untereinander mitfühlend, deswegen sind miteinander barmherzig, und deswegen empfinden die Wildtiere
etwas für ihre Jungen. Und Gott hat neunundneunzig Barmherzigkeiten aufbewahrt, mit denen Er seinen Dienern am Tage des Jüngsten Gerichts barmherzig sein wird.“ (Sahīh Muslim, Kitāb al-Tauba; 2109/4; Nr. 2752;
siehe auch Sahīh Bukhārī, Kitāb al-Riqāq, Nr. 6469).
9
Gottesfurcht ist aller Weisheit Anfang – Es wird überliefert, der Prophet Muhammad s.a. habe gesagt: „Der
wichtigste Teil der Weisheit ist Gottesfurcht.“ (Al-Qudā’ī, Musnad al-Schihāb, 100/1; al-Daylamī, Musnad alFirdaus, 270/2; al-Tirmidhī, Nawādir al-Usūl, 84/3; al-Bayhaqī in Dalā’il al-Nubuwwa und Schu’ab al-Īmān; Ibn
Lal, al-Makārim; al-Asch’arī, al-Amthāl, et al.) Die Ähnlichkeit mit den Worten des Propheten Salomo s.a. in
der Bibel: „Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang.“ (Sprüche 9,10); und „Die Furcht des HERRN ist der
Anfang der Erkenntnis.“ (Sprüche 1,7) ist offensichtlich.
8
22
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Als Ganzes betrachtet erinnern die Worte „Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis,
und Er besitzt Macht über alle Dinge“ Muslime daran, daß so, wie alles in der Schöpfung Gott
lobpreist, auch ihre Seelen ganz in Hingabe zu Gott aufgehen müssen:
{Alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, lobpreist Gott; Sein ist die Herrschaft, Lobpreis, und Er
besitzt Macht über alle Dinge} {Al-Taghābūn, 64,1)
Denn in der Tat, alles was in den Seelen der Menschen ist, ist Gott bekannt und vor Ihm muß
darüber Rechenschaft abgelegt werden:
{Er weiß, was in den Himmeln und auf der Erde ist, und Er weiß, was ihr im geheimhaltet und was
ihr offenlegt; und Gott kennt das Innerste der Herzen.} {Al-Taghābūn, 64,4)
Wie wir den oben zitierten Passagen entnehmen können, werden die Seelen im Heiligen
Qur’ān mit drei Hauptfähigkeiten beschrieben: dem Verstand oder der Intelligenz, welche
dazu erschaffen sind, die Wahrheit zu begreifen, dem Willen, der erschaffen wurde, um freie
Entscheidungen zu treffen, und dem Gefühl, welches erschaffen wurde, um das Gute und
Schöne zu lieben.10
Mit anderen Worten könnten wir sagen, daß die menschliche Seele dadurch erkennt, daß sie
die Wahrheit begreift, das Gute will, und tugendhafte Empfindungen und Gefühle der Liebe
zu Gott empfindet. Im Verlauf desselben (oben zitierten) Kapitels des Heiligen Qur’ān gebietet
Gott den Menschen, Ihn im höchsten ihnen möglichen Maße zu fürchten, zu hören (und
auf diese Weise die Wahrheit zu begreifen), zu gehorchen (und damit das Gute zu wollen)
und freigiebig zu geben (und dadurch Liebe und tugendhaftes Verhalten zu praktizieren),
welches – wie Er sagt – besser für unsere Seelen ist. Indem wir alle Bereiche unserer Seele
einsetzen – die Fähigkeiten der Erkenntnis, des Willens und der Liebe – können wir geläutert
werden und den ultimativen Erfolg erreichen:
Intelligenz, Wille und Gefühl im Heiligen Qur’ān – So teilt Gott den Menschen im Heiligen Qur’ān mit, daß sie
an Ihn glauben sollen und Ihn anrufen sollen (indem sie ihre Intelligenz be­nutzen), voller Gottesfurcht (welche den Willen motiviert) und voller Hoffnung (also mit Gefühl): {Wahrlich, nur die glauben an Unsere Zeichen,
die sich, wenn sie daran erinnert werden, in Anbetung niederwerfen, den Lobpreis ihres Herrn verkünden, und nicht
hochmütig sind. Sie halten sich fern von den Schlafstätten, sie rufen ihren Herrn voller Furcht und Hoffnung an und
spenden von dem, was Wir ihnen beschert haben. Und niemand weiß, welcher Augentrost ihnen im Verborgenen
bestimmt ist, als Lohn für das, was sie zu tun pflegten.} (Al-Sajda, 32,15-17) {Ruft euren Herrn voller Demut und im
Verborgenen an; wahrlich, Er liebt die Übertreter nicht. Und stiftet kein Unheil auf Erden, nachdem sie in Ordnung
gebracht wurde! Und ruft Ihn voller Furcht und Hoffnung an. Wahrlich, die Barmherzigkeit Gottes ist denen nah,
die Gutes tun.} (Al-A’rāf, 7,55-56) Ebenso wird der Prophet Muhammad s.a. selbst mit Begriffen beschrieben,
die Wissen (und damit Intelli­genz) zum Ausdruck bringen, Hoffnung (und damit Gefühl) auslösen und Furcht
einflößen (und so den Willen motivieren): {O Prophet, wahrlich, Wir sandten dich als Zeugen, als Verkünder froher Botschaft und als Warner, sowie als Rufer zu Gott – mit Seiner Erlaubnis – und als hell strahlende Leuchte.} (AlAhzāb, 33,45) {Wahrlich, wir sandten dich ab Zeugen, als Verkünder froher Botschaft und als Warner.} (Al-Fath, 48,8)
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{So fürchtet Allah, so sehr ihr könnt, und hört und gehorcht und gebt freigiebig – es ist zu eurem
Besten – und wer vor der Habsucht seines Egos bewahrt wird, das sind die Erfolgreichen.} (AlTaghābūn, 64,16)
In der Zusammenfassung erinnert der vollständige Satz „Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner,
Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge.“, wenn
er der Glaubensbezeugung – „Es gibt keine Gottheit außer Gott“ – hinzugefügt wird, Muslime
daran, daß ihr Herz, ihre individuelle Seele, und alle Fähigkeiten und Kräfte ihrer Seele (oder
einfach ihr ganzes Herz und ihre ganze Seele) vollkommen Gott ergeben und verbunden
sein sollen. So sagt Gott im Heiligen Qur’ān zum Propheten Muhammad s.a.:
{Sprich: „Wahrlich, mein Gebet und mein Opfer, mein Leben und mein Sterben gehören Gott, dem
Herrn der Welten. Er hat keinen Partner. Dies ist, was mir gebo­ten wurde, und ich bin der erste der
Gottergebenen.“ Sprich: „Sollte ich mir einen anderen Herrn suchen als Gott, wo Er doch der Herr
aller Dinge ist?“ Und keine Seele erwirbt etwas, ohne daß es ihr angerechnet wird, und keiner wird
die Last der Taten eines anderen tragen – sodann werdet ihr zu eurem Herrn heimkehren und Er
wird euch das darlegen, worüber ihr uneins ward (sic!).} (Al-An’ām, 6,162-164)
Diese Verse verkörpern die vollkommene und absolute Hingabe des Propheten Muham­mad
s.a. an Gott. Deshalb verpflichtet Gott die Muslime im Heiligen Qur’ān, wenn sie Gott wirklich
lieben, seinem Vorbild11 zu folgen, auf daß sie von Gott geliebt12 werden:
{Sprich (O Muhammad): Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir, so wird Gott euch lieben und euch
eure Sünden vergeben – und Gott ist allverzeihend, allbarmherzig.} (Āl ’Imrān, 3,31)
Auf diese Weise ist die Liebe zu Gott im Islam Teil vollkommener und völliger Gotterge­
benheit; sie ist nicht nur eine flüchtige, bruchstückhafte Empfindung. Wie oben zu sehen ist,
gebietet Gott im Heiligen Qur’ān: {Sprich: „Wahrlich, mein Gebet und mein Opfer, mein Leben und
Ein treffliches Vorbild – Die Liebe des Propheten Muhammad s.a. zu Gott und seine vollkomme[ne] Gottergebenheit sind für die Muslime das Modell, dem sie nach­zueifern trachten. Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Gewiß habt ihr im Gesandten Gottes ein treffliches Vorbild für jeden, der auf Gott und den Jüngsten Tag hofft
und Gottes viel gedenkt) (Al-Ahzāb, 33,21)
Das Allumfassende dieser Liebe schließt Weltlichkeit und Egoismus aus und ist für die Muslime schön
und liebenswert an sich. Die Lie­be zu Gott ist den Muslimen an sich liebenswert. Gott sagt im Heiligen
Qur’ān: {Und wisset, daß Gottes Gesandter unter euch weilt. Würde er in vielen Angelegenheiten auf euch hören,
würdet ihr in Bedrängnis gera­ten. Doch Gott hat euch den Glauben lieb gewinnen und ihn in euren Herzen schön
erscheinen lassen, und Er hat euch den Unglauben, den Frevel und den Ungehorsam verabscheuen lassen – dies
sind aufrecht Rechtschaffenen.} (Al-Hujurāt, 49,7)
12
Diese ‚spezielle Liebe’ kommt hinzu zu Gottes universeller Barmherzigkeit, {die alle Dinge umfaßt} (Al-A’rāf,
7,156) – und Gott weiß es am Besten!
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mein Sterben gehören Gott, dem Herrn der Welten. Er hat keinen Partner.“} Der Aufruf zu völliger
Ergebenheit und Ausrichtung auf Gott, mit Herz und Seele, ist in der Tat – weit entfernt
davon, nur ein Aufruf zu einer Empfindung oder einer Stimmung zu sein – eine Verfügung,
die allumfassende, ständige und aktive Liebe zu Gott verlangt. Sie fordert eine Liebe, an der
das innerste spirituelle Herz und die Seele in ihrer Gesamtheit – mit ihrer Intelligenz, ihrem
Willen und ihrem Gefühl – durch Ergebenheit beteiligt sind.
Niemand kommt mit etwas Besserem
Wir haben gesehen, wie diese segensreiche Redewendung „Es gibt keine Gottheit außer Gott,
Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis, und
Er besitzt Macht über alle Dinge“ – welche das beste ist, was alle Propheten gesagt haben
– verdeutlicht, was in dem besten (Gottes-)Gedenken {„Es gibt keine Gottheit außer Gott“)
stillschweigend inbegriffen ist, indem sie zeigt, was dieses an Hingabe fordert und mit sich
bringt. Es bleibt noch zu erwähnen, daß diese segensreiche Formel selbst auch eine geheiligte
Anrufung Gottes darstellt – eine Art ergänzende Erweiterung der Ersten Glaubensbezeugung
{„Es gibt keine Gottheit außer Gott“) – deren rituelle Wiederho­lung, durch die Gnade Gottes,
einige der inneren Einstellungen von Ergebenheit hervor­bringt, die sie fordert, nämlich, von
ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit allem Willen oder aller Kraft, und mit all seinem Gefühl
Gott zu lieben und sich Ihm hinzugeben. Des­wegen empfahl der Prophet Muhammad s.a.
dieses Gottesgedenken, indem er sagte:
„Derjenige, der einhundert Mal am Tag sagt ,Es gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt
keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lob­preis, und Er besitzt Macht über alle
Dinge‚, ist wie einer, der zehn Sklaven freiläßt, und ihm werden einhundert rechtschaffene Taten
gutgeschrieben und einhundert seiner schlechten Taten werden gelöscht, und es ist für ihn ein
Schutz vor dem Satan an diesem Tag bis zum Abend, Und niemand kommt mit etwas Besserem
als er – außer einem, der mehr tut als dies.“13
Mit anderen Worten verlangt und beinhaltet das segensreiche Gottesgedenken „Es gibt keine
Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt
Sahīh al-Bukhārī, Kitāb Bad’ al-Khalq, Bāb Sifāt Iblīs wa Junūdihi; Hadīth Nr. 3329.
Andere Versionen des Segensreichen Ausspruchs – Dieser gesegnete Ausspruch des Propheten Muhammad
s.a. findet sich in Dutzenden von Hadīthen (Aussprüchen des Propheten Muham­mad s.a.) in unterschiedlichen Zusammenhängen und leicht variierenden Versionen. Die von uns im Text zitierte (Es gibt keine
Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis,
und Er besitzt Macht über alle Dinge) ist tatsächlich die kürzeste Version. Sie findet sich in Sahīh al-Bukhārī:
Kitāb al-Adhān (Nr. 852); Kitāb al-Tahajjud (Nr. 1163); Kitāb al-’Umra (Nr. 1825); Kitāb Bad’ al-Khalq (Nr. 3329);
Kitāb al-Da’awāt (Nrn. 6404, 6458, 6477); Kitāb al-Riqāq (Nr. 6551); Kitāb al-I’tisām bil-Kitāb (Nr. 7378); in Sahīh
Muslim: Kitāb al-Masājid (Nrn. 1366, 1368, 1370, 1371, 1380); Kitāb al-Hajj (Nrn. 3009, 3343); Kitāb al-Dhikr
wal-Du’ā’ (Nrn. 7018, 7020, 7082, 7084); in Sunan Abī Dāwūd: Kitāb al-Witr (Nrn. 1506, 1507, 1508); Kitāb al-
13
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der Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge“ nicht nur, daß Muslime sich vollkommen
Gott hingeben und Ihn von ganzem Herzen, mit ihrer ganzen Seele und allem, was in
ihnen steckt, lieben sollen, sondern es eröffnet ihnen einen Weg, ebenso wie sein Anfang
(die Bezeugung des Glaubens), – durch vielfache Wiederholung14 – diese Liebe mit allem,
was sie sind, zu verwirklichen. Gott sagt in einer der allerersten Offenbarungen des Heiligen
Qur’ān: {So gedenke des Namens deines Herrn und wende dich Ihm von ganzem Herzen zu!} (AlMuzzammil, 73,8)
Jihād (Nr. 2772); Kitāb al-Kharaj (Nr. 2989); Kitāb al-Adab (Nrn. 5062, 5073, 5079); in Sunan al-Tirmidhī: Kitāb
al-Hajj (Nr. 965); Kitāb al-Da’awāt (Nrn. 3718, 3743, 3984); in Sunan al-Nasā’ī: Kitāb al-Sahw (Nrn. 1347,
1348, 1349, 1350, 1351); Kitāb Manāsik al-Hajj (Nrn. 2985, 2997); Kitāb al-Īmān wal-Nudhur (Nr. 3793); in
Sunan Ibn Mājah: Kitāb al-Adab (Nr. 3930); Kitāb al-Du’ā’ (Nrn. 4000, 4011); and in Muwatta’ Mālik: Kitāb alQur’ān (Nrn. 492, 494); Kitāb al-Hajj (Nr. 831). Eine längere Version, die die Worte yuhyī wa yumīt enthält –
(Es gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt
der Lobpreis, Er schenkt Leben und Er läßt sterben, und Er besitzt Macht über alle Dinge) – findet sich in Sunan
Abī Dāwūd: Kitāb al-Manāsik (Nr. 1907); in Sunan al-Tirmidhī: Kitāb al-Salāh (Nr. 300); Kitāb al-Da’awāt
(Nrn. 3804, 3811, 3877, 3901); und in Sunan al-Nasā’ī: Kitāb Manāsik al-Hajj (Nrn. 2974, 2987, 2998); Sunan
Ibn Mājah: Kitāb al-Manāsik (Nr. 3190). Eine weitere längere Version, welche die Worte bi-yadihi al-khayr
enthält – (Es gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt kei­nen Partner, Sein ist die Herrschaft und
Ihm gebührt der Lobpreis, das Gute liegt in Seiner Hand, und Er besitzt Macht über alle Dinge) – findet sich in
Sunan Ibn Mājah: Kitāb al-Adab (Nr. 3931); Kitāb al-Du’ā’ (Nr. 3994). Die längste Version, welche die Worte
yuhyī wa yumīt wa Huwa Hayyun lā yamūt bi-yadihi al-khayr enthält – (Es gibt keine Gottheit außer Gott, Er
ist Allein. Er besitzt keinen Partner. Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis. Er schenkt Leben und
Er läßt sterben, und Er ist der ewig Lebendige, der niemals stirbt. Das Gute liegt in Seiner Hand, und Er besitzt
Macht über alle Dinge) – findet sich in Sunan al-Tirmidhī: Kitāb al-Da’awāt (Nr. 3756) und in Sunan Ibn
Mājah: Kitāb al-Tijārat (Nr. 2320), mit dem Unterschied, daß es im letzteren Hadīth heißt: bi-yadihi al-khayr
kulluhu (alles gute liegt in Seiner Hand). Wichtig ist hierbei zu erwähnen, daß der Prophet Muhammad s.a.
nur die erste (kürzeste) Version als das Beste, das ich gesagt habe – ich selbst und die Propheten, die vor mir
kamen – bezeichnet hat; und nur bezüglich dieser Version sagte der Prophet: Und niemand kommt mit
etwas Besserem als er – außer einem, der mehr tut als dies. (Die hier verwendeten Referenzzahlen beziehen
sich auf das Nummerierungssystem des Sunna Project’s Encyclopaedia of Hadīth [Jam’ Jawāmi’ al-Ahādīth
wal-Asānīd], welches unter Mitarbeit von Gelehrten der al-Azhar Universität zusammengestellt wurde,
und die Wer­ke Sahīh al-Bukhārī, Sahīh Muslim, Sunan Abī Dāwūd, Sunan al-Tirmidhī, Sunan al-Nasā’ī, Sunan
Ibn Mājah und Muwatta’ Mālik umfaßt.)
14
Häufiges Gottesgedenken im Heiligen Qur’ān – Der Heilige Qur’ān ist voll mit Aufforderungen zur häufigen
Anrufung Gottes oder vielfachem Gottesgedenken:
{Gedenke des Namen[s] deines Herrn am Morgen und am Abend!} (Al-Insān, 76,25)
{So gedenket Gottes im Stehen, Sitzen und im Liegen.} (Al-Nisā’, 4,103)
{Und gedenke deines Herrn in deinem Inneren, in Demut und Furcht und ohne laute Worte, am Morgen und am
Abend; und sei nicht einer der Achtlosen!} (Al-A’rāf, 7,205)
{Und gedenke deines Herrn in vielfachem Gedenken und preise ihn am Abend und am Morgen!} (Āl ’Imrān, 3,41)
{O ihr, die ihr glaubt, gedenket Gottes in häufigem Gedenken und preiset ihn am Morgen und am Abend!} (AlAhzāb, 33,41-42) (Siehe auch 2,198-200; 2,203; 2,238-239; 3,190-191; 6,91; 7,55; 7,180; 8,45; 17,110; 22,27-41;
24,35-38; 26,227; 62,9-10; 87,1-17, et al.)
Ebenso ist der Heilige Qur’ān voll mit Versen, welche die höchste Wichtigkeit des Gottesgedenkens betonen (siehe 2,151-7; 5,4; 6,118; 7,201; 8,2-4; 13,26-28; 14,24-27; 20,14; 20,33-34; 24,1; 29,45; 33,35; 35,10; 39,9;
50,37; 51,55-58; und 33,2; 39,22-23, sowie 73,8-9, wie bereits zitiert, et al.) und zugleich ausdrücklich vor
den schlimmen Folgen seiner Vernachlässigung warnen (siehe 2,114; 4,142; 7,179-180; 18,28; 18,100-101;
20,99-101; 20,124-127; 25,18; 25,29; 43,36; 53,29; 58,19; 63,9; 72,17 et al.; siehe auch 107,4-6). Folg­lich
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DIE LIEBE ZU GOTT ALS ERSTES UND OBERSTES GEBOT IN DER BIBEL
Das Schma Jisrael im Deuteronomium (5. Mose 6,4-5), ein zentraler Bestandteil des Alten
Testaments und der Jüdischen Liturgie, lautet:
Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein! Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben
mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. (5. Mose
6,4-5)15
Ähnlich antwortet Jesus Christus, der Messias s.a., im Neuen Testament, als er bezüglich des
Obersten Gebotes befragt wird:
Als aber die Pharisäer hörten, dass er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, versammelten
sie sich miteinander. Und es fragte einer von ihnen, ein Gesetzesgelehrter, und versuchte ihn und
sprach: Lehrer, welches ist das größte Gebot im Gesetz? Er aber sprach zu ihm: „Du sollst den Herrn,
deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem
ganzen Verstand,“ Dies ist das größte und erste Gebot Das zweite aber ist ihm gleich: „Du sollst
deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die
Propheten. (Matthäus 22,34-40)
Und ebenso:
Und einer der Schriftgelehrten, der gehört hatte, wie sie miteinander stritten, trat hinzu, und da
er wusste, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches Gebot ist das erste von
allen? Jesus antwortete ihm: Das erste ist „Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist ein Herr; und du
sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und
aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft!“ Das zweite ist dies: „Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst!“ Größer als diese ist kein anderes Gebot. (Markus 12,28-31)
Das Gebot Gott voll und ganz zu lieben ist somit das Erste und Oberste Gebot der Bibel. In
der Tat findet es sich an einer ganzen Reihe von Stellen in der Bibel wieder. Dazu zählen 5.
Moses 4,29; 10,12; 11,13 (ebenfalls Teil des Schma Jisrael), 13,3; 26,16; 30,2; 30,6; 30,10; Josua
22,5; Markus 12, 32-33 und Lukas 10,27-28. Allerdings erscheint es an verschiedenen Stellen
der Bibel in leicht unterschiedlichen Formen und Versionen. So zum Beispiel in Matthäus
22,37 (Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen
Seele und mit deinem ganzen Verstand.), das griechische Wort für ‚Herz’ ist Kardia, das Wort
sagt Gott le tztendlich im Heiligen Qur’ān: {Ist es nicht für diejenigen, die glauben, an der Zeit, daß ihre Herzen demütig werden im Gedenken Gottes ...?} (Al-Hadīd, 57,16), {... und laßt nicht nach in Meinem Gedenken!)
(Taha, 20,42) und: {Und gedenke deines Herrn, wann immer du es vergessen hast!) (Al-Kahf, 18,24).
15
Die Bibelzitate entstammen der Revidierten Elberfelder Bibel; Ausg. 1992; R. Brockhaus-Verlag, Wuppertal. Im
Internet bereitgestellt unter http://www.bibelserver.de.
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für ‚Seele’ ist Psyche und das Wort für ‚Verstand’ ist Dianoia. In der Version bei Markus 12,30
(Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen
Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft!) ist das Wort ‚Kraft’ als
Übersetzung des griechischen Wortes Ischus hinzugefügt. Die Worte des Gesetzesgelehrten
in Lukas 10,27 (die Jesus Christus s.a. in Lukas 10,28 bestätigt) beinhalten die gleichen vier
Begriffe wie Markus 12,30. Die Worte des Schreibers in Markus 12,32 (die Jesus Christus s.a.
in Markus 12,34 bestätigt) beinhalten die drei Begriffe Kardia (‚Herz’), Dianoia (‚Verstand’) und
Ischus (‚Kraft’).
Im Schma Jisrael im Deuteronomium 6,4-5 (Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!
Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen
Seele und mit deiner ganzen Kraft) lautet das hebräische Wort für ‚Herz’ Lev, das Wort für ‚Seele’
Nefesch, und das für ‚Kraft’ Me’od.
In Josua 22,5 wird den Israeliten von Josua s.a. auf folgende Weise geboten, Gott zu lieben
und Ihm ergeben zu sein:
Nur achtet genau darauf, das Gebot und das Gesetz zu tun, das Mose, der Knecht des HERRN, euch
befohlen hat; den HERRN, euren Gott, zu lieben und auf allen seinen Wegen zu wandeln und seine
Gebote zu halten und ihm anzuhängen und ihm zu dienen mit eurem ganzen Herzen und mit
eurer ganzen Seele! (Josua 22,5)
Was all diese Versionen – trotz der sprachlichen Unterschiede zwischen dem hebräischen
Alten Testament, den ursprünglichen Worten Jesu Christi auf Aramäisch und der tatsächlich
überlieferten Griechischen des Neuen Testaments – gemeinsam haben, ist das Gebot voll
und ganz mit Herz und Seele zu lieben und sich Ihm ganz hinzugeben. Dies ist das Erste und
Oberste Gebot für die Menschheit.
Angesichts dessen, was, wie wir gesehen haben, notwendigerweise mit dem segensreichen
Ausspruch des Propheten Muhammad s.a. „Das Beste, das ich gesagt habe – ich selbst und die
Propheten, die vor mir kamen – ist: Es gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen
Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge“16
impliziert und bewirkt wird, können wir vielleicht nun die Worte „das Beste, das ich gesagt
habe – ich selbst und die Propheten, die vor mir kamen“ als präzise Gleichsetzung der Formel „es
gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und
Ihm gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge“ mit dem ‚Ersten und Obersten
Gebot’, Gott von ganzem Herzen und ganzer Seele zu lieben, wie es an verschiedenen Stellen
Sunan al-Tirmidhī, Kitāb al-Da’awāt, Bāb al-Du’ā’ fī Yaum ’Arafa, Hadīth Nr. 3934. Op. cit.
16
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in der Bibel zu finden ist, verstehen. Damit ist gemeint, daß der Prophet Muhammad s.a.
vielleicht, durch Eingebung, das Erste Gebot der Bibel erneut formulierte und sich darauf
bezog. Gott weiß dies am besten, doch mit Sicherheit haben wir die tatsächliche Ähnlichkeit
in der Bedeutung feststellen können. Wir wissen darüber hinaus (wie den Anmerkungen zu
entnehmen ist), daß beide Formeln eine weitere bemerkenswerte Parallele aufweisen: die
Art und Weise, wie sie in einer Reihe von leicht unterschiedlichen Versionen in verschiedenen
Zusammenhängen auftauchen, die trotzdem allesamt die Vorrangigkeit vollkommener Liebe
zu und Hingabe an Gott betonen.17
In trefflichster Gestalt – Christentum und Islam haben vergleichbare Vorstellungen bezüglich der Erschaffung des Menschen in der trefflichsten Gestalt und von Gottes eigenem Atemhauch. In der Genesis heißt
es: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf
er sie. (1. Moses, 1,27) Und: Da bildete Gott, der HERR, den Menschen, aus Staub vom Erdboden und hauchte in
seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele. (1. Moses, 2,7)
Und der Prophet Muhammad s.a. sagte: „Wahrlich, Gott erschuf Adam in Seiner eigenen Gestalt“ (Sahīh alBukhārī, Kitāb al-Isti’dhān, 1; Sahīh Muslim, Kitāb al-Birr, 115; Musnad Ibn Hanbal 2, 244, 251, 315, 323 et al.)
{Und gewiß erschufen Wir euch, sodann verliehen Wir euch eure Gestalt, sodann sprachen Wir zu den Engeln:
„Werft euch vor Adam nieder!“ Da warfen sie sich nieder, außer Iblis – er gehört nicht zu denen, die sich niederwerfen.} (Al-A’rāf, 7,11)
{Bei der Feige und der Olive, beim Berge Sinai, und bei diesem Ort der Sicherheit: wahrlich, Wir erschufen den
Menschen in der trefflichsten Gestalt, dann brachten Wir ihn hinab auf die allerunterste Stufe – außer denjenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun, ihnen wird nimmer endender Lohn zuteil! Was läßt dich daraufhin noch das Gericht leugnen? Ist nicht Gott der allweiseste aller Richter?} (Al-Tīn, 95,1-8)
{Gott ist es, der euch die Erde zu einem festen Grund und den Himmel zu einem Gebäude gemacht hat, der euch
Gestalt verliehen und sodann eure Gestalt trefflich geformt und euch mit den köstlichen Dingen versorgt hat.
Dies ist Gott, euer Herr – voller Segen ist Gott, der Herr der Welten!} (Al-Ghāfir, 40,64)
{Doch die Ungerechten folgen in Unwissenheit ihren eigenen Wünschen – und wer kann den rechtleiten, den
Allah irre gehen läßt? Für solche wird es keine Helfer geben. So wende dein Antlitz dem reinen Glauben zu, der
gottgegebenen Veranlagung, die Er den Menschen verliehen hat; die Schöpfung Allahs läßt sich nicht ändern.
Dies ist die aufrechte Religion, doch die meisten Menschen wissen es nicht.} (Al-Rūm, 30,29-30)
{Nachdem Ich ihn geformt und ihm von Meinem Geiste eingehaucht habe, fallt ehrfürchtig vor ihm nieder!} (Sad,
38,72)
{Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Wahrlich, Ich werde auf der Erde einen Stellvertreter einsetzen“, sagten
sie: „Willst Du auf ihr jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, während wir Dich lobpreisen und Deine Heiligkeit rühmen?“ Er sagte: „Wahrlich, Ich weiß, was ihr nicht wißt.“ Und Er lehrte Adam alle
Namen; dann führte Er sie den Engeln vor und sprach: „Nennt mir ihre Namen, wenn ihr die wahrhaftig seid!“ Sie
sprachen: „Preis sei Dir, wir besitzen kein Wissen außer dem, das Du uns gelehrt hast – wahrlich, Du bist der Allwissende, der Allweise.“ Er sprach: „O Adam, nenne ihnen ihre Namen!“ Und als dieser ihnen ihre Namen genannt
hatte, sprach Er: „Habe Ich nicht gesagt, daß Ich das Verborgene der Himmel und der Erde kenne, und daß Ich
weiß, was ihr offenlegt und was ihr verbergt?“ Und als Wir zu den Engeln sprachen: „Werft euch vor Adam nieder“,
warfen sie sich nieder – außer Iblis; der weigerte sich und war hochmütig – und dadurch wurde er zu einem der
Ungläubigen. Und Wir sprachen: „O Adam, bewohne du und deine Ehefrau den Paradiesgarten, und eßt davon
soviel ihr möchtet und wo immer ihr wollt! Doch nähert euch nicht diesem Baum, denn sonst gehört ihr zu den
Ungerechten!“} (Al-Baqara, 2,30-35)
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(II) DIE NÄCHSTENLIEBE
NÄCHSTENLIEBE IM ISLAM
Im Islam existiert eine Vielzahl von Bestimmungen, die eindeutig auf die Notwendigkeit und
unverzichtbare Bedeutung der Liebe – und der Barmherzigkeit – gegenüber dem Nächsten
hinweisen. Die Nächstenliebe ist ein integraler Bestandteil des Glaubens an Gott sowie der
Liebe zu Gott, denn im Islam gibt es ohne Nächstenliebe keinen wahren Glauben an Gott
und keine Rechtschaffenheit. Der Prophet Muhammad s.a. sagte: „Keiner von euch glaubt
wirklich, bis er für seinen Bruder das liebt, was er für sich selbst liebt!“18 und: „Keiner von euch
glaubt wirklich, bis er für seinen Nächsten das liebt, was er für sich selbst liebt!“19
Jedoch Mitgefühl und Zuwendung für den Nächsten – und selbst das Verrichten von
Gebeten – sind nicht genug; sie müssen mit Großherzigkeit und selbstloser Aufopferung
einhergehen. Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Rechtschaffenheit besteht nicht darin, daß ihr eure Gesichter20 nach Osten oder Westen wendet.
Rechtschaffen ist vielmehr der, der an Allah, den Jüngsten Tag, die Engel, die Schrift und die
Propheten glaubt und vom Besitz – obwohl er ihn liebt – der Verwandtschaft, den Waisen, den
Bedürftigen, dem Reisenden und den Bittenden gibt, ihn für den Freikauf von Sklaven (oder
Gefangenen) ausgibt, das Gebet verrichtet und die Pflichtabgabe entrichtet; sowie jene, die ihre
Verpflichtungen einhalten und die in Not, Leid und Kriegszeiten standhaft geduldig sind – sie sind
es, die wahrhaftig sind, und sie sind die Gottesfürchtigen.} (Al-Baqara, 2,177)
Und ebenso heißt es:
{Ihr werdet nicht Rechtschaffenheit erlangen, bis ihr von dem spendet, was ihr liebt; und was
immer ihr spendet, Allah weiß es genau!} (Āl ’Imrān, 3,92)
Ohne dem Nächsten zu geben, was uns selbst lieb ist, lieben wir weder Gott noch den
Nächsten wirklich.
Sahīh al-Bukhārī, Kitāb al-Īmān, Hadīth Nr. 13.
Sahīh Muslim, Kitāb al-Īmān, 67-1, Hadīth Nr. 45.
20
Die klassischen Kommentatoren des Heiligen Qur’ān (siehe Tafsīr Ibn Kathīr, Tafsīr al-Jalālayn) stimmen allgemein darin überein, daß sich dies auf das muslimische Gebet (bzw. die letzten Bewegungen desselben)
bezieht.
18
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NÄCHSTENLIEBE IN DER BIBEL
Wir haben bereits die Worte des Messias, Jesus Christus s.a., hinsichtlich der gewaltigen
Bedeutung der Nächstenliebe – deren Stellenwert einzig von der Liebe zu Gott übertroffen
wird – erwähnt:
Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: „Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst.“ An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
(Matthäus 22,38-40)
Und:
Das zweite ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Größer als diese ist kein
anderes Gebot (Markus 12,31)
Es bleibt nur anzumerken, daß dieses Gebot auch im Alten Testament zu finden ist:
Du sollst deinen Bruder in deinem Herzen nicht hassen. Du sollst deinen Nächsten ernstlich
zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld trägst. Du sollst dich nicht rächen und den
Kindern deines Volkes nichts nachtragen und sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin
der HERR. (3. Mose 19,17-18)
Folglich verlangt das Zweite Gebot, genau wie das Erste Gebot, Großherzigkeit und selbstlose
Aufopferung, und an diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
(III) KOMMT HERBEI ZU EINEM WORT DAS UNS GEMEINSAM IST
EIN WORT DAS UNS GEMEINSAM IST
Wenngleich Islam und Christentum offensichtlich unterschiedliche Religionen sind – und
wenngleich sich einige ihrer formalen Unterschiede in keiner Weise verniedlichen lassen –
ist dennoch klar, daß die Zwei Obersten Gebote einen Bereich von Gemeinsamkeit und
eine Verbindung zwischen dem Qur’ān, der Thora und dem Neuen Testament darstellen.
Was den Zwei Geboten in der Thora und dem Neuen Testament vorangeht, und woraus
sie entspringen, ist die Einheit Gottes – daß es nur einen Gott gibt. Denn das Schma Jisrael
in der Thora beginnt mit den Worten „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!“
(5. Mose 6,4) Ebenso sagte Jesus s.a: „Das erste Gebot ist: ,Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist
ein Herr.’“ (Markus 12,29) Und ebenso sagt Gott im Heiligen Qur’ān: {Sprich: „Er, Gott, ist Einer.
Gott, der ewig aus sich selbst Bestehende.“} (Al-Ikhlās, 112, 1-2) Demzufolge bilden die Einheit
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Gottes, die Liebe zu Ihm sowie die Nächstenliebe eine gemeinsame Grundlage von Islam
und Christentum (und Judentum).
Dies kann auch gar nicht anders sein, da Jesus s.a. ja sagt: „An diesen zwei Geboten hängt
das ganze Gesetz und die Propheten.“ Darüber hinaus bestätigt Gott im Heiligen Qur’ān, daß
der Prophet Muhammad s.a. nichts grundsätzlich oder vom Wesen her gänzlich Neues
gebracht hat: {Es wird dir nichts gesagt außer dem, was bereits den Gesandten vor dir gesagt
wurde.} (Fussilat, 41,43) Und: {Sprich (O Muhammad): „Ich bin keine neue Erscheinung unter
den Gesandten und ich weiß nicht, was mit mir, und auch nicht, was mit euch geschehen wird.
Ich folge allein dem, was mir offenbart wird; und ich bin nichts als ein deutlicher Warner.“} (AlAhqāf, 46,9) Demzufolge bestätigt Gott auch im Heiligen Qur’ān, daß die gleichen, ewigen
Wahrheiten der Einheit Gottes, der Notwendigkeit vollkommener Liebe zu und Hingabe an
Gott (und damit zugleich das Meiden falscher Götter), und der Notwendigkeit der Liebe zu
den Mitmenschen (und damit Gerechtigkeit) die Grundlagen jeder wahren Religion sind:
{Und Wir haben aus jeder Gemeinschaft einen Gesandten hervorgebracht (der sagte): „Dient Gott
und meidet die falschen Götter!“ Dann waren unter ihnen solche, die Gott rechtgeleitet hat, und
solche, für die die Irreleitung recht war. So reist um­her auf Erden und seht, wie das Ende der Leugner
war.} (Al-Nahl, 16,36)
{Wir haben unsere Gesandten mit deutlichen Zeichen gesandt, und mit ihnen die Schrift und die
Waage herabgesandt, auf daß die Menschen Gerechtigkeit üben.} (Al-Hadīd, 57,25)
Kommt herbei zu einem Wort, das uns gemeinsam ist!
Im Heiligen Qur’ān fordert Gott, der Hocherhabene, die Muslime auf, folgenden Aufruf an die
Christen (und Juden – das Volk der Schrift) zu richten:
{Sprich: „O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das uns und euch gemeinsam ist: daß wir
niemandem außer Gott dienen und wir Ihm nichts zur Seite stellen, und daß nicht die einen von
uns die anderen anstelle von Gott zu Herren nehmen.“ Wenn sie sich jedoch abwenden, dann sagt:
„Bezeugt, daß wir Gottergebene sind!“} (Āl ’Imrān, 3,64)
Die segensreichen Worte „daß wir Ihm nichts zur Seite stellen“ beziehen sich eindeutig auf die
Einheit Gottes. Ebenso klar bezieht sich das „niemandem außer Gott dienen“ auf vollkommene
Hingabe an Gott und damit auf das Erste und Höchste Gebot. Laut einem der ältesten und
anerkanntesten Kommentare (tafsīr) des Heiligen Qur’ān – dem Jāmi’ al-Bayyān ’an Ta’wīl alQur’ān des Abū Ja’far Muhammad ibn Jarīr al-Tabarī (gest. 310 H. / 923 n. Chr.) – bedeuten
die Worte {daß nicht die einen von uns die anderen anstelle von Gott zu Herren nehmen} daß
„keiner von uns Gehorsam im Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes leisten sollte,
noch sie (d. h. andere Menschen) verherrlichen sollte, indem er sich vor ihnen in der Weise
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verneigt, wie man sich vor Gott verneigt.“ Das heißt, mit anderen Worten, daß Muslime,
Christen und Juden frei sein sollten, dem zu folgen, was Gott ihnen geboten hat und sich
„nicht vor Königen und ihresgleichen zu verneigen hätten,“21 denn Gott sagt an anderer Stelle
im Heiligen Qur’ān: {Es soll kein Zwang sein in der Religion ...} (Al-Baqara, 2,256). Dies bezieht
sich eindeutig auf das Zweite Gebot und die Nächstenliebe, zu deren unverzichtbaren
Bestandteilen Gerechtigkeit22 und Religionsfreiheit gehören. Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Gott verbietet euch nicht, gegenüber denjenigen, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft
und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, gütig und gerecht zu sein; wahrlich,
Gott liebt die Gerechten.} (Al-Mumtahina, 60,8)
In diesem Sinne laden wir als Muslime die Christen ein, sich der Worte Jesu s.a. im Evangelium
zu erinnern:
„... der Herr, unser Gott, ist ein Herr; und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen
Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen
Kraft!“ Das zweite (Gebot) ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Größer als
diese ist kein anderes Gebot. (Markus 12,29-31)
Als Muslime sagen wir zu den Christen, daß wir nicht gegen sie sind und daß der Islam
nicht gegen sie ist – solange sie nicht Krieg gegen die Muslime wegen ihrer Religion führen,
sie unterdrücken oder sie aus ihren Wohnstätten vertreiben (entsprechend dem oben
erwähnten Vers [Al-Mumtahina, 60,8] des Heiligen Qur’ān). Darüber hinaus sagt Gott im
Heiligen Qur’ān:
{Sie sind nicht alle gleich: unter dem Volk der Schrift gibt es eine aufrechte Gemeinschaft; sie verlesen
die Zeichen Gottes während der Nachtzeiten und werfen sich nieder im Gebet. Sie glauben an Gott
und an den Jüngsten Tag, gebieten das Rechte und verwehren das Unrechte und wetteifern im
Verrichten guter Werke – jene gehören zu den Rechtschaffenen. Was sie an Gutem tun, wird ihnen
nicht aberkannt werden, und Gott weiß um die Gottesfürchtigen.} (Āl ’Imrān, 3,113-115)
Ist das Christentum zwangsläufig gegen die Muslime? Jesus Christus s.a. sagt im Evangelium:
Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut. (Matthäus 12,30)
Denn wer nicht gegen uns ist, ist für uns. (Markus 9,40)
Denn wer nicht gegen euch ist, ist für euch. (Lukas 9,50)
Abū Ja’far Muhammad ibn Jarīr al-Tabarī, Jāmi’ al-Bayyān ’an Ta’wīl al-Qur’ān, (Dār al-Kutub al-’Ilmiyya, Beirut, Libanon, 1. Ausg. 1992/1412) Kommentar zu Āl ’Imrān, 3,64; III. Bd., S. 299-302.
22
Nach Aussagen der von al-Tabarī in seinem oben erwähnten Kommentar zitierten Grammatiker bedeutet
der hier mit ‚gemeinsam’ [sawā’] übersetzte Begriff in {ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist} zugleich
‚gerecht’ und ‚fair’ [’adl].
21
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Nach der Erklärung des Neuen Testaments des Gesegneten Theophylact23 stellen diese Aussagen keinen Widerspruch dar, weil sich die erste (im griechischen Originaltext des Neuen
Testaments) auf Dämonen bezieht, während die zweite und dritte Aussage sich auf Menschen
beziehen, die Jesus anerkannten, jedoch keine Christen waren. Die Muslime erkennen Jesus
als den Messias an, wenn auch nicht in derselben Weise wie die Christen (wobei auch die
Christen selbst niemals alle einer Meinung hinsichtlich des Wesens Jesu Christi s.a. waren),
sondern in folgender Weise: {Wahrlich, der Messias, Jesus der Sohn der Maria, ist Gottes Gesandter
und Sein Wort, welches Er in Maria gelegt hat, und eine Seele von Ihm ...} (Al-Nisā’, 4,171). Aus
diesem Grunde laden wir die Christen dazu ein, die Muslime im Sinne der erwähnten Worte
Jesu Christi s.a. als ‚nicht gegen sie’ und deshalb ‚mit ihnen’ zu betrachten.
So fordern wir, als Muslime und im Gehorsam gegenüber dem Heiligen Qur’ān, die Christen
auf, mit uns auf der Grundlage der gemeinsamen Hauptbestandteile unserer beider
Religionen zusammen zu kommen {... daß wir allein Gott dienen und wir Ihm nichts zur Seite
stellen ...} (Āl ’Imrān, 3,64). Laßt diese verbindende Gemeinsamkeit die Grundlage allen
künftigen interreligösen Dialoges zwischen uns sein, denn unsere Gemeinsamkeit besteht
in dem, woran das ganze Gesetz hängt und die Propheten (Matthäus 22,40). Gott sagt im
Heiligen Qur’ān:
{Sprecht „Wir glauben an Gott und an das, was uns herabgesandt wurde, und was Abraham,
Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen (Israels) herabgesandt wurde, und was Moses und Jesus
gegeben wurde, und was den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde – wir machen zwischen
ihnen keinen Unterschied – und Ihm sind wir ergeben.“ Wenn sie dann glauben, woran ihr glaubt,
werden sie rechtgeleitet sein; wenn sie sich jedoch abwenden, geraten sie in Widersprüche. Dann
wird Gott dir ihnen gegenüber genüge sein, und Er ist der Allhörende, der Allwissende.} (Al-Baqara,
2,136-137)
Zwischen Uns und Euch
Verbindende Gemeinsamkeiten zwischen Muslimen und Christen zu finden ist keineswegs
nur eine Frage des höflichen ökumenischen Dialoges zwischen einigen auserlesenen
religiösen Führern. Christen und Muslime machen, wie verlautet, mehr als ein Drittel
beziehungsweise mehr als ein Fünftel der Menschheit aus. Zusammen stellen sie mehr als 55%
der Weltbevölkerung, was die Beziehung zwischen diesen beiden Religionsgemeinschaften
zum wichtigsten Faktor hinsichtlich ihres Beitrags zu einem echten Frieden in der gesamten
Welt macht. Wenn zwischen Muslimen und Christen kein Frieden herrscht, kann es in der
Der Gesegnete Theophylact (1055-1108 n. Chr.) war von 1090 n. Chr. bis zu seinem Tode der orthodoxe
Erzbischof von Ochrid und Bulgarien; seine Muttersprache war das Griechische des Neuen Testaments.
Eine englische Übersetzung seines Kommentars ist unter dem Titel The Blessed Theophylact’s Exploitation of
the New Testament bei Chrysostom Press erhältlich.
23
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EZW-Texte Nr. 202/2009
Welt keinen Frieden geben. Angesichts der schrecklichen Waffenarsenale der modernen
Welt und eines nie zuvor dagewesenen Grades an Verflechtungen zwischen Muslimen und
Christen kann keine Seite einen Konflikt, an dem mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung
beteiligt ist, einseitig gewinnen. Infolgedessen steht unsere gemeinsame Zukunft auf dem
Spiel. Vielleicht steht gar das Weiterbestehen dieser Welt als solcher auf dem Spiel.
Denjenigen, die sich dennoch aus eigennützigen Motiven an Konflikten und Zerstörung
ergötzen oder letztendlich von diesen zu profitieren glauben, sagen wir, daß unsere
unsterblichen Seelen selbst auf dem Spiel stehen, wenn wir nicht aufrichtig alle nur
denkbaren Anstrengungen unternehmen, Frieden zu schließen und in Eintracht zusammen
zu finden. Gott sagt im Heiligen Qur’ān: {Wahrlich, Gott gebietet die Gerechtigkeit, das Gute sowie
Freigiebigkeit gegenüber den Anverwandten, und Er verbietet das Schändliche, das Verwerfliche
und die Gewalttätigkeit; Er ermahnt euch, auf daß ihr es beherzigen möget.} (Al-Nahl, 16,90) Jesus
Christus s.a. sagte: Glückselig sind die Friedensstifter (Matthäus 5,9) und darüber hinaus: Denn
was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewönne, aber seine Seele einbüßte?
(Matthäus 16,26).
Darum laßt unsere Differenzen nicht zur Ursache von Haß und Streit zwischen uns werden.
Laßt uns stattdessen wetteifern in Rechtschaffenheit und guten Werken. Laßt uns einander
respektieren, fair, gerecht und freundlich zueinander sein, und in aufrichtigem Frieden,
Eintracht und gegenseitigem Wohlwollen miteinander leben. Gott sagt im Heiligen Qur’ān:
{Und Wir haben dir die Schrift mit der Wahrheit herabgesandt, in Bestätigung dessen, was ihr
an Schrift voranging, und als Wächter über sie. So richte zwischen ihnen gemäß dem, was Gott
herabgesandt hat. Und folge nicht ihren Neigungen anstelle dessen, was dir von der Wahrheit
zugekommen ist. Für jeden von euch haben Wir ein göttliches Gesetz und eine Lebensweise
bestimmt. Und hätte Gott gewollt, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch
Er prüft euch in dem, was Er euch zuteil werden ließ. So wetteifert in guten Taten! Zu Gott wird euer
aller Rückkehr sein, dann wird Er euch darlegen, worüber ihr uneins ward.} (Al-Mā’ida, 5,48)
Wal-Salāmu ’Alaykum
Pax Vobiscum.
© 2007 n. Chr., 1428 H.,
The Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought, Jordan
Siehe: www.acommonword.org oder: www.acommonword.com
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Unterzeichner (in alphabetischer Reihenfolge)*
His Royal Eminence Sultan Muhammadu Sa’ad Ababakar
The 20th Sultan of Sokoto; Leader of the Muslims of Nigeria
H. E. Shaykh Dr. Hussein Hasan Abakar
Imam of the Muslims, Chad; President, Higher Council for Islamic Affairs, Chad
H. E. Prof. Dr. Abdul-Salam Al-Abbadi
President of Aal Al-Bayt University; Former Minister of Religious Affairs, Jordan
Prof. Dr. Taha Abd Al-Rahman
President of the Wisdom Circle for Thinkers and Researchers, Morocco; Director of Al-Umma Al-Wasat Magazine,
International Union of Muslim Scholars
Imam Feisal Abdul Rauf
Co-founder and Chairman of the Board of the Cordoba Initiative; Founder of die ASMA Society (American Society for
Muslim Advancement); Imam of Masjid Al-Farah, NY, NY, USA
Sheikh Muhammad Nur Abdullah
Vice President of the Fiqh Council of North America, USA
Dr. Shaykh Abd Al-Quddus Abu Salah
President of the International League for Islamic Ethics; Editor of the Journal for Islamic Ethics, Riyadh, Saudi Arabia
H. E. Prof. Dr. Abd Al-Wahhab bin Ibrahim Abu Solaiman
Member of the Committee of Senior Ulama, Saudi Arabia
Dr. Lateef Oladimeji Adegbite
Acting Secretary and Legal Adviser, Nigerian Supreme Council for Islamic Affairs
H. E. Amb. Prof. Dr. Akbar Ahmed
Ibn Khaldun Chair of Islamic Studies, American University in Washington D. C., USA
H. E. Judge Prince Bola Ajibola
Former International High Court Judge; Former Minister of Justice of Nigeria; Former Attorney-General of Nigeria;
Founder of the Crescent University and Founder of the Islamic Movement of Africa (IMA)
H. E. Prof. Dr. Kamil Al-Ajlouni
Head of National Centre for Diabetes; Founder of the Jordanian University of Science and Technology (JUST), Former
Minister and Former Senator, Jordan
Shaykh Dr. Mohammed Salim Al-’Awa
Secretary General of the International Union of Muslim Scholars; Head of the Egyptian Association for Culture and
Dialogue
Mr. Nihad Awad
National Executive Director and Co-founder of the Council on American-Islamic Relations (CAIR), USA
H. E. Prof. Dr. Al-Hadi Al-Bakkoush
Former Prime Minister of Tunisia, Author
*
36
Anm. d. Übers.: Titel, Anreden, Titel und Referenzen der Unterzeichner wurden im englischen Original
belassen.
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H. E. Shaykh Al-Islam Dr. Allah-Shakur bin Hemmat Bashazada
Grand Mufti of Azerbaijan and Head of the Muslim Administration of the Caucasus
H. E. Dr. Issam El-Bashir
Secretary General of the International Moderation Centre, Kuwait; Former Minister of Religious Affairs, Sudan
H. E. Prof. Dr. Allamah Shaykh Abd Allah bin Mahfuz bin Bayyah
Professor, King Abdul Aziz University, Saudi Arabia; Former Minister of Justice, Former Minister of Education and
Former Minister of Religious Affairs, Mauritania; Vice President of the International Union of Muslim Scholars;
Founder and President, Global Center for Renewal and Guidance
Dr. Mohamed Bechari
President, Federal Society for Muslims in France; General Secretary of the European Islamic Conference (EIC), France;
Member of the International Fiqh Academy
Prof. Dr. Ahmad Shawqi Benbin
Director of the Hasaniyya Library, Morocco
Prof. Dr. Allamah Shaykh Muhammad Sa’id Ramadan Al-Buti
Dean, Dept of Religion, University of Damascus, Syria
Prof. Dr. Mustafa Çağrici
Mufti of Istanbul Turkey
H. E. Shaykh Prof. Dr. Mustafa Cerić
Grand Mufti and Head of Ulema of Bosnia and Herzegovina
Professor Ibrahim Chabbuh
Director General of the Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought, Jordan; President of the Association for the
Safeguarding of the City of Qayrawan, Tunisia
H. E. Prof. Dr. Mustafa Cherif
Muslim Intellectual; Former Minister of Higher Education and Former Ambassador, Algeria
Dr. Caner Dagli
Assistant Professor, Roanoke College, USA
Ayatollah Prof. Dr. Seyyed Mostafa Mohaghegh Damad
Dean of Department of Islamic Studies, The Academy of Sciences of Iran; Professor of Law and Islamic Philosophy,
Tehran University; Fellow, The Iranian Academy of Sciences, Iran; Former Inspector General of Iran
Ayatollah Seyyed Abu Al-Qasim Al-Deebaji
Imam Zayn Al-Abideen Mosque, Kuwait
H. E. Prof. Dr. Shakir Al-Fahham
Head of the Arabic Language Academy, Damascus; Former Minister of Education, Syria
Shaykh Seyyed Hani Fahs
Member of Supreme Shia Committee, Lebanon; Founding Member of the Arab Committee for the Islamic-Christian
Dialogue, and the Permanent Committee for the Lebanese Dialogue
H. E. Shaykh Salim Falahat
Director General of the Muslim Brotherhood, Jordan
Chief Abdul Wahab Iyanda Folawiyo
Member, Supreme Council for Islamic Affairs of Nigeria; Vice President, Jamaat Nasril Islam
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H. E. Shaykh Ravil Gainutdin
Grand Mufti of Russia
Justice Ibrahim Kolapo Sulu Gambari
Justice of Nigerian Court of Appeal; National Vice Chairman, Nigerian Football Association (NFA)
Prof. Dr. Abd Al-Karim Gharaybeh
Historian and Senator, Jordan
H. E. Prof. Dr. Abdullah Yusuf Al-Ghoneim
Director of the Kuwaiti Centre for Research and Studies on Kuwait; Former Minister of Education, Kuwait
H. E. Prof. Dr. Bu Abd Allah bin al-Hajj Muhammad AI Ghulam Allah
Minister of Religious Affairs, Algeria
Prof. Dr. Alan Godlas
Co-Chair, Islamic Studies, University of Georgia, USA; Editor-in-chief, Sufi News and Sufism World Report; Director,
Sufis Without Borders
H. E. Shaykh Nezdad Grabus
Grand Mufti of Slovenia
H. E. Shaykh Dr. Al-Habib Ahmad bin Abd Al-Aziz Al-Haddad
Chief Mufti of Dubai, UAE
Shaykh Al-Habib Ali Mashhour bin Muhammad bin Salim bin Hafeeth
Imam of the Tarim Mosque and Head of Fatwa Council, Tarim, Yemen
Shaykh Al-Habib Umar bin Muhammad bin Salim bin Hafeeth
Dean, Dar Al-Mustafa, Tarim, Yemen
Professor Dr. Farouq Hamadah
Professor of the Sciences of Tradition, Mohammad V University, Morocco
Shaykh Hamza Yusuf Hanson
Founder and Director, Zaytuna Institute, CA, USA
H. E. Shaykh Dr. Ahmad Badr Al-Din Hassoun
Grand Mufti of the Republic of Syria
H. E. Shaykh Sayyed Ali bin Abd Al-Rahman Al-Hashimi
Advisor to the President for Judiciary and Religious Affairs, UAE
Prof. Dr. Hasan Hanafi
Muslim Intellectual, Department of Philosophy, Cairo University
Shaykh Kabir Helminski
Shaykh of the Mevlevi Tariqah; Co-Director of the Book Foundation, USA
H. E. Shaykh Sa’id Hijjawi
Chief Scholar, The Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought; Former Grand Mufti of Jordan
H. E. Prof. Dr. Shaykh Ahmad Hlayyel
Chief Islamic Justice of Jordan; Imam of the Hashemite Court; Former Minister of Religious Affairs
H. E. Amb. Dr. Murad Hofmann
Author and Muslim Intellectual, Germany
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H. E. Dr. Anwar Ibrahim
Former Deputy Prime Minister of Malaysia; Honorary President of Account Ability
H. E. Shaykh Dr. Izz Al-Din Ibrahim
Advisor for Cultural Affairs, Prime Ministry, UAE
H. E. Prof. Dr. Ekmeleddin Ihsanoglu
Secretary-General, Organization of the Islamic Conference (OIC)
H. E. Prof. Dr. Omar Jah
Secretary of the Muslim Scholars Council, Gambia; Professor of Islamic Civilization and Thought, University of
Gambia
H. E. Prof. Dr. Abbas Al-Jarari
Advisor to HM the King, Morocco
Shaykh Al-Habib Ali Zain Al-Abidin Al-Jifri
Founder and Director, Taba Institute, United Arab Emirates
H. E. Shaykh Prof. Dr. Ali Jum’a
Grand Mufti of the Republic of Egypt
Prof. Dr. Yahya Mahmud bin Junayd
Secretary General, King Faisal Centre for Research and Islamic Studies, Saudi Arabia
Dr. Ibrahim Kalin
Director, SETA Foundation, Ankara, Turkey; Asst. Prof. Georgetown University, USA
H. E. Amb. Aref Kamal
Muslim Intellectual, Pakistan
Professor Dr. Abla Mohammed Kahlawi
Dean of Islamic and Arabic Studies, Al-Azhar University (Women’s College), Egypt
Prof. Dr. Said Hibatullah Kamilev
Director, Moscow Institute of Islamic Civilisation, Russian Federation
Prof. Dr. Hafiz Yusuf Z. Kavakci
Resident Scholar, Islamic Association of North Texas, Founder & Instructor of IANT Qur’anic Academy; Founding
Dean of Suffa Islamic Seminary, Dallas, Texas, USA
Shaykh Dr. Nuh Ha Mim Keller
Shaykh in the Shadhili Order, USA
Prof. Dr. Mohammad Hashim Kamali
Dean and Professor, International Institute of Islamic Thought and Civilization (ISTAC), International Islamic
University, Malaysia
Shaykh Amr Khaled
Islamic Missionary, Preacher and Broadcaster, Egypt; Founder and Chairman, Right Start Foundation International
Prof. Dr. Abd Al-Karim Khalifah
President of the Jordanian Arabic Language Academy; Former President of Jordan University
H. E. Shaykh Ahmad Al-Khalili
Grand Mufti of die Sultanate of Oman
EZW-Texte Nr. 202/2009
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Seyyed Jawad Al-Khoei
Secretary-General, Al-Khoei International Foundation
Shaykh Dr. Ahmad Kubaisi
Founder of the ’Ulema Organization, Iraq
Mr. M. Ali Lakhani
Founder and Editor of Sacred Web: A Journal of Tradition and Modernity, Canada
Dr. Joseph Lumbard
Assistant Professor, Brandeis University, USA
H. E. Shaykh Mahmood A. Madani
Secretary General Jamiat Ulama-i-Hind; Member of Parliament, India
H. E. Prof. Dr. Abdel-Kabeer Al-Alawi Al-Madghari
Director General of Bayt Mal Al-Quds Agency (Al-Quds Fund); Former Minister of Religious Affairs, Morocco
H. E. Imam Sayyed Al-Sadiq Al-Mahdi
Former Prime Minister of Sudan; Head of Ansar Movement, Sudan
H. E. Prof. Dr. Rusmir Mahmutcehajic
Professor, Sarajevo University; President of die International Forum Bosnia; Former Vice President of the Government
of Bosnia and Herzegovina
Allamah Shaykh Sayyed Muhammad bin Muhammad Al-Mansour
High Authority (Marja’) of Zeidi Muslims, Yemen
Prof. Dr. Bashshar Awwad Marouf
Former Rector of the Islamic University, Iraq
H. E. Prof. Dr. Ahmad Matloub
Former Minister of Culture; Acting President of the Iraqi Academy of Sciences, Iraq
Prof. Dr. Ingrid Mattson
Professor of Islamic Studies and Christian-Muslim Relations and Director, Islamic Chaplaincy Program, Hartford
Seminary; President of the Islamic Society of North America (ISNA), USA
Dr. Yousef Meri
Special Scholar-in-Residence, Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought, Jordan
Dr. Jean-Louis Michon
Author; Muslim Scholar; Architect; Former UNESCO expert, Switzerland
Shaykh Abu Bakr Ahmad Al-Milibari
Secretary-General of the Ahl Al-Sunna Association, India
Pehin Dato Haj Suhaili bin Haj Mohiddin
Deputy Grand Mufti, Brunei
Ayatollah Sheikh Hussein Muayad
President and Founder, Knowledge Forum, Baghdad, Iraq
Prof. Dr. Izzedine Umar Musa
Professor of Islamic History, King Sa’ud University, Saudi Arabia
40
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Prof. Dr. Mohammad Farouk Al-Nabhan
Former Director of Dar Al-Hadith Al-Hasaniya, Morocco
Prof. Dr. Zaghloul El-Naggar
Professor, King Abd Al-Aziz University, Jeddah, Saudi Arabia; Head, Committee on Scientific Facts in the Glorious
Qur’an, Supreme Council on Islamic Affairs, Egypt
Mr. Sohail Nakhooda
Editor-in-Chief, Islamica Magazine, Jordan
Prof. Dr. Hisham Nashabeh
Chairman of the Board of Higher Education; Dean of Education at Makassed Association, Lebanon
H. E. Professor Dr. Seyyed Hossein Nasr
University Professor of Islamic Studies, George Washington University, Washington D.C, USA
Prof. Dr. Aref Ali Nayed
Former Professor at the Pontifical Institute for Arabic and Islamic Studies (Rome); Former Professor at International
Institute for Islamic Thought and Civilization (ISTAC, Malaysia); Senior Advisor to the Cambridge Interfaith Program
at the Faculty of Divinity in Cambridge, UK
H. E. Shaykh Sevki Omarbasic
Grand Mufti of Croatia
Dato Dr. Abdul Hamid Othman
Advisor to the H. E. the Prime Minister of Malaysia
Prof. Dr. Ali Ozek
Head of the Endowment for Islamic Scientific Studies, Istanbul, Turkey
Imam Yahya Sergio Yahe Pallavicini
Vice President of CO.RE.IS., Italy, Chairman of lSESCO Council for Education and Culture in the West, Advisor for
Islamic Affairs of the Italian Minister of lnterior.
H. E. Shaykh Dr. Nuh Ali Salman Al-Qudah
Grand Mufti of the Hashemite Kingdom of Jordan
H. E. Shaykh Dr. Ikrima Said Sabri
Former Grand Mufti of Jerusalem and All of Palestine, Imam of the Blessed Al-Aqsa Mosque, and President of the
Islamic Higher Council, Palestine
Ayatollah Al-Faqih Seyyed Hussein Ismail Al-Sadr
Baghdad, Iraq
Mr. Muhammad Al-Sammak
Secretary-General of the National Council for Islamic-Christian Dialogue; Secretary-General for die Islamic Spiritual
Summit, Lebanon
Shaykh Seyyed Hasan Al-Saqqaf
Director of Dar Al-Imam Al-Nawawi, Jordan
Dr. Ayman Fuad Sayyid
Historian and Manuscript Expert, Former Secretary General of Dar al-Kutub Al-Misriyya, Cairo, Egypt
Prof. Dr. Suleiman Abdallah Schleifer
Professor Emeritus, The American University in Cairo
EZW-Texte Nr. 202/2009
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Dr. Seyyed Reza Shah-Kazemi
Author and Muslim Scholar, UK
Dr. Anas Al-Shaikh-Ali
Chair, Association of Muslim Social Scientists, UK; Chair, Forum Against Islamophobia and Racism, UK; Academic
Advisor, IIIT, UK
Imam Zaid Shakir
Lecturer and Scholar-in-Residence, Zaytuna Institute, CA, USA
H. E. Prof. Dr. Ali Abdullah Al-Shamlan
Director General of the Kuwait Foundation for the Advancement of Sciences (KFAS); Former Minister of Higher
Education, Kuwait
Eng. Seyyed Hasan Shariatmadari
Leader of the Iranian National Republican Party (INR)
Dr. Muhammad Alwani Al-Sharif
Head of the European Academy of Islamic Culture and Sciences, Brussels, Belgium
H. E. Dr. Mohammad Abd Al-Ghaffar Al-Sharif
Secretary-General of the Ministry of Religious Affairs, Kuwait
Dr. Tayba Hassan Al-Sharif
International Protection Officer, The United Nations High Commissioner for Refugees, Darfur, Sudan
Prof. Dr. Muhammad bin Sharifa
Former Rector of Wajda University; Morocco; Fellow of the Royal Moroccan Academy
Prof. Dr. Muzammil H. Siddiqui / on behalf of the whole Fiqh Council of North America
Islamic Scholar and Theologian; Chairman of the Fiqh Council of North America, USA
Shaykh Ahmad bin Sa’ud Al-Siyabi
Secretary General of the Directorate of the Grand Mufti, Oman
Al-Haji Yusuf Maitama Sule
Former Nigerian Permanent Representative to the United Nations; Former Nigerian Minister of National Guidance
Prof. Dr. Muhammad Abd Al-Rahim Sultan-al-Ulama
Deputy-Dean of Scientific Research Affairs, United Arab Emirates University, UAE
Shaykh Dr. Tariq Sweidan
Director-General of the Risalah Satellite Channel
H. E. Shaykh Ahmad Muhammad Muti’i Tamim
The Head of the Religious Administration of Ukrainian Muslims, and Mufti of Ukraine
H. E. Shaykh Izz Al-Din Al-Tamimi
Senator; Former Chief Islamic Justice, Minister of Religious Affairs and Grand Mufti of Jordan
H. E. Shaykh Dr. Tayseer Rajab Al-Tamimi
Chief Islamic Justice of Palestine; Head of The Palestinian Center for Religion and Civilization Dialogue
Prof. Dr. H. R. H. Prince Ghazi bin Muhammad bin Talal
Personal Envoy and Special Advisor of H. M. King Abdullah II; Chairman of the Board of the Royal Aal al-Bayt Institute
for Islamic Thought, Jordan
42
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Prof. Dr. Ammar Al-Talibi
Former Member of Parliament, Professor of Philosophy, University of Algeria
Ayatollah Shaykh Muhammad Ali Taskhiri
Secretary General of the World Assembly for Proximity of Islamic Schools of Thought (WAPIST), Iran
H. E. Prof. Dr. Shaykh Ahmad Muhammad Al-Tayeb
President of Al-Azhar University, Former Grand Mufti of Egypt
Prof. Dr. Muddathir Abdel-Rahim Al-Tayib
Professor of Political Science and Islamic Studies, International Institute of Islamic Thought and Civilization (ISTAC),
Malaysia
H. E. Amb. Prof. Dr. Abdel-Hadi Al-Tazi
Fellow of the Royal Moroccan Academy
H. E. Shaykh Naim Trnava
Grand Mufti of Kosovo
H. E. Dr. Abd Al-Aziz bin ’Uthman Al-Tweijiri
Director-General of the Islamic Educational, Scientific and Cultural Organization (ISESCO)
H. E. Prof. Dr. Nasaruddin Umar
Rector of the Institute for Advanced Qur’anic Studies; Secretary General of the Nahdhatul Ulama Consultative
Council; Lecturer at the State Islamic University Syarif Hidayatullah, Jakarta, Indonesia
Shaykh Muhammad Hasan ’Usayran
Jafari Mufti of Sidon and Al-Zahrani, Lebanon
Allamah Justice Mufti Muhammad Taqi Usmani
Vice President, Darul Uloom Karachi, Pakistan
Prof. Dr. Akhtarul Wasey
Director, Zakir Husain Institute of Islamic Studies, Jamia Milla Islamiya University, India
Shaykh Dr. Abdal Hakim Murad Winter
Shaykh Zayed Lecturer in Islamic Studies, Divinity School, University of Cambridge; Director of the Muslim Academic
Trust, UK
Prof. Dr. Mohammed El-Mokhtar Ould Bah
President, Chinguitt Modern University, Mauritania
H. E. Shaykh Muhammad Sodiq Mohammad Yusuf
Former Grand Mufti of the Muslim Spiritual Administration of Central Asia, Uzbekistan; Translator and Commentator
of the Holy Qur’an
Prof. Dr. Shaykh Wahba Mustafa Al-Zuhayli
Dean, Department of Islamic Jurisprudence, University of Damascus, Syria
H. E. Shaykh Mu’ammar Zukoulic
Mufti of Sanjak, Bosnia
Quelle: www.acommonword.com/lib/downloads/EIN_WORT_DAS_UNS_UND_EUCH_GEMEINSAM_IST.pdf
EZW-Texte Nr. 202/2009
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2. Ein Kommuniqué muslimischer Gelehrter anlässlich
der Begegnung „Für eine Welt ohne Gewalt:
Religionen und Kulturen im Dialog“1
(Neapel, 21. bis 23. Oktober 2007)
Im Namen Gottes, des Erbarmenden, des Barmherzigen
Mögen Segen und Friede mit dem Propheten Muhammad
und allen Propheten und Gesandten Gottes sein
Wir grüßen Sie mit Gottes Frieden. Wir möchten den Gastgebern und Organisatoren der
Gemeinschaft von Sant’Egidio danken. Sie haben nun seit mehreren Jahren sehr hart
gearbeitet, und wir schätzen und unterstützen ihre friedliebenden Bemühungen.
Muslimische Gelehrte sind heute bei Ihnen als Antwort auf die freundliche Einladung
der Gemeinschaft von Sant’Egidio, in der Hoffnung, das Andenken und den Impuls der
interreligiösen Arbeit von Assisi des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. lebendig zu
erhalten. Seine Einstellungen und Gesten gegenüber dem Islam waren immer gütig und
wurden von Muslimen stets sehr geschätzt. Wir sind hier, um das positive Werk von Johannes
Paul II. und der Gemeinschaft von Sant’Egidio zu stärken.
Die Herzen vieler Muslime heute sind voller Wertschätzung für die aufgeklärten und
freundlichen Antworten, die Muslime bereits von vielen Kirchenführern verschiedener
Konfessionen und aus einigen der wichtigsten Weltzentren theologischer Gelehrsamkeit
(wie z. B. den Universitäten von Cambridge, Georgetown, Yale und Princeton) erhalten haben.
Sie können auf der speziell eingerichteten Website www.acommonword.com eingesehen
werden.
Diese Antworten haben den jüngsten Brief begrüßt, der von 138 muslimischen Gelehrten
unterzeichnet wurde, die alle Richtungen des Mainstream-Islam repräsentieren. Er schlägt
die Liebe zu dem Einen Gott und die Nächstenliebe als die grundlegenden Fundamente für
muslimisch-christliche Beziehungen und muslimisch-christlichen Dialog vor.
Jedoch warten Muslime immer noch auf eine eigene Antwort Seiner Heiligkeit Papst
Benedikt XVI. auf diese beispiellose Initiative. Eine erste vorsichtig positive Antwort des wieder
etablierten Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog wandelte sich einige Tage später
schnell ins Negative. Seine Eminenz Kardinal Jean-Louis Tauran, Präsident des Päpstlichen
Rates für den Interreligiösen Dialog, sagte in einem Interview mit der französischen
katholischen Tageszeitung La Croix am Freitag, 19. Oktober: „Muslime akzeptieren nicht,
Siehe www.santegidio.org/en/ecumenismo/uer/2007/intro.htm.
1
44
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dass man den Koran gründlich diskutieren kann, denn sie sagen, er sei per Diktat Gottes
geschrieben worden. Mit einer solch absoluten Interpretation ist es schwer, die Inhalte des
Glaubens zu diskutieren.“
Diese Einstellung, so scheint es Muslimen, verfehlt den eigentlichen Sinn von Dialog. Dialog
findet definitionsgemäß zwischen Menschen unterschiedlicher Sichtweisen statt, nicht
zwischen Menschen derselben Sichtweise. Beim Dialog geht es nicht darum, der anderen
Seite die eigene Sichtweise aufzuzwingen oder darüber zu befinden, was die andere Seite
leisten oder nicht leisten kann – nicht einmal darüber, was die andere Seite glaubt. Dialog
beginnt mit einer offenen Hand und einem offenen Herzen. Er schlägt eine Agenda vor, legt
sie aber nicht einseitig fest. Es geht darum, auf die andere Seite zu hören, wenn sie frei für sich
selbst redet, wie auch darum, die eigene Denkweise zum Ausdruck zu bringen. Sein Zweck ist
es, herauszufinden, wo Gemeinsamkeiten sind, um sich darin zu begegnen und dadurch die
Welt besser, friedlicher, harmonischer und liebevoller zu machen. Aus diesem Grund haben
die Gelehrten Gemeinsamkeiten beider Seiten für den Dialog auf der Grundlage der Liebe
zu Gott und der Nächstenliebe vorgeschlagen. Leider wird selbst das jährliche Grußwort zum
’Id 2, das während der Amtszeit Johannes Pauls II. in freundlicher Absicht eingeführt worden
war, neuerdings zur Polemik genutzt.
Wir appellieren an Seine Heiligkeit Papst Benedikt XVI., die Prinzipien von Assisi und das Erbe
des vielgeliebten Johannes Paul II. fortzuführen. Wir appellieren an ihn, die von unseren
Gelehrten gestartete Initiative mit demselben Wohlwollen zu begrüßen, das bereits für ihre
Aufnahme bei so vielen Christen – führenden Persönlichkeiten, Theologen und gewöhnlichen
Gläubigen – kennzeichnend war.
Indes werden wir deo volente mit allen aufrichtigen Männern und Frauen guten Willens,
einschließlich der Katholiken, wie unsere Kollegen von der Gemeinschaft von Sant’Egidio
auf eine friedliche und harmonische Welt hinarbeiten.
Möge der Herr die ganze Welt und unser aller Leben in Seinen Frieden und Sein Erbarmen
einschließen.
Gott weiß es am besten.
Quelle des englischen Textes: www.acommonword.com/index.php?page=new&item=1
Anmerkung des Übersetzers: Damit ist das Fest (arabisch: ’id) des Fastenbrechens am Ende des Ramadan
gemeint.
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45
A nt wo r te n
u nd
R ea ktion en
3. Center for Faith and Culture, Yale Divinity School
(Yale Statement)
Miteinander Gott und den Nächsten lieben
Eine christliche Antwort auf
„Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“
Im Namen des Allbarmherzigen1 Gottes, den wir mit unserem ganzen Wesen lieben sollen
Präambel
Als Mitglieder der weltweiten christlichen Gemeinschaft wurden wir sehr ermutigt und
herausgefordert durch den historisch bedeutsamen offenen Brief, der kürzlich von 138
führenden muslimischen Gelehrten, Geistlichen und Intellektuellen aus der ganzen Welt
unterzeichnet wurde. „Ein Wort, das euch und uns gemeinsam ist“ identifiziert einige
zentrale Gemeinsamkeiten von Christentum und Islam, die sowohl unseren jeweiligen
Glaubensüberzeugungen als auch der ältesten abrahamischen Religion, dem Judentum,
zugrunde liegen. Die Aufforderung Jesu Christi, Gott und den Nächsten zu lieben, war in
der göttlichen Offenbarung an das Volk Israel verwurzelt, die ihren Ausdruck in der Torah
findet (Deuteronomium 6,5; Leviticus 19,18). Wir empfangen den offenen Brief als eine
von Muslimen den Christen weltweit dargebotene Hand des Zusammenlebens und der
Zusammenarbeit. In dieser Antwort reichen wir im Gegenzug unsere eigene christliche
Hand, auf dass wir auf dem Weg der Liebe zu Gott und unseren Nächsten zusammen mit
allen anderen Menschen in Frieden und Gerechtigkeit leben mögen.
Muslime und Christen haben sich nicht immer in Freundschaft die Hände gereicht; ihre
Beziehungen waren manchmal angespannt oder sogar von offener Feindschaft geprägt. Jesus
Christus spricht: „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter
Anmerkung des Übersetzers: Im englischen Original heißt es strenggenommen nicht „Allbarmherzig“, sondern „Unendlich Gut“ oder „Allgütig“ („Infinitely Good“). Allerdings verweist diese Bezeichnung für Gott hier
auf die in „Ein Wort, das euch und uns gemeinsam ist“ zitierte Fatiha (die erste Sure des Koran). Der dort
verwendete arabische Begriff ar-rahman bedeutet „(All)barmherziger“, „(All)gnädiger“ oder „(All)erbarmer“.
1
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aus deines Bruders Auge ziehst“ (Matthäus 7,5).2 Daher möchten wir mit der Anerkennung
beginnen, dass in der Vergangenheit (z. B. bei den Kreuzzügen) und der Gegenwart (z. B.
in Auswüchsen des „Kriegs gegen den Terror“) viele Christen der Versündigung an unseren
muslimischen Nächsten schuldig geworden sind. Bevor wir als Antwort auf Ihren Brief „Ihre
Hand ergreifen“, bitten wir den Allgnädigen und die muslimische Gemeinschaft auf der
ganzen Welt um Vergebung.
Religionsfrieden – Weltfrieden
„Muslime und Christen zusammen stellen weit über die Hälfte der Weltbevölkerung
dar. Ohne Frieden und Gerechtigkeit zwischen diesen beiden Religionsgemeinschaften
kann es keinen echten Frieden in der Welt geben.“3 Wir teilen die von den muslimischen
Unterzeichnern in diesen Eröffnungszeilen des offenen Briefes ausgedrückte Empfindung.
Friedliche Beziehungen zwischen Muslimen und Christen stellen eine der zentralen
Herausforderungen dieses Jahrhunderts und vielleicht der gesamten derzeitigen Epoche
dar. Obwohl Spannungen, Konflikte und sogar Kriege, in denen sich Christen und Muslime
feindlich gegenüberstehen, nicht primär religiösen Charakters sind, weisen sie eine
unbestreitbar religiöse Dimension auf. Wenn wir Religionsfrieden zwischen diesen beiden
religiösen Gemeinschaften verwirklichen können, wird offenkundig auch der Weltfrieden
leichter erreichbar. Es ist daher nicht übertrieben, was Sie in „Ein Wort, das uns und euch
gemeinsam ist“ geschrieben haben: „Die Zukunft der Welt hängt vom Frieden zwischen
Muslimen und Christen ab.“
Gemeinsamkeiten
Das Außergewöhnliche an „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ ist nicht, dass seine
Unterzeichner den Entscheidungscharakter des jetzigen Zeitpunkts in den Beziehungen
zwischen Muslimen und Christen würdigen. Es ist eher die tiefe Einsicht und der große
Mut, mit denen sie die Gemeinsamkeiten der muslimischen und der christlichen
Religionsgemeinschaft aufgezeigt haben. Was uns gemeinsam ist, besteht nicht in Dingen,
die marginal oder nur für eine der beiden wichtig sind. Es besteht vielmehr in etwas, das für
beide absolut zentral ist: der Liebe zu Gott und der Nächstenliebe. Überraschend für viele
Christen hält Ihr Brief das Doppelgebot der Liebe für das fundamentale Prinzip nicht nur des
A.d.Ü.: Dieser Vers und nachfolgende Bibelverse werden nach der Lutherbibel in der Fassung von 1984
zitiert.
3
A.d.Ü.: Dieses Zitat aus dem englischen Original von „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ und
nachfolgende Zitate daraus richten sich nach der dieser Dokumentation vorangestellten Übersetzung von
Abd al-Hafidh Wentzel.
2
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christlichen Glaubens, sondern auch des Islam. Dass so viel Gemeinsamkeit – Gemeinsamkeit
in einigen der Fundamentalfragen des Glaubens – existiert, lässt hoffen, dass unleugbare
Differenzen und sogar der sehr reale Druck von außen, der auf uns lastet, nicht die
gemeinsamen Grundlagen überschatten können, auf denen wir miteinander stehen. Dass
diese gemeinsamen Grundlagen in der Liebe zu Gott und dem Nächsten bestehen, macht
Hoffnung, dass tiefgreifende Kooperation zwischen uns ein Markenzeichen der Beziehungen
zwischen unseren beiden Gemeinschaften sein kann.
Die Liebe zu Gott
Wir begrüßen, dass „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ so eindringlich die
ausschließliche Hingabe an einen Gott, ja die Liebe zu Gott, als die erste Pflicht jedes
Gläubigen betont. Allein Gott verlangt mit Recht unsere äußerste Treue. Wenn irgendjemand
oder irgendetwas außer Gott unsere äußerste Treue verlangt – ein Herrscher, eine Nation,
wirtschaftlicher Fortschritt oder was auch immer – dienen wir am Ende Götzen und werden
unausweichlich in tiefgreifende und tödliche Konflikte verstrickt.
Wir finden es ebenso ermutigend, dass der Gott, den wir über alle Dinge lieben sollen, als
Liebe beschrieben wird. In der muslimischen Tradition ist Gott „der Herr der Welten“, „der
Allbarmherzige und Allgnädige“.4 Und das Neue Testament sagt klar: „Gott ist die Liebe“
(1. Johannes 4,8). Da Gottes Güte unendlich und durch nichts begrenzt ist, lässt Gott laut den
im Evangelium niedergelegten Worten Jesu Christi (Matthäus 5,45) „seine Sonne aufgehen
über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“.
Für Christen sind die Liebe der Menschheit zu Gott und Gottes Liebe zur Menschheit eng
verknüpft. Wie wir im Neuen Testament lesen: „Lasst uns lieben, denn er [Gott] hat uns zuerst
geliebt“ (1. Johannes 4,19). Unsere Liebe zu Gott entspringt der Liebe Gottes zu uns und wird
von ihr genährt. Es kann nicht anders sein, denn der Schöpfer, der über alle Dinge Macht hat,
ist allbarmherzig.5
Nächstenliebe
Wir erkennen tiefe Ähnlichkeiten mit unserem eigenen christlichen Glauben, wenn „Ein Wort,
das uns und euch gemeinsam ist“ darauf besteht, dass die Liebe die herausragendste unserer
Pflichten gegenüber unseren Nächsten sei. „Keiner von euch glaubt wirklich, bis er für seinen
Nächsten das liebt, was er für sich selbst liebt“, sprach der Prophet Muhammad. Ähnlich lesen
A.d.Ü.: Damit wird auf die Verse zwei und drei der in „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ zitierten
fatiha, der ersten Sure des Koran, Bezug genommen (vgl. Fn. 1).
5
A.d.Ü.: Auch hier hat das englische Original „infinitely good“, dt. „unendlich gut“ (vgl. Fn. 1).
4
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wir im Neuen Testament: „Wer nicht [den Nächsten] liebt, der kennt Gott nicht“ (1. Johannes
4,8) und: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht
sieht“ (1. Johannes 4,20). Gott ist die Liebe, und unsere höchste Berufung als menschliche
Wesen ist es, dem Einen nachzueifern, den wir anbeten.
Wir begrüßen, dass Sie sagen, „Gerechtigkeit und Religionsfreiheit sind unverzichtbarer
Bestandteil der Nächstenliebe.“ Wenn Gerechtigkeit fehlt, kann es weder Liebe zu Gott noch
Nächstenliebe geben. Wenn die Freiheit zur Anbetung Gottes nach dem eigenen Gewissen
eingeschränkt wird, wird Gott entehrt, der Nächste unterdrückt und weder Gott noch der
Nächste geliebt.
Da Muslime danach streben, ihre christlichen Nächsten zu lieben, seien sie nicht gegen sie,
stellt das Dokument ermutigend fest. Stattdessen seien Muslime mit ihnen. Bei uns als Christen
findet dieses Empfinden großen Anklang. Unser Glaube lehrt, dass wir mit unseren Nächsten
sein müssen – ja, dass wir zu ihren Gunsten handeln müssen – selbst wenn unsere Nächsten
sich als unsere Feinde erweisen. „Ich aber sage euch“, spricht Jesus Christus, „liebt eure Feinde
und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn
er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute“ (Matthäus 5,44-45). Unsere Liebe, sagt
Jesus Christus, muss der Liebe des unendlich guten Schöpfers nacheifern; unsere Liebe muss
so bedingungslos sein wie die Gottes – und sich auf Brüder, Schwestern, Nächste und sogar
Feinde erstrecken. Am Ende seines Lebens betete Jesus Christus persönlich für seine Feinde:
„Vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23,34)
Der Prophet Muhammad hat ähnlich gehandelt, als er von den Einwohnern von Ta’if gewaltsam
zurückgewiesen und mit Steinen beworfen wurde, indem er sagte: „Das tugendhafteste
Verhalten ist, sich denen zuzuwenden, die Beziehungen abbrechen, denen zu geben, die dir
nicht geben, und denen zu vergeben, die dir Unrecht tun.“ (Es ist vielleicht bedeutsam, dass
es der christliche Sklave ’Addas war, der nach der Vertreibung des Propheten Muhammad
aus Ta’if zu Muhammad hinausging, ihm Nahrung brachte, ihn küsste und ihn umarmte.)
Die Aufgabe, die vor uns liegt
„Lasst diese verbindende Gemeinsamkeit“ – die zweifache Gemeinsamkeit der Liebe zu Gott
und dem Nächsten – „die Grundlage allen künftigen interreligiösen Dialogs zwischen uns
sein“, drängt Ihr mutiger Brief. In der Tat: In der Großzügigkeit, mit der der Brief geschrieben
ist, verkörpern Sie, was Sie fordern. Wir stimmen von ganzem Herzen zu. Wir müssen allen
„Hass und Streit“ ablegen und in den interreligiösen Dialog treten als solche, die einander
Gutes wollen, denn der eine Gott will unaufhörlich unser Gutes. In der Tat glauben wir wie
Sie, dass wir über einen „höflichen ökumenischen Dialog zwischen einigen auserlesenen
religiösen Führern“ hinausgelangen und unablässig zusammen dafür arbeiten müssen, die
Beziehungen zwischen unseren Gemeinschaften und unseren Nationen neu zu gestalten, so
dass sie wirklich unsere gemeinsame Liebe zu Gott und zueinander widerspiegeln.
EZW-Texte Nr. 202/2009
49
Angesichts der tiefen Brüche in den heutigen Beziehungen zwischen Christen und Muslimen
ist die vor uns liegende Aufgabe einschüchternd. Und es steht viel auf dem Spiel. Die Zukunft
der Welt hängt von unserer Fähigkeit als Christen und Muslime ab, zusammen in Frieden zu
leben. Sie erinnern uns zu Recht daran, dass auch „unsere unsterblichen Seelen“ auf dem
Spiel stehen, wenn wir es unterlassen, jedwede Anstrengung zu unternehmen, um Frieden
zu schließen und in Eintracht zusammenzukommen.
Wir sind davon überzeugt, dass unser nächster Schritt sein sollte, dass sich unsere Führer
auf allen Ebenen treffen, um in ernsthafter Arbeit darüber zu befinden, wie Gott von uns
die Maßgabe der Liebe zu Ihm und zueinander erfüllt haben will. Mit Bescheidenheit
und Hoffnung empfangen wir Ihren großzügigen Brief und verpflichten uns dazu, uns
miteinander in Herz, Seele, Geist und Kraft für die von Ihnen so zutreffend aufgestellten Ziele
einzusetzen.
Harold W. Attridge,
Dekan und Lillian Claus-Professor für Neues Testament, Yale Divinity School
Miroslav Volf,
Gründer und Direktor des Yale Center for Faith and Culture, Henry B. Wright-Professor für
Theologie, Yale University
Joseph Cumming,
Direktor des Programms für Versöhnung, Yale Center for Faith and Culture
Emilie M. Townes,
Andrew Mellon-Professorin für afroamerikanische Religion und Theologie und designierte
Präsidentin der American Academy of Religion
12. Oktober 2007
Quelle des englischen Textes:
www.yale.edu/faith/downloads/Christian response to A Common Word 11-07.pdf
50
EZW-Texte Nr. 202/2009
4.
Barnabas Fund
Antwort auf den offenen Brief und Aufruf von religiösen
Führern der Muslime an die religiösen Führer der Christen
vom 13. Oktober 2007
Einleitung
Zum Ende des diesjährigen Ramadan wurde mit Datum vom 13. Oktober 2007 „Ein
offener Brief und Aufruf von religiösen Führern der Muslime“ veröffentlicht. Der Brief war
an Papst Benedikt XVI. und 26 andere namentlich genannte Oberhäupter christlicher Glau­
bens­gemeinschaften, aber auch an „Führer christlicher Kirchen überall ...“ gerichtet. Er
ist vordergründig eine Darstellung der islamischen Lehre von der Liebe zu Gott und der
Nächstenliebe.
Der Brief wurde vom „Royal Aal al-Bayt Institute for Islamic Thought“ (Königliches Aal alBayt-Institut für Islamisches Denken) organisiert, einer in Amman (Jordanien) ansässigen
Nichtregierungsorganisation, die vom jordanischen Königshaus unterstützt wird. Es bemüht
sich, eine geeinte Führerschaft von muslimischen Gelehrten herzustellen, die für die weltweite
muslimische Gemeinschaft sprechen und die internationale Stimme des Mainstream-Islam
werden könnte.
Ein Jahr nach einem von 38 Muslimen unterzeichneten Brief an den Papst (im Oktober 2006)
scheint der „offene Brief und Aufruf“ einige Dringlichkeit zu signalisieren. Ist er Indiz für
die Angst, der Westen erwache endlich angesichts der Realität islamischer Absichten und
müsse daher beruhigt, gar betäubt werden in Anbetracht der Möglichkeit einer bewussten
islamischen Expansion in den Westen? Oder ist er Indiz einer wachsenden muslimischen
Zuversicht und eines Bewusstseins islamischer Stärke, wobei der Brief selbst Teil einer Strategie
der Islamisierung der „christlichen“ Welt ist? Ferner: Hat das Ausbleiben einer Antwort von
Papst Benedikt auf den Brief von 38 Muslimen den neuen Brief mit 100 weiteren Namen
schließlich ausgelöst?
Die Unterzeichner
Die 138 Unterzeichner umfassen eine große Bandbreite führender Muslime aus 43
Nationen, die diverse sunnitische, zwölferschiitische, zaiditische, ibaditische und sufistische
Anhängerschaften repräsentieren. Darunter sind Traditionalisten, Islamisten und mehrere
liberale Muslime. Einige der Unterzeichner sind muslimische Führungspersönlichkeiten, die
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51
für ihre gemäßigten und friedlichen Absichten wohlbekannt sind, wie etwa Professor Akbar
Ahmed, Dr. Alan Godlas, Hamza Yusuf Hanson and Seyyed Hossein Nasr.
Allerdings beinhaltet die Liste auch einige Personen, die für ihre islamistisch-extremistischen
Neigungen bekannt sind, Wahhabiten, Mitglieder der Muslimbruderschaft oder Deobandis.
Dazu gehören zum Beispiel verschiedene saudisch-wahhabitische Würdenträger: Mohammed Salim Al-‘Awa (ägyptische Muslimbruderschaft), Salim Falahat, Generaldirektor der
jordanischen Muslimbruderschaft, Ikrima Said Sabri, Imam der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem,
und Muhammad Taqi Usmani (Deoband). Von manchen sind radikale und aggressive Aussagen gegen Christen und Juden und zugunsten des globalen Dschihad belegt.
Die angesprochene Leserschaft
Zwar war der offene Brief an eine bestimmte Gruppe von christlichen Führern gerichtet,
aber der Umstand, dass er durch die Weltmedien weithin verbreitet wurde, bedeutet, dass
die Weltöffentlichkeit als weitere Leserschaft angesprochen ist. Zudem legen eine gewisse
Terminologie des Briefes und die Auswahl der zitierten Koranstellen nahe, dass der Brief
auch für die weltweite muslimische Leserschaft bestimmt ist. Es ist im islamischen Diskurs
nicht unüblich, dass unterschiedliche Botschaften an unterschiedliche Adressaten gerichtet
werden. Dies wird von der islamischen Doktrin der taqiyya (Verheimlichung) ermöglicht,
die Muslimen gestattet, unter bestimmten Umständen andere zu täuschen. Es scheint, dass
das christliche Vokabular des Briefes christliche Leser zu der irrigen Schlussfolgerung führen
soll, der Islam und das Christentum seien im Grunde genommen identische Religionen, die
den Akzent auf die Liebe zu Gott und zum Nächsten setzen. Die versteckten Botschaften an
Muslime sind in den vielen polemischen Zitaten aus dem Koran enthalten.
Ein weiteres Beispiel für den zu beobachtenden Gebrauch von taqiyya ist, dass die Bedeutung
mancher Wörter in der arabischen Version des Briefes sich von der in der englischen Version
unterscheidet. Zum Beispiel ist das in der arabischen Version des Briefes für „Nächster“
verwendete Wort dschar, ein Begriff, der lediglich geographische Bedeutung besitzt.1 Es ist
nicht äquivalent mit dem biblisch-hebräischen Wort für Nächster, re‘a (das Verwandtschaft
bezeichnet, sogar bis hin zu Bruder- oder Schwesternschaft). Es gibt jedoch ein anderes
arabisches Wort für „Nächster“, das der Bedeutung des hebräischen re‘a näherkommt und
hätte verwendet werden können. Dies ist das Wort qarib, das in arabischen Bibeln gebraucht
wird und eine engere Übersetzung des biblischen Originals darstellt. Es sollte außerdem
erwähnt werden, dass Jesus Christus nicht der von arabischen Christen benutzte Name
(Yasu‘ al-Masih), sondern dessen islamische Version (’Isa al-Masih) gegeben wird.
Anmerkung des Übersetzers: Dschar bedeutet „Nachbar“ im engeren Sinne und entspricht damit zwar
dem englischen neighbour, trägt aber nicht dessen religiöser Bedeutung (im Deutschen: „Nächster“)
Rechnung.
1
52
EZW-Texte Nr. 202/2009
Der Brief betrachtet die Welt, als würde sie nur aus Islam, Christentum und Judentum
bestehen. Andere Weltreligionen wie Hinduismus, Buddhismus usw. oder gar säkulare und
agnostische oder atheistische Menschen dieser Welt finden keine Erwähnung. Das könnte
die traditionelle islamische Klassifizierung von Nichtmuslimen als Juden und Christen auf
der einen und „Ungläubigen“ oder „Heiden“ auf der anderen Seite widerspiegeln. Während
Juden und Christen im Islam eines Platzes in einer islamischen Gesellschaft würdig erachtet
werden, wenn auch mit einem Status zweiter Klasse, so wird Ungläubigen überhaupt kein
Platz zugedacht (dem klassischen Islam zufolge sollten sie sogar getötet werden, wenn
sie nicht zum Islam konvertieren). Dies ist vielleicht der Grund für die Marginalisierung von
„Ungläubigen“ in dem Brief.
Gewiss ist die Ansicht, dass westliche Staaten im Grunde christlich seien und bei der
Verfolgung ihrer nationalen Interessen vor allem an christlich-religiöse Beweggründe denken
würden, ein grundlegender Fehlschluss des Briefes. Dies wird von Muslimen sehr häufig
irrtümlich so wahrgenommen und ist ein Indiz dafür, wie viel wichtiger der Glaube dem
„durchschnittlichen“ Muslim ist als dem durchschnittlichen Westler.
Zwischen den Zeilen lesen
Oberflächlich gesehen erscheint der Brief als ein gutgemeinter und dringender Appell für
ein besseres Verständnis zwischen Muslimen und Christen, um einen apokalyptischen Krieg
zwischen den beiden größten religiösen Blöcken der Welt abzuwenden.
Wenn zwischen Muslimen und Christen kein Frieden herrscht, kann es in der Welt keinen Frieden
geben (...) Das Weiterbestehen dieser Welt als solcher steht gar auf dem Spiel (...) Darum lasst unsere
Differenzen nicht zur Ursache von Hass und Streit zwischen uns werden.2
Allerdings gibt der Brief dann den Handlungen von Christen die Schuld an allen Kriegen, an
denen Muslime und Christen beteiligt sind.
Als Muslime sagen wir zu den Christen, dass wir nicht gegen sie sind und dass der Islam
nicht gegen sie ist – solange sie nicht Krieg gegen die Muslime wegen ihrer Religion führen, sie
unterdrücken oder sie aus ihren Wohnstätten vertreiben. [Hervorhebung durch den Verfasser]
Dies impliziert, dass der Krieg gegen islamistischen Terrorismus ein globaler Krieg des
Christentums gegen den Islam und das Christentum der Aggressor gegen den Islam sei (was
der radikal-islamistischen Ansicht entspricht). Es gibt kein Gefühl des Bedauerns oder der Reue
angesichts des Unrechts, das Christen von Muslimen in der Geschichte angetan wurde oder
auch derzeit in vielen muslimischen Ländern angetan wird. Es wird nicht anerkannt, dass die
Dinge an vielen Orten umgekehrt stehen mögen, dass dort Muslime Christen unterdrücken
und sie aus ihren Wohnstätten vertreiben (z. B. im Irak und Sudan, in Nigeria, Indonesien und
A.d.Ü.: Die Zitate aus dem „offenen Brief und Aufruf“ sind der Übersetzung von Abd al-Hafidh Wentzel
entnommen, die dieser Dokumentation vorangestellt ist.
2
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53
Pakistan). Es wird nicht erwähnt, dass christliche Gemeinschaften in muslimischen Ländern
noch auf andere Weise Verfolgung und Diskriminierung erleiden. Es wird nicht zugegeben,
dass muslimische Taten irgendeinen Anteil an der Entfremdung zwischen Muslimen und
Christen gehabt haben könnten.
Die liberalen muslimischen Führer, die den Brief unterzeichneten, scheinen der islamistischen
Argumentation zugestimmt zu haben, die alle Christen einer Neigung zu Feindseligkeit, Hass
und Aggressivität gegenüber Muslimen beschuldigt. Somit enthält ein augenscheinlich
moderater Appell zur Versöhnung tatsächlich einen warnenden und drohenden Subtext:
„Handelt wie wir sagen, und ihr könnt zu unseren Bedingungen Frieden haben.“ Dies ist
nämlich die normale Bedeutung von Frieden im Islam – Frieden für diejenigen, die sich der
islamischen Herrschaft unterwerfen (und Krieg für diejenigen, die das nicht tun).
Der klassische Islam lehrt, dass die Welt in zwei Teile unterteilt sei: Dar al-Islam (das Haus des
Islam), wo die politische Macht in Händen von Muslimen ist, und Dar al-Harb (das Haus des
Krieges), das den Rest der Welt umfasst. Dies bedenkend, erscheint der „offene Brief und
Aufruf“ als Besinnung auf die traditionelle islamische Herangehensweise an Nichtmuslime
außerhalb des Hauses des Islam. Diese Herangehensweise bestand aus einem „Aufruf zum
Islam“ (d. h. einem Aufruf, zum Islam zu konvertieren) einschließlich der Drohung, dass
wenn die Nichtmuslime nicht konvertierten, sie einem zerstörerischen militärischen Angriff
(dschihad) ausgesetzt würden. Dieser war dazu bestimmt, Juden und Christen zu bezwingen
und andere Nichtmuslime zu vernichten. Daher rührt der Name „Haus des Krieges“ für
nichtislamisches Territorium. Nur wenn die Nichtmuslime den Islam annehmen oder sich der
islamischen politischen Macht unterwerfen, können sie den Angriff abwenden. Angesichts
dieser Tradition kann die muslimische Warnung des Jahres 2007 an Nichtmuslime bezüglich
der Vermeidung von Krieg auf eine vollkommen andere Weise gelesen werden. Sehen
manche der muslimischen Unterzeichner sie als den traditionellen Aufruf und die Warnung
kurz vor einem bevorstehenden Angriff auf Nichtmuslime, einem Angriff, der islamische
Vorherrschaft erringen soll? Das Wort „Aufruf“ im Titel des Dokuments selbst gibt einen
gewichtigen Hinweis in dieser Richtung, zumindest muslimischen Lesern.
Ein Ausdruck islamischer Mission (da‘wa)
Obwohl er als interreligiöser Dialog präsentiert wird, kann der Brief genauso als klassisches
Beispiel islamischer da‘wa (Mission) betrachtet werden. Er ist ein Aufruf, das muslimische
Konzept von der Einheit Gottes (tauhid) zu akzeptieren und folglich die inkompatiblen
christlichen Ansichten von der Dreieinigkeit und der Göttlichkeit Christi zurückzuweisen.
Bei ihrer Betonung des Monotheismus und der Einheit Gottes zitieren die muslimischen
Führer einige Verse des Koran, die das muslimische Konzept von einem Gott ohne Teilhaber
und ohne Partner ausdrücken – Verse, die traditionell immer als direkter Angriff auf die
grundlegenden christlichen Glaubenslehren von der Dreieinigkeit und Christi Göttlichkeit
54
EZW-Texte Nr. 202/2009
interpretiert wurden. Zum Beispiel fordert der Koranvers 3,64, der mehrere Male in dem Brief
zitiert wird, von dem Volk der Schrift (Juden und Christen) die Einwilligung, Gott keine Partner
zuzuschreiben und keine anderen Herren neben ihm anzunehmen.3
Sprich: „O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das uns und euch gemeinsam ist: 4 dass
wir niemandem außer Gott dienen und wir ihm nichts zur Seite stellen, und dass nicht die einen von
uns die anderen anstelle von Gott zu Herren nehmen.“ Wenn sie sich jedoch abwenden, dann sagt:
„Bezeugt, dass wir Gottergebene sind!“ (Al ’Imran, 3,64)
Dieser Koranvers wurde immer als Aufruf zur Ablehnung der Dreieinigkeit und der Göttlichkeit
Christi verstanden. In dem saudisch finanzierten englischen Koran von Hilali und Khan
(Interpretation of the Meanings of the Noble Qur‘an in the English Language, dt.: Interpretation der
Bedeutungen des ehrwürdigen Koran in die englische Sprache, veröffentlicht von Darussalam
in Riad) hat dieser Vers eine Fußnote, die ein von Muhammad an den byzantinischen
Kaiser Herakleios gesandtes Schreiben zitiert. Darin hatte er den Kaiser und sein Volk dazu
aufgerufen, den Islam anzunehmen, unter der Drohung, die Ablehnung des Aufrufs würde zu
schwerwiegenden Konsequenzen führen. Es ist möglich, dass eine ähnliche Geisteshaltung
hinter dem Brief steht, in dem dieser Vers so oft zitiert wird.
Andere Koranzitate in dem Brief haben eine ähnliche Botschaft bezüglich der Einheit Gottes:
[Hervorhebung durch den Verfasser]
Unter den Menschen gibt es solche, die sich neben Gott andere als Seinesgleichen nehmen,
und diese lieben, wie man Gott liebt. (Al-Baqara, 2,165)
Sprich: „Wahrlich, mein Gebet und mein Opfer, mein Leben und mein Sterben gehören Gott, dem
Herrn der Welten. / Er hat keinen Partner ... (Al-An‘am, 6,162-164)
Traditionen des hadith5 werden zitiert, um dasselbe Leitmotiv zu stützen:
Das Beste, das ich gesagt habe – ich selbst und die Propheten, die vor mir kamen – ist: Es gibt keine
Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner ... (Sunan al-Tirmidhi, Kitab al-Da‘awat,
Bab al-Du‘a fi Yaum ’Arafah, Hadith Nr. 3934)
A.d.Ü.: Die Koranzitate wurden zur Wahrung der Kontinuität innerhalb dieser Dokumentation der Übersetzung des offenen Briefes durch Wentzel entnommen; lediglich grobe Abweichungen von der wissenschaftlichen Standardübersetzung Rudi Parets (Stuttgart/Berlin/Köln 92004) werden angemerkt. Die
hadith-Zitate entsprechen ebenfalls der Übersetzung von Wentzel.
4
A.d.Ü.: Paret übersetzt hier „Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs (?) zwischen uns und euch!“
5
A.d.Ü.: Der Begriff des hadith wird erst im folgenden Abschnitt näher erläutert.
3
EZW-Texte Nr. 202/2009
55
Derjenige, der einhundert Mal am Tag sagt: „Es gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er
besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht
über alle Dinge“, ist wie einer, der zehn Sklaven freilässt, und ihm werden einhundert rechtschaffene
Taten gutgeschrieben und einhundert seiner schlechten Taten werden gelöscht, und es ist für ihn
ein Schutz vor dem Satan an diesem Tag bis zum Abend. Und niemand kommt mit etwas Besserem
als er – außer einem, der mehr tut als dies. (Sahih al-Bukhari, Kitab Bad‘ al-Khalq, Bab Sifat Iblis
wa Dschunudihi, Hadith Nr. 3329)
Sprecht (O ihr Muslime): „Wir glauben an Gott und an das, was uns herabgesandt wurde, und was
Abraham, Ismael, Isaak, Jakob, und den Stämmen (Israels) herabgesandt wurde, und was Moses
und Jesus gegeben wurde, und was den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde – wir machen
zwischen ihnen keinen Unterschied – und Ihm sind wir ergeben.“ / Wenn sie dann glauben,
woran ihr glaubt, werden sie rechtgeleitet sein; wenn sie sich jedoch abwenden, geraten sie in
Widersprüche. Dann wird Gott dir ihnen gegenüber genüge sein,6 und Er ist der Allhörende, der
Allwissende. (Al-Baqara, 2,136-137)
Laut einem der ältesten und anerkanntesten Kommentare (tafsir) des Heiligen Koran – dem
Dschami‘ al-Bayan fi ta‘wil al-Qur‘an des Abu Dscha‘far Muhammad ibn Dscharir al-Tabari
(gest. 310 H./923 n.Chr.) – bedeuten die Worte „dass nicht die einen von uns die anderen anstelle
von Gott zu Herren nehmen“, dass „keiner von uns Gehorsam im Ungehorsam gegenüber den
Geboten Gottes leisten sollte, noch sie verherrlichen sollte, indem er sich vor ihnen in der
Weise verneigt, wie man sich vor Gott verneigt.“
Eine versteckte Botschaft für Muslime?
Es ist ungewöhnlich, dass islamische Gelehrte ihre Darlegung islamischer Glaubenslehren
nur auf den Koran stützen. Normalerweise streben die Gelehrten danach, den Koran
unter Bezugnahme auf den hadith (Überlieferungen der sunna, d. h. der Worte und
Taten Muhammads und seiner Gefährten), durch tafsir (die islamische Wissenschaft von
der Interpretation des Koran) und durch andere islamische akademische Disziplinen zu
verstehen. Im Hauptteil des Briefes gibt es wenige Zitate aus dem hadith (allerdings sind
einige weitere in den Fußnoten). Jedoch haben alle zitierten Koranverse Interpretationen
im hadith und tafsir, Interpretationen, die Muslimen wohlbekannt und in der Regel weit
aggressiver gegenüber Christen, Juden und anderen Nichtmuslimen sind als von dem
Brief dargestellt. Folglich würden viele muslimische Leser allein anhand des Vorgangs der
selektiven Anführung von Koranzitaten eine versteckte Botschaft erkennen, nämlich dass
dies kein Brief der Besänftigung, sondern ein Aufruf zum Islam in der Tradition Muhammads
A.d.Ü.: Paret übersetzt: „Wenn sie sich aber abwenden, sind sie eben in der Opposition. Doch Gott wird dir
(als Helfer) gegen sie genügen.“
6
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EZW-Texte Nr. 202/2009
und seiner Gefährten und der frühen Kalifen ist. In diesem Kontext ist es immer der Aufruf,
sich dem Islam zu unterwerfen und die islamische Vorherrschaft zu akzeptieren.
Zum Beispiel wird die fatiha (die erste Sure des Koran) angeführt und als bedeutendstes
Kapitel des Koran präsentiert, das die Menschen an ihre Pflicht erinnert, Gott für seine Gnade
und Güte zu lobpreisen und ihm dankzusagen. Darin enthalten sind die Verse sechs und
sieben:
Führe uns den geraden Weg, den Weg jener, auf denen Dein Wohlgefallen ruht, nicht den
derer, die Deinen Zorn verdienen, noch den derjenigen, die irregehen. [Hervorhebung durch den
Verfasser]
In muslimischen Interpretationen und Kommentaren zu diesen Versen wird erläutert, dass
diejenigen, die Gottes Zorn verdienen, die Juden seien, während diejenigen, die irregehen,
die Christen seien. In der Tat bezieht die saudisch geförderte englische Übersetzung des
Koran von Hilali und Khan diese Interpretation ausdrücklich in den Text des Koran selbst ein:
Führe uns zu dem geraden Weg. Den Weg jener, denen Du Deine Gnade verliehen hast, nicht (den
Weg) jener, die sich Deinen Zorn verdient haben (wie die Juden) oder jener, die irregegangen sind
(wie die Christen).
Die meisten Menschen im Westen begreifen schlichtweg nicht, was der Vers bedeutet, wenn
sie ihn lesen wie in dem Brief zitiert. Für Muslime, die den Brief lesen, ist die Bedeutung klar:
ein Aufruf an Christen und Juden, Gottes Zorn und Gericht durch Annahme des Islam zu
vermeiden.
Die Liebe zu Gott im Islam
Der Brief behauptet, dass der Islam viel über die Liebe zu Gott zu sagen hätte. Zum Beispiel
zitiert er ein hadith von Muhammad, das Gott mit einer Folge koranischer Ausdrücke
beschreibt: „Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt
der Lobpreis.“ Der Brief versichert, dass jeder Ausdruck „eine Form, Gott zu lieben und Ihm
ergeben zu sein“ beschreibt.
Eine ähnliche Behauptung befindet sich am Ende des Abschnitts über die Liebe zu Gott, in
einer Passage, in der der Ausdruck „Er besitzt keinen Partner“ zweimal wiederholt wird:
Angesichts dessen, was, wie wir gesehen haben, notwendigerweise mit dem segensreichen
Ausspruch des Propheten Muhammad (Gott segne ihn und schenke ihm Heil!): „Das Beste, das ich
gesagt habe – ich selbst und die Propheten, die vor mir kamen – ist: Es gibt keine Gottheit
außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der
Lobpreis, und Er besitzt Macht über alle Dinge“ [al-Tirmidhi, Kitab al-Da‘awat, Bab al-Du‘a fi
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Yaum ‘Arafah, Hadith Nr. 3934] impliziert und bewirkt wird, können wir vielleicht nun die Worte
„das Beste, das ich gesagt habe – ich selbst und die Propheten, die vor mir kamen“ als präzise
Gleichsetzung der gesegneten Formel „es gibt keine Gottheit außer Gott, Er ist Allein, Er besitzt
keinen Partner, Sein ist die Herrschaft und Ihm gebührt der Lobpreis, und Er besitzt Macht
über alle Dinge“ mit dem „Ersten und Obersten Gebot“, Gott von ganzem Herzen und ganzer Seele
zu lieben, wie es an verschiedenen Stellen in der Bibel zu finden ist, verstehen. Damit ist gemeint,
dass der Prophet Muhammad (Gott segne ihn und schenke ihm Heil!) vielleicht, durch Eingebung,
das Erste Gebot der Bibel erneut formulierte und sich darauf bezog. Gott weiß dies am besten,
doch mit Sicherheit haben wir die tatsächliche Ähnlichkeit in der Bedeutung feststellen können.
Wir wissen darüber hinaus (wie den Anmerkungen zu entnehmen ist), dass beide Formeln eine
weitere bemerkenswerte Parallele aufweisen: die Art und Weise, wie sie in einer Reihe von leicht
unterschiedlichen Versionen in verschiedenen Zusammenhängen auftauchen, die trotzdem
allesamt die Vorrangigkeit vollkommener Liebe zu und Hingabe an Gott betonen.
In diesem Teil des Briefes wird argumentiert, Muhammads Betonung der Einheit Gottes,
der „keinen Partner“ hat, sei eine Neuformulierung des biblischen Gebots, Gott mit ganzem
Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüt zu lieben. Der Brief sagt, die beiden
Konzepte hätten eine ähnliche Bedeutung, obwohl dies schwerlich aus einer direkten Lektüre
der beiden Texte geschlossen werden kann.
Vielleicht hofften die Autoren des Briefes, dass ihnen geglaubt würde, wenn sie Christen
einfach mitteilten, zwei unterschiedliche Aussagen wären in Wirklichkeit dieselben. Eine
andere Möglichkeit ist, dass sie die muslimische Überzeugung im Hinterkopf gehabt haben
könnten, christliche und jüdische Schriften wären verzerrt worden und Muhammads Aussage
sei die Berichtigung der verfälschten biblischen Lehre zu ihrer ursprünglichen Bedeutung.
Dass das Thema der Liebe zu Gott und dem Nächsten als im Mittelpunkt des Islam stehend
dargestellt wird, ist erneut eine Verdrehung der Wahrheit. Wie im Anhang angeführt,7 ist die
Liebe im Islam nur ein Thema unter vielen und gehört nicht zu seinen zentralen Themen.
Damit soll nicht gesagt werden, dass der Koran es versäumt, die Liebe Gottes überhaupt zu
erwähnen (denn das tut er), sondern dass die Gewichtung sich sehr von der in der christlichen
Bibel unterscheidet, in der die Liebe in der Tat das zentrale Thema ist.
Nächstenliebe im Islam
Der Brief behauptet, dass die Nächstenliebe ein dem Islam und dem Christentum
gemeinsames Konzept sei. Jedoch ignoriert er die Tatsache, dass die muslimische Auffassung
von Nächstenliebe nur innerhalb des begrenzten Spielraums der schari‘a wirken kann.
Folglich kann es im Islam keine absolute Liebe für alle Menschen wie im Christentum geben.
A.d.Ü.: Auf eine Übersetzung des Anhangs wurde in dieser Dokumentation verzichtet.
7
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Der Islam behandelt bestimmte Gruppen von Menschen auf bestimmte Weise: Christen und
Juden sind zu erniedrigen und als Untertanen zweiter Klasse unter islamische Herrschaft zu
bringen; Ungläubige müssen den Islam annehmen oder getötet werden; Apostaten sind zu
töten, falls sie nicht zum Islam zurückkehren; als häretisch erachtete islamische Sekten sind zu
bekämpfen und zu vernichten. Also ist „der Nächste“ im Islam ein sehr beschränktes Konzept:
Es ist auf Mitmuslime derselben Tradition beschränkt.
Wie wir bereits gesehen haben, ist das in dem Brief für „der Nächste“ gewählte arabische
Wort (dschar) nicht eines, das wie in der Bibel die Nuance von Verwandtschaft aufweist,
sondern ein anderes, das lediglich geographische Bedeutung besitzt. Selbst wenn man diese
eingeschränkte Definition des „Nächsten“ anwendet, zeigt die islamische Geschichte nicht
viel Liebe im Umgang der Muslime mit jenen, die bei ihnen leben, seien es Nichtmuslime
oder Muslime einer anderen Tradition.
Juden werden ignoriert
Mit Ausnahme der Tatsache, dass das schema‘ (Deuteronomium 6,4,5) als zentraler Bestandteil
des Alten Testaments und der jüdischen Liturgie erwähnt wird, werden die Juden ignoriert.
Dies passt zu anderen muslimischen Bestrebungen, das Christentum von seinen jüdischen
Wurzeln abzubringen. Es zeigt auch die traditionelle Anwendung von „Teile und herrsche“Taktiken – da die Juden heutzutage quer durch die muslimische Welt als die schlimmsten
Feinde des Islam dargestellt werden, würde dies einen Versuch signalisieren, eine Allianz mit
dem Christentum gegen das Judentum zu schmieden.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten oder der Versuch,
das Christentum zu islamisieren
Der Brief scheint Teil einer fortgesetzten breiteren Anstrengung, das Christentum zu
islamisieren. Dieses Projekt präsentiert den koranischen Jesus als den echten, historischen Jesus.
Es stellt Muhammad als Jesus charakterlich ähnlich dar (Frieden und Liebe) und verunglimpft
die jüdischen und alttestamentlichen Wurzeln des Christentums (Marcionismus).
Folglich erkennen wir, dass der „offene Brief und Aufruf“ bei der Suche nach Gemeinsamkeiten
behauptet, das zentrale muslimische Konzept des unitarischen Monotheismus und die
zentralen christlichen Konzepte von der Liebe zu Gott und der Nächstenliebe seien von
beiden Religionen gehegte Glaubensüberzeugungen. Er betont, die zwei Gebote zu lieben
seien die Basis dessen, was beiden Religionen gemein ist. Die Liebe zu Gott und dem
Nächsten als Mittelpunkt des Islam darzustellen, ist jedoch bestenfalls eine Verzerrung,
schlimmstenfalls ein Akt der Täuschung.
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Die Botschaft lautet, dass, wenn Christen das islamische Konzept von der Einheit Gottes
akzeptieren (und somit die grundlegenden Glaubenslehren der Dreieinigkeit und der
Göttlichkeit Christi ablehnen), Muslime die christlichen Werte der Liebe zu Gott und dem
Nächsten als Mittelpunkt des Islam akzeptieren. Es wird also eine radikale, revolutionäre
Veränderung des Christentums im Austausch für eine oberflächliche Schwerpunkt­
verschiebung islamischer Auffassungen gefordert.
17. Oktober 2007
Quelle des englischen Textes:
www.isic-centre.org/archive-descriptive-view/34-briefings/130-response-to-open-letter-and-call-frommuslim-religious-leaders-to-christian-leaders.pdf
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5. Samir Khalil Samir SJ
Der Brief von 138 muslimischen Gelehrten
an den Papst und christliche Führer
Beirut (AsiaNews) – Der Brief von 138 islamischen Akademikern an den Papst und christliche
Führer ist ein erster positiver Schritt zum Dialog, der allerdings universaler und konkreter
werden muss. Der Brief steht explizit im Kontext einer Erweiterung des ersten Briefes,
der genau ein Jahr zuvor an Benedikt XVI. als Antwort auf seine meisterhafte Ansprache
an der Universität von Regensburg geschickt wurde: Dasselbe Datum wurde für seine
Veröffentlichung gewählt (13. Oktober 2007). Dieses Jahr fiel es mit dem Ende des Ramadan
zusammen.
Ein höchst repräsentativer Brief
Die Tatsache, dass die Zahl seiner Unterzeichner im Vergleich zum letzten Jahr angewachsen
ist, ist bemerkenswert: aus 38 – wie im letzten Jahr – wurden 138. Sie repräsentieren über
43 Nationen, muslimische und andere (insbesondere westliche Nationen). Darunter sind
Großmuftis (d. h. Leiter der fatwa in einem Land), religiöse Führer, Akademiker und Gelehrte.
Über die Repräsentanten der beiden großen sunnitischen und schiitischen Gruppen hinaus
gibt es auch Repräsentanten aus kleineren Gruppen, Sekten und sogar abweichenden
Richtungen, z. B. stark mystischen (Sufis), die hauptsächlich im Westen vertreten sind. Es gibt
beispielsweise auch Ismailiten, die sich von den Schiiten ableiten; Dschafariten, ebenfalls eine
Ableitung des schiitischen Islam; Ribaditen, eine alte Gruppierung im Islam, von der selten
gesprochen wird, die aber im Jemen vertreten ist.1
Dies deutet auf einen sich ausweitenden Konsens innerhalb eines bestimmten islamischen
Sektors hin, ein Schritt in Richtung dessen, was der Islam idschma‘ (Konsens) nennt. In der
islamischen Tradition gründet sich jeder Aspekt des Glaubens auf drei Quellen: den Koran, die
mohammedanische Tradition (hadith, d. h. die Aussprüche und das Leben von Muhammad)
und den Konsens der Gemeinschaft, in anderen Worten den idschma‘. Dieser dritte Schritt
wurde bis jetzt nie wirklich erreicht. Tatsächlich ist die islamische Welt tief gespalten: Am
einen Tag sagt ein Imam das eine, am nächsten Tag sagt er etwas anderes.
Anmerkung des Übersetzers: Sicherlich sind die Ibaditen gemeint, denen die Mehrheit der Bevölkerung
des Oman angehört.
1
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Der Brief besagt nicht, es gebe eine Übereinstimmung zwischen allen Muslimen, aber er
stellt eine abgestimmte Bewegung in Richtung auf einen gewissen Konsens dar. Diese
Konvergenz kam unter der Federführung des Königs von Jordanien und der Aal al-Bayt
(Familie des Propheten des Islam)-Stiftung zustande, die vom Onkel des Königs, Prinz Hassan,
geleitet wird. Dieser steht für das Beste im heutigen Islam im Hinblick auf Denkweise,
Offenheit und Hingabe. Als frommer und gläubiger Muslim heiratete er eine Hindu, die –
recht ungewöhnlich im modernen Islam – nicht zum Islam konvertieren musste, wie es von
den Christinnen im Westen heute verlangt wird, aber in keiner Weise im Koran vorgesehen
ist.
Der erste positive Aspekt des Briefes ist folglich die Tatsache, dass er von einer auf Einheit
bedachten Gruppe kommt und daher höchst repräsentativ ist. Der Brief ist auch repräsentativ,
da er in die ganze christliche Welt geschickt wurde. Wenn man sich die Adressaten ansieht,
kann man eine sorgfältig aufgestellte und vollständige Liste erkennen: Außer dem Papst
finden wir alle östlichen christlichen Traditionen, die Patriarchen der chalzedonischen
und prä-chalzedonischen Kirchen, dann die protestantischen Kirchen und schließlich den
Ökumenischen Rat der Kirchen. Dies zeigt deutlich, dass hinter dem Brief jemand steht, der
das Christentum und die Kirchengeschichte kennt und versteht.
I. Der Aufbau
Wenn wir uns dem Inhalt des Briefes zuwenden, fällt sofort ins Auge, dass der Titel dem Koran
entlehnt wurde: „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ (Sure von der Familie ’Imran,
3,64).2 Muhammad verfährt mit den Christen im Koran folgendermaßen. Als er sieht, dass
er mit ihnen nicht zu einer Vereinbarung kommen kann, spricht er: Kommt, lasst uns über
zumindest eine Gemeinsamkeit einig werden: dass wir keinen außer Gott anbeten sollen (die
Einheit Gottes), „und wir Ihm nichts zur Seite stellen, und dass nicht die einen von uns die
anderen anstelle von Gott zu Herren nehmen“.
Es muss angemerkt werden, dass dieses gemeinsame Wort im Koran keine genaue
Bestimmung von Muhammad in Betracht zieht. Der Satz spricht von Muhammad nicht als
Prophet oder als dem letzten Gesandten Gottes. Unterstrichen werden das gemeinsame
Wort und die Einheit Gottes – was an sich ein positiver Schritt ist, der genau vom Koran
ausgeht.
Der Aufbau des Briefes setzt sich aus drei Teilen zusammen: Der erste ist mit „Die Liebe zu
Gott“ überschrieben und in zwei Kapitel unterteilt, „Die Liebe zu Gott im Islam“ und „Die
A.d.Ü.: Die Zitate aus dem offenen Brief „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ und damit auch die
Koranzitate richten sich nach der vorangestellten Übersetzung des offenen Briefes durch Abd al-Hafidh
Wentzel. Die in der Wissenschaft üblicherweise verwendete Koranübersetzung Rudi Parets (Stuttgart /
Berlin / Köln 92004) weicht an dieser Stelle leicht ab: „Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs (?) zwischen uns und euch!“
2
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EZW-Texte Nr. 202/2009
Liebe zu Gott als erstes und oberstes Gebot in der Bibel“. In Wahrheit ist der Titel im arabischen
Original präziser, er lautet „im Evangelium“. Durch Gebrauch des Wortes „Bibel“ (die das Neue
und Alte Testament beinhaltet) kann das Judentum in den Diskurs einbezogen werden (auch
wenn der Brief nur an Christen gerichtet ist). Der zweite Teil ist betitelt „Die Nächstenliebe“
(hubb al-dschar) und auch in zwei Abschnitte unterteilt: „Nächstenliebe im Islam“ und
„Nächstenliebe in der Bibel“. Auch hier lautet das arabische Original „im Evangelium“.
Der abschließende dritte Teil nimmt sich das Koranzitat „Kommt zu einem Wort, das uns
und euch gemeinsam ist“ vor und bietet eine interessante Analyse in drei Abschnitten: „Ein
Wort, das uns gemeinsam ist“, „Kommt herbei zu einem Wort, das uns gemeinsam ist!“ und
„Zwischen uns und euch“.
II. Überlegungen zum Inhalt
Ich möchte einige Beobachtungen in Bezug auf den genannten Aufbau machen.
Zuallererst: Es gibt eine Kontinuität zwischen dem ersten und dem zweiten Brief. Der erste
Brief schloss mit der Notwendigkeit, eine Einigung auf der Grundlage der Liebe zu Gott
und zu unserem Nächsten zu erzielen. Damit wollten die Gelehrten sagen: Wir entwickeln
nun weiter, was wir als Grundlage für alle Beziehungen zwischen Islam und Christentum
angekündigt haben.
Eine überaus interessante Beobachtung ist, dass das benutzte Vokabular ein christliches
Vokabular ist, kein muslimisches. Das Wort „Nächster“ (im christlichen Sinn von Bruder) existiert
im Koran nicht; es ist typisch für das Neue Testament. In der Tat verwendet der arabische
Text nicht das Wort „Nächster / Bruder“, sondern „Nachbar“ (dschar), das nur geographische
Bedeutung besitzt (etwa ein Nachbar, der nebenan lebt) verglichen mit dem christlichen
Begriff qarib, der auch „Bruder“ bedeutet.
Das Wort „Liebe“ wird im Koran selten benutzt. Es gehört nicht einmal zu den Namen Gottes.
Es wird nie gesagt, dass Gott ein Liebender sei, auch wenn es weniger markante Synonyme
gibt. Stattdessen wird das Wort im Christentum weithin verwendet. Ferner, wenn man
den ersten Teil analysiert, die Liebe zu Gott im Islam, so würden wir Christen uns darauf als
„Gehorsam gegenüber Gott“ beziehen, nicht „Liebe“. Hier hat man es jedoch so genannt, um
sich dem christlichen Vokabular anzugleichen. Dies ist zwar ein liebenswürdiger Gedanke,
aber auch etwas gefährlich, da man den Fehler riskiert, das Thema auf sich beruhen zu lassen.
Normalerweise sprechen Muslime von der Anbetung Gottes; das Thema der Liebe zu Gott
allerdings ist ein anderer Diskurs, der freilich vom Islam nicht ausgeschlossen, sondern in der
Welt des Sufismus reichlich zu finden ist.
So oder so ist es ein Novum, dass in diesem Brief von der „Liebe zu Gott“ gesprochen wird.
Vielleicht ist es sogar eine kluge Art, sich auf Papst Benedikts erste Enzyklika (deus caritas
est) zu berufen. Es zeigt sicherlich den Wunsch, sich der christlichen Redeweise anzunähern,
auch wenn zugleich das Risiko besteht, demselben Wort zwei Bedeutungen zuzuschreiben.
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Andere Fragen des Vokabulars
In diesem Kontext verwendet die arabische Version des Briefes eine von der französischen,
italienischen oder englischen Version unterschiedliche Terminologie. Wir haben bereits
angemerkt, dass westliche Sprachen von der Bibel reden, wo das Arabische vom Evangelium
spricht. Ich werde weitere Beispiele nennen.
Beispielsweise wird in den westlichen Versionen immer „Jesus Christus“ angeführt, wenn von
Christus die Rede ist. In der arabischen Version heißt es „’Isa al-Masih“. Dieser Ausdruck ist im
Koran nicht zu finden, vielmehr ist er eine Kombination des muslimischen Namens für Jesus
(’Isa) – arabische Christen nennen ihn „Yasu‘“ – und der christlichen Bezeichnung „al-Masih“,
Christus, die im Koran vorkommt. Der Ausdruck im Koran ist „Al-Masih ’Isa Ibn Maryam“ (der
Messias ’Isa, Sohn der Maria), der übliche christliche Ausdruck dagegen „Yasu‘ al-Masih“ (Jesus
Christus). Der Text des Briefes ist übersät mit Ausdrücken aus dem Koran, vermischt mit
christlichen Ausdrücken.
Wenn die Autoren aus dem Koran und der Bibel zitieren, legen sie zweierlei Maß an. Bei
Zitaten aus dem Koran sagen sie wie jeder gute Muslim: „Gott sprach“. Wenn sie Bibelverse
zitieren, sagen sie nur „wie es im Neuen Testament steht“, „wie es im Evangelium zu lesen
ist“ usw. Dies bedeutet, dass sie bezüglich der Bibel eine wissenschaftlichere, gelehrsamere
Herangehensweise nutzen, während sie für den Koran die Terminologie eines muslimischen
Gläubigen verwenden.
Letztendlich aber ist der Inhalt wahrhaft schön: Von nun an können wir sagen, dass
Christentum, Judentum und Islam die Liebe zu Gott und dem Nächsten als Kern ihres
Glaubens haben. Dies ist ein echtes Novum, das von der islamischen Welt noch nie zuvor so
ausgedrückt wurde.
Gebrauch der Bibel
Bei Zitaten aus dem Neuen und Alten Testament betrachten die Autoren die Bibel
selbstverständlich als das Wort Gottes. Auch dies ist ein relatives Novum. Im Koran wird diese
Idee theoretisch bestätigt, aber in der Praxis zurückgewiesen. Oft halten Muslime die Bibel
für ein künstliches Produkt (muharrafa oder mubaddala3), das durch spätere Hinzufügungen
zum ursprünglichen Kern manipuliert wurde.
Die 138 gehen (in Anmerkung vier) sogar so weit, den Hl. Paulus bezüglich der Idee des
„Herzens“ zu zitieren. Der Hl. Paulus wird im Allgemeinen von der großen Mehrheit der
Muslime völlig abgelehnt. Er wird selbst als Verräter der Botschaft Jesu Christi angesehen,
die ihnen zufolge ursprünglich eine „islamische Botschaft“ gewesen sei. Oft behaupten
Muslime, Christi Botschaft sei wie die des Koran gewesen, aber Paulus habe die Dreieinigkeit,
die Erlösung durch das Kreuz und die Ablehnung des Gesetzes des Mose eingeführt. Ein
berühmtes anti-christliches Buch, das im Jahr 2000 veröffentlicht wurde und im Libanon
verboten ist, heißt „Die Entlarvung des Paulus“!
A.d.Ü.: Arabisch für „verfälscht“ oder „verdreht“.
3
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All diese kleinen Zeichen zeigen einen echten Wunsch nach Dialog auf der Ebene der Sprache
und der biblischen Zeugnisse. Es gibt sogar einige Anspielungen auf das Hebräische, um es in
diese Vision zu integrieren. Indem zum Beispiel der Begriff „Volk der Schrift“ verwendet wird,
ist klar, dass es einen Bezug zu den Juden gibt, auch wenn der Diskurs offiziell an Christen
gerichtet ist.
III. Positive Würdigung und eine kritische Lektüre
Lassen Sie uns nun versuchen, andere positive Aspekte dieses Dokuments zu erkennen
und gleichzeitig auf seine Lücken und auf Elemente hinzuweisen, die das Bedürfnis nach
tieferer Reflexion hervorrufen. Kurz gesagt, ich möchte eine kritische Lektüre des Briefes
durchführen.
Die Suche nach einer gemeinsamen Grundlage – aber keiner universalen
Ich habe den Eindruck, dass es hinsichtlich des Inhalts des Briefes recht einfach ist, eine
Einigung zu erreichen, wenn wir auf dieser Ebene bleiben. Die angewendete Methode
besteht darin, Auszüge von heiligen Texten zu wählen, die parallel gesetzt werden können.
Im Koran gibt es Texte, die im Widerspruch zum Christentum stehen, aber man hat diejenigen
gewählt, die näher und ähnlicher sind. Das ist ein wichtiger Schritt, aber wenn wir auf dieser
Ebene bleiben, riskieren wir, einen auf Mehrdeutigkeiten basierenden Dialog zu führen.
Wie dem auch sei, als ein erster Schritt ist es sinnvoll, unsere gemeinsamen Grundlagen
hervorzuheben.
Selbst in der christlichen Tradition gibt es eine Suche nach einer gemeinsamen Grundlage
mit anderen Religionen und Kulturen. Diese Grundlage basiert aus christlicher Sicht nicht auf
der Bibel oder dem Koran, denn das würde Nichtgläubige ausschließen. Die gemeinsame
Grundlage ist das Naturrecht, wobei die Gebote als natürliche Gesetze gesehen werden. Eine
solche allgemeine Ethik wird selbst von Atheisten akzeptiert.
In einer Rede vor der Internationalen Theologenkommission am 5. Oktober vergangenen
Jahres sprach der Papst vom natürlichen Sittengesetz, um „die Grundlagen einer universalen
Ethik zu rechtfertigen und darzulegen, die zum großen Erbe der menschlichen Weisheit
gehört, das in gewisser Weise eine Teilhabe des vernunftbegabten Geschöpfes am ewigen
Gesetz Gottes darstellt“.4 Benedikt XVI. fuhr dann fort in Bezug auf den Katechismus der
katholischen Kirche (Nr. 1955): „Angelpunkt des Sittengesetzes ist das Verlangen nach Gott
und die Unterordnung unter ihn, den Quell und Richter alles Guten, sowie der Sinn für den
Mitmenschen als ein ebenbürtiges Wesen.“ Die Gebote seien „Naturrecht“ und nicht im
strengen Sinn offenbart worden.
A.d.Ü.: Zitiert nach der Website des Heiligen Stuhls, www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/
2007/october/documents/hf_ben-xvi_spe_20071005_cti_ge.html, 25.1.2009.
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EZW-Texte Nr. 202/2009
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Der Papst sagte weiterhin, es werde, angefangen beim Naturrecht, „das an sich jedem
vernunftbegabten Geschöpf zugänglich ist, die Basis gelegt, um mit allen Menschen guten
Willens und, allgemeiner gesagt, mit der zivilen und säkularen Gesellschaft in einen Dialog
zu treten“.
Genau wie die Unterzeichner des Briefes versucht der Papst eine gemeinsame Grundlage
für den Dialog mit jedermann zu finden; die Grundlage können nicht die Schriften sein,
stattdessen ist es eine universale Ethik, begründet auf dem Naturrecht.
Der Brief, der Christen von muslimischen Experten geschickt wurde, bleibt bei dem stehen,
was der Bibel und dem Koran gemeinsam ist. Ich denke, der nächste Schritt zwischen Christen
und Muslimen ist es, eine universalere Grundlage zu finden. Diese kann einige Elemente
der heiligen Schriften beinhalten, solange sie für alle akzeptabel sind. Man sollte aber auch
darüber hinausgehen, um eine Grundlage für einen universalen Dialog zu finden.
Dies ist, was dem Brief fehlt. Er versucht lediglich, die Beziehungen zwischen Christen und
Muslimen wiederherzustellen, was in der Einleitung klar gesagt wird. Sie erinnert daran, dass
wir zusammen „mehr als 55 Prozent der Weltbevölkerung“ stellen. Durch ein Übereinkommen
könnten wir somit fast Frieden in der Welt erzwingen. Es ist eine taktische, politische
Herangehensweise. Wir müssen uns auf die rationale Grundlage des Friedens hin bewegen,
die in der Wahrheit gefunden wird.
Deshalb ist der Text, wie Kardinal Tauran herausgestellt hat, interessant, er eröffnet einige
neue Wege in seinen Methoden sowie Inhalten, muss aber genauer untersucht werden, um
ihn objektiver und nicht selektiv, universaler und weniger politisch zu machen.
Die Unterscheidung zwischen Politik und den Menschen
Aus dieser Sicht heraus müssen wir noch eine weitere kritische Bemerkung machen. An
einem bestimmten Punkt fordert der Brief Christen auf, „Muslime als nicht gegen sie, sondern
mit ihnen“ zu betrachten, „solange die Christen nicht Krieg gegen sie führen“. Hier spielt man
vielleicht auf die Probleme in Palästina, im Irak und in Afghanistan an – aber dort sind es nicht
Christen als solche, die sich dem Krieg verschrieben haben.
Die Amerikaner im Irak (falls es das ist, worauf sich der Brief bezieht) sind im Irak nicht als
Christen, die Muslime unterdrücken: Weder das muslimische noch das christliche Element
hat hier irgendeine Bedeutung. Es ist vielmehr eine politische Angelegenheit zwischen den
Vereinigten Staaten und den nahöstlichen Staaten. Und selbst wenn wir wissen, dass der
Präsident der Vereinigten Staaten Christ ist und von seinem Glauben geleitet wird, kann man
keinesfalls behaupten, dies sei ein Krieg von Christen gegen Muslime.
Das ist ein wichtiger Aspekt, denn Muslime tendieren dazu, den Westen als eine christliche
Macht zu sehen, ohne jemals zu realisieren, wie weitgehend der Westen säkularisiert wurde
und wie weit er von christlicher Ethik entfernt ist. Jener Gedankengang stärkt die Theorie eines
Kampfes der Kulturen (oder Religionen), genau zu einer Zeit, in der Schritte zur Bekämpfung
einer solchen Theorie unternommen werden!
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EZW-Texte Nr. 202/2009
Eine schöne Schlussfolgerung: Koexistenz in Vielfalt
Ein letzter Punkt: In dem Brief wird der Koranvers zur Toleranz zitiert: „Und hätte Gott gewollt,
hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch Er prüft euch in dem, was Er
euch zuteil werden ließ (Er hat euch gemacht, wie ihr seid). So wetteifert in guten Taten! Zu
Gott wird euer aller Rückkehr sein, dann wird Er euch darlegen, worüber ihr uneins wart.“
(Al-Ma’ida 5,48)
Diese Sure ist in chronologischer Reihenfolge die vorletzte des Koran. Das bedeutet, dass sie
nicht von einer anderen aufgehoben oder überholt worden sein kann gemäß der islamischen
Theorie der Koraninterpretation vom sogenannten Abrogierenden und Abrogierten (arabisch:
nasikh wa-l-mansukh). Der Vers ist fundamental, weil er aussagt, dass unsere religiöse Vielfalt
von Gott vorherbestimmt ist. Das Ergebnis ist „So wetteifert in guten Taten!“ als eine Methode
des Dialogs. Dies ist eine wahrhaft schöne Weise, den Brief abzuschließen, denn es bedeutet,
dass wir zusammenleben können trotz unserer Unterschiede, ja mehr noch: dass Gott diese
Unterschiede will!
Für die Zukunft
Der Brief ist ein erster Schritt im Dialog zwischen Christen und Muslimen. Oft haben Christen
die Initiative hinsichtlich des Dialogs ergriffen, und sie haben gut daran getan. Es ist wichtig,
dass die ersten Schritte mit gesteigerter Deutlichkeit in dieser Richtung weitergehen und
selbst Unterschiede und die Notwendigkeit von Korrekturen aufzeigen. Da der Brief an viele
Führungspersönlichkeiten der christlichen Welt gerichtet ist, können wir hoffen, dass es
eine Antwort auf den Brief geben wird. Er ist Resultat einer immensen Anstrengung von
muslimischer Seite.
Doch der Brief ist sicherlich ebenso an Muslime gerichtet, wenn auch nicht explizit. Welches
Gewicht wird er in der muslimischen Welt haben, wenn man bedenkt, dass Priester weiterhin
entführt, Apostaten verfolgt, Christen unterdrückt werden? Bis jetzt gab es von islamischer
Seite keinen Kommentar. Aber ich denke, dass dieses Dokument mit der Zeit eine Öffnung
und größere Konvergenz erzeugen könnte.
Vor allen Dingen ist zu hoffen, dass der nächste Schritt sich auf die heikleren Themen
konzentrieren wird: die Religionsfreiheit, den absoluten Wert der Menschenrechte, die
Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft, den Einsatz von Gewalt usw. – kurz gesagt,
auf aktuelle Themen, die sowohl der muslimischen Welt (und ich würde sagen vor allem
muslimischen Menschen) als auch dem Westen Sorge bereiten.
17. Oktober 2007
Quelle des englischen Textes:
www.asianews.it/index.php?l=en&art=10577
EZW-Texte Nr. 202/2009
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6. Christian Troll SJ
Irenische Interpretationen?
Eine Analyse des „Briefs der 138 Muslime“
Die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen begannen mit der Geburt des Islam vor
rund 1400 Jahren. Sie sind sozusagen „eingeschrieben“ in die frühe Genese des Islam. In
der langen Geschichte seither hat es noch nie eine dem „Brief der 138 Muslime“, wie dieses
Dokument heute oft verkürzend genannt wird, vergleichbare Initiative gegeben. Anlässlich
des Festes des Fastenbrechens des Jahres 2007 (13. Oktober 2007) unterzeichneten und
veröffentlichten 138 führende muslimische religiöse Persönlichkeiten und Gelehrte diesen
„Offenen Brief und Aufruf“.
Trotz – oder vielleicht sogar wegen – ihres provokativen Inhalts scheint die mittlerweile
berühmt gewordene Vorlesung Benedikts XVI. an der Universität von Regensburg vom
12. September 2006 weithin spürbare Wirkung zu entfalten. Am 12. Oktober 2006 schrieben
bereits 38 muslimische Gelehrte sowie Repräsentanten vieler verschiedener muslimischer
Gemeinschaften und Institutionen des Islam einen Brief an den Papst, der sich unmittelbar
und kritisch mit einigen der in der Regensburger Vorlesung behandelten Punkte befasste.
Dieser Brief wurde vom Heiligen Stuhl nicht beantwortet. Jetzt aber scheint sich ein ständiger,
breit angelegter Dialog zu entwickeln.
Der Brief der 138 ist nicht nur an Benedikt XVI. gerichtet, sondern unter anderen auch an
den orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel, den Erzbischof von Canterbury sowie an
die Leiter der Lutherischen, Methodistischen, Baptistischen und Reformierten Weltbünde. Er
vergleicht ausgewählte koranische und biblische Texte und kommt zu dem Ergebnis, dass
beide heiligen Schriften den Primat der totalen Liebe und Hingabe an Gott zusammen mit
der Liebe des Nächsten betonen.
Muslime und Christen, fährt er fort, machen mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung der
Erde aus. Das Verhältnis zwischen ihnen stellt somit „den wichtigsten Faktor für einen Beitrag
zu einem sinnvollen Frieden weltweit“ dar. „Als Muslime sagen wir zu Christen, dass wir nicht
gegen sie sind – so lange sie nicht aufgrund ihrer Religion Krieg gegen die Muslime führen,
sie unterdrücken und aus ihren Häusern vertreiben“ (vgl. Sure 60:8).
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EZW-Texte Nr. 202/2009
Einladung zum Dialog
Mit dieser Initiative werden wir Zeugen des Entstehens von so etwas wie einer innerislamischen „ökumenischen“ Bewegung. Die breite Repräsentanz und die beeindruckende
Zahl der Unterzeichner sind bemerkenswert. Sie ist mittlerweile auf fast 250 angestiegen.
Unter den Unterzeichnern befinden sich die Großmuftis von Bosnien-Herzegowina,
Russland, Kroatien und Syrien, der Generalsekretär der Organisation Islamischer Staaten
(OCID), der frühere Großmufti von Ägypten, der Gründer der Ulama Organisation im Irak.
Ferner gehören auch zwei Ayatollahs und weitere Würdenträger der Zwölferschiiten, der
Ibadis und der Ismailis dazu. So wie die Initiative zum Brief der 38 Gelehrten im Jahr 2006
ging auch dieser Brief vom Königlichen Aal al-Bayt Institut für islamisches Denken in Amman
in Jordanien aus. Eine der treibenden Kräfte dabei ist der führende Intellektuelle Aref Nayed
vom Interfaith Programme der Universität Cambridge. Er beschreibt den Brief – nicht ohne
spürbare Übertreibung – als einen „Konsens“ der Muslime weltweit, als „einen Meilenstein“.
Die Geschichte wird uns zeigen, wie es um die Identität, Stärke und Kohäsion der Gruppe in
Bezug auf grundlegende Fragen steht, und ferner, wie viele derer, die den Brief unterzeichnet
haben, wirklich bereit sind, sich voll und ganz in dieser Sache und auf die Art und Weise
dieses Briefes zu engagieren. Eine kritische muslimische und islamwissenschaftlich solide
Untersuchung seitens derer, die es abgelehnt haben, das Dokument zu unterzeichnen, steht
meines Wissens noch aus. Yusuf al-Qaradawi, der berühmte ägyptische Fernsehprediger
und -Mufti, der von Qatar und London aus operiert, fehlt bei den Unterzeichnern. Ebenso
Scheich Muhammad Sayyid Tantawi, der Scheich der einflussreichen al-Azhar-Universität in
Kairo sowie die theologisch und politisch führenden Ayatollahs aus Qom und Teheran.
Der Brief ist eine Einladung zum Dialog zwischen Christen und Muslimen über die
verhandelten Themen. Nun ist es weder die Aufgabe noch das Recht von Christen, den
Muslimen vorzuschreiben, was genuin muslimische Positionen sind und was nicht. Am
wichtigsten wird der innermuslimische, schriftlich fixierte, wissenschaftliche Austausch
sein, den das Dokument hoffentlich hervorrufen wird. Doch ebenfalls die Christen sind
aufgefordert und auch gut beraten, den Brief mit größter Aufmerksamkeit zu studieren und
in diesem Vorgang ihre kritischen Kommentare und Fragen zu formulieren.
Der Text beginnt mit Sure 16:125, dem Vers der da’wa, der die Muslime auffordert, einzuladen
zur Annahme des Islam als den „Weg des Herrn“ – und zwar mit Weisheit und schöner
Ermahnung und durch „Streiten auf die beste Art“. Muhammad und mit ihm alle Muslime
sollen die Menschen „auf die beste Art zum Islam rufen und zur Annahme des Islam einladen.
Der Islam, die „Religion der Wahrheit“ (Sure 9:33, dîn al-haqq), die, wie der Name es sagt, in
der Hingabe an beziehungsweise der Unterwerfung unter Gott besteht, ist dem Glauben
der Muslime zufolge das natürliche Geburtsrecht aller menschlichen Wesen. Deshalb ist es
die Aufgabe der Muslime, alle Menschen dazu einzuladen, das für sich zu „beanspruchen“,
was ihnen aufgrund ihres Geburtsrechts schon gehört. Juden und Christen sind in dieser
Einladung eingeschlossen. Ihnen wird sogar eine doppelte Belohnung versprochen, wenn
EZW-Texte Nr. 202/2009
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sie sich bekehren und das Prophetentum des Muhammad anerkennen (Er lässt „euch einen
doppelten Anteil an seiner Barmherzigkeit zukommen“, Sure 57:28).
Der Brief besteht aus drei Teilen: Der erste Teil ist überschrieben mit „Gottesliebe“ und
unterteilt in zwei Abschnitte: „Gottesliebe im Islam“ und „Gottesliebe als das erste und größte
Gebot in der Bibel“. Im arabischen Original heißt es „im Evangelium“. Durch den Gebrauch
des Wortes „Bibel“ im englischen Text kann jedoch der jüdische Glaube mit in den Diskurs
eingeschlossen werden. Der zweite Teil ist überschrieben mit „Liebe des Nachbarn“ (hubb
al-jār). Er ist wieder in zwei Teile untergeteilt: „Liebe zum Nachbarn (Nächstenliebe) im Islam“
und „Liebe zum Nachbarn (Nächstenliebe) in der Bibel“. Der dritte Teil legt die Aufforderung
„Kommt auf ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch“ (Sure 3:64) aus.
Koranische Formulierungen werden mit spezifisch christlichen
Ausdrücken vermischt
Samir Khalil (Beirut) hat darauf hingewiesen, dass der Brief ein christliches und kein
muslimisches Vokabular gebraucht. Das Wort „Nachbar“ (im Sinn von, christlich gesprochen,
„Bruder und Schwester, Nächster“) existiert im Koran nicht. Tatsächlich benützt auch der
arabische Text des Briefes den Begriff für Nächster/Bruder nicht, sondern das Wort Nachbar
(jār), das ausschließlich eine sozusagen geographische Bedeutung hat (wie ein Nachbar, der
nebenan wohnt).
Das Wort „Liebe“ (hubb) wird im Koran in Bezug auf Gott selten benützt. Es ist nicht einmal
einer der „99 schönsten Namen Gottes“. Niemals wird gesagt, Gott sei der Liebende (almuhibb). Allerdings gibt es in der Liste dieser „99 schönsten Namen Gottes“ weniger „starke“
Synonyme wie zum Beispiel „der Freundliche: al-wadjūd, al-latīf, ar-ra’ūf“. Dagegen wird Gott
in der arabischen Sprache der Christen häufig als „al-muhibb“ (etwa yā muhibb al-bashar.
Oh, Liebender des Menschgeschlechtes) charakterisiert und so im liturgischen Gebet
angerufen.
Außerdem ergibt sich aus einer eingehenden Lektüre und Analyse des ersten Teils des
Briefes, „Gottesliebe im Islam“, dass der Brief inhaltlich gesehen eigentlich beschreibt, was
wir Christen als „Gehorsam gegenüber Gott“, nicht aber als „Liebe“ bezeichnen würden.
Die Autoren des Briefes haben diese koranischen Inhalte doch wohl deshalb mit „Liebe“
wiedergegeben, um sie so in eine Linie zu bringen mit der Sprache des Neuen Testaments
und des christlichen Glaubens.
Prominent ist das Thema Liebe im Islam nur in der Sprache der Sufis, die einerseits von
der Hauptströmung des Islam durch die Jahrhunderte bis heute äußerst kritisch und oft
ausschließlich negativ beurteilt werden, die freilich andererseits in vielen Regionen der
muslimischen Welt das Leben und die Lehre der Muslime wie auch der Gelehrten und
Prediger nachhaltig mitgeprägt haben beziehungsweise mitprägen. Von Liebe zu Gott zu
sprechen, wie der Brief es in Bezug auf den Kern der koranischen und islamischen Botschaft
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EZW-Texte Nr. 202/2009
tut, ist in jedem Fall eine Neuigkeit. Vielleicht möchte der Brief bewusst das Thema der ersten
Enzyklika des Papstes „Deus Caritas est“ aufnehmen.
Die arabische Fassung des Briefes benutzt auch in anderen Fällen eine Terminologie, die
sich als solche in den Versionen desselben Briefes in Französisch, Italienisch, Deutsch und
Englisch nicht findet. In Bezug auf Christus beispielsweise schreiben die Versionen des Briefes
in den westlichen Sprachen „Jesus Christus“, die arabische Version stattdessen „’Īsa al-Masīh“.
Dieser Ausdruck findet sich im Koran nicht. Er ist das Resultat einerseits der Weise, in der die
Muslime vom Koran her Jesus benennen (’Īsa) – die arabischen Christen nennen ihn Yasū’ –
und anderseits der christlichen Definition von „al-Masīh“, Christus, die im Koran zu finden ist.
Die Formulierung im Koran lautet: al-Masīh ’Īsa ibn Maryam (der Messias ’Īsa, Sohn der Maria),
während die normale christliche Formulierung folgende ist: Yasū’ al-Masīh (Jesus Christ). Der
Text des Briefes ist tatsächlich voll von koranischen Formulierungen, vermischt mit spezifisch
christlichen Ausdrücken.
Im Hinblick auf die Art und Weise, wie die Autoren des Briefes den Koran und die Bibel
zitieren, benützen sie verschiedene Maßstäbe. Wenn sie aus dem Koran zitieren, sagen sie:
„Gott sprach / hat gesprochen“, so wie es jeder gute Muslim tut. Wenn sie aber Verse der Bibel
zitieren, sagen sie: „wie es im Neuen Testament heißt“ oder „wie wir im Neuen Testament
lesen“, usw. Dies bedeutet, dass sie bei Zitaten aus der Bibel eine wissenschaftliche, sozusagen
objektiv-distanzierte Art zu sprechen wählen, während sie bei Zitaten aus dem Koran die
traditionelle Terminologie derer benutzen, die an den Islam glauben – eine Redeweise somit,
die Nichtmuslime als solche nicht nachvollziehen können.
Bruch mit der klassischen islamischen Lehre?
Darüber hinaus enthält der Brief eine Anzahl von biblischen Zitaten. Er kommentiert diese
positiv und setzt gleichsam als selbstverständlich voraus, dass diese Texte, als zur Bibel
gehörende Texte, Wort Gottes sind. Auch dies ist eine relative Neuheit. Der Koran beteuert
zwar auf der theoretischen Ebene, dass die den biblischen Propheten geoffenbarten Worte
Wort Gottes sind. In der konkreten Wirklichkeit jedoch interpretieren die Muslime fast
durchweg die relevanten koranischen Aussagen dahingehend, dass sie den Text der Bibel,
wie er von Juden und Christen benutzt und anerkannt wird, für durch spätere Eingriffe und
Manipulation der Juden und Christen verändert erklären. Was der genuine Nukleus der
biblischen Botschaft ist, bestimmt der Koran.
Der Brief geht demgegenüber im Zusammenhang der Erklärung des wahren Verständnisses
des Begriffs „Herz“ so weit, sogar Paulus als Gewährsmann für ein korrektes Verständnis
dieses zentralen religiösen Begriffs zu zitieren (Fußnote 4). Paulus wird im Allgemeinen von
der großen Mehrheit der Muslime kategorisch abgelehnt. Er wird als ein Verräter an der
authentischen Botschaft Jesu betrachtet, einer Botschaft, die ursprünglich, bevor sie – nicht
zuletzt durch ihn – missverstanden und verändert wurde, eine genuin „islamische Botschaft“
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gewesen sei. Nicht selten behaupten Muslime, dass die Botschaft des Jesus von Nazareth
identisch mit der Kernbotschaft des Korans gewesen sei, jedoch gerade durch den Einfluss
des Paulus die Lehren der Dreifaltigkeit, der Erlösung durch das Kreuz und der Ablehnung
des Gesetzes des Moses als Heilsweg ins Christentum eingeführt worden seien.
Es ergibt sich also die Frage: Bedeutet der Gebrauch, den der Brief von den biblischen Texten
macht, so etwas wie einen Bruch mit der klassischen islamischen Lehre, gemäß welcher die
heiligen Schriften der Juden und der Christen (wie sie in ihrer derzeitigen Form existieren)
als veränderte, gar manipulierte Formen der ursprünglich von Gott geoffenbarten Schriften
betrachtet werden? Als eine Konsequenz dieser Auffassung hat die große Mehrheit der
Muslime bisher den Text der Bibel als unzuverlässig betrachtet und im Allgemeinen wenig
Interesse an seinen Inhalten gezeigt (ausgenommen für polemische Zwecke).
Hat Jesus die monotheistische Reinheit des Islam gelehrt?
In jedem Fall haben die Muslime den biblischen Text, wie er uns vorliegt, nicht als eine
gemeinsame Basis für das interreligiöse Sprechen und Forschen anerkannt. So wurde etwa
nach dem Zeugnis des Koran dem Propheten David von Gott „zabūr“ gegeben (vgl. Sure 4:163;
17:55). Damit ist nach allgemeiner Auffassung der Muslime seit jeher das Buch der Psalmen
gemeint; und doch wurde das Buch der Psalmen der hebräischen Bibel von den Muslimen
bis heute nicht als von Gott geoffenbarte Heilige Schrift anerkannt. Folglich finden sich keine
Texte der Psalmen im liturgischen Gebet der Muslime, noch spielen sie eine nennenswerte
Rolle in ihrer privaten Frömmigkeit und Meditation.
So stellt sich die Frage: Versuchen die Autoren des Briefes die biblischen Texte, die sie im Brief
zitieren, in ihrem jeweiligen eigenen, authentisch biblischen Kontext zu verstehen? Oder
könnte es sein, dass diese biblischen Texte von den muslimischen Gelehrten nur insoweit
akzeptiert und zitiert werden, als sie mit der Botschaft des Korans übereinstimmen? Die
islamische Lehre von der absichtlichen Veränderung der biblischen Texte durch Juden und
Christen, die von enormer Bedeutung für den jüdisch-christlich-muslimischen Dialog ist,
wird jedenfalls in diesem Brief weder erwähnt noch ausdrücklich modifiziert und schon gar
nicht in Frage gestellt.
Als Titel des gesamten Dokuments, der als Überschrift seines dritten Teiles wiederholt wird,
dient der koranische Vers 3:64: „Sprich: ‚O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen
Wort zwischen uns und euch, dass wir nämlich Gott allein dienen und nichts neben Ihn
stellen und dass sich nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Gott.’
Und wenn sie sich abwenden, so sprecht: ‚Bezeugt, dass wir (Ihm) ergeben sind.’“
Diese Verse stehen im Koran in einem bestimmten Kontext. Es ist die bei weitem
vorherrschende Meinung muslimischer Kommentatoren, dass die ersten ungefähr 80 Verse
dieses Kapitels in dem Moment geoffenbart wurden, als im Jahre 630 eine Delegation von
Christen der Oase Nadjran nach Medina kam, um Muhammad zu besuchen. Muhammad
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lud sie ein, den Islam anzunehmen. Sie aber insistierten, dass sie wahre Gläubige seien und
dies schon lange vor dem Kommen Muhammads. Den Christen wurde am Ende des Disputs
erlaubt, in Sicherheit nach Hause zurückzukehren und an ihrem (aus Muhammads Sicht
irrigen) Glauben festzuhalten – unter der Bedingung, dass sie Muhammads und damit des
Islam Oberherrschaft anerkennen.
Nun geht der Brief der 138 einfach über die Worte des Koran: „und wir werden ihm keine
Partner zuschreiben (oder: und wir werden ihm nicht beigesellen)“ hinweg, indem er sagt,
dass sich diese Worte „auf die Einheit Gottes beziehen“. Die klassischen und modernen
Kommentatoren, die diesen Kontext ernst nehmen, sehen jedoch diese eben zitierten Worte
des Verses 3:64 als eine klare Affirmation der Nicht-Gottheit Jesu. So ist zu fragen: Wie stellen
es sich die Autoren des Briefes der 138 vor, dass Christen, die an die Trinität Gottes glauben,
mit der vollen Integrität ihres Glaubens zu diesem „gemeinsamen Wort“ kommen könnten,
von dem der Koran spricht? Mehrere Kommentatoren des Briefes auf der Homepage „A
Common Word“ haben schon auf die sozusagen irenische Interpretation dieser Textstellen
durch die Autoren des Briefes hingewiesen.
Muslime, die einen wirklichen Dialog mit den Christen als Christen führen wollen,
müssen verstehen, dass der trinitarische Monotheismus für den christlichen Glauben und
Gottesdienst von zentraler Bedeutung ist – und nicht nur ein Aspekt des Christentums, das
wegverhandelt werden kann. In dieser Hinsicht bestehen im vorliegenden Brief eine Reihe
von Unklarheiten, Punkte, an denen ein Christ durchaus den Eindruck bekommen kann, es
werde ihm suggeriert, diese Differenzen seien letztlich nicht von großer Bedeutung. Während
der warme Ton des Briefs an die Christen enorm ermutigend ist, wäre zu wünschen, dass
dieser Ton zusammengeht mit einer Haltung seiner Autoren, die die Punkte ernst nimmt,
in denen Christen und Muslime sich unterscheiden. Sonst könnte es sein, dass der Brief als
eine Ermutigung verstanden wird, diese Unterschiede diplomatisch zu umgehen. Durch ein
solches Vorgehen würde der Dialog in der Tat Schaden nehmen.
Eine Antwort auf der Basis des christlichen Verständnisses
von Gottes- und Nächstenliebe
Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Für den Brief und seine Autoren, als authentischen
muslimischen Gläubigen, liegt das absolute Kriterium für das konkrete Verständnis der Liebe
Gottes und des Nächsten, wie sie der Koran lehrt, in Muhammad, seinem Leben und seiner
Interpretation des ihm anvertrauten göttlichen Wortes. Leben und Lehre des Muhammad als
des „schönen Beispiels“ (Sure 33:21) sind für Muslime in ihrem Bemühen, ihr individuelles und
kollektives Leben nach dem Willen Gottes auszurichten, von entscheidender Bedeutung.
In dieser Hinsicht wäre eine eingehende Betrachtung des Vorgehens Muhammads gegenüber
den Juden und den Christen nötig. Der Brief der 138 geht darauf mit keinem Wort ein. Eine
Analyse dieser Fragen müsste die in den späteren Jahren Muhammads zunehmenden
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Spannungen zwischen ihm, der umma und den „Leuten des Buches“ bedenken, wie sie sich
unter anderem in Sure 9 widerspiegeln – jener späten Sure, die als einzige nicht mit den
Worten „Im Namen Gottes des barmherzigen Herrn der Barmherzigkeit“ beginnt. Dabei ist
vor allem an Muhammads Antwort auf die Weigerung der jüdischen Stämme, gemeinsame
Sache mit ihm und seiner Gemeinschaft zu machen und ihn als endgültigen Propheten
anzuerkennen, zu denken, aber auch an Muhammads Art und Weise, mit seinen Kritikern
umzugehen, sowie an die Methoden, die er anwandte um seinen Herrschaftsbereich in den
Norden der arabischen Halbinsel auszubreiten.
Teil einer Vertiefung der im Brief notwendigerweise nur angedeuteten Themen muss eine
Klärung der Begriffe sein. Ein Begriff wie „Gottesliebe“ ist zentral für unser Verständnis,
denn es bestimmt den Inhalt solcher von diesem Zentralbegriff abgeleiteten Begriffe wie
beispielsweise „Gottesliebe“ und „Nächstenliebe“. Viele hier direkt relevanten Verse des
Korans zeugen von einem vertraglichen, also bedingungsgebundenen Verständnis des
Begriffs, wenn es etwa heißt: Gott liebt diejenigen, die ihm gehorchen, dienen, ihn anbeten
und ihn lieben, nicht aber diejenigen, die sich gegen ihn auflehnen oder jemanden anderen
als Gott anbeten, obwohl doch kein Leben existieren oder fortfahren zu existieren könnte,
ohne die erhaltende barmherzige Liebe seitens Gottes, durch den wir geschaffen sind und
im Sein gehalten werden.
Notwendig wäre hier der Vergleich mit einer mehr von der Bundestreue her verstandenen,
unbedingten Liebe Gottes, der neutestamentlich gesehen absolut stetig liebt: den
schlimmsten Sünder ebenso wie den größten Heiligen. Die Sicht auf diese Fragen hat
unmittelbare Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage, ob unsere Nächstenliebe für
die, „die uns bekriegen“ (vgl. Sure 60:80), nicht gilt, oder ob wir im Gegenteil dazu aufgerufen
sind, „unsere Feinde zu lieben“ (vgl. Mt 5,44-45) – weil gilt: „Gott ist Liebe“ (vgl. 1 Joh 4,9).
In einigen der Kommentare ist die Frage der Zentralität der Liebe im islamischen System
schon angeschnitten worden: in den Schriften etwa des Mevlana Rumi (1207-1273) ist dies
der dominante Ton. Muslime, die sich an anderen Stellen des Spektrums verorten, würden
diese Frage anders sehen und beantworten: Sie würden Gerechtigkeit und Unterwerfung
des menschlichen Willens an den göttlichen Willen als die absolut zentrale Botschaft des
Korans betrachten.
Indem der Brief nahelegt, einen Koranvers wie Sure 3:64 mit seinen Kategorien und Aussagen
als Rahmen für einen weiterführenden Dialog zwischen Muslimen und Christen zu nehmen,
beschwört er die Gefahr herauf, dass eine Seite praktisch sagt: „Treffen wir uns, aber zu
unseren Bedingungen“. Damit ein wirklicher Dialog möglich wird, muss am Anfang stehen,
dass jede der beiden Seiten ihre eigene Grundposition des Glaubens formuliert, wie „schwer
zu verdauen“ sie auch für den Partner im Dialog sein mag – was natürlich nicht heißt, dass
diese Prämissen außerhalb des Bereichs der kritischen Befragung und Diskussion stehen.
Der Brief sollte nicht für seine Passagen über das muslimische Verstehen der Gottes- und
Nächstenliebe kritisiert werden, die möglicherweise nicht alle möglichen Dimensionen der
Frage berücksichtigen. Die unmittelbare Aufgabe für Christen besteht auch nicht darin, den
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Brief Satz für Satz zu beantworten. Eher geht es darum, dass die christlichen Gesprächspartner
das von den Autoren des Briefes vorgeschlagene Thema der Liebe Gottes und des Nachbarn
aufgreifen und dann eine Antwort formulieren, die auf einem christlichen Verständnis dieser
Begriffe beruht.
Ein christliches Verständnis der Liebe Gottes muss auf jeden Fall inkarnatorisch sein und
den für den christlichen Glauben und die christliche Theologie zentralen Begriff und Inhalt
ausloten. Denn es ist der Glaube an die in der Inkarnation offenbar gewordene Liebesinitiative
Gottes, die den christlichen Glauben und das christliche Menschenbild zutiefst bestimmt.
Daraus ergibt sich beispielsweise, dass Christen als Kirche die „Menschen der inkarnierten
Offenbarung“ sind und nicht einfach „Leute des Buches“.
Christen müssen von einer Theologie der Gnade sprechen, einschließlich der
zuvorkommenden Gnade, da es für sie die gnadenhafte Liebe Gottes ist, die sie, die sich
als dem „Gesetz der Sünde“ und den „Ungehorsam gegenüber Gott“ verfallen wissen,
dazu befähigt, eine liebende Antwort an Gott und den Nächsten zu leben. Aus christlicher
Sicht kann und darf eine Reflexion über die Liebe Gottes nicht von dem Glauben an die
Kenose (Selbstentäußerung, Selbsterniedrigung) Jesu Christi und der darin aufscheinenden
Verwundbarkeit der menschgewordenen Liebe Gottes getrennt werden (Phil 2,6ff.).
Darüber hinaus müssten Christen ihre Pneumatologie in die Diskussion einbringen und
ausloten, was es heißt, hier und jetzt „im auferstandenen Herrn“ zu leben. Keine christliche
Antwort würde vollständig sein ohne eine Diskussion der gewaltlosen, selbsthingebenden,
sühnenden, erlösenden, bedingungslosen Liebe Gottes und die freie, von Gottes Gnade
ermöglichte Antwort darauf in Glaube und Leben. All dies würde den Kontext abgeben
für ein Gespräch über die universale Liebe des Nächsten, die versucht, Christus und seine
grenzenlose radikale Liebe, die als reines Geschenk empfangen wird, nachzuahmen.
18. Oktober 2007
Quelle: Herder Korrespondenz 8/2008, S. 403 – 408
(Wir danken für die Abdruckgenehmigung.)
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7. Mor Eustathius Matta Roham,
Erzbischof von Mesopotamien und Euphrat
Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien
Eine Antwort auf den Brief der 138 hochgeschätzten
islamischen Gelehrten
Der von den 138 hochgeschätzten islamischen Gelehrten gesandte Brief, datiert vom
13. Oktober 2007, wird als ernst zu nehmendes Anschreiben aufgefasst, das auf Annäherung
im christlich-muslimischen Dialog abzielt. Er ist willkommen, da er sich auf den Dialog
der Begegnung stützt, ungeachtet dessen, ob über seine Inhalte teilweise oder gänzliche
Einigkeit oder Uneinigkeit besteht. Ich persönlich empfehle diesen Brief als eine islamische
Sichtweise für zukünftigen Dialog zwischen Christen und Muslimen.
Das Leben lehrt uns, dass Dialog notwendig ist, um einander kennenzulernen. Was Muslime
über das Christentum nicht wissen, kann ihnen nur von Christen erklärt werden, und
gleichermaßen kann, was Christen vom Islam nicht wissen, ihnen nur von Muslimen erklärt
werden. Christen erkunden, wie Muslime sie sehen, und ebenso wollen Muslime wissen, wie
Christen sie sehen. Damit Dialog für beide Seiten und die Menschheit allgemein fruchtbar
wird, sollte er mit Transparenz, Aufrichtigkeit und guten Absichten begonnen werden.
Auf jegliche Verschleierung der Wahrheit trifft jedoch zu, was der Hl. Isaak von Antiochien auf
Syrisch sagte: „Wir täuschen einander, aber der Satan täuscht uns alle.“
Da ich in einer Gemeinschaft lebe, die sich aus einer muslimischen Mehrheit und einer
christlichen Minderheit zusammensetzt, und es tägliche Interaktion miteinander gibt,
möchte ich die folgenden Anmerkungen vorlegen in dem Versuch, den Kontakt zwischen
Muslimen und Christen voranzubringen.
1. Der Brief schätzt, dass die Zahl der Christen und Muslime 55 Prozent der Weltbevölkerung
beträgt, was bedeutet, dass 45 Prozent der Menschen dieser Welt weder Christen noch
Muslime sind. Ich hatte gehofft, der Brief würde auf die Wichtigkeit der 45 Prozent für den
Friedensprozess hinweisen. Ist es möglich, dass es ohne diese 45 Prozent Frieden in der Welt
gibt?
2. Ein fruchtbarer Dialog kann bestimmt nicht einseitig sein, vielmehr sollte die
Grundlage für den Dialog von allen betroffenen Parteien vereinbart werden. Der Brief hat
die Dialoggrundlage allein auf religiöse Texte gestellt. Trotz der Tatsache, dass Christen und
Muslime ihre heiligen religiösen Texte ehren, sollten wir nach anderen Dialoggrundlagen
suchen, die Gottes Geschenk an uns sind. Die allererste ist unsere menschliche Fähigkeit zur
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Vernunft. Es ist wohlbekannt, dass die Gruppe der Mu’tazila (firqat al-mu’tazila) in Bagdad auf
dem Höhepunkt der abbasidischen Zivilisation dem vernunftgemäßen Denken Priorität über
den religiösen Text einräumte.
3. Es ist offensichtlich, dass der Brief die westlich-christliche Denkweise anspricht und
nicht zuerst auf Arabisch geschrieben wurde. Er stützt sich auf christliche Ausdrucksweisen,
als würden sie im Islam dieselbe Bedeutung besitzen. Obgleich der Brief darauf abzielt,
die westlich-christliche Mentalität zu erreichen, scheitert er beim Gebrauch christlicher
Ausdrücke. Wenn wir im Christentum über die Gottesliebe reden, meinen wir Gottes Liebe
zur Menschheit und des Menschen Liebe zu Gott. In dem Brief ist die Gottesliebe im Islam
tatsächlich der Gottesfurcht im Christentum näher. Das Konzept von Gottes Liebe zur
Menschheit im Christentum hat keine Entsprechung im Islam, da dieses Konzept sich im
Christentum auf die Lehre von der Erlösung bezieht, die Kern des christlichen Glaubens ist.1
In ähnlicher Weise spiegelt die Nächstenliebe im Islam die geographische Bedeutung des
Wortes „Nachbar“ (arabisch: dschar) wider.2 Im Christentum übersteigt die Liebe zum Nächsten
(arabisch: qarib) alle geographischen und religiösen Grenzen und nimmt eine ganz neue
Dimension an, die die gesamte Menschheit umfasst. Im Neuen Testament heißt Nächster
(qarib) sogar, Bruder zu werden. Laut dem arabischen Text versteht man die Überschrift
jenes Abschnitts trotz all der biblischen Texte, die in dem Brief aufgeführt sind und sich auf
den Nächsten (qarib) im christlichen Sinn beziehen, als die Liebe zum Nächsten (dschar) im
lediglich geographischen Sinn. Dies ist kein biblischer Ausdruck, was darauf hindeutet, dass
der Brief nicht zuerst auf Arabisch geschrieben wurde.
Einer der wichtigen positiven Aspekte des Briefes ist, dass er die Tür für Christen wie Muslime
weit öffnet, die Bedeutungen der Gottesliebe und Nächstenliebe in muslimischem wie
christlichem Empfinden zu erforschen. Das maßgebliche Thema jedoch bleibt, wie der
jeweils andere von Muslimen und Christen behandelt wird. Und hier frage ich: Genießen
der Bruder (arabisch: ach) und der Nachbar (dschar) dieselbe Behandlung im Hinblick auf
die Menschenrechte? Wenn Gesetze in einem Land auf der Basis einer religiösen Mehrheit
erlassen werden, was passiert mit den Minderheiten in Ländern, in denen diese Form
von Gesetzgebung praktiziert wird, wie es in den meisten muslimischen Ländern der Fall
ist? Stand solch eine Gesetzgebung nicht hinter dem Krieg im Südsudan? Verursacht ihre
Anwendung in Ländern mit einer muslimischen religiösen Mehrheit nicht weiterhin bitteres
Leiden für Christen und Anhänger anderer Religionen?
Anmerkung des Übersetzers: Der angesprochene Bedeutungsunterschied wird in der Übersetzung des
englischen Originals von „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ durch Abd al-Hafidh Wentzel, die
dieser Dokumentation vorangestellt ist, deutlich: „love of the neighbour“ ist zwar mit „Nächstenliebe“
wiedergegeben, „love of God“ aber mit „Liebe zu Gott“ anstatt „Gottesliebe“. Genauso wurde bei den
Übersetzungen der Antworten auf den offenen Brief verfahren.
2
A.d.Ü.: Das Argument des Verfassers hängt damit zusammen, dass im Englischen das Wort „neighbour“,
wörtlich „Nachbar“, für „Nächster“ gebraucht wird.
1
EZW-Texte Nr. 202/2009
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4. Laut dem arabischen Text beschäftigen sich sieben Seiten des Briefes mit der Liebe zu
Gott im Islam, zusätzlich zu sechs weiteren Seiten mit Fußnoten und Anmerkungen, wogegen
sich nur eine Seite und vier Zeilen auf die Liebe zum Nächsten (dschar) im Islam beziehen. Wir
haben immer die Redewendung „Religion ist die Behandlung anderer“ vernommen. Sollte
nicht der Nächste, der Mensch, der wesentlicher Teil unseres täglichen Lebens ist, etwas
mehr Erwähnung verdient haben? Gibt es in Gottes Schöpfung irgendetwas Kostbareres als
den Nächsten?
5. Der Brief hat eine obskure Anschuldigung aufgeführt, ohne den Ort oder die Zeit zu
erwähnen: „Als Muslime sagen wir zu den Christen, dass wir nicht gegen sie sind und dass
der Islam nicht gegen sie ist – solange sie nicht Krieg gegen die Muslime wegen ihrer Religion
führen, sie unterdrücken oder sie aus ihren Wohnstätten vertreiben.“3
Falls damit die Kreuzzüge gemeint sein sollten, so sind diese als die Kriege der Franken
bekannt, auch wenn sie unter dem Motiv des Kreuzes stattfanden. Muslime wie Christen
des Ostens litten gleichermaßen unter den Folgen jener Kriege. Im Gegenteil, solch eine
Anschuldigung lässt uns an die Besetzung von Konstantinopel 1453 und andere ähnliche
Taten im Verlauf der islamischen Geschichte denken. Die Ereignisse der Vergangenheit
sollten für Muslime und Christen gute Lehren für eine bessere Zukunft der Versöhnung und
des gegenseitigen Respekts bleiben.
Falls jedoch die Einmischung westlicher Weltmächte in den Irak, Afghanistan und andere
Länder in unserer heutigen Zeit gemeint sein sollte, dann sollte man nicht vergessen, dass
es dieselben Mächte waren, die den Muslimen in Bosnien-Herzegowina gegen Serbiens
Milosevic beistanden und sogar gnadenlos das christliche Serbien zerstörten, um den
Muslimen von Bosnien-Herzegowina die Freiheit zu schenken.
Dies ist ein einfaches Beispiel, das zeigt, dass die westlichen Weltmächte das tun, was ihren
Interessen dient. Es waren dieselben Weltmächte, die zusammen mit mehreren muslimischen
Ländern nach Kuwait gingen und die Kuwaiter befreiten.
6. Es gibt eine wichtige Tatsache, auf die der Brief nicht hingewiesen hat. Westliche Länder
trennen die Religion vom Staat. Gesetze und Gesetzgebung basieren nicht auf religiösen
Texten. Der Staat erlässt Gesetze, die im besten Interesse seines Volkes sind, ohne auf
religiöse Texte zu achten. Westliche Länder sind säkular; folglich können wir sie nicht als
christlich bezeichnen, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung Christen sind. Keine Sünde
dieser Länder gegen andere, schwächere Länder kann als eine christliche Sünde bezeichnet
werden. Zum Beispiel beobachten wir, dass mächtige westliche Länder Venezuelas Hugo
Chavez als einen Feind behandeln, obwohl die meisten Venezolaner Christen sind. Kann man
das also christlich-christliche Feindschaft nennen? Nein, natürlich nicht. Kann in ähnlicher
A.d.Ü.: Dieses Zitat aus dem englischen Original des offenen Briefes nimmt Bezug auf Sure 60,8. Die
deutsche Übersetzung richtet sich nach der Version von Abd al-Hafidh Wentzel.
3
78
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Weise die irakische Besetzung von Kuwait muslimisch-muslimische Feindschaft genannt
werden? Nein, natürlich nicht.
Länder haben ihre eigenen Interessen. Folglich können wir Angriffe auf ein vornehmlich
muslimisches Land nicht als einen Angriff auf den Islam erklären. Venezuela, das von
westlichen Ländern als Feind behandelt wird, steht dem muslimischen Iran und seinen
Alliierten nahe. Wir können die westliche Feindschaft gegenüber Venezuela nicht als
christlich-christliche Feindschaft bezeichnen. Ebenso können wir Venezuelas Allianz mit dem
Iran nicht als christlich-muslimisch bezeichnen.
Auf die gleiche Weise können wir sagen, dass die Diffamierung islamischer religiöser Symbole,
die in den westlichen Medien stattgefunden hat, nichts mit Christen zu tun hat. Sie ist das
Werk von Säkularisten im Westen, die die Religion vom Staat trennen. Infolgedessen waren
von Muslimen gegen Christen durchgeführte Angriffe, egal wie groß oder klein, als Reaktion
auf diese Diffamierungen nicht gerechtfertigt.
7. Dies ist die letzte Anmerkung, die ich an die ehrenwerten muslimischen Gelehrten
weitergeben möchte. Sie gelangte von einem christlichen Universitätsstudenten arabischer
Abstammung in Holland zu mir, und ich möchte Sie darauf aufmerksam machen: „Eine
große Anzahl von Christen leidet in muslimischen Ländern unter allerlei Druck aufgrund ihrer
religiösen Überzeugungen. Wenn die religiösen Führer der Muslime wirklich Frieden in der
Welt wollen, warum geben muslimische Länder Christen nicht dieselben Menschenrechte,
die Muslime im Westen genießen?“
Schließlich hoffe ich, dass der Brief der 138 hochgeschätzten islamischen Gelehrten und
alle Antworten auf ihn einen guten Anfang bilden werden für ein tieferes gegenseitiges
Verständnis und für die Arbeit für den Frieden unter allen Nationen der Erde.
31. Januar 2008
Quelle des englischen Textes:
www.acommonword.com/index.php?page=responses&item=53
EZW-Texte Nr. 202/2009
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8. Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften
(IKBG)
Zum Brief von 138 muslimischen Gelehrten an
Papst Benedikt XVI. und die ganze Christenheit1
Seit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 sind islamische Führer
darum bemüht, den Islam in der Öffentlichkeit in einem humanen Licht erscheinen zu lassen.
Die von Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung am 12. September 2006 ausgesprochene Erinnerung daran, dass Mohammed, der Begründer des Islam, ja selber seinen
Anhängern geboten habe, seine Religion mit dem Schwert auszubreiten, hat dieses Bestreben noch verstärkt. Muslimische Gelehrte suchen im Zuge dessen einen neuen islamischchristlichen Dialog, in welchem sie ihren Gesprächspartnern diese Sicht nahe bringen möchten: Der Islam – eine Religion des Friedens und der Liebe.
Ein bemerkenswerter Versuch in dieser Richtung ist ein zum Dialog einladender Offener Brief,
den 138 führende islamische Gelehrte am 13.10.2007 an Papst Benedikt und hochrangige
Vertreter von christlichen Kirchen in der ganzen Welt sowie an die ganze Christenheit gerichtet haben. Seine Überschrift ist:
„Ein gemeinsames Wort zwischen uns und Ihnen“.2
Dieser bedeutsame Brief ist weit verbreitet worden und hat erhebliches Aufsehen erregt. Er
fand jedoch auch unter namhaften Theologen und Missionsleuten verwirrend unterschiedliche Einschätzungen. Darum geben wir hier für fragende Christen eine Erläuterung und nehmen zugleich selber Stellung zu dem Schreiben.
Einleitend weisen die muslimischen Gelehrten darauf hin, dass schon Mohammed selber in
Sure 3:64 eine solche Einladung an Juden und Christen gerichtet habe:
„Sprich: O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen (gemeinsamen) Wort zwischen uns
und euch, daß wir nämlich Allah allein dienen und nichts neben Ihn stellen und daß nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Allah. Und wenn sie sich abwenden, so sprecht:
Bezeugt, daß wir (Ihm) ergeben sind.“
Wir zitieren den Brief nach der im Internet (Die-Tagespost.de / ZENIT.org) am 17.10.2007 erschienenen
Fassung.
2
Das Dokument stammt aus dem Royal Aal at Bayt Institute for Islamic Thought in Jordanien. Sein Kuratoriumsvorsitzender ist der jordanische Prinz Ghazi bin Muhammad bin Talal. – Dieses Institut unterhält eine
Website AITafsir.com mit einer Rubrik „Frage den Mufti“. Unter den Antworten des leitenden Gelehrten des
Instituts, Scheich Hijjawi, gibt es eine Reihe von Fatwas (Rechtssprüchen), die sich mit der Bestrafung von
zum Christentum zurückgekehrten Muslimen befassen. Diese sollen entweder getötet oder aller Rechte
beraubt und als Unpersonen behandelt werden.
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Das Schreiben setzt ein mit der Feststellung, dass Muslime und Christen gemeinsam mehr
als die Hälfte (ca. 55%) der Weltbevölkerung bilden, und folgert daraus die eindringliche
These: „Ohne Frieden zwischen diesen beiden religiösen Gemeinschaften kann es keinen
wirklichen Frieden in der Welt geben. Die Zukunft der Welt hängt vom Frieden zwischen
Muslimen und Christen ab.“
Als bereits vorhandene gemeinsame Basis entsprechender Friedensbemühungen nennt der
Brief als Grundprinzip beider Religionen das Doppelgebot: „Liebe den einen Gott und liebe
deinen Nächsten“. Das wird mit dem Zitieren von Texten aus dem Koran und der Bibel belegt.
Dabei wird als Grundvoraussetzung für die Liebe zu Gott (Allah) seine Einzigkeit und die
daraus folgende Notwendigkeit, ihm allein aus allen Kräften zu dienen, hervorgehoben. Aufgrund solcher dogmatischen und ethischen Gemeinsamkeit laden die Verfasser die Christen zum interreligiösen Dialog ein, bei dem „unsere Differenzen nicht zu Hass und Streit
zwischen uns führen“, sondern beide Seiten danach streben, „miteinander in Frieden und
Harmonie zu leben“.
Bisherige christliche Reaktionen
Dieser Brief hat unter christlichen Lesern unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen.
• Papst Benedikt XVI. ließ durch seinen Staatssekretär Kardinal T. Bertone am 19. November
2007 in einem an Prinz Ghazi gerichteten Antwortschreiben den Unterzeichnern seinen
Dank übermitteln. Darin brachte er seine Wertschätzung für den Ruf zum gemeinsamen
Einsatz zur Förderung des Friedens in der Welt zum Ausdruck, „ohne unsere Verschiedenheiten als Christen und Muslime zu übergehen“. Er freut sich über den Verweis auf das
Doppelgebot der Liebe, das er ja in seiner Enzyklika Deus Caritas est (25.12.2005) entfaltet
habe.
Der Papst erklärte sich bereit, eine ausgewählte Gruppe von Unterzeichnern zu empfangen und ein Arbeitstreffen zwischen dieser muslimischen Delegation und den für den
Dialog zuständigen vatikanischen Gremien organisieren zu lassen.
• Freudig zustimmend und zugleich bußbereit war die Antwort, die auf Initiative des
Präsidenten der amerikanischen Yale-Universität Professor Harold Attridge am 18. November in der New York Times veröffentlicht wurde. Dieser Brief ist von rund 450 Theologen aller Denominationen unterzeichnet. Das Spektrum reicht von Vertretern radikal
modernistischer Theologie bis hin zu Repräsentanten der Weltweiten Evangelischen
Allianz. In ihm wird die religiöse Basis des muslimischen Schreibens, das Doppelgebot
der Liebe, ebenso bejaht wie die konkrete Zielsetzung, nämlich ein der Sicherung des
Weltfriedens dienender interreligiöser Dialog. „Wir empfangen den Offenen Brief als eine
den Christen weltweit entgegengestreckte muslimische Hand des Zusammenlebens
und der Zusammenarbeit und reichen unsererseits unsere eigene christliche Hand ...“
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Als Voraussetzung für solches Händeschütteln legen die Unterzeichner zu Beginn ihres
Schreibens namens der Christenheit ein doppeltes Schuldbekenntnis ab wegen der Grausamkeiten vieler Christen gegen ihre muslimischen Nächsten, besonders einst bei den
Kreuzzügen und heute bei dem in muslimischen Ländern geführten „Krieg gegen den
Terror“. Zugleich bitten sie um „Vergebung vom All-Barmherzigen Einen sowie der Muslim-Gemeinschaft auf der ganzen Welt.“
• Im Gegensatz dazu steht eine umfangreiche Stellungnahme des Barnabas Fund3, einer
Organisation, die sich um die Unterstützung von verfolgten Christen besonders in muslimischen Ländern bemüht. Diese kritische Analyse identifiziert das „Gemeinsame Wort“ als
eine milde Gestalt von Da’wa, nämlich einen Aufruf an die Ungläubigen, sich zum Islam
zu bekehren und zu unterwerfen. Geschichtlich war dieser oft verbunden mit der Androhung von gewaltsamer Eroberung = jihad, falls er abgelehnt würde.
• Andere Leser vermissen in dem Brief aus Jordanien eine muslimische Selbstkritik. Denn, so argumentieren sie, das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen sei in den letzten Jahren
zusätzlich belastet worden durch eine Reihe von grausamen Verbrechen wie die in New
York, Madrid und London, bei denen viele unschuldige Menschen im Namen des Islam
umgebracht wurden. Daher müsste eine Erklärung zum Verhältnis der beiden Religionen
auf jeden Fall konkret zu diesen Ereignissen Stellung nehmen. Sollten sie nach Meinung
der Unterzeichner nicht im Namen des wahren Islam begangen worden sein, dann wäre
es umso notwendiger, dies auszusprechen und klar zu begründen.
• Angesichts der Länge des Briefes der 138 Gelehrten, der zu seinem Verstehen eingehende
islamologische Kenntnisse voraussetzt, hat die Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften (International Christian Network) einen kleinen Kreis von Islamkennern beauftragt, unter Einbeziehung der Barnabas-Erklärung eine kürzere eigene Beurteilung des
Offenen Briefes zu entwerfen. Sie wurde vom Exekutivausschuß der IKBG dankbar angenommen und wird hiermit als Orientierungshilfe für ratsuchende Christen veröffentlicht.
Wie ist der Brief der 138 muslimischen Theologen
im Licht von Bibel und Koran zu beurteilen?
1. Ausgangspunkt des Briefes ist die Feststellung, dass es Frieden in der Welt nur geben
könne, wenn Muslime und Christen im Frieden miteinander leben. Welcher Friede ist hier gemeint? Offenbar haben die Schreiber hier auf zwei Ebenen gedacht, ohne diese deutlich zu
unterscheiden: zum einen die religiöse, zum andern die zwischenmenschliche des guten
Einvernehmens zwischen Muslimen und Christen. Nach islamischer Auffassung wird Frieden
nur durch Unterwerfung unter den Islam erreicht. Aus christlicher Sicht kann Frieden mit Gott
Die Stellungnahmen des Barnabas Fund vom 28.11.2008 und vom 7.1.2008 sind veröffentlicht in den BF
E-mail News vom 28. Januar 2008.
3
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und den Mitmenschen nur dann werden, wenn sündige Menschen mit Gott versöhnt worden sind. Dies schafft auch nachbarlichen und stärkt öffentlichen Frieden. Doch das persönliche und öffentliche Zeugnis für Christus stößt auf Widerstand. Christus selbst verheißt
keinen Religionsfrieden, auch keinen bloßen Weltfrieden (Matth 24,6-7). – Deshalb erscheint
uns das von den muslimischen Autoren aufgestellte Postulat des Friedens als fragwürdig.
2. Die Autoren behaupten, dass die Liebe zu Gott und zum Nächsten die gemeinsame
Basis von Islam und Christentum sei. Das trifft jedoch nicht zu; denn die beiden Religionen
haben unterschiedliche Verständnisse von Liebe in diesen zwei Beziehungen. Bei genauem
Hinsehen handelt es sich vielmehr um eine islamische Vereinnahmung und Umdeutung biblischer Kernwahrheiten, wie sie bereits Mohammed im Koran vornahm.
3. Der Text und die zitierten Koranstellen machen deutlich, dass im Islam die „Liebe Allahs“
– soweit im Koran überhaupt von einer solchen die Rede ist – in seinen Schöpfungsgaben,
in seiner Willensoffenbarung im Koran und in seiner – im Gericht erhofften – Sündenvergebung besteht. Das gilt vor allem für die sich Allah hingebenden Muslime. Im christlichen
Glauben gründet die Liebe Gottes, seine Agape, zu den Menschen zutiefst darin, dass in dem
dreieinigen Gott selbst ein Verhältnis schenkender und empfangender Liebe besteht, an
welchem Er dem zu seinem Ebenbild erschaffenen Menschen Anteil geben möchte. Das
beginnt damit, dass Gott als Schöpfer und Erhalter sich des Menschen in väterlicher Fürsorge
annimmt. An dieser Stelle gibt es in der Tat eine gewisse Gemeinsamkeit im Glauben von
Juden, Christen und Muslimen. Doch nach dem neutestamentlichen Zeugnis gipfelt Gottes
Liebe in seiner versöhnenden Zuwendung zu den Menschen in der Selbsthingabe seines
Sohnes Jesus Christus (Joh 3,16). Diese tiefe göttliche Liebe wird durch die muslimischen
Autoren aber gerade geleugnet, indem sie zahlreiche Korantexte zitieren, welche die Dreifaltigkeit Gottes und die Gottessohnschaft Jesu Christi implizit ablehnen. Damit wird eine Gemeinsamkeit im Gottesglauben und in dem darin wurzelnden Liebesverständnis bestritten.
4. Nach dem Text des Briefes besteht die menschliche Liebe zu Allah in der Anerkennung
seiner Einsheit („Es gibt keine Gottheit außer Allah ...“), in der Ehrfurcht vor seiner Allmacht, in
Lobpreis und Hingabe an ihn, in Unterwerfung unter seinen Willen („Islam“), in Dankbarkeit
für seine Schöpfungsgaben und im Hoffen auf seine Barmherzigkeit im Gericht. Auch im biblischen Zeugnis ist – hier gibt es wieder Parallelen – das Verhältnis des frommen Menschen
zu Gott durch die Ehrfurcht vor seiner Heiligkeit, seine Anbetung und den Ihm gebührenden
Gehorsam bestimmt. Dieser ist begründet durch die dankbare Liebe zu Ihm im Rahmen der
von Ihm gestifteten gottmenschlichen Gemeinschaft. Es ist die Liebe des Kindes zu seinem
himmlischen Vater.
5. Die im Brief zitierten Korantexte machen deutlich, wie sehr im Islam die „Liebe zum
Nächsten“ durch Gebote geregelt wird (z. B. durch die Pflicht finanzieller Zuwendungen an
Angehörige, Waisen und Bedürftige und den Freikauf von Sklaven). Dem liegt schon das
alttestamentliche bzw. jüdische Verständnis der Wohltat am Nächsten zugrunde. Diese Taten
sind unter dem Oberbegriff zedakah im Hebräischen, sadakah im Arabischen zusammengefasst. Wenn ein Moslem einem andern Menschen eine Wohltat angedeihen lässt, so ist das
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eine sadakah, die ihm zu seiner eigenen Gerechtigkeit dient. Das ist letztlich Selbstliebe. Im
christlichen Glauben dagegen entspringt die Nächstenliebe aus der dankbaren Antwort auf
Gottes uns in Christus erwiesenen Liebe: „Lasset uns Ihn lieben; denn Er hat uns zuerst geliebt“
(1 Joh 4,19). Sie gilt allen Menschen und schließt sogar die Feinde ein. So ist es kein Zufall,
dass z. B. humanitäre Hilfe nach Naturkatastrophen wie dem Tsunami vom 26. Dezember
2004 ganz überwiegend aus christlich geprägten Ländern kam, auch wenn die Empfänger
Muslime waren.
6. Die Autoren bezeichnen „Gerechtigkeit und Religionsfreiheit“ als Teil der Liebe zum
Nächsten. Der Zusammenhang macht aber deutlich, dass damit nicht Gerechtigkeit (Gleichheit) und Freiheit im modernen Sinn gemeint sind. Vielmehr geht es um das Recht, Allah
allein verehren zu dürfen. In diesem Sinne interpretieren die Autoren „Gerechtigkeit“ und
„Religionsfreiheit“ (angeblich durch Sure 2:256 begründet) als Freiheit, den Islam ohne jede
Einschränkung praktizieren zu dürfen. Demnach wäre eine „gerechte“ Gesellschaft eine islamische Gesellschaft. Dagegen gehen die Verfasser nirgends in ihrem Brief darauf ein, dass
Christen und christliche Gemeinden in fast allen islamischen Ländern in der Ausübung ihres
Glaubens massiv eingeschränkt, ja, in einigen Ländern sogar grausam verfolgte Minderheiten sind. Diesen Zustand zu ändern wäre doch die erste Voraussetzung für einen echten
Religionsfrieden zwischen Muslimen und Christen.
7. Die Autoren nennen immer die Muslime vor den Christen und belegen dabei ihre Behauptungen zuerst mit Koranzitaten (und vermeintlichen Aussprüchen Mohammeds), bevor
sie Bibelstellen zitieren, die den Koran bestätigen sollen. Das ist keineswegs zufällig; denn
nach islamischer Ansicht ist der Islam die „Religion Gottes schlechthin“ und deshalb vorjüdisch und vorchristlich. Judentum und Christentum werden als degenerierte Varianten des
Islam angesehen, die Bibel als Verfälschung des ursprünglichen Willens Allahs. Mohammed
dagegen habe – so sagt es der Koran an vielen Stellen – den ursprünglichen Willen Allahs
(der in den hypothetischen „früheren Büchern“ offenbart war) bestätigt. Es ist deshalb offensichtlich, dass in dem muslimischen Text nur solche Bibelworte zitiert werden, die dem Koran
scheinbar nicht widersprechen.
8. Die Vereinnahmung und Umdeutung biblischer Aussagen, wie sie die Autoren vornehmen, geschah bereits durch Mohammed im Koran und verstärkt auch durch die Tradition
(Hadith). Die zahlreichen im Text zitierten vermeintlichen Aussprüche Mohammeds spiegeln
die frühe jüdisch-christlich-islamische Kontroverse wider, in der Muslime biblische Aussagen
für sich in Anspruch nahmen. Diese Texte scheiden deshalb als Argumente für angebliche
Gemeinsamkeiten aus.
9. Die Autoren betonen, dass Mohammed Prophet Allahs im abschließenden und unüberbietbaren Sinn gewesen sei. Damit unterstreichen sie einen wesentlichen Unterschied zum
biblischen Zeugnis, nach dem Jesus das abschließende und überbietende Wort Gottes ist
(Hebr 1,1ff.). Für uns Christen besteht das Wesen echter Prophetie darin, dass sie vorausschauend oder zurückblickend auf Gottes Heilsoffenbarung in Jesus Christus weist, was aber Mohammed nun gerade nicht tat. Darum können Christen ihn nicht als Propheten anerkennen.
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10. Bei aller scheinbaren Anpassung an biblischen Sprachgebrauch beharrt der Brief auf
islamischen Positionen und ist insofern nichts anderes als eine Werbung für den Islam. Dieser
„Ruf zum Islam“ (Da’wa) wird durch Zitierung von Sure 16:125 ausdrücklich formuliert.
11. Die Vereinnahmung von Juden und Christen in den Islam hinein wird am Aufruf zur
Gemeinsamkeit in Sure 3:64 deutlich, in der die Einsheit Allahs und damit implizit die Preisgabe der Gottessohnschaft Jesu als „gemeinsame Basis“ postuliert wird. In diesem Sinne wird
behauptet, dass Muslime die Messianität Jesu anerkennen, obwohl der Koran deutlich macht
(4:171), dass Mohammed unter „Messias“ („nur ein Gesandter Allahs“) etwas anderes als die
Bibel verstand.
12. Als Konsequenz aus einer angeblichen Einheit wird gefordert, dass alle wahren Verehrer
Allahs (d. h. im Grunde nur die Muslime bzw. „muslimische Juden und Christen“) die Freiheit
haben sollen, den Geboten Allahs unabhängig von staatlichen Gesetzen Folge leisten zu
dürfen. Damit fordern die Autoren, die Scharia jedem staatlichen Gesetz überzuordnen.
13. Die Autoren schränken ihr „Friedensangebot“ an die Christen von vornherein ein. Es
gilt nur, wenn Christen den Islam nicht „angreifen“. Bekanntlich aber gilt bereits die ausgesprochene Nichtanerkennung Mohammeds und erst recht die christliche Verkündigung an
Muslime als ein Angriff auf den Islam. Das Friedensangebot gilt also nur für „muslimische“
Christen, die auf die offene Bezeugung der Gottessohnschaft Jesu verzichten.
14. Der Text versucht, Christen zu spalten, indem nach Sure 3:113-115 unterschieden wird
(„unter dem Volk der Schrift ist eine Gemeinde ...“) zwischen „Schriftbesitzern“, die mit den Muslimen eins seien, und anderen, die das offensichtlich nicht sind. In diese Richtung geht auch
die Behauptung, dass die Christen sich im Blick auf die „Natur Christi“ nicht eins seien. Damit haben sie angesichts des verkürzten Christusverständnisses moderner Theologen zwar
recht, leider! Jedoch geht es im Zusammenhang des Textes gar nicht um seine Natur, sondern um seine Messianität, über die sich biblisch orientierte Christen einig sind.
15. Die Autoren schließen ihren Text, indem sie angesichts der Unterschiede zwischen Christen und Muslimen den Koran zum Maßstab erheben. Denn in Sure 5:48 wird Mohammed
aufgefordert, sein Urteil über die „Schriftbesitzer“ (Juden und Christen) mit Hilfe des Koran
vorzunehmen. Damit beweisen die Autoren, dass sie an einem Dialog „auf gleicher Augenhöhe“ gar nicht interessiert sind, sondern von vornherein den Koran der Bibel überordnen.
Schlußfolgerung
Angesichts der rein islamischen Voraussetzungen, die dem Brief der 138 muslimischen Gelehrten zugrunde liegen, sowie der darin offen ausgesprochenen Ziele kommen wir zusammenfassend zu folgendem Ergebnis:
Das „Gemeinsame Wort“ erweist sich bei sorgfältiger Analyse als Aufforderung an die Christen, Christus als Zentrum ihres Glauben preiszugeben und diesen einschränkend auf die islamisch verstandene Liebe zu Gott = Allah und zum Nächsten zu konzentrieren.
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„Liebe zu Gott“ bedeutet jedoch für den Islam etwas grundlegend anderes als in der Bibel.
Sie ist die Unterwerfung unter die islamische Gottheit und die Akzeptanz des Koran sowie
die Aufrichtung der Scharia als Staatsgesetz. Auf solche Zumutung können wir Christen uns
keinesfalls einlassen, ohne unsern Herrn und Heiland zu verleugnen.
Das „Gemeinsame Wort“ ist also kein Angebot des friedlich-toleranten Miteinanders von
Muslimen mit biblisch gläubigen Christen oder Ausdruck eines Respekts vor deren Glauben
an Jesus Christus als Sohn Gottes und Erlöser. Vielmehr muss es als ein kluges Da’wa Traktat
verstanden werden, das in Anwendung der in der islamischen Glaubensverbreitung (Da’wa)
erlaubten, ja empfohlenen „Takya“ = Täuschung darauf abzielt, Christen über die tiefen Gegensätze im muslimischen und christlichen Verständnis biblischer Begriffe zu täuschen.
In Wirklichkeit geht es um die Aufforderung an die Christen, von „Shirk“, d. h. der ihnen vorgeworfenen Sünde polytheistischer Beigesellung, abzulassen. Das heißt nichts weniger als dies,
dass Christen ihren Glauben an Jesus Christus als dem Vater wesensgleichen Sohn Gottes
aufgeben sollen und sich allein dem Willen Allahs, wie er im Koran artikuliert wird, ergeben.
Das ist für den Islam die Voraussetzung für Frieden mit den Christen, zugleich aber, wie der
vorliegende Brief in geradezu drohender Weise deutlich macht, die Voraussetzung auch für
die Sicherung des gefährdeten Weltfriedens.
Diese eigentliche Zielsetzung wurde bisher in gutgläubiger Naivität von zahlreichen christlichen Lesern des „Gemeinsamen Wortes“ aus Mangel an Kenntnis und Unterscheidungsvermögen nicht entdeckt. Vielleicht unterblieb das auch deswegen, weil manche unter ihnen
den biblischen Grundlagen ihres eigenen Glaubens schon so weit entfremdet sind, dass sie
das entscheidend Trennende zwischen den beiden Religionen nicht mehr sehen können
bzw. wollen.
Das zeigt sich bisweilen schon im zustimmenden Gebrauch von Namen und Begriffen, die
ihren Sinn von ihrer Verankerung im islamischen Glauben erhalten, wie z. B. die Bezeichnung Mohammeds als „Prophet“ und Gottes als des „allerbarmenden Einen“ in dem Antwortschreiben aus der Yale-University. Seine Unterzeichner mögen gewiss meinen, damit der
gegenseitigen Verständigung und dem Erhalt des religiösen und politisch-sozialen Friedens
zu dienen. Tatsächlich aber leisten sie durch eine solche Verwischung der Gegensätze den
missionarischen Absichten glaubensbewußter Muslime und dem in der Scharia begründeten Machtstreben radikal-islamischer Bewegungen in fahrlässiger Weise Vorschub.
Wir bitten also alle Christen, besonders aber die kirchlichen Führer, an die das „Gemeinsame
Wort“ der 138 muslimischen Gelehrten primär gerichtet ist, es im Lichte der von uns vorgelegten Analyse diakritisch zu lesen und sich auf einen interreligiösen Dialog nur in großer
theologischer Vorsicht und in klarer Benennung der fundamentalen Unterschiede zwischen
den beiden Religionen einzulassen. Das bedeutet weder eine Verachtung der auch von uns
bewunderten persönlichen Frömmigkeit vieler gläubiger Muslime noch die Verweigerung
einer Zusammenarbeit im Interesse der Wahrung bzw. Wiederherstellung des Völkerfriedens
– zumal in solchen Gebieten, in denen muslimische und andersgläubige Bevölkerungsteile
in blutige Kämpfe verstrickt sind und darunter leiden!
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Wohl aber ist es nötig, beide Bereiche, den geistlichen und den weltlichen, sorgfältig zu
unterscheiden und sich in der sachlich gebotenen Kooperation nicht auf Kompromisse im
Glauben einzulassen.
Für die Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften am 24.02.2008 hg. von:
Prof. Dr. Peter P. J. Beyerhaus DD, Vorsitzender
Prof. Dr. Dr. Horst W. Beck, Stellvertretender Vorsitzender
Pastor Ulrich Rüß; Kirchenrat Dr. Rolf Sauerzapf; Dir. i. R. Pfarrer Dr. Horst Neumann, Schatzmeister ICN; Prof. Dr. Bodo Volkmann; Prof. Dr. Günter R. Schmidt; Pfr. Burghard Affeld; Dekan Martin
Holland u. Frau Rosmarie Holland; Chefredakteur Odd Sverre Hove, Bergen (N); Pfr. Erik Bennetzen; Vestervig (DK); Pfr. Dr. Marten Kuiper, Twijzel (NL); Pastor Ingmar Kurg, MA, Tallinn (EST);
OStR Erik Wiberg, Värnamo (S); PD Dr. Markus Zehnder (CH); Prof. em. Hans Schieser, DePaul University Chicago (USA); Frau Dorothea Scarborough (ZA); Dozent Dr. Christof Sauer, Universität
von Südafrika.
Dr. med. Dieter Kuhl, Vorstandsvorsitzender des Islam-Instituts der Deutschen Evangelischen
Allianz; Pfr. Eberhard Troeger; Pastor Dr. h. c. Horst Marquardt; Kirchenrat i. R. Albrecht Hauser
(Vorstandsmitglieder).
24. Februar 2008
Quelle: Faltblatt, Institut Diakrisis, Schulstr. 1, 72810 Gomaringen
www.institut-diakrisis.de/ICNmuslimischenTheologen.pdf
(Wir danken für die Abdruckgenehmigung.)
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9. World Council of Churches /
Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
Gemeinsam das Verständnis der Liebe erschließen
Ein Lernprozess – Vorschläge an die Kirchen für eine Antwort
auf den Brief „Ein gemeinsames Wort”
Vorwort
Am 13. Oktober 2007 richtete eine Gruppe von 138 muslimischen Gelehrten einen offenen Brief an
christliche Führungspersönlichkeiten, darunter auch den Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen. Auf der Grundlage erster Kommentare von Mitgliedskirchen setzte der ÖRK einen
Prozess zur Ausarbeitung eines Antwortschreibens in Gang. Im November 2007 begann er, seine
Mitgliedskirchen und ökumenischen Partner zu konsultieren, von denen einige mit großer Begeisterung reagierten. Es folgte eine Tagung von Theologen/innen und Kirchenexperten/innen, die im
Bereich der christlich-muslimischen Beziehungen engagiert sind. Aus ihren Diskussionen ging folgende Stellungnahme zu dem Brief hervor, die unter der Überschrift „Gemeinsam das Verständnis
der Liebe erschließen – ein Lernprozess“ steht. Diese Stellungnahme soll den Kirchen bei ihrer Lektüre und Antwort auf den Brief „Ein gemeinsames Wort“ als Orientierungshilfe dienen. Sie enthält
Vorschläge, die den Mitgliedskirchen und ökumenischen Partnern in ihrer Reflexion über den Brief
und die darin enthaltene Einladung, gemeinsam mit ihren muslimischen Gesprächspartnern über
die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten in ihrem jeweiligen Kontext nachzudenken, Hilfestellung leisten sollen. Kirchen und ökumenische Partner werden dann gebeten, ihre Überlegungen
an den ÖRK weiterzuleiten und so zu einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen
Antwort auf diese Initiative beizutragen. Der laufende Reflexionsprozess und der Wunsch, durch
diese Dialoginitiative eine gemeinsame Stellungnahme zu dem Brief auszuarbeiten, werden weiter
unten beschrieben.
Ein Brief von 138 muslimischen Gelehrten
Der Brief mit dem Titel Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch (der einem Koranvers
entnommen ist, in dem Christen und Muslime zum Gespräch miteinander eingeladen werden) beschreibt Grundlagen des christlichen und muslimischen Glaubens und Lebens, die
den Anhängern beider Religionen nach Auffassung der Verfasser gemeinsam sind. Sie fassen
diese in dem Doppelgebot der Liebe zusammen, das in der Bibel folgendermaßen formuliert ist: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von
ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten
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lieben wie dich selbst.“ Mit Zitaten aus Bibel, Koran und Hadith (Aussprüche des Propheten
Mohammed) verweisen sie dann auf die Ähnlichkeiten zwischen christlichen und muslimischen Lehren über die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Auf der Grundlage dieser
gemeinsamen Lehren laden die Verfasser dann die Christen ein, sich mit ihnen über die „gemeinsamen Grundaussagen unserer beiden Religionen“ zu verständigen. Sie stellen auch
klar, dass es Unterschiede zwischen Christentum und Islam gibt und raten davon ab, „einige
unserer formalen Unterschiede zu verschleiern“. Sie erinnern jedoch daran, dass die beiden
Religionen zusammen 55% der Weltbevölkerung ausmachen, „was ihre Beziehungen zueinander zu dem bedeutendsten Faktor in sinnvollen friedenstiftenden Bemühungen in aller
Welt macht. Wenn Muslime und Christen keinen Frieden untereinander halten, kann die Welt
keinen Frieden finden.“
Diese Einladung stellt eine vielversprechende neue Etappe in der muslimischen Reflexion
über die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen dar. Während ihrer ganzen gemeinsamen Geschichte haben sich Anhänger beider Glaubensrichtungen allzu oft gegenseitig
missverstanden. In jüngerer Zeit hat sich auf beiden Seiten eine neue Denkweise durchgesetzt; die Kirchen haben angefangen, neu über die Beziehungen zwischen dem Christentum
und anderen Religionen, einschließlich des Islam, nachzudenken – ein wichtiges Ergebnis
dieses neuen Denkens ist die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen der römisch-katholischen Kirche aus dem Jahr 1965 und die Leitlinien zum Dialog mit
Menschen verschiedener Religionen und Ideologien des Ökumenischen Rates der Kirchen aus
dem Jahre 1979. Im Gemeinsamen Wort zwischen uns und euch findet sich ein klarer Hinweis
darauf, dass führende muslimische Gelehrte und Religionsführer sich einem neuen Denken
über die Beziehung zwischen Islam und Christentum verpflichtet fühlen. Dies ist ein mutiger
Schritt – seither haben ca. einhundert weitere muslimische Wissenschaftler den Brief unterzeichnet – und eine aufrichtige Geste, die wir von Herzen begrüßen.
Anregungen für ein Antwortschreiben
In Abstimmung mit seinen Mitgliedskirchen und ökumenischen Partnern und nach Beratung
mit Experten schlägt der Ökumenische Rat der Kirchen vor, einen Prozess in Gang zu setzen,
der auf geduldige Reflexion und gegenseitiges Kennenlernen von Christen und Muslimen
setzt und so dazu führen kann, dass beide sich mit neuen Augen sehen, hartnäckige Vorurteile aufgeben und in gegenseitiger Achtung neue Wege der Zusammenarbeit gehen.
Dieser Prozess schließt folgende Schritte ein:
• Der Ökumenische Rat der Kirchen ermutigt seine Mitgliedskirchen und ökumenischen
Partner, die mit dem offenen Brief verfolgte ernsthafte Absicht anzuerkennen und zu begrüßen und die darin enthaltene Einladung zu Dialog und Zusammenarbeit im Geiste
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des Gebets zu erwägen. Er lädt sie ebenfalls ein, zusammen mit anderen Kirchen in ihrem jeweiligen Kontext über den Inhalt des Briefes nachzudenken. Einige Kirchen haben
diesen Weg bereits eingeschlagen. Das vorliegende Dokument verfolgt das Ziel, diese
Bemühungen zu fördern und zu vertiefen.
• Der Rat wird seine muslimischen Partner – insbesondere die Unterzeichner des Briefes –
aufrufen, gemeinsam mit ihm eine Planungsgruppe einzurichten, die Schritte auf dem
Weg zu gemeinsamen Aktionen vorbereiten soll, und gemeinsame muslimisch-christliche Initiativen zu Dialog und Zusammenarbeit auf regionaler wie internationaler Ebene
anzustreben.
• Der Rat wird dieser Gruppe vorschlagen, eine Reihe von Konsultationen zu organisieren,
auf denen muslimische und christliche Führungspersönlichkeiten, Gelehrte und Fachleute die sich neu bietende Chance nutzen und über bestehende Gemeinsamkeiten nachdenken, einen theologischen und ethischen Bezugsrahmen für künftige gemeinsame Initiativen erarbeiten und neue Wege finden, wie sie Fragen des Glaubens und des Lebens
weiter vertiefen können.
Wir unternehmen diese Schritte in der Annahme, dass die Unterzeichner des Briefes ihre Einladung im vollen Bewusstsein all der Schwierigkeiten ausgesprochen haben, die entsprechende Bemühungen in der Vergangenheit mit sich gebracht haben, und dass diese Einladung
den neuen und entschlossenen Wunsch zum Ausdruck bringt, einen Neubeginn zu wagen.
Gemeinsam das Verständnis der Liebe zu Gott und der Liebe
zum Nächsten erschließen
In dem Brief werden sehr ausführlich die Ähnlichkeiten beschrieben, die es zwischen Chris­
ten und Muslimen in wesentlichen Punkten der Gottes- und der Nächstenliebe gibt. Die
Unterschiede in der Art und Weise, in der sie diese Gebote verstehen und in die Praxis umsetzen, dürfen dabei jedoch nicht übersehen werden.
Das Zeugnis vergangener und gegenwärtiger muslimischer und christlicher Schriften über
und gegen den jeweils anderen führt uns deutlich vor Augen, dass es leicht zu Missverständnissen kommen kann, wenn die Anhänger beider Religionen versuchen, den Glauben des
jeweils anderen ohne die erforderliche Sorgfalt und Aufmerksamkeit zu interpretieren. Daher
muss unmissverständlich gesagt werden, dass Christen bereit sein sollten, den Islam kennenzulernen, indem sie genau zuhören, was Muslime selbst über ihren Glauben zu sagen haben,
und dass Muslime bereit sein sollten, das Christentum kennenzulernen, indem sie genau
zuhören, was Christen selbst über ihren Glauben zu sagen haben. Vorgefasste Meinungen
müssen aufgegeben werden und die Anhänger beider Glaubensrichtungen müssen bereit
sein, die Einsichten und Erkenntnisse der jeweils anderen so zu verstehen, wie diese selbst sie
aus ihrer eigenen Sicht darstellen.
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Das gemeinsame Bemühen um das Verständnis der Liebe zu Gott wird für Christen wie Muslime zweifellos zu überraschend lehrreichen Einsichten führen. Ebenso wird das gemeinsame Nachdenken über die Liebe zum Nächsten den Anhängern beider Religionen deutlich
machen, dass ihre Prinzipien und ihre Praxis in vielen Punkten übereinstimmen. Aber diese
Anzeichen von Ähnlichkeit müssen in Spannung zu den faktisch bestehenden Divergenzen
und den schwer miteinander zu versöhnenden Unterschieden gebracht werden.
So z. B. bekennen sich Christen und Muslime zwar übereinstimmend zu Gott dem Einen, aber
was bedeutet im Islam wirklich die Lehre von der Tahwid (Einheit Gottes) und was bedeutet
im Christentum wirklich die Lehre von der Trinität? Handelt es sich dabei um unvereinbare
Lehren, wie die Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Glaubensrichtungen belegt, oder gibt es eine Möglichkeit, sie als einander ergänzende Einsichten in das
Geheimnis Gottes zu verstehen?
In ähnlicher Weise erheben Muslime wie Christen den Anspruch, Offenbarungen von Gott
empfangen zu haben, aber was bedeutet es, wenn Muslime den Anspruch erheben, Gottes
Wille sei im Koran offenbart worden – oder, wie auch gesagt wird, das Wort Gottes sei Buch
geworden? Und was bedeutet es, wenn Christen den Anspruch erheben, Gottes Sein sei in Jesus Christus offenbart worden – oder, wie es auch heißt, das Wort Gott sei Fleisch geworden?
Ebenso ist die Liebe zum Nächsten in beiden Religionen wesentlicher und integraler Bestandteil des Glaubens an Gott und der Liebe zu Gott. Gott zu gehorchen, bedeutet für Christen
wie Muslime gleichermaßen, Notleidenden in der Gesellschaft zu helfen. Im Islam kommt die
Liebe zum Nächsten darin zum Ausdruck, dass man sich verantwortungsvoll und großzügig
der Bedürftigen in der Gemeinschaft annimmt. Im Christentum wird die Nächstenliebe als
Spiegelbild der Liebe verstanden, die Gott den Menschen in Jesus Christus geschenkt hat.
Diese Liebe überwindet geographische und religiöse Grenzen und schließt ausnahmslos alle
Glieder der menschlichen Gemeinschaft ein, wie im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter
gezeigt wird.
Das Konzept der Gottes- und der Nächstenliebe ist nur einer der Ausgangspunkte für den
Dialog, nur eine der Brücken zu gemeinsamem Engagement; gleichzeitig sollte im Dialog
und in der Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen nach einer gemeinsamen Basis für das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden gesucht werden.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Respekt und Liebe klären
Wenn es Christen und Muslime auch häufig erstaunen mag, aus den Äußerungen und Erklärungen des anderen Dinge herauszuhören, die dem Anschein nach ihre eigenen Überzeugungen widerspiegeln, so werden sie auch erkennen, dass es völlig unterschiedliche Schwerpunktsetzungen sowie klare Unterschiede gibt, die sich allen Harmonisierungs­bemühungen
widersetzen. Dazu gehört nicht zuletzt die Schwierigkeit für Christen, Mohammed als Propheten, und die Schwierigkeit für Muslime, Jesus als fleischgewordenen Gott anzuerkennen.
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Diese Schwierigkeiten erwachsen aus aufrichtigen Überzeugungen, die jahrhundertelang
leidenschaftlich verteidigt und genauso leidenschaftlich in Frage gestellt und abgelehnt
worden sind.
Es ist daher dringend notwendig, dass Christen und Muslime einerseits Wege finden, wie
sie das, was ihnen gemeinsam ist, stärken können; sie müssen aber andererseits auch Wege
finden, wie sie die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede anerkennen und respektieren
können und wie sie diese verstehen können, und sie dürfen nicht zulassen, dass sie Feindschaft zwischen ihnen säen. Ein Abgleiten in gegenseitige Schuldzuweisungen und Verurteilungen stellt ein Verhaltensmuster dar, das sich in der Vergangenheit immer wieder wiederholt hat – zum Leidwesen aller Menschen guten Willens, die allerdings auch voller Schmerz
eingestehen, dass Religion in unterschiedlicher Weise immer wieder missbraucht worden ist.
Ein solches Verhaltensmuster kann leicht auch in Zukunft fortbestehen, wenn nicht sorgfältig
geplante Schritte unternommen werden, um dies zu verhindern.
Vor dem Hintergrund der Pluralität und Komplexität ihrer gemeinsamen Geschichte müssen
sowohl Christen als auch Muslime hart daran arbeiten, Respekt füreinander zu entwickeln,
wenn gegenseitiges Verständnis schwierig ist, und Vertrauen zu schaffen, wenn Unterschiede trotz aller Bemühungen nicht überwunden werden können. Im vollen Bewusstsein ihrer
langen gemeinsamen Geschichte und angesichts von Beispielen gegenseitiger menschlicher
Achtung müssen sie die Notwendigkeit erkennen, sowohl auf lokaler als auch auf globaler
Ebene aktiv an der Heilung von Wunden zu arbeiten und innere Einstellungen und Klischees
zu ändern. Die Mitgliedskirchen werden ermutigt, Erfahrungen miteinander auszutauschen
und aus den Erfahrungen anderer zu lernen. Ferner sollten sie prüfen, wie diese Erfahrungen
ihr künftiges Vorgehen beeinflussen und hinterfragen könnten.
Aber mehr noch: selbst wenn Christen und Muslime in Glaubensfragen weiter unterschiedlicher Meinung sind, sollten sie sich bemühen, an einen Punkt zu gelangen, an dem sie anerkennen und bekräftigen können, was ihnen gemeinsam ist – mit genügend Integrität, um
sich gemeinsam in der Welt engagieren zu können. Daher sollten sie es als ihre wichtigste
Aufgabe ansehen zu verstehen, wie das kostbare Erbe ihres Glaubens, das sie beide besitzen,
sie leiten und sogar antreiben kann, sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen und dabei ihre gemeinsamen Ziele zu erkennen und dem Ruf des einen Gottes zu
folgen, den sie anbeten und dem sie gehorchen und der sie aufruft, nicht nur zu einem gemeinsamen Wort, sondern auch zu gemeinsamem Handeln zusammenzukommen, zur Ehre
Gottes und zum Wohl der Menschen.
20. März 2008
Quelle: www.oikoumene.org/fileadmin/files/wcc-main/documents/p6/LearnExplLoveTog__GER.pdf
92
EZW-Texte Nr. 202/2009
10. World Evangelical Alliance /
Weltweite Evangelische Allianz (WEA)
Auch wir wollen in Liebe, Frieden, Freiheit
und Gerechtigkeit leben
Eine Antwort auf A Common Word Between Us and You1
Frieden
Wir begrüßen es sehr, dass Sie in Ihrem Brief die Tatsache betonen, dass diese Welt Frieden
nötig hat, und dass Mitglieder der zwei größten Weltreligionen eine wesentliche Rolle dabei
spielen werden, die Zukunft der Welt zu bestimmen. Wenn wir in unserem Leben und in
unserer Lehre zu Krieg und Streit aufrufen, dann werden dem Gewalt und Blutvergießen
folgen. Wenn wir dagegen für Frieden und Gerechtigkeit eintreten, werden Menschenleben
gerettet werden.
Wir wollen keinen Zweifel daran lassen, dass wir als Christen mit Muslimen in Frieden leben
wollen, so wie wir es mit allen Männern und Frauen auf dieser Welt tun wollen. Dies ist ein
grundlegender Wesenszug unserer Religion, auch wenn wir nicht immer konsequent das leben und gelebt haben, was uns von Gott und in unserer schriftlichen Offenbarung geboten
ist. Wir bedauern die Handlungen von Christen in der Vergangenheit und Gegenwart, die
nicht den Lehren und dem Beispiel Jesu entsprechen. Wir sind fest entschlossen, anders als
sie zu handeln.
In Matthäus 5,9-11 gebietet uns Jesus: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer
ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen
und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.“ In Lukas 10,5
gebietet uns Jesus: „Wenn ihr in ein Haus kommt, sprecht zuerst: Friede sei diesem Hause!“
Und Jakobus, der Bruder Jesu, lässt ganz richtig die Worte seines Bruders anklingen, wenn
er sagt: „Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird gesät in Frieden für die, die Frieden stiften.“
(Jakobus 3,18)
Ähnlich schreibt auch Paulus, der Apostel Jesu, in Römer 12,17-18: „Vergeltet niemand Böses
mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt,
so habt mit allen Menschen Frieden.“ In 1. Timotheus 2,1-2 dehnt Paulus dieses Gebot auf die
Welt der Politik aus: „So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte
Deutsche Übersetzung des Briefes des Internationalen Direktors der Weltweiten Evangelischen Allianz
Geoff Tunnicliffe an die muslimischen Leiter vom 13. März 2008.
1
EZW-Texte Nr. 202/2009
93
und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.“
Seien Sie darum versichert, dass wir jegliche Bemühungen unterstützen, die in dieser unruhigen Welt den Frieden fördern werden. Wir sind sehr gerne bereit, über das zu sprechen,
was Unruhe fördert, und nach Wegen zu suchen, wie wir friedlich zusammenleben können.
Lassen Sie uns im direkten Gespräch über unsere Differenzen sprechen und versuchen, einander durch gute Argumente zu überzeugen, ohne Gewalt und Androhung von Gewalt,
und damit über die Differenzen in den politischen Strategien oder in der Handlungsweise
der Regierungen hinauszugehen.
In der Tat sind wir mit Ihnen einig, wenn Sie schreiben: „Lassen wir unsere Meinungsverschiedenheiten nicht zu Hass und Streit zwischen uns führen. Lassen wir uns einander nur im
Licht der Gerechtigkeit und der guten Werke betrachten. Lassen wir uns einander respektieren, fair, gerecht und gütig miteinander umgehen und in Frieden, Harmonie und gegenseitigem Wohlwollen leben.“
Wir sind überzeugt, dass jeder Mensch das Ebenbild Gottes und die Würde der Schöpfung
in sich trägt und folglich unseren Respekt verdient, ungeachtet dessen, ob er die Wahrheit
kennt oder nicht oder ob er nach dem Willen Gottes lebt oder nicht.
Ihr Aufruf, unser Aufruf
Sie beginnen Ihre einleitende Zusammenfassung mit einem offensichtlichen „Aufruf an
Chris­ten“, Muslime zu werden, indem sie Gott anbeten sollen, ohne ihm einen Partner zur
Seite zu stellen.
Dürfen wir Sie im Gegenzug dazu einladen, Ihren Glauben an den Gott auszusprechen, der
unseren Widerstand gegen ihn und unsere Sünde durch das vergibt, was sein Sohn Jesus
Christus für uns am Kreuz getan hat?
Wir tun dies nicht, weil wir Streit suchen, sondern weil wir von der Wahrheit unseres Glaubens ebenso überzeugt sind wie Sie von der Wahrheit Ihres Glaubens. Jesus sagt in Johannes
17,3 in einem Gebet, das an Gott, seinen Vater, gerichtet ist: „Das ist aber das ewige Leben,
dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“ Jesus selbst sagte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt
zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14,6).
Indem Sie mehrere Male auf Aussagen des Korans hinweisen, denen zufolge Gott weder
einen Partner noch einen Gefährten besitzt, lenken Sie die Aufmerksamkeit ganz richtig auf
den größten Unterschied zwischen dem Islam und dem Christentum. Obwohl wir überzeugt
sind, dass Sie unsere Lehre von Gott als dem Dreieinigen missverstehen, wenn Sie von einem
„Partner“ Gottes sprechen, sind wir doch überzeugt von der Wahrheit der Dreieinigkeit, und
folglich können wir Ihre Einladung nicht annehmen. Wir wissen, dass dies ein grundlegender
Unterschied in unserem Verständnis vom Wesen Gottes ist; einer, der nach langen und auf94
EZW-Texte Nr. 202/2009
richtigen Gesprächen und unvoreingenommenem Hören aufeinander ruft, wenn wir unsere
jeweiligen Positionen wirklich verstehen und über historisch gewachsene Zerrbilder hinauskommen wollen. Wir bitten Sie inständig, darüber nachzudenken, ob Sie sich an solchen
Gesprächen mit uns beteiligen wollen.
Ein christliches Verständnis von Liebe
Ihr Brief bezeichnet natürlich erst den Anfang dessen, was sich zu einer langen Diskussion
zwischen uns entwickeln könnte. Sie erwähnen nicht viele Themen, die zum Kern unseres
und Ihres Glaubens gehören; Dinge, über die wir nicht leichtfertig hinwegsehen können und
auch nicht sollten. In Ihrem Brief zitieren Sie nur solche Worte Jesu, die mit Ihrem Glauben
übereinstimmen. Das ist natürlich Ihr gutes Recht und wir nehmen alles, was Sie von Jesus
zitieren, sehr ernst. Doch uns steht das Recht zu, alles zu befolgen, was Jesus gesagt hat, wie
wir es in den vier Evangelien lesen, die Teil unseres heiligen Buches sind.
Nach unserem Verständnis ähnelt Ihre Einladung an uns, Muslime zu werden, sehr stark der
Einladung, die Mohammed zu seinen Lebzeiten gegenüber Juden und Christen ausgesprochen hat. Mohammed war überzeugt, dass Jesus dieselbe Botschaft gelehrt habe wie er und
dass jedes Wort Jesu im Neuen Testament, das nicht mit seiner Botschaft übereinstimmte,
folglich keine Originalbotschaft Jesu, sondern eine Verfälschung sei.
So, wie wir Ihr Recht, dies zu glauben, respektieren, nehmen wir auch für uns das Recht in Anspruch, anderer Meinung zu sein und die Botschaft von Jesus Christus in Übereinstimmung
mit unserem eigenen Glauben und unserer Tradition selbst auszulegen. Wir möchten dies
anhand einer kurzen christlichen Auslegung Ihres zentralen Themas der „Liebe“ erläutern.
Von zentraler Bedeutung für uns ist Folgendes:
1. Gott ist derjenige, der uns zuerst geliebt hat.
2. Ewige Liebe geschieht zuallererst zwischen Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott
dem Heiligen Geist.
3. Jesus ist die Mensch gewordene Liebe Gottes.
4. Jesu Tod am Kreuz ist der größte Beweis der Liebe Gottes zu uns.
5. Der Grund, weshalb wir Gott und unseren Nächsten nicht lieben, ist unsere Sündhaftigkeit und unser Widerstand gegen Gott.
6. Nur Gottes Vergebung kann uns von Menschen, die Gott und andere Menschen hassen,
zu solchen Menschen verändern, die in Versöhnung mit Gott und anderen Menschen
leben.
7. Folglich können wir erst dann lieben, wenn die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist.
EZW-Texte Nr. 202/2009
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Weil für uns diese Art der Liebe so zentral ist, brauchen Sie keine Befürchtungen zu haben,
dass wir unsere unterschiedliche Sichtweise, was Liebe betrifft, insgeheim oder auch ganz
offen als Vorwand dazu benutzen werden, Sie nicht zu lieben oder den Frieden zwischen uns
zu gefährden. Wir machen nur deswegen auf unsere Differenzen aufmerksam, um zu zeigen,
dass wir einen langen Weg vor uns haben, wenn wir die Liebe zum zentralen Thema unserer
Gespräche machen wollen.
Religionsfreiheit
Wie Sie wissen, leben Muslime und Christen auf der ganzen Welt in den gleichen Ländern
zusammen. Wenn wir in diesen Ländern friedlich zusammenleben wollen, können wir nicht
warten, bis wir alle unsere theologischen Probleme gelöst haben. Sie sagen es: „Gerechtigkeit
und Religionsfreiheit sind ein entscheidender Teil“ des Friedens, den wir uns alle wünschen.
Zu keiner Zeit in der Menschheitsgeschichte hat irgendein Land auf der Welt dadurch Frieden zwischen den Religionen geschaffen, dass sich diese Religionen in allen Unterschieden
einig wurden und sich zusammenschlossen. Normalerweise war und ist es immer genau
andersherum. Wenn die Religionen beschließen, auf Gewalt, Zwang oder politischen Druck
gegeneinander zu verzichten, wird dadurch eine Plattform geschaffen, auf der die religiösen
Gruppen trotz aller Differenzen nebeneinander existieren können, wobei jede Religionsgemeinschaft in vollem Maß ihren Glauben ausüben und verbreiten darf und es allen Mitgliedern dieser Gesellschaft freigestellt ist, unter allen großen und kleinen Religionsgemeinschaften zu wählen, welcher Religion sie folgen wollen und welcher nicht.
Auch innerhalb unserer eigenen Religionsgemeinschaften ist es ja offensichtlich, dass wir
zwischen den unterschiedlichen theologischen Schulen nicht in allen Details zu einer Einigung kommen. Hier denken wir zum Beispiel an die Unterschiede zwischen dem schiitischen und sunnitischen Islam oder dem protestantischen, orthodoxen und katholischen
Christentum. Wann immer diese unterschiedlichen Schulen in der Lage sind, im selben Staat
friedlich zusammenzuleben, dann ist der Grund dafür nicht der, dass sie sich in allem einig
sind, sondern der, dass sie entweder vom Staat dazu gezwungen werden, friedlich zusammenzuleben (was kaum je eine dauerhafte Lösung darstellt), oder aber der, dass sie selbst
beschlossen haben, ihre Differenzen auf den Bereich der Theologie und des Glaubens zu
beschränken und nicht im politischen Raum auszutragen.
Frieden im politischen Bereich kann nicht durch theologische Uniformität bedingt sein. Es
ist im Gegenteil sogar offensichtlich, dass einzelne Regierungen auch dann gegeneinander
Krieg führen können, wenn sie dieselben religiösen Überzeugungen teilen. Stattdessen müssen wir anerkennen, dass Religionsfreiheit ein Grundrecht für alle Menschen ist, insbesondere aber für diejenigen, die von unseren eigenen Überzeugungen abweichen. Der wahre
Prüfstein für Religionsfreiheit ist schließlich nicht, wie wir mit den Menschen umgehen, die
mit uns übereinstimmen, sondern wie wir mit denjenigen umgehen, die anderer Meinung
96
EZW-Texte Nr. 202/2009
sind als wir. Wir bejahen, dass Gott nicht will, dass Menschen an ihn glauben, weil sie bedroht, gezwungen oder durch finanziellen Gewinn gelockt werden, sondern dass Gott will,
dass sie ihm aus tiefster Herzensüberzeugung folgen.
Dreierlei Bedenken
Wir haben in dreierlei Hinsicht besondere Bedenken, die wir Ihnen vorlegen möchten und
bezüglich der wir um Ihre Meinung und weitere Gespräche bitten.
Unser erster Punkt ist folgender: es ist uns wichtig, dass zwischen dem christlichen Glauben
und der westlichen Welt unterschieden wird. Es leben zwar viele Christen in der westlichen
Welt, doch die Mehrheit der Christen lebt woanders. Das Christentum ist keine westliche
Religion. Es wurde im Mittleren Osten begründet und wird heute größtenteils in nichtwestlichen Gesellschaften ausgeübt. Tatsächlich glaubt die Mehrheit der Menschen, die in der
westlichen Welt leben, überhaupt nicht an Gott, lebt nicht nach seinem Willen und legt auch
keinen Lebensstil an den Tag, der dem christlichen Glauben entspricht.
Es ist uns wichtig, dass gesehen wird, dass politischer Frieden nicht in erster Linie Frieden
zwischen zwei Religionen – dem Islam und dem Christentum – bedeutet, sondern ebenso
die Beziehung des Islams zur westlichen Kultur und zu einzelnen Staaten der westlichen
Welt. Wir sind oft betrübt über die Unmoral, die wir in der westlichen Welt sehen, und wir
wollen nicht, dass dies den Frieden behindert. Wir bitten Sie inständig, zu erkennen, dass die
Probleme der westlichen Welt ihren Grund gerade nicht im Christentum haben, sondern in
dessen wachsender Ablehnung durch die westliche Welt.
Unser zweiter Punkt: Sie schreiben: „Als Muslime sagen wir Christen gegenüber, dass wir nicht
gegen sie sind und dass auch der Islam nicht gegen sie ist – solange sie nicht aufgrund ihrer
Religion gegen Muslime Krieg führen, sie unterdrücken und aus ihrer Heimat vertreiben ...“
Diese Zeile irritiert uns. Wir fragen uns: „Wo führen Christen Krieg gegen Muslime? Wer unter
den vielen christlichen Leitern, an die Sie Ihren Brief gerichtet haben, ist an einer derartigen
Sünde beteiligt, wie es ein Krieg gegen Sie oder die Vertreibung von Muslimen aus ihrer
Heimat darstellt? Hat irgendein christlicher Leiter öffentlich zu solchen Handlungen gegen
Muslime aufgerufen?“ Bitte informieren Sie uns über solches Verhalten, wenn sie darauf stoßen, damit wir alles uns Mögliche tun können, um sicherzustellen, dass Muslime in Frieden
leben können.
Unser dritter Punkt ist folgender: Uns liegen Indizien über viele Fälle vor, in denen Christen
in muslimischen Ländern ihren Glauben nicht ohne Restriktionen ausüben können. Oft wird
ihnen nicht erlaubt, Kirchen zu bauen und gemeinsam Gottesdienst zu feiern; bisweilen
müssen sie sogar um ihr Leben und das ihrer Familien fürchten. Manche sitzen in Haft, anEZW-Texte Nr. 202/2009
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dere wurden ermordet. Wenn dies Ihren Wünschen und Absichten zuwiderläuft, möchten
wir Sie herzlich um Ihren Einsatz dafür bitten, dass Christen, die in muslimischen Gesellschaften leben, dasselbe Maß an Frieden und Gerechtigkeit zugestanden wird wie den Muslimen
selbst.
Wir freuen uns sehr auf die nächsten Schritte in unserem Gespräch.
„Der Gott des Friedens aber sei mit euch allen! Amen.“ (Paulus im Brief an die Römer 15,33)
Im Namen der Weltweiten Evangelischen Allianz (World Evangelical Alliance)
Dr. Geoff Tunnicliffe
Internationaler Direktor
4. April 2008
Quelle: www.islaminstitut.de/Artikelanzeige.41+M542dcc264fe.0.html
Englischer Text:
www.acommonword.com/lib/downloads/We_Too_Want_to_Live_in_Love_Peace_Freedom_and_Justice.pdf
(Wir danken für die Abdruckgenehmigung.)
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EZW-Texte Nr. 202/2009
11. Alexij II (†), Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche
Die Menschen an Gott erinnern
Christen und Muslime als Initiatoren interreligiöser Dialoge
Ich bedanke mich bei allen muslimischen religiösen Führern und Wissenschaftlern, die einen
offenen Brief an die Vertreter der christlichen Kirchen und Organisationen, u. a. an den Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche gerichtet haben.
Christen und Muslime haben viele ähnliche Ziele, für deren Erreichen wir unsere Kräfte bündeln können. Jedoch kann diese Bündelung nicht stattfinden, ehe Klarheit im Verständnis
der jeweils anderen religiösen Werte herrscht. Daher begrüße ich das Streben der muslimischen Gemeinschaft, einen offenen und ehrlichen Dialog mit Vertretern christlicher Kirchen
auf einem seriösen wissenschaftlich-intellektuellen Niveau zu beginnen.
Heute nehmen sich Christentum und Islam einer wichtigen Angelegenheit in der Welt an. Sie
erinnern die Menschheit an die Existenz Gottes, an die spirituelle Dimension des Menschen
und der Welt. Wir bezeugen einen Zusammenhang von Welt und Gerechtigkeit, Moral und
Gesetz, Wahrheit und Liebe.
Wie im Brief richtig bemerkt, kommen sich Anhänger von Christentum und Islam näher vor
allem durch Gebote über die Liebe zu Gott und zu unseren Nächsten. Dabei, denke ich,
sollen wir nicht ein Minimum festlegen, das angebliche Übereinstimmungen in unseren beiden Glaubensweisen festhält und theologisch für ein religiöses Leben ausreicht. Jedweder
Glaubenssatz im Christentum oder Islam darf nicht getrennt von seinem einzigartigen Platz
in einem einheitlichen theologischen System betrachtet werden. Sonst kommt es zur Verwischung der eigenen religiösen Identität und es entsteht die Gefahr, sich auf einem Weg der
Glaubensvermischung zu bewegen. Daher betrachte ich den Weg des umfassenden Glaubenserlernens von jeder Seite und eines anschließend Vergleichens als viel fruchtbarer.
Im Christentum kann man nicht über die Liebe zu Gott und zu unseren Nächsten sprechen
ohne das Gespräch über Gott. Gemäß der Offenbarung des Neuen Testaments erscheint
Gott dem Menschen als Liebe. „Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe“
(1 Joh 4:8). Und „wir haben die Liebe erkannt und geglaubt, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe;
und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1 Joh 4:16). In diesen Worten kann
man nicht den Hinweis darauf übersehen, dass die Liebe in der Göttlichen Natur die bedeutendste, wesentlichste und wichtigste Eigenschaft ist.
Ein isoliertes einsames Wesen kann nur sich selbst lieben: eine solche Selbst-Liebe ist keine
Liebe. Liebe setzt immer die Existenz Anderer voraus. So wie ein Mensch sich nicht anders
als Person erkennen kann als durch den Austausch mit anderen Personen, kann es auch in
Gott kein personales Dasein anders geben als durch die Liebe zu einem anderen personalen
EZW-Texte Nr. 202/2009
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Dasein. Deswegen spricht das Neue Testament über Gott wie über ein Wesen mit drei „Gesichtern“ – Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gott ist die Einigkeit dreier „Gesichter“, die ein und
dieselbe Göttliche Natur haben, die in ihrer ganzen Fülle jedem von Ihnen gehört, so dass
sie nicht drei Götter darstellen, sondern einen einzigen Gott. Gottes Dreieinigkeit ist die Fülle
der Liebe, jede Gesichts-Hypostase ist den beiden anderen Gesichts-Hypostasen mit Liebe
zugewandt. Die „Gesichter“ in der Dreieinigkeit verstehen Sich als „Ich und Du“: „... wie du, Vater
in mir und ich in dir“ (Joh 17:21),– sagt Jesus dem Vater. „Alles, was der Vater hat, das ist mein.
Darum habe ich euch gesagt: Er wird’s von dem Meinen nehmen und euch verkündigen“, – sagt
Jesus über den Heiligen Geist (Joh 16:14). Deswegen ist jede Hypostase in der Dreieinigkeit
den anderen Hypostasen zugewandt und nach den Worten des heiligen Maximus Confessor
ist dies „die ewige Bewegung (der Dreieinigkeit) in der Liebe“.
Nur wenn der Mensch Gott als Liebe erkennt, bekommt er die wahre Erkenntnis Seines Daseins und anderer Eigenschaften Gottes. Eben die Liebe Gottes und nicht eine andere Eigenschaft der Göttlichen Natur ist die Grundlage, der Hauptbeweggrund der Vorsehung Gottes
über die Menschheit und seiner Errettung: „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen
eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben
hat.“ (Joh 3:16).
Die christliche Lehre über die Inkarnation des Wortes Gottes in Jesus Christus ist auch das
natürliche Bekenntnis der Liebe Gottes an die Menschen. „Darin ist erschienen die Liebe Gottes
unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben
sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und
seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden gesandt hat.“ (1 Joh 4:9-10).
Der Mensch, der nach Gottes Ebenbild geschaffen worden ist (Gen 1:26), ist fähig, die Liebe in
sich zu erleben und unmittelbar die Liebe zu erfahren, die Gott ihm gegenüber empfindet.
Die Liebe Gottes wird den Menschen übermittelt, wird zu ihrer innerlichen Errungenschaft,
lebensspendenden Kraft, die ihr ganzes Leben durchdringt und formt. Als Antwort auf die
Göttliche Liebe entsteht die Liebe im Menschen. „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Kinder Gottes heißen sollen!“ (1 Joh 3:1). Gott erwartet vom Menschen weniger
die Loyalität eines Sklaven, sondern vielmehr die Liebe eines Sohnes. Deswegen spricht der
Mensch im Hauptgebet der Christen, das der Herr Jesus Christus ihnen beigebracht hat (Lk
11:2), Gott als seinen Himmlischen Vater an.
Die Bekundung einer echten Liebe von Mensch zu Gott ist nur möglich, wenn der Mensch
frei ist. Solche Freiheit macht gute Taten und die Befolgung von Gottes Willen möglich nicht
nur aus Angst vor Bestrafung oder wegen einer Belohnung. Die Liebe zu Gott weckt im
Menschen den selbstlosen Wunsch, Seine Gebote zu befolgen. Denn, nach den Worten des
heiligen Isaaks von Ninive, „wollte Gott in Seiner großen Liebe nicht unsere Freiheit einengen, sondern er wollte, dass wir uns Ihm mit der Liebe unseres eigenen Herzens nähern“. Folglich wächst
die menschliche Freiheit, sie breitet sich aus und wird stärker in dem Maße in dem die Liebe
zu Gott gedeiht, die das Herz der religiös-moralischen Vervollkommnung ist. Ein Mensch, der
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Gott liebt, möchte seinem Schöpfer in Seinen Taten ähneln: „Darum sollt ihr vollkommen sein,
gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5:48).
In meinem Brief verfolge ich nicht das Ziel, die ganze christliche Theologie wiederzugeben,
sondern gebe nur ein Beispiel des Diskurses über Gottes Liebe zum Menschen und des Menschen Liebe zu Gott, was man nicht knapp und kurz formulieren kann und worauf das ganze christliche theologische System aufbaut. Ich bin sicher, dass christliche und muslimische
Denker regelmäßig die Fülle der Glaubenslehre des jeweils anderen kennenlernen sollten.
Daher halte ich es für wünschenswert, die Entwicklung des doktrinalen christlich-islamischen
Dialogs zu fördern, der der Ausweitung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und dem
Erlernen der Glaubenssätze dienen wird und eine tiefere Grundlage für die Entwicklung der
vielfältigen Kooperation zwischen unseren religiösen Gemeinschaften schafft.
In letzter Zeit ist der doktrinale Dialog der Orthodoxen Kirche mit dem Islam deutlich intensiviert worden. Das geschieht nicht nur, weil wir in der modernen globalisierten Welt
gezwungen sind, uns mehr zu unterhalten und zusammen das Gemeinwesen aufzubauen,
sondern auch, weil Christen und Muslime vor gleiche Herausforderungen gestellt wurden,
auf die man allein nicht antworten kann. Wir sind beide zusammen einem Ansturm antireligiöser Weltanschauungen ausgesetzt, die für sich Universalität beanspruchen und sich alle
Bereiche des Gemeinschaftslebens zu unterwerfen suchen. Wir beobachten auch die Versuche, eine „neue Moral“ zu etablieren, die in einem Widerspruch zu von den traditionellen
Religionen unterstützten moralischen Normen steht. Angesichts dieser Herausforderungen
müssen wir zusammenhalten.
Sowohl einige unter den Christen als auch unter den Muslimen sprechen Befürchtungen
aus, dass die Entwicklung des interreligiösen Dialogs zum religiösen Synkretismus und zum
Überdenken der Glaubenslehre führt, zum Verwischen der Grenzen zwischen den geistigen
Traditionen. Jedoch hat die Zeit gezeigt, dass ein vernünftiges System der Zusammenarbeit der Religionen die Einzigartigkeit und Originalität jeder einzelnen bewahrt und betont.
Und sogar mehr: Die Entwicklung der richtigen Formen des interreligiösen Dialogs an sich
ist zu einem Hindernis für Manipulationen geworden, die darauf abzielen, eine universale
Weltüberreligion zu schaffen.
Leider muss man feststellen, dass unsere Religionen Feinde haben, die einerseits Christen
und Muslime entzweien möchten und die andererseits Anhänger von Christentum und Islam auf der Grundlage religiöser und moralischer Gleichgültigkeit, die Prioritäten ausschließlich auf weltliche Interessen setzt, umgekehrt zu einer falschen „Einheit“ führen. Daher brauchen wir einander als religiöse Führer, denn wir können unseren Gläubigen helfen, in einer
wechselhaften Welt sich selber treu zu bleiben.
Besondere Bedeutung verdient deswegen die Erfahrung der Koexistenz von Christentum
und Islam in Russland. Im Laufe von tausend Jahren gab es keine direkten Konflikte und
Konfrontationen zwischen den traditionellen Religionen in unserem Land. Sie konnten ihre
Eigenart bewahren. Russland ist einer dieser seltenen multireligiösen Mehrvölkerstaaten, in
EZW-Texte Nr. 202/2009
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deren Geschichte es keine Religionskriege gab, die aus den verschiedenen Weltgegenden
viel zu gut bekannt sind.
Die religiös-ethischen Grundlagen der für Russland traditionellen Glaubensrichtungen haben ihren Anhängern unbeirrbar Orientierung gegeben, mit Menschen anderer Religionen
und anderen Glaubens im Geiste des Friedens und der Toleranz miteinander zu interagieren.
Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften lebten Seite an Seite, arbeiteten zusammen, verteidigten die gleiche Heimat. Nichtsdestoweniger standen sie fest im Glauben ihrer
Vorfahren, schützten ihn vor Angriffen von außen, sogar oft zusammen, wenn es um fremde
Invasionen ging. Trotzdem kam es zwischen unseren Landsmännern nie zu wirklichen religiösen Konflikten. So entstand in Russland ein funktionierendes System der interreligiösen
Beziehungen, das das Prinzip der guten respektvollen Nachbarschaft in den Vordergrund
stellt.
Im heutigen Russland wurde der Interreligiöse Rat Russlands, der seit über zehn Jahren erfolgreich und ertragreich arbeitet, zu einem wichtigen Instrument des interreligiösen Dialogs. Dieses Beispiel und diese Erfahrung waren attraktiv für die unabhängigen Staaten, die
im postsowjetischen Raum entstanden sind. Die religiösen Führer dieser Länder gründeten
den Interreligiösen Rat der GUS-Länder. Im Rahmen dieser Organe versuchen wir, gemeinsam den verschiedenen Herausforderungen der Gegenwart standzuhalten und der ganzen
Welt zudem eine positive Erfahrung eines friedlichen Miteinanders und einer Zusammenarbeit zwischen Orthodoxen und Muslimen in einer Gesellschaft im Laufe der Jahrhunderte
zu demonstrieren. Wie bekannt ist, haben Muslime auch in anderen traditionell christlichen
Ländern die Möglichkeit, ihr religiöses Leben frei zu entfalten.
In vielen muslimischen Staaten bekommen Christen ständig Unterstützung, genießen die
Freiheit, im Einklang mit ihren religiösen Bestimmungen zu leben. Jedoch verhindert die
Gesetzgebung in einer Reihe islamischer Länder den Bau von Kirchen, die Ausübung des
Gottesdienstes, die freie christliche Predigt. Ich hoffe, dass der Brief der islamischen geistlichen Führer und Wissenschaftler mit dem Vorschlag, den Dialog zwischen unseren Religionen zu aktivieren, der Verbesserung der Lage der christlichen Minderheit in solchen Ländern
förderlich sein wird.
Auf der doktrinalen Ebene könnte unser Dialog solche Themen ansprechen wie die Lehre über Gott, Mensch und Welt. Gleichzeitig könnte die Interaktion zwischen Christen und
Muslimen auf der praktischen Ebene in Richtung Verteidigung der Religion im gesellschaftlichen Leben, Kampf gegen die Diffamierung von Religion, Widerstand gegen Intoleranz und
Xenophobie, Verteidigung heiliger Stätten, Bewahrung von Orten religiöser Verehrung und
Beförderung gemeinschaftlicher Friedensinitiativen gehen.
Ich bin sicher, dass heute vor allem Christen und Muslime als Initiatoren interreligiöser Dialoge auf der regionalen und internationalen Ebene auftreten sollen. Deswegen halte ich es für
sinnvoll, im Rahmen internationaler Organisationen Instrumente zu schaffen, die im größeren Maße die geistig-kulturellen Traditionen verschiedener Völker berücksichtigen können.
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Ich bedanke mich noch einmal bei allen muslimischen Wissenschaftlern und religiösen Führern für den offenen Brief. Ich drücke die Hoffnung aus, weiterhin erfolgreich zusammenzuarbeiten sowohl im theologischen Dialog als auch im gesellschaftlichen Miteinander.
+ Alexij, Patriarch von Moskau und ganz Russland
14. April 2008
Quelle: CIBEDO-Beiträge 2/2008, S. 27-29
(Wir danken für die Abdruckgenehmigung.)
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12. Evangelische Akademie Bad Boll
Von gemeinsamen Worten zu gemeinsamen Taten
Antwort auf das Schreiben der 138 Islamgelehrten
„Ein Gemeinsames Wort …“
Tageslosung und Lehrtext am 17.6.2008:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist
mein! (Jesaja 43,1)
Es kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. (Matthäus
9,10)
Die Evangelische Akademie Bad Boll ist ein Bildungshaus der Evangelischen Landeskirche
Württemberg, die sich schon lange der christlich-islamischen Begegnung verpflichtet weiß.
Die Synode unserer Landeskirche hat am 14.Juli 2006 eine Erklärung verabschiedet, in der es
unter anderem heißt:
„Muslime werden auf Dauer unsere Nachbarn bleiben. Schon mit der Zustimmung zur Charta Oecumenica hat sich unsere Landeskirche in ökumenischer Gemeinschaft mit anderen
europäischen Kirchen verpflichtet, „den Muslimen mit Wertschätzung zu begegnen und bei
gemeinsamen Anliegen mit Muslimen zusammenzuarbeiten“ (Art. 11).
In diesem Sinne führen wir vor allem Tagungen durch, in denen sich Muslime und Christen
begegnen und zu verschiedenen gesellschaftlichen und religiösen Fragen ihre Erfahrungen
und Ansichten austauschen. Beispielsweise hieß eine mehrtägige Sommeruniversität nach
dem 11. September 2001 „Christen und Muslime überwinden gemeinsam Gewalt“. Wir helfen aber auch in Verbindung mit unseren Sozialdiensten (Diakonie) insbesondere vielen Migranten aus islamischen Ländern, in unserem Land heimisch zu werden.
Unsere Akademie wurde im September 1945 gegründet mit der Frage, was Christen tun können, um Krieg und Diktatur in Deutschland zu überwinden. Bald weitete sich der Horizont
international und interreligiös, sodass die Akademie zum Motor vieler Friedensbewegungen
bis in den Nahen Osten hinein werden konnte. Durch verschiedene Netzwerke wie „Oikosnet
Europe“ sind wir mit ähnlichen Einrichtungen auf der ganzen Welt verbunden.
Geholfen hat uns dabei die „Stuttgarter Schulderklärung“ unserer Evangelischen Kirche in
Deutschland vom Oktober 1945, die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen übernahm, obwohl die Kirche selber auch Opfer der Diktatur war. Noch immer gilt für
uns, was damals formuliert wurde:
„Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt
und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die ge104
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quälte Menschheit Genesung finden kann.“ Diese Erklärung schließt mit dem Gebet: „Komm,
Schöpfer Geist!“
Aufgrund unserer guten Erfahrungen mit dem christlich-islamischen Dialog begrüßen wir
die internationale Initiative „Ein Gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch“. Sie dokumentiert den guten Willen zur Begegnung und Zusammenarbeit. Allerdings wissen wir auch,
dass Worte in verschiedenen religiösen und kulturellen Zusammenhängen nicht immer dasselbe meinen, weshalb weitere Arbeit wünschenswert ist.
I Gottesliebe
Wir evangelische Christen können weder den Koran als Gottes Wort vernehmen noch Mohammed als unseren Propheten anerkennen. Wir respektieren aber beide Quellen als Grundlage der Gottesliebe im Islam. Wir bitten gleichfalls um Respekt für unser Verständnis der
Gottesliebe, das zweifach ist.
Zunächst erfahren wir aus der Bibel, dass Gott die Menschheit liebt und ihr seine Liebe schon
mit der Schöpfung schenkt. In Tod und Auferstehung Jesu Christi hat diese Liebe ihren Höhepunkt gefunden. Der Heilige Geist ist seine göttliche Gegenwart, die uns tröstet und stärkt.
Deswegen sind unsere Gebete oft trinitarisch formuliert, aber an den einen Ewigen gerichtet.
Niemals haben Christen drei Götter angebetet oder verehrt. Wir freuen uns, wenn Muslime
dieses Vorurteil begraben würden.
Gottes Liebe zu uns bewirkt unsere Liebe zu ihm. Wir erfahren sie als Geschenk, auch wenn
wir sie nicht verdient haben. Das ist der Sinn der evangelischen Lehre von der Rechtfertigung
des Sünders.
Der Reformator der Kirche Martin Luther hat dies in seiner Formulierung des 1. Gebots meis­
terhaft ausgedrückt und so lernen es noch heute christliche Kinder auswendig:
„Das Erste Gebot: Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.
Was ist das? Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“
II Nächstenliebe
Unsere Liebe zum Schöpfer konkretisiert sich in der Liebe zu seinen Geschöpfen. Da gilt
nicht Rasse, Geschlecht oder Klasse, ja selbst die Tiere und die Pflanzen sind nicht ausgenommen. Darum haben Kirchen große Liebeswerke und soziale Einrichtungen geschaffen. Wir
lehren aber auch den einzelnen Christen, sich immer wieder neu um diese Nächstenliebe
zu bemühen. Wir finden besonders in den Lehren Jesu (Feindesliebe in der Bergpredigt z. B.)
Ermutigung für unsere ethischen Bemühungen. Jede Kirchengemeinde unterhält Einrichtungen, um die Liebeswerke der einzelnen Christen zu fördern. Viele muslimische Kinder
erfahren dies in unseren Kindergärten und manchen Jugendgruppen. Neben den Initiativen
an der Basis und den großen Werken der Kirchen gibt es unzählige Initiativen, in denen sich
Christen für das Wohl anderer über ihre Familie hinaus engagieren.
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IIIGemeinsames Wort
Es ist gut, wenn Christen und Muslime Gemeinsamkeiten entdecken. Viel entscheidender
für den Frieden ist aber der Umgang mit Differenzen. Die Christenheit lebte in unserem
Land eintausend Jahre monokulturell, ja bis 1918 gab es Staatskirchen. Andere Religionen
waren wenig bekannt, ihre Anhänger lebten jenseits der Grenzen. Es gehörte zum Schock
der Nazi-Zeit, dass die Gleichung „Deutscher gleich Christ“ nicht mehr stimmt. Dennoch
empfinden viele Deutsche, dass Deutschland kulturell ein christliches Land ist. Dies erklärt
manche Animositäten gegenüber nichtchristlichen Einwanderern. Bezeichnenderweise ist
die Ablehnung aber stärker in Kreisen, die Distanz zur Kirche halten. Im Zeitalter der Globalisierung müssen Menschen jedoch lernen, mit Unterschieden zu leben. Dies gilt nicht nur im
persönlichen Erfahrungsbereich, sondern auch in der durch Medien vermittelten Welt. Die
Produzenten von Medien haben darum eine besondere Verantwortung, die wir auf unseren
Tagungen ansprechen Diese gilt aber auch für Medienkonsumenten, die Aufklärung benötigen. Am besten ist es darum, wenn Christen und Muslime gemeinsam an konfliktträchtigen
Themen aus Vergangenheit und Gegenwart arbeiten. Schon in der Schule, aber auch in der
kirchlichen Jugendarbeit können Kinder lernen, wie man einfühlsamen mit fremden Menschen und ihren Überzeugungen umgeht.
Im interreligiösen Dialog wiederholt sich manche Erfahrung, die wir in der innerchristlichen
Ökumene der verschiedenen Kirchen gemacht haben. Nach einer geschichtlichen Phase der
„Vergegnung“ (Martin Buber) mit Anklagen und Vorwürfen an die jeweils andere Seite hat
die Begegnung mit selbstkritischen Einsichten begonnen. Dadurch wird die eigene Religion
nicht schwächer, sondern stärker. Mit dem Blick des anderen kann ich meine eigenen Standpunkte überprüfen.
Einer der Väter der Ökumene, der evangelische Theologe Nikolaus Graf Zinzendorf hat schon
im 18. Jahrhundert gelehrt, die verschiedenen Konfessionen als „Erziehungsweisen Gottes“
zu sehen und den Schatz in der jeweils anderen Überliefung zu entdecken.
So teilen wir gern mit, dass wir aus der reichen islamischen Geisteswelt viel gelernt haben
und viele Christen mit Begeisterung den Islam studieren. Wir wünschen uns, dass dies auch
umgekehrt geschehen möge. Unsere Akademiearbeit ist eine ständige Einladung an Muslime, sich am Gespräch über die friedliche Zukunft unserer Welt zu beteiligen.
Wolfgang Wagner, Pfarrer und Studienleiter
Ökumene – Interreligiöser Dialog – Dekade „Gewalt überwinden“
17. Juni 2008
Quelle: www.ev-akademie-boll.de (Rubrik: aktuell/Meldungen)
(Wir danken für die Abdruckgenehmigung.)
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13. Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury
Ein gemeinsames Wort für das gemeinsame Wohl
An die muslimischen Religionsführer und Gelehrten,
die Ein gemeinsames Wort z wischen uns und Euch unterschrieben haben,
und an die muslimischen Brüder und Schwestern in der Welt.
Gnade, Barmherzigkeit und Friede sei mit euch.
Vorwort
Liebe Freunde,
Wir schätzen die von Ihnen ergriffene Initiative außerordentlich und begrüßen Ein gemeinsames Wort zwischen uns und Euch als bedeutende Entwicklung in den Beziehungen zwischen
Christen und Muslimen. In Ihrem Schreiben wandten Sie sich an 27 christliche Führer und
„Führer christlicher Kirchen auf der Welt“ und viele Adressaten haben bereits geantwortet oder
haben Prozesse in Gang gesetzt, aufgrund derer zu gegebener Zeit Antworten erfolgen werden. Nach einem umfassenden Austausch mit christlichen Kollegen mit der größtmöglichen
Bandbreite an Hintergründen, insbesondere durch die Anhörung von Kirchenvertretern und
christlichen Gelehrten im Juni 2008, freue ich mich, Ihnen heute mit der Unterstützung und
Ermutigung dieser christlichen Vertreter dieses Schreiben zukommen zu lassen.
Wir erkennen an, dass Ihr Schreiben die muslimischen Führer vieler islamischer Traditionen
zusammenbringt, um christliche Führer anzusprechen, die unterschiedliche Traditionen innerhalb des Christentums vertreten. Wir sehen darin eine einladende und freundliche Haltung, die die Liebe zu Gott und den Nächsten zu ihrem Schwerpunkt macht – ein Schwerpunkt, der die Sprachen des Christentums und des Islam und auch des Judentums eint.
Ihr Schreiben könnte nicht zeitgerechter sein, angesichts des wachsenden Bewusstseins,
dass der Friede auf der ganzen Welt eng verbunden ist mit der Fähigkeit der Menschen aller
Glaubensrichtungen, in Frieden, Gerechtigkeit, gegenseitigem Respekt und Liebe zu leben.
Unsere Überzeugung ist, dass wir nur durch eine Verpflichtung auf diese transzendente Perspektive, auf die Ihr Schreiben verweist, und auf die wir alle blicken, in der Lage sein werden,
die Mittel für eine radikale, transformierende, gewaltfreie Behandlung der tiefreichenden Bedürfnisse unserer Welt und unserer gemeinsamen Menschlichkeit zu finden.
An Ihrer Einladung, „ein gemeinsames Wort zu finden“, erkennen wir die Großzügigkeit Ihrer Intention. Einige haben die Einladung als ein Insistieren darauf verstanden, dass wir in der Lage
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sein sollten, umgehend ein einvernehmliches und übereinstimmendes Verständnis von Gott
zu bestätigen. Aber eine solche Bestätigung würde keiner unserer Traditionen gerecht. Sie
würde versäumen, die bestehenden Differenzen anzuerkennen, welche die Ursache tiefer
und – in der Vergangenheit – auch gewaltsamer Auseinandersetzungen waren. Wir lesen
Ihren Brief als Ausdruck einer demütigeren, aber letztendlich realistischeren hoffnungsvollen
Erkenntnis, dass die Weisen, wie wir als Christen und Muslime über Gott und das Menschsein
sprechen, nicht einfach wechselseitig unverständliche Systeme sind. Wir interpretieren Ihre
Einladung wie folgt: „Lasst uns einen Weg finden, anzuerkennen, dass wir bei einigen Themen
eine gemeinsame Sprache sprechen, hinreichend für uns, um – mit Integrität und ohne Aufgabe
grundlegender Überzeugungen – sowohl einen aufschlussreichen Dialog wie auch eine friedliche
Zusammenarbeit fortsetzen zu können.“
Wir finden diese Anerkennung in einem der wichtigsten Absätze Ihres Schreibens:
„Im Lichte dessen, was wir notwendigerweise darin impliziert und durch den gesegneten Ausspruch
des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) hervorgerufen sehen: ‚Das Beste, was ich gesagt
habe – ich selbst und die Propheten, die vor mir kamen – ist: „es gibt keinen Gott außer Gott, Er allein, Er hat keine Teilhaber; sein ist die Allmacht und sein ist die Lobpreisung und Er hat Macht über
alle Dinge“‘, können wir nun vielleicht die Worte: ‚Das Beste, das ich gesagt habe – ich selbst und die
Propheten, die vor mir kamen – ist’ als gleichbedeutend mit der Formulierung: ‚es gibt keinen Gott
außer Gott, Er allein, Er hat keine Teilhaber; sein ist die Allmacht und sein ist die Lobpreisung und
Er hat Macht über alle Dinge’ verstehen, in Übereinstimmung mit dem ‚ersten und obersten Gebot’,
Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seele zu lieben, wie es häufig in der Bibel zu finden ist. Das
heißt mit anderen Worten, dass der Prophet Mohammed (Friede sei mit ihm) das erste Gebot der
Bibel durch Eingebung vielleicht (er)neu(t) formulierte bzw. auf dieses anspielte. Außerdem wissen
wir (wie in den Anmerkungen zu sehen), dass beide Formulierungen eine weitere bemerkenswerte
Parallele aufweisen: die Art und Weise, wie sie in einer Reihe von leicht unterschiedlichen Versionen
und Formen in verschiedenen Kontexten auftauchen, bei denen aber nichtsdestotrotz immer die
Vorrangigkeit der absoluten Liebe und Hingabe zu Gott betont wird.“
Die doppelte Verwendung von „vielleicht“ in diesem Absatz gestattet eine Offenheit, Untersuchung und Debatte, – ermöglicht, weil bestimmte Aspekte, wie wir unser Sprechen über
Gott in unseren jeweiligen Traditionen strukturieren, verständlich für den jeweils anderen
sind. Wir lesen dies als Aufforderung zu weiteren Diskussionen innerhalb der christlichen Familie und innerhalb der muslimischen Familie sowie zwischen Muslimen und Christen, da es
uns alle dazu einlädt, erneut über die Fundamente unserer Überzeugungen nachzudenken.
Es gibt viele Dinge zwischen uns, die uns Hoffnung auf tiefere Einsichten durch zukünftige
Diskussionen machen. Daher ist Ihr Schreiben ein hochbedeutender Beitrag zur göttlich initiierten Reise, zu der wir aufgerufen sind, einer Reise, bei der Christen und Muslime gleichermaßen ein gegenseitiges Verständnis und neue Erkenntnisse gewinnen. Die Bezeugung,
dass „Gott es am besten weiß“, erinnert uns an die Grenzen von Verstehen und Wissen.
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Was sind – im Lichte dieses Schreibens – die nächsten Schritte für uns? Wir greifen aus Ein
gemeinsames Wort zwischen uns und Euch fünf Themenbereiche heraus, die bis zu Ende gewinnbringend verfolgt werden können.
Erstens unterstreicht der Fokus auf die Liebe und den Lobpreis Gottes, wodurch hervorgehoben wird, dass wir absolut auf Gott vertrauen dürfen und ihm die Hingabe unseres ganzen
Seins schulden – Herz, Geist und Wille –, eine gemeinsame Verpflichtung: die feste Absicht,
jede Realität und jedes Verhalten in intelligenter, gläubiger und praktischer Weise auf Gott
zu beziehen, der uns mit Liebe, Mitgefühl, Gerechtigkeit und Frieden begegnet. Einer der
Bereiche, den wir sinnvoll gemeinsam diskutieren können, sind die unterschiedlichen Auffassungen, wie wir die Liebe Gottes als völlig freies Geschenk an seine Schöpfung verstehen.
Es wird gewiss Ähnlichkeiten und Unterschiede geben, wie wir Gottes Liebe verstehen und
ausdrücken und wie wir versuchen, die Liebe zu Gott und den Nächsten im Gegenzug zu
praktizieren. Im Folgenden behandeln wir, wie dies in einem Geist der Offenheit und kollegialer Aufmerksamkeit ergründet werden kann.
Zweitens legt das Eintreten für eine Liebe zum Nächsten, die in der Liebe Gottes wurzelt
(und die für Christen Teil unserer Antwort auf die Liebe Gottes zu uns ist) nahe, dass wir eine
eindeutige Leidenschaft für das gemeinsame Wohl aller Menschen und aller Teile der Schöpfung haben. Im Nachfolgenden werden wir versuchen, einige praktische Implikationen für
unsere zukünftigen Beziehungen, sowohl zueinander als auch mit dem Rest der Welt, zu
bestimmen.
Drittens zeigt das Bestreben, was wir sagen, in den Schriften unserer Traditionen zu begründen, den Wunsch, uns nicht „an den Trennlinien“ unserer historischen Identitäten zu treffen,
sondern von dem zu sprechen, was für uns zentral und maßgeblich ist. Hierbei ist es jedoch
von besonderer Bedeutung, anzuerkennen, dass die Rolle des Koran im Islam nicht dieselbe
ist wie die der Bibel im Christentum; Christen sehen den primären Ort für das offenbarte Wort
Gottes im Volk Gottes und vor allem in der Geschichte Jesu Christi, den wir als das fleischgewordene Wort betrachten, für das die Bibel der maßgebliche und unersetzbare Beleg ist.
Für die Muslime wird, wenn wir es richtig verstehen, dieses Wort in höchstem Maße in dem
kommuniziert, was Mohammed aufgetragen wurde, wiederzugeben. Aber für beide Glaubensrichtungen stellen die Schriften das grundlegende Instrument der Offenbarung Gottes
dar und in der Art und Weise, wie wir unsere Heiligen Schriften benutzen, entdecken wir
häufig äußerst wahrhaftig das Wesen des Glaubens des jeweils anderen.1 Im Folgenden werden wir anregen, wie das gemeinsame Studium unserer Schriften ein fruchtbares Element
So schrieben die Mitglieder des Päpstlichen Instituts für Arabische und Islamische Studien in ihrer
Würdigung Ihres Schreibens: „Wir freuen uns, dass die in diesem Dokument benutzten Zitate aus der Bibel
und den Evangelien aus den Quellen stammen und dass die gegebenen Erklärungen stel­lenweise auf den
Originalsprachen basieren: Hebräisch, Aramäisch und Griechisch. Dies ist ein Beleg für den gro­ßen Respekt
und die echte Aufmerksamkeit für den Anderen, und gleichzeitig Ausdruck eines wahrhaft wissenschaft­lichen
Geistes.“ (veröffentlicht vom Pontificio Istituto di Studi Arabi e d’lslamistica [PISAI], Rom, 25. Oktober 2007).
1
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unserer vereinten Bemühungen bilden könnte, „zusammen ein Haus zu errichten“, um ein Bild
aufzugreifen, das von Rabbi Jonathan Sacks in seinem neuesten Buch verwendet wurde.2
Viertens und aus dem vorhergehenden Punkt erwachsend, ermutigt uns der Brief, von der
Mitte unseres Glaubenslebens aus vor Gott miteinander in Beziehung zu treten. Wie viel oder
wenig „gemeinsamen Boden“ wir auch anfänglich zwischen uns wahrnehmen, so ist es doch
möglich, uns ohne Angst miteinander zu befassen, wenn wir wahrhaftig vom Kern dessen
ausgehen, was wir glauben, von Gott erhalten zu haben. Es ist auch möglich, miteinander zu
sprechen und dabei Unterschiede zu respektieren und zu diskutieren, anstatt in gegenseitiger Angst und in Misstrauen zu erstarren.
Schließlich erkennen wir dankbar Ihre Erkenntnis an, dass die Unterschiede zwischen Christen
und Muslimen real und schwerwiegend sind und dass Sie nicht für sich beanspruchen, alle
Fragen zu behandeln. Doch mit dem Schwerpunkt auf der Liebe zu Gott und den Nächsten
identifizieren Sie das, was das Zentrum einer gemeinsamen Berufung und gemeinsamen Verantwortung sein könnte, ein Bewusstsein dessen, was Gott von allen seinen menschlichen
Geschöpfen verlangt, denen er eine besondere Verantwortung im Rahmen der Schöpfung
auferlegt hat. In unserer Antwort ist es diese Suche nach einem gemeinsamen Bewusstsein
der Verantwortung vor Gott, die wir uns als Vision vor Augen halten wollen und die unsere
besten Bemühungen verdient.
Diese Antwort schaut daher in mehrere Richtungen. Sie versucht, zu einer tiefergehenden
Betrachtung innerhalb der christlichen Gemeinschaft anzuregen und eine ehrliche Begegnung zwischen christlichen und muslimischen Gläubigen zu fördern. Und sie fragt nach den
möglichen Grundlagen für eine gemeinsame Arbeit in der Welt und eine ge­meinsame Infragestellung all der Dinge, die Gottes Absicht für die Menschheit verdecken.
Der eine Gott der Liebe
Am Ursprung der Geschichte von Gottes Volk, so wie jüdische und christliche Schriften es
aufzeichnen, steht der Auftrag an Mose, dem Volk das Shema zu verkünden, so wie es seit
langem bekannt aus den Eröffnungszeilen im Hebräischen ist:
„Höre, Israel: Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig! Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben
mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“3 (Dtn 6,4-5)4
Solch ein Gebot, so macht Ihr Brief deutlich, gilt auch für Muslime.
SACKS, Jonathan: The Home We Build Together; Recreating Society, London 2007.
Entnommen aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift.
4
Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Bibelzitate aus der Einheitsübersetzung der Heiligen
Schrift (herausgegeben im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von
Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen, Stuttgart 1980).
2
3
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„Höre, Israel: Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig!“: Der tawhid5-Grundsatz wird in Ihrem Schreiben als eine der Grundlagen für das Einvernehmen genannt. Neben den von Ihnen angeführten Passagen, die Sie zitieren, um tawhid zu belegen, lesen wir im Koran:
„Allah! Es gibt keinen Gott außer ihm, dem Lebendigen, dem Beständigen!“6 (2:255)7
„Sprich: Er ist der eine Gott, Allah, der Absolute. Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt. Und es gibt
keinen, der ihm gleicht.“ (112:1-4).
Dieses letzte erinnert Christen daran, dass diese großartige Bestätigung der Einzigkeit Gottes
das ist, was dazu geführt hat, dass Muslime mit Misstrauen auf die christlichen Dogmen
über Gott geschaut haben. Der christliche Glaube an die Dreieinigkeit – Gott als Vater, Sohn
und Heiliger Geist – scheint den Glauben auszuschließen, dass Gott keine andere mit ihm
verbundene Wesenheit hat. Wie können wir Gott als al qayyum bezeichnen, den „Sich-selbstgenügenden“, wenn er nicht alleine ist? So lesen wir im Koran:
„Und Allah ist der Westen und der Osten. Daher: Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Allahs Angesicht. Siehe, Allah ist allumfassend und wissend. Und sie behaupten: ‚Allah hat sich einen Sohn
genommen.’ Preis sei Ihm! Nein! Ihm gehört, was in den Himmeln und auf Erden ist: alles gehorcht
Ihm. Er ist der Schöpfer der Himmel und der Erde, und wenn Er eine Sache beschließt, spricht er nur
zu ihr ‚Sei!’ und sie ist.“ (2:115-117)
Muslime sehen die Überzeugung, dass Gott einen Sohn haben könnte, als Behauptung an,
Gott sei in einer Weise begrenzt, so wie wir begrenzt sind, gebunden an körperliche Besitztümer und der Hilfe Anderer bedürfend. Wie kann ein solcher Gott wahrhaft frei und autonom
sein – Eigenschaften, die sowohl Christen als auch Muslime bestätigen, da wir wissen, dass
Gott in der Lage ist, die Welt allein durch sein Wort zu erschaffen?
Hier ist es wichtig, unmissverständlich zu erklären, dass die Verbindung eines anderen Wesens mit Gott ausdrücklich von der christlichen theologischen Tradition abgelehnt wird. Seit
den frühesten Konzilen der Kirche haben sich christliche Denker darum bemüht, zu verdeutlichen, dass wir, wenn wir vom Vater als den Sohn ‚zeugend’ sprechen, jeden Gedanken an
eine körperliche Sache, einen Prozess oder ein Ereignis, wie es in der Welt stattfindet, aus
unserem Denken verbannen müssen. Sie bestanden darauf, dass der Name ‚Gott’ nicht der
Name einer Person sei im Sinn einer menschlichen Person, eines begrenzten Wesens mit
einem Vater und einer Mutter und einem Platz, den diese in der Welt bewohnen. ‚Gott’ ist
der Name einer Form des Lebens, einer ‚Natur’ oder eines Wesens – eines ewigen und sich
Tawhid: dass Gott einzig ist, Monotheismus. Shirk: die Verbindung Gottes mit anderen Wesen, die nicht
göttlich sind, seien es andere ‚Götter’, Heilige, Mediatoren anderer Art.
6
al Qayyum kann auch als „selbsterhaltend“ oder „selbstgenügsam“ übersetzt werden.
7
Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Koranzitate aus Der Koran von Max Henning aus dem Jahr
1901 (überarbeitete Fassung von KURT, Saban, Istanbul 1998).
5
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selbst genügenden Lebens, immer tätig, nichts bedürfend. Aber dieses Leben wird, so haben
Christen stets festgehalten, ewig und gleichzeitig in Form dreier miteinander verbundener
„Handlungsträger“ gelebt, die uns in der Geschichte von Gottes Offenbarung gegenüber den
Juden und im Leben Jesu und dem, was daraus folgte, bekannt gemacht worden sind. Gott
ist gleichzeitig Quelle göttlichen Lebens, der Ausdruck dieses Lebens und die wirkende Kraft,
die dieses Leben kommuniziert. Dies führt uns sogleich zur trinitarischen Formel, die von
Christen benutzt wird, um mit Gott zu sprechen. Wir erkennen, dass dies für Muslime schwierig und manchmal verletzend ist, aber umso wichtiger ist es für einen offenen und sorgfältigen Dialog, dass wir versuchen zu verdeutlichen, was wir mit dieser Formel meinen bzw.
nicht meinen, und so vertrauen wir darauf, dass das Folgende in diesem Sinne gelesen wird.
In der menschlichen Sprache und im Lichte dessen, was unsere Schriften sagen, sprechen
wir vom „Vater, Sohn und Heiligen Geist“, aber wir meinen damit nicht einen Gott mit zwei
verbundenen Wesen neben ihm oder drei Götter mit begrenzter Macht. Es gibt in der Tat nur
einen Gott, den Lebendigen und Sich-selbst-genügenden, verbunden mit keinem anderen;
aber was Gott ist und tut, unterscheidet sich nicht von dem Leben, das ewig und gleichzeitig dreifaltig ist: Quelle und Ausdruck und Teilen. Da Gottes Leben immer ein intelligentes,
zweckgerichtetes und liebendes Leben ist, ist es möglich, jede dieser Dimensionen göttlichen Lebens in bedeutsamer Weise als ein Zentrum des Geistes und der Liebe, eine Person
zu denken; dies bedeutet aber nicht, dass Gott drei verschiedene Personen beinhaltet, die
separat voneinander als menschliche Individuen bestehen.
Christen glauben, dass wir in mysteriöser Weise nur einen begrenzten Einblick in die Eigenschaften des göttlichen Lebens haben.8 Durch den Tod und die Auferstehung Jesu nimmt
Gott unsere Sünden und unsere Schuld hinweg, er vergibt uns und gibt uns die Freiheit. Und
unsere Schriften9 sagen weiter, dass er uns neues Leben einhaucht, so wie er zuerst Adam
Leben einhauchte, so dass Gottes Geist in uns lebendig ist. Die Präsenz und das Wirken des
Heiligen Geistes ist daher Gott in seinem Handeln, das Leben mit uns zu teilen.10 Wenn wir
in unserem neuen Leben heranreifen, ist unser Leben mehr und mehr (durch Beten und
Hoffen) mit dem zentralen und vollkommenen Ausdruck des göttlichen Lebens verbunden,
dem Wort, dem wir in Jesus begegnen – obwohl wir ihm niemals einfach gleichen werden.
Und da Jesus zur Quelle seines Lebens als ‚Vater’ betete11, nennen wir den ewigen und voll „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh 4,16); siehe auch
2 Petr 1,4: „Durch sie wurden uns die kostbaren und überaus großen Verheißungen geschenkt, damit ihr
der ver­derblichen Begierde, die in der Welt herrscht, entflieht und an der göttlichen Natur Anteil erhaltet.“
9
So z. B. im Brief des Paulus an die Korinther, 15,45-49, und im Brief an die Galater, 4,6.
10
„... denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Her­zen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“
(Röm 5,5)
11
In Mt 6,9-15 sagt Jesus: „So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich
kom­me, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf der Erde. Gib uns heute Brot, das wir brauchen. Und
erlass uns un­sere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlas­sen haben. Und führe uns nicht in
Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen. Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt,
dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann
wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“
8
112
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kommenen Ausdruck von Gottes Leben nicht nur das ‚Wort’, sondern auch den ‚Sohn’. Wir
beten zur Quelle des göttlichen Lebens so, wie Jesus es uns gelehrt hat, und wir sagen ‚Vater’
zu dieser göttlichen Wirklichkeit. Und indem wir das ewige Wort ‚Sohn’ Gottes nennen, erinnern wir uns selbst daran, dass er sich im Wesen nicht vom Vater unterscheidet: es gibt nur
ein göttliches Wesen und eine göttliche Wirklichkeit.
Weil Gott in dieser dreifachen Struktur voneinander abhängigen Handelns existiert, ist die
Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist eine, in der dem Anderen stets „Raum
gegeben“ wird, wobei ein jeder zurücksteht, so dass der Andere wirken kann. Das einzige
menschliche Wort, das wir dafür haben, ist Liebe: die drei Dimensionen des göttlichen Lebens
beziehen sich aufeinander in Selbstverzicht oder Selbstgabe. Die Lehre von der Dreieinigkeit
ist eine Weise zu erklären, warum wir sagen, dass Gott Liebe ist, und nicht nur, dass er Liebe zeigt.
Wenn Gott uns mit Mitgefühl behandelt, um uns vom Bösen zu erlösen, mit den Folgen unserer Rebellion gegen ihn umzugehen und uns in die Lage zu versetzen, ihn vertrauensvoll
anzurufen, beruht dies natürlich (aber nicht automatisch) auf seinem immerwährenden Wirken. Die gegenseitige sich selbst gebende Liebe, die das eigentliche Leben Gottes ausmacht,
wird unseretwegen in der sich selbst gebenden Liebe Jesu Wirklichkeit. Und es ist aufgrund
der bestehenden Liebe Gottes zu uns, dass wir in die Lage versetzt und aufgefordert sind,
Gott zu lieben.12 Durch unsere liebende Antwort beginnen wir, Gottes Wesen und Gottes
Willen für die Menschheit zu verstehen:
„Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe.“ (1 Joh 4,8)
Daher gehen Christen weiter, als einfach zu sagen, Gott sei ein liebender Gott oder Liebe sei
eine seiner vielen Eigenschaften. Wir sagen, Gott liebt nicht einfach, weil er entscheidet zu
lieben. Gott ist immer und ewig liebend – das eigentliche Wesen und die Definition Gottes
ist Liebe, und für Christen ist ein vollkommenes Verstehen seiner Einheit damit verbunden.
Die „Breite und Länge und Höhe und Tiefe“ der Liebe Gottes13 zu verstehen, ist eine lebenslange
Reise; daher ist es auch nicht im entferntesten möglich, diese zufriedenstellend in diesem
Schreiben zu behandeln. Es ist jedoch an diesem Punkt erforderlich, zwei Eigenschaften der
Liebe Gottes zu betonen, die äußerst wichtig für Christen sind: sie ist bedingungslos14, frei
und ohne Grund geschenkt; und sie ist selbstaufopfernd.15
Etwas Ähnliches scheint in der Anweisung zur Liebe im Ko­ranvers 5:54 impliziert zu sein, in dem es heißt:
„Allah bringt bald ein anderes Volk, das Er liebt und das Ihn liebt.“
13
„... sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu
ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis über­steigt. So werdet ihr mehr und mehr
von der ganzen Fülle Gottes erfüllt.“ (Eph 3,18-19).
14
Einer der einflussreichsten und beliebtesten Texte des Neuen Testaments, der die Liebe Gottes beleuchtet,
ist die Ge­schichte vom verlorenen Sohn – manchmal auch die Ge­schichte des liebenden Vaters genannt
(Lk 15,11-32).
15
„Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn
glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“ (Joh 3,16)
12
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113
In der Geburt, dem Leben, dem Tod, der Auferstehung und der Himmelfahrt von Jesus Chris­
tus offenbart sich das liebende Wesen Gottes. Wir sehen, wie Jesus in seinem Wirken und
seinem Akzeptieren eines Opfertodes durch die Hände seiner Feinde eine Liebe anbietet, die
unabhängig von jeder menschlichen Reaktion erfolgt; sie ist nicht Belohnung für ein gutes
Verhalten, sondern vielmehr ermöglicht sie erst menschliche Güte, da wir unser Leben Gott
gegenüber in Dankbarkeit für sein Geschenk ändern. In den Worten eines berühmten englischen Kirchenlieds ist es „den Nichtliebenden gezeigte Liebe, damit sie herrlich sein können“16.
Und aus diesem Grund ist es auch eine Liebe, die verwundbar ist. Gott konvertiert uns nicht
und wandelt uns nicht nur allein durch seine göttliche Macht. Diese Macht ist so unbegrenzt
und so untrennbar mit Liebe verbunden, dass keine Niederlage und kein Leiden, selbst das
schreckliche Leiden Jesu am Kreuz, die Absichten Gottes besiegen kann.
Wir versuchen, unser Leben in Liebe zu Gott und unseren Nächsten zu leben. Wir als Christen
beten, dass wir die Kraft haben mögen, Gott selbst dann zu lieben, wenn er uns nicht das
gibt, was wir uns wünschen oder es weit weg erscheint (ein wichtiges Thema in den Schriften vieler christlicher Mystiker, die häufig von jenen Momenten in unserem Leben sprechen,
in denen Gott uns nicht so zu lieben scheint, wie wir gern geliebt werden möchten); und wir
beten auch um die Kraft, jene zu lieben, die unsere Liebe nicht zu verdienen scheinen, jene,
die unsere Liebe ablehnen, jene, die sich uns nicht in Liebe verbunden fühlen.
Wir versuchen, in unserem Leben einige der Eigenschaften von Gottes eigener Liebe zu zeigen. Wir wissen, dass dies für uns bedeuten kann, Risiken einzugehen; zu lieben, wo wir keine
Chance erkennen, dass diese Liebe erwidert wird, macht verletzlich, und wir schaffen dies
nur angesichts der Macht von Gottes Heiligem Geist, der in uns ein Echo, einen Anteil der
Liebe Christi schafft. Im Lichte all dessen ist ein Bereich, in dem der Dialog zwischen Christen
und Muslimen auf jeden Fall fruchtbar sein wird, die Klärung, wie weit Muslime guten Gewissens gehen können, die Liebe Gottes machtvoll in Situationen am Werk zu sehen, in denen
die Welt nur aus Scheitern und Leiden zu bestehen scheint – aber auch, die Herausforderung
anzunehmen, die Frage einiger Muslime zu beantworten, inwieweit die christliche Tradition,
Leiden auf dieser Grundlage zu akzeptieren, manchmal zu einer passiven Haltung gegenüber dem Leiden und zu einem Scheitern bei dem Versuch führt, Situationen im Namen der
Gerechtigkeit Gottes zu ändern.
Daher würden wir als Christen sagen, dass unsere Verehrung Gottes als dreifaltig nie die
Einheit Gottes beeinträchtigt hat, die wir von ganzem Herzen wie die Juden und Muslime
bejahen. Faktisch wird unser Glaube an die Einheit Gottes noch verstärkt und bereichert,
wenn wir Gott als (eine) Einheit von Liebe verstehen. Diese unteilbare Einheit wird auch in
der alten theologischen Formulierung ausgedrückt, die wir auf den nordafrikanischen Theologen Augustinus zurückführen können, opera Trinitatis ad extra indivisia sunt – das Wirken
der Trinität außerhalb ihrer selbst ist unteilbar. Obwohl die Trinität manchmal Streitpunkt mit
Aus „My song is love unknown“ von Samuel Crossman (1664).
16
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Juden und Muslimen war und dies wahrscheinlich auch weiterhin sein wird, fühlen wir uns
dadurch ermutigt, dass Ein gemeinsames Wort zwischen uns und Euch nicht einfach annimmt,
dass Christen an mehr als einen Gott glauben.17 Wir fühlen uns daher in der Überzeugung
bestärkt, dass sich das, was unsere beiden Traditionen über das Wesen Gottes sagen, nicht
völlig voneinander unterscheidet; es gibt Berührungspunkte und Überschneidungen in der
Art und Weise, wie wir über das göttliche Wesen nachdenken, die unsere fortgesetzte Untersuchung dieser Themen sinnvoll macht, trotz der erheblichen Fragen in Bezug darauf, ob wir
sagen können, Gott sei in seinem eigentlichen Wesen Liebe.
Es war aus diesem Grund angemessen von Kardinal Bertone, in seinem Brief an Prinz Ghazi
bin Muhammad bin Talal, mit dem er im Namen von Papst Benedikt XVI. das Dokument Ein
gemeinsames Wort zwischen uns und Euch begrüßte, zu schreiben:
„Ohne unsere Unterschiede als Christen und Muslime zu ignorieren oder herunterzuspielen, können und sollten wir das betrachten, was uns vereint, namentlich der Glaube an einen Gott, den
fürsorglichen Schöpfer und universellen Richter, der am Ende aller Tage jeden gemäß seinem Handeln richten wird. Wir sind alle aufgerufen, uns ihm völlig hinzugeben und seinem heiligen Willen
zu folgen.“18
In welchem Maße stellen der christliche Glaube an einen Gott als Verkörperung der Liebe
und die überragende islamische Überzeugung, dass Gott „der Mitfühlende, der Gnadenreiche“
(ar-rahman ar-rahim) ist, einen gemeinsamen Boden dar und in welchem Maße müssen Differenzen weiter ausgeführt werden? Dies ist ein sehr bedeutsamer Bereich für eine weitere
Arbeit. Aber Ihr Schreiben – und auch viele Antworten von christlicher Seite – machen deutlich, dass wir eine Basis haben, von der aus wir diese Fragen im Geiste einer aufrichtigen und
wahrhaftigen Nächstenliebe untersuchen können.
Wir verstehen, dass dies die Lesart des Koranverses al Zumar [sic!] 29:46 ist („Unser Gott und euer Gott
ist ein [und dasselbe]“) und al-’Imran, 3:113-115, der in Ihrem Schrei­ben zitiert wurde. Dies ist auch die
Auslegung der Stelle in Ihrem Schreiben, die lautet: „Zweifelsohne beziehen sich die gelobten Worte: wir
werden Ihm keine Partner zur Seite stellen auf die Einzigartigkeit Gottes. Unzweifelhaft auch, dass sich
die Verehrung von niemandem, außer Gott auf eine völlige Hingabe an Gott bezieht und damit auf das
erste und größte Gebot. Laut einem der ältesten und maßgeblichsten Kommentare (tafsir) zum Heiligen
Koran - Ja­mi’ Al-Bayan fi Ta’wil Al-Qur’an von Abu Ja’far Muham­mad bin Jarir Al-Tabari (gest. 310 A.H. (nach
Hijrah) / 923 n. Chr.) – meint ‚keiner von uns soll einen anderen Herrn als Gott annehmen’, dass ‚keiner von
uns sich den Befehlen Gottes widersetzen soll und keine anderen Götter ver­ehren soll, indem sie sich vor
ihnen niederwerfen, wie sie sich vor Gott niederwerfen’. Mit anderen Worten, dass Muslime, Christen und
Juden frei sein sollten, dem Befehl Gottes zu folgen und sich nicht ‚vor Königen und ähnlichen Personen
niederwerfen müssen’; denn Gott sagt an anderer Stelle im Koran: ‚Kein Zwang im Glauben’ (Al-Baqarah,
2:256). Dies bezieht sich eindeutig auf das zweite Gebot und darauf, den Nächsten zu lieben, wovon
Gerechtigkeit und Religionsfreiheit ein wichtiger Bestandteil sind.“
18
Brief vom 19. November 2007.
17
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Reaktion auf das Geschenk der Liebe
„Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt
von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe. Die Liebe
Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt
hat, damit wir durch ihn leben. Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern
dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat. Liebe Brüder, wenn
Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben. Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir
einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.“ (1 Joh 4,7-12)
„Allah bringt bald ein anderes Volk, das er liebt und das Ihn liebt.“ (al-Ma’ida, 5:54)
Das bisher Gesagte diente dazu hervorzuheben, auf welche Weise wir als Christen die Liebe
als erstes und wichtigstes Geschenk Gottes an uns betrachten, die es uns ermöglicht, eine
neue Beziehungsebene mit Gott und untereinander einzugehen. Durch die von Gott geschenkte Liebe können wir an dem Leben teilhaben, das ein Merkmal von Gottes eigenem
ewigen Leben ist. Unsere Liebe zu Gott erscheint als eine Antwort auf die bereits bestehende
Liebe Gottes zu uns in ihrer absoluten Zuwendung und Grundlosigkeit.
Daher sprechen wir vor allem anderen in Worten des Lobpreises und der Dankbarkeit von
unserer Liebe zu Gott. Und sowohl für Juden als auch Christen ist die Sprache des Lobpreises
durch die Psalmen Davids geformt und stützt sich auf diese:
1 Ich will dich rühmen, mein Gott und König, und deinen Namen preisen immer und ewig.
2 Ich will dich preisen Tag für Tag und deinen Namen loben immer und ewig.
3 Groß ist der Herr und hoch zu loben, seine Größe ist unerforschlich …
15Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.
16Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt, nach deinem Gefallen …
21Mein Mund verkünde das Lob des Herrn. Alles, was lebt, preise seinen heiligen Namen immer
und ewig. (Ps 145)
In Worten wie diesen hören wir den vielfältigen Widerklang der Sprache Ihres Briefes, die
eine ähnliche Form der Hingabe, ausgedrückt in Worten der Liebe, des Lobpreises und des
Dankes nahe legt. Die Sprache der Psalmen sieht, wie die von Ihnen verwendete, auf zu einem Gott mit der größten kreativen Macht, der liebend und mitfühlend, großzügig, treu und
gnädig ist und die Gerechtigkeit hochhält. In den Psalmen hat Generation nach Generation
Inspiration und Ermutigung in den Höhen, den Tiefen und in der Alltäglichkeit des menschlichen Lebens gefunden. Zahllose Christen und Juden benutzen sie täglich. In den Worten
Ihres Briefes zeigen Sie, wie die Gläubigen „Gott dankbar sein und ihm vertrauen müssen mit all
ihren Regungen und Emotionen“, und dass „der Ruf nach völliger Hingabe und Bindung an Gott
mit Herz und Seele weit davon entfernt ist, ein bloßer Ruf nach einem Gefühl oder nach einer Stim116
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mung zu sein, sondern tatsächlich eine Verfügung ist, die eine alles umfassende, dauerhafte und
aktive Liebe zu Gott fordert. Sie verlangt eine Liebe, an der das innerste geistliche Herz und die gesamte Seele – mit ihrer Intelligenz, ihrem Wollen und ihrem Fühlen – durch Hingabe teilhaben“19.
Die Psalmen sind die Lieder einer lobpreisenden Gemeinde, nicht von Individuen; einer Gemeinde, die in der Liebe und Bewunderung zu Gott aufgeht, aber dennoch all die unwillkommenen und schwer erträglichen Aspekte der Welt, in der wir leben, eingesteht: individuelles
Leiden und gemeinsame Katastrophen, Verrat, Ungerechtigkeit und Sünde. Sie sind Schreie
des Schmerzes, aber auch der Freude, der Verwunderung und des Vertrauens, Klagen über
die scheinbare Abwesenheit Gottes und Feiern seiner Anwesenheit. Sie sind Herausforderung, für alle Umstände Worte der Lobpreisung Gottes zu finden. Ihr Brief hilft uns, indem er
uns einige Reichtümer der Verehrung des Koran eröffnet, die Reichtümer der Psalmen neu zu
verstehen. Vielleicht wird uns in der Zukunft die Erklärung des Koran: „an David gaben wir die
Psalme“ (4:163) dazu ermutigen, gemeinsam unsere Traditionen und Praktiken des Preisens zu
erkunden und wie wir in unseren verschieden Formen Gott die ganze Vielfalt der menschlichen Imagination und Empfindsamkeit in einer einheitlichen Lobpreisung zu zeigen suchen.
Die Psalme[n] lehren uns, dass der Name Gottes, Gottes vollkommene, persönliche, mysteriöse und unergründbare Realität, kontinuierlich zu feiern ist und ein Leben im Glauben mit
der Preisung Gottes erfüllt ist20. Wir lieben Gott nicht zuerst für das, was er für uns getan hat,
sondern ‚um seines Namens willen’ – aufgrund dessen, wer Gott ist. Selbst im größten Leiden
oder Zweifeln ist es möglich mit Hiob zu sagen: „Gelobt sei der Name des Herrn“ (Hiob 1,21).
In dem Gebet, das Jesus seinen Aposteln lehrte, lautet die erste Zeile: „Dein Name werde
geheiligt“ (Mt 6,9). Dies bedeutet nicht nur, dass die Ehrung und Preisung Gottes die erste
und umfassendste Handlung der Gefolgsleute Jesu ist, sondern dass sie auch Christen dazu
ermutigt, für alle Wege zu danken, auf denen Gottes Name als heilig und ehrenwert verkündet wird – durch Christen, Menschen anderen Glaubens und allgemein von der gesamten
Schöpfung, die von der Glorie Gottes kündet21.
9 Ihr Berge und all ihr Hügel, ihr Fruchtbäume und alle Zedern,
10 ihr wilden Tiere und alles Vieh, Kriechtiere und gefiederte Vögel,
11 ihr Könige der Erde und alle Völker, ihr Fürsten und alle Richter auf Erden,
12 ihr jungen Männer und auch ihr Mädchen, ihr Alten mit den Jungen!
13 Loben sollen sie den Namen des Herrn; denn sein Name allein ist erhaben, seine Hoheit strahlt
über Erde und Himmel. (Ps 148)
Anm. d. Übers: Fußnote 19 fehlt im Original.
Ps 145,1 wie oben zitiert und z. B. Ps 113, 1-6: 1 Halleluja! Lobet, ihr Knechte des Herrn, lobt den Namen
des Herrn. 2 Der Name des Herrn sei gepriesen von nun an bis in Ewigkeit. 3 Vom Aufgang der Sonne bis
zum Un­tergang sei der Name des Herrn gelobt. 4 Der Herr ist er­haben über alle Völker, seine Herrlichkeit
überragt die Him­mel. 5 Wer gleicht dem Herrn, unserem Gott, im Himmel und auf Erden, 6 ihm, der in der
Höhe thront, der hinab­schaut in die Tiefe?
21
Ein Beispiel von vielen ist Ps 148, 9-13, wie oben zitiert.
19
20
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117
So stimmen wir mit der ganzen Schöpfung in diesen universellen Lobgesang ein – der in
einigen Absätzen Ihres Briefes so lebendig ein Echo findet.22 /23
Jesus hat gesagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh
10,10) und Gott eine solche Lobpreisung und Ehrung anzubieten ist in vielerlei Weise das
Herzstück eines neuen Lebens. Die Überzeugung, dass die Liebe zu Gott in uns durch den
Heiligen Geist lebt, dass wir Gott unseren Lebensatem schulden, ist die Motivation für die
Reaktion auf Gottes Liebe – sowohl Gott zu lieben als auch unseren Nächsten. Wir wissen aus
persönlicher Erfahrung, dass wahre Liebe nicht befohlen oder von Bedingungen abhängig
gemacht werden kann; sie wird aus freien Stücken gegeben und erhalten. Unsere Liebe zu
Gott, wie bereits gezeigt, ist zuallererst eine Reaktion aus Dankbarkeit, die uns ermöglicht,
in Heiligkeit zu wachsen, sich in unseren Handlungen und Gedanken mehr und mehr dem
vollkommenen Sich-selbst-Geben anzunähern, das in vollkommener Weise in Gottes Leben
existiert und das sich in Leben und Tod Jesu zeigt.
Wir sind alle aufgerufen, diese Reise zur Vervollkommnung anzutreten und zu wachsen und
wir möchten gerne auf dieser Reise von Ihnen mehr über das Verständnis von der Liebe
zu Gott im Islam lernen und die Bedeutung dieser Liebe in unserem Leben und unseren
gegenseitigen Beziehungen erforschen. Jesus sagte in der Nacht, bevor er starb: „Ein neues
Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“
(Joh 13,34) Auf dieses neue Gebot zu reagieren, um in der Liebe zu gedeihen, die er uns gibt,
bedeutet, uns durch die Liebe verwandeln zu lassen und nach dieser Verwandlung andere
zu lieben – ungeachtet ihrer Reaktion.
Die Liebe zu unserem Nächsten
[Jesus sagte:] „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit
ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und
Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch
lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr
nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also
vollkommen sein, wie es auch eurer himmlischer Vater ist.“ (Mt 5,43-48)
Wir unterstützen die klare Bestätigung der Bedeutung der Nächstenliebe, die in Ihrem Brief
durch Texte aus dem Koran und der Bibel belegt ist. Tatsächlich kann Ihr Brief als ermutigendes Beispiel dieser Liebe angesehen werden. Wir befürworten die Betonung der Großzügig „Die Worte ‚Er preist Allah, was in den Himmeln und auf Erden ist. Sein ist das Reich, und Ihm gebührt das
Lob. Und Er hat Macht über alle Dinge.’ erinnern Muslime, wenn man es zusammen betrachtet, dass so wie
alles in der Schöp­fung Gott verherrlicht, alles, was in ihren Seelen ist, Gott verherrlicht ...“ (al-Taghabun 64:1)
23
„Gott sagt in einer seiner ersten Offenbarungen im Heili­gen Koran: So gedenke des Namens deines Herrn
und widme dich Ihm voll und ganz.“ (al-Muzzammil, 73:8)
22
118
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keit und Selbstaufopferung und vertrauen darauf, dass diese gemeinsame Merkmale unserer
bestehenden Beziehung sein werden. Der Abschnitt Ihres Briefes über die Nächstenliebe ist
relativ kurz, daher freuen wir uns darauf, die Weisen, wie das Thema in unseren Überlieferungen entfaltet wird, weiter herauszuarbeiten. Wir glauben, dass wir in dieser Frage viel voneinander zu lernen haben, und berufen uns dabei auf Weisheit, Recht, Prophetie, Dichtung und
Erzählung in und außerhalb unserer kanonischen Schriften24, um einander zu helfen, eine
reichere Vision davon zu erhalten, wie wir heute liebevollere Nächste sein können.
Für Christen ist unsere Liebe zu Gott immer eine Reaktion auf die bereits bestehende Liebe
Gottes zu den Menschen (und zur Schöpfung im Ganzen). Durch dieses Geschenk der Liebe
wird unsere Liebe durch die Gnade zu etwas, das die Liebe Gottes widerspiegelt und damit
dem Fremden und dem Anderen angeboten werden kann. Eine vollständige Abhandlung
über die Bedeutung dessen wird nur in dem Maße möglich sein, wie wir in unseren Begegnungen zusammenwachsen, im Rahmen dieses Briefes aber möchten wir die Aufmerksamkeit auf zwei Aspekte der Nächstenliebe lenken, die für Christen wichtig sind.
Der erste Aspekt wird im Lukas-Evangelium beschrieben, als Jesus, nachdem er als Antwort
auf die Frage „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ das doppelte Gebot der
Liebe gegeben hat, damit fortfährt, das Beispiel vom Barmherzigen Samariter zu erzählen,
als er darum gebeten wird, zu erklären, wer „mein Nächster“ sei.25 Kommentare zu dieser Geschichte weisen häufig auf die Art und Weise hin, mit der Jesus die Annahmen der Frage
hinterfragt; anstatt eine notwendigerweise begrenzte Gruppe an Menschen zu definieren,
die in die Kategorie ‚Nächste’ fallen und denen Liebe gezeigt werden soll, spricht er von der
Notwendigkeit, uns selbst als Nächste zu erweisen, indem wir Mitgefühl jenen gegenüber
zeigen, die bedürftig sind oder Schmerzen haben, ob sie nun mit uns bekannt sind oder
nicht, ob wir sie mögen, wir in ihrer Nähe sicher sind oder was auch immer. Dieses Verhalten
im Hinblick auf Nächste bedeutet, religiöse und ethnische Teilungen zu überbrücken und
Die Geschichten über Heilige und andere beispielhafte Menschen sind häufig von besonderem Wert im
Hinblick auf die Qualität der Liebe.
25
„Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss
ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort? Er
antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner
Kraft und all deinen Gedanken und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm:
Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben. Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage
rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging
von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlu­
gen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben
Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann
kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mit­leid, ging zu ihm hin, goss
Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer
Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Mor­gen holte er zwei Dinare hervor, gab sie dem Wirt und sagte:
Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Näch­ste dessen erwiesen, der von den Räubern
überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barm­herzig an ihm gehandelt hat. Da sagte
Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!“ (Lk 10,25-37)
24
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119
uralte Feindschaften zu überwinden. So wird der ‚Nächste’ der ursprünglichen Tora von Jesus
als der jeweils ‚Andere’ definiert, der in gegebenen Situationen eine besondere und konkrete
selbstvergessende Aufmerksamkeit und Fürsorge benötigt. Daher ist ‚der Nächste sein’ eine
Herausforderung, mit der wir immer aufs Neue konfrontiert werden. Wir können die Anforderungen nicht sicher im Voraus festlegen; sie erfordert, dass wir bereit sind, unsere vertrauten
Strukturen von Verwandtschaft und Verpflichtung zu verlassen, sei es in lokaler, ethnischer
oder religiöser Hinsicht. Aus diesem Grund, um eine sinnvolle symbolische Auslegung dieses
Beispiels zu entwickeln, haben christliche Gelehrte oftmals gesagt, dass Jesus selbst unser
erster ‚Nächster’ ist, derjenige, der jedem Menschen zur Hilfe kommt, der diese benötigt.26 Wir
freuen uns auf die Gelegenheit, mit Ihnen zusammen zu untersuchen, wie diese Lehre über
den Nächsten mit der Aufforderung des Koran verbunden ist, für Nachbarn und Fremde zu
sorgen (eine Aufforderung, die sich hier aus der Verehrung Allahs zu ergeben scheint)27.
Der zweite Aspekt, der bereits erwähnt wurde, ist Jesu Lehre über die Liebe zu denjenigen,
die nicht notwendigerweise dich lieben. Wir haben oben die Matthäus zugeschriebene Version zitiert, doch das Evangelium nach Lukas enthält eine ähnliche Passage:
„Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel
wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. ... Ihr
aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt.
Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,29-31.35-36)
Die radikale Lehre, die Jesus präzise als konsequente Auslegung dessen vorstellt, was es bedeutet, den Nächsten zu lieben, ist, wie wir gesehen haben, in der Art und Weise begründet,
wie Gott liebt.28 Sie lehrt uns, als Nächsten selbst jene anzuerkennen, die sich gegen uns
wenden. Dies ergibt sich teilweise aus der geforderten Demut gegenüber der Schöpfung
Gottes in der Geschichte und unserer begrenzten Wahrnehmung, denn wir wissen nicht,
wie Christen es oft betont haben, welche von denen, die uns heute angreifen, am letzten
Tag unsere Freunde sein werden, wenn wir vor unserem Richter stehen. Teilweise ergibt es
sich auch daraus, ‚dass wir Kinder unseres Vaters im Himmel sein können’29, wenn wir lernen, die
Perspektive Gottes zu teilen, der seine Hand ausstreckt und versucht, alle seine Geschöpfe für
seine Liebe zu gewinnen, selbst jene, die sich von ihr abwenden. Dies geht Hand in Hand mit
Siehe Karl Barths ähnlich gewendete Auslegung dieses Bei­spiels: „Die primäre und wahrhaftige Form des
Nächsten ist, dass sie uns als Träger und Vertreter des göttlichen Mit­gefühls begegnet.“ (Church Dogmatics,
Bd. 1/2, hrsg. v. G. W. Bromiley und T. F. Torrance, Edinburgh 1956, S. 416).
27
„Und dient Allah und setzt ihm nichts an die Seite. Und seid gut zu den Eltern, den Verwandten, den Waisen,
den Armen, dem Nachbarn, sei er einheimisch oder aus der Fremde, zu den Kollegen, den Reisenden und
zu denen, welche ihr von Rechts wegen besitzt.“ (4:36)
28
Anm. d. Übers.: Fußnote fehlt im Original.
29
Siehe Mt 5,45.
26
120
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dem, was im Koran gesagt wird: „Vielleicht lässt Allah zwischen euch und denen von ihnen, die
euch feind sind, Freundschaft entstehen. Allah ist mächtig, und Allah ist verzeihend, barmherzig.“
(Al-Mumtahana, 60:7). Wenn Feindschaft durch Liebe ersetzt wird, können wir das Werk und
das Wirken Gottes erkennen.
Das gemeinsame Wohl in der Weise Gottes suchen
Das gemeinsame Wohl
„Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.“ (Röm 13,10)
„Die Bruderliebe soll bleiben. Vergesst die Gastfreundschaft nicht.“ (Hebr 13,1-2)
Es gibt viele praktische Implikationen, die sich aus unserem Verständnis der Liebe Gottes und
der Nächstenliebe ergeben, einschließlich jener, die Sie in Ihrem Schreiben im Hinblick auf
die Friedenserhaltung, Religionsfreiheit und die Vermeidung von Gewalt erwähnten.30 Daher
Unter den vielen Punkten für diese Agenda weist einer der Befragten, Colin Chapman, auf die folgenden hin:
• Unsere Geschichte: wir müssen das Erbe von 1.400 Jah­ren manchmal schwieriger Beziehungen zwischen
Chris­ten und Muslimen anerkennen. Beide Glaubensrichtungen stehen zu unterschiedlichen Zeiten und
an unterschiedli­chen Orten in Zusammenhang mit Eroberung und Macht­ergreifung. Und obwohl es auch
Zeiten friedlicher Koexis­tenz gab, haben Konflikte zwischen Muslimen und Christen in der Vergangenheit
(und Gegenwart) Spuren im kollek­tiven Gedächtnis beider Gemeinschaften hinterlassen.
• Die Vielfalt der Gründe für unsere Spannungen in unter­schiedlichen heutigen Situationen: obwohl es einige
ge­meinsame Faktoren in allen Situationen gibt, in denen Mus­lime und Christen nebeneinander leben,
gibt es wahr­scheinlich in jeder Situation eine Reihe von Faktoren – poli­tisch, wirtschaftlich, kulturell oder
sozial – die zu diesen Spannungen beitragen.
• Christen und Muslime als Minderheiten: wir sehen, dass 25% der Muslime weltweit in Minderheitensituationen
le­ben, und Christen sind ebenfalls an vielen Orten auf der Welt eine Minderheit. In diesen Kontexten sehen
sich Chris­ten und Muslime mit denselben Dilemmata konfrontiert und haben vielleicht untereinander
mehr gemeinsam als mit ihren säkularen Nachbarn.
• Der israelisch-palästinensische Konflikt: steht fast oder am Anfang der Liste an Themen, die sowohl Christen als
auch Muslime auf der ganzen Welt betreffen. Dieser Konflikt ist dahingehend recht einzigartig, dass er Religion
und Poli­tik so eng miteinander verknüpft. Christliche und muslim­ische Führer haben daher eine besondere
Verantwortung, ihre eigenen Gemeinschaften sowohl über ‚die Dinge, die zum Frieden führen’ aufzuklären als
auch an deren poli­tische Führer zu appellieren, nach einer gerechten Lösung des Konfliktes zu suchen.
Die Nächstenliebe, wie Ein gemeinsames Wort nahe legt, bietet eine solide Grundlage, auf der viele dieser
dring­lichen Fragen behandelt werden könnten, die sich auf die christlich-muslimischen Beziehungen
niederschlagen. Wenn Muslime auf die Aussage Mohammeds hinweisen: „Nie­mand von euch hat einen
Glauben, solange er seinen Bru­der (oder Nächsten) nicht liebt wie sich selbst“, verweisen Christen auf die
von Jesus gelehrte Goldene Regel: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin
besteht das Gesetz und die Propheten.“ (Mt 7,12). Dies muss für die Praxis bedeuten, dass, wenn z. B.
west­liche Christen versuchen, sich in die Situation von Chris­ten in Ägypten zu versetzen und darüber
nachdenken, wie sie gerne in dieser Minderheitenposition behandelt werden würden, sich dies in der Art
und Weise niederschlagen sollte, wie sie über muslimische Minderheiten im Westen nach­denken.
Das Prinzip der Gegenseitigkeit scheint für viele der natürliche Ausdruck der Nächstenliebe zu sein, da es
bedeutet, für unsere Nächsten das zu wollen, was wir uns auch für uns selbst wünschen. Die Anerkennung
30
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121
möchten wir eine Vision anbieten, die sich auf die absolute Treue zu unseren jeweiligen religiösen Überzeugungen stützt, von der wir denken, dass wir sie mit unseren Mitgläubigen
und Nächsten (im weitesten Sinne) teilen können.
An eine absolute religiöse Wahrheit zu glauben, heißt, dass der Gegenstand unseres Glaubens nicht anfällig ist für die Eventualitäten der menschlichen Geschichte: Gottes Geist und
Charakter können nicht durch das, was hier in der Welt geschieht, verändert werden. Daher kann eine scheinbare Niederlage in der Welt für unseren Glauben nicht definitiv sein;
Gott scheitert nicht, nur weil wir scheitern, andere zu überzeugen oder weil unsere Gemeinschaften scheitern, Macht zu gewinnen. Wenn wir glauben würden, dass unser Scheitern ein
Scheitern oder eine Niederlage Gottes wäre, dann gäbe es die Versuchung, nach Mitteln zu
suchen, um diese Folge zu verhindern. Aber auf diesem Weg liegen Terrorismus und Religionskriege und Verfolgung. Die Idee, dass eine Handlung, egal wie extrem oder zerstörerisch
oder gar mörderisch sie auch sei, gerechtfertigt ist, wenn sie das Scheitern oder die Niederlage einer bestimmten Überzeugung oder einer bestimmten religiösen Gruppe abwendet, ist
nicht in Einklang zu bringen mit der Überzeugung, dass unser Scheitern nicht das Scheitern
Gottes meint. Tatsächlich offenbart sie einen grundsätzlichen Mangel an Überzeugtheit von
der Ewigkeit und Zulänglichkeit des Glaubensgegenstandes.
Religiöse Gewalt legt eine unterschwellige religiöse Unsicherheit nahe. Wenn unterschiedliche Gemeinschaften dieselbe Art Überzeugung im Hinblick auf die absolute Wahrheit ihrer
Perspektive haben, dann gilt es sicherlich eine intellektuelle und spirituelle Herausforderung
zu meistern; aber die Logik dieses Glaubens sollte deutlich machen, dass es keine Rechtfertigung für die Art von gewalttätigem Wettkampf gibt, bei der jedes Mittel, wie unmenschlich
dieses auch sei, durch den Hinweis auf die Notwendigkeit, ‚die Interessen Gottes zu schützen’,
gerechtfertigt wird. Sogar die Weise, dies so auszudrücken, zeigt, wie absurd es ist. Der ewige
Gott bedarf keines ‚Schutzes’ durch die Taktiken menschlicher Gewalt. Dieser Punkt drückt
sich in den Worten Jesu vor dem römischen Statthalter aus: „Mein Königtum ist nicht von dieser
Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen.“ (Joh 18,36)
Somit können wir daraus schließen, dass, je ernster wir als Menschen aufrichtigen Glaubens
die Wahrheit unserer Überzeugungen nehmen, wir uns desto wahrscheinlicher von Gewalt
im Namen dieses Glaubens abwenden werden; desto wahrscheinlicher werden wir darauf
vertrauen, dass Gott, der wahrhaft Wirkliche, wahr, göttlich und unveränderlich bleiben wird,
ungeachtet der Misserfolge und Erfolge der Menschen in Gesellschaft und Geschichte. Und
wir werden uns bewusst sein, dass der Versuch, religiöse Gefolgschaften durch Gewalt zu
schmieden, in Wahrheit der Versuch ist, die göttliche Macht durch menschliche Macht zu ersetzen; daher auch das Beharren des Koran, dass es keinen Zwang in der Religion gibt (al Baqarah, 2:25631) und die Erwähnung der ‚Religionsfreiheit’ in Ihrem Schreiben. Es ist von größter
dieses Prinzips durch Christen und Muslime würde dazu beitra­gen, viele der Spannungen zu lösen, die von
christlichen und muslimischen Minderheiten erlebt werden.
31
„Es gibt keinen Zwang in der Religion.“
122
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Bedeutung für den Glauben an eine tatsächlich existierende absolute transzendente Macht,
dass wir diese als unabhängig von einer geringeren Macht erkennen: die verstörends­te Form
des Säkularismus ist jene, die dies vergisst oder missversteht.
In der Tat wurde dies in sehr vielen Kontexten über die Jahrtausende vergessen oder missverstanden. Religiöse Identität wurde häufig mit kultureller oder nationaler Identität verwechselt, mit Strukturen sozialer Kontrolle, mit Klassen- und Religionsidentitäten, mit weltlicher
Macht; und sie wurde im Interesse all dieser und weiterer Formen von Macht durchgesetzt.
Trotz der Worte Jesu im Johannes-Evangelium wurde das Christentum mit dem Schwert
verbreitet und durch extreme Sanktionen rechtlich gestützt32. Und trotz des koranischen Axioms wurde der Islam auf dieselbe Weise durchgesetzt, mit extremen Strafen für den Abfall
vom Glauben und bürgerrechtlichen Einschränkungen für Andersgläubige. Es gibt keine Religion, deren Geschichte frei ist von dieser Versuchung und diesem Scheitern.
Wir benötigen für unseren Dialog die Vision, die aktuellen Zyklen an Gewalt zu durchbrechen, um der Welt zu zeigen, dass Glaube und nur Glaube wahrhaftig eine Verpflichtung
auf den Frieden begründen kann, was definitiv den verführerischen, aber tödlichen Zyklus
der Vergeltung eliminieren könnte, in dem wir einfach immer wieder aufs Neue die Gewalt
des anderen imitieren.33 Aufbauend auf der Liebe Gottes für uns und, als Erwiderung, unsere
Liebe zu Gott und den Nächsten können wir von einem besonderen Merkmal der christlichen Herangehensweise an den Frieden und die Friedenserhaltung sprechen: das Moment
einer unbedingt positiven Antwort, das Risiko, jemandem etwas anzubieten, bei dem keine
Veranlassung besteht, ihm wirklich zu trauen.
Viele Christen sagen, dass Ihr Schreiben ein solches Angebot darstellt – ein Geschenk ohne
Gewissheit, wie die Antwort ausfallen wird. Wir erkennen den Mut zu diesem Schritt an und
antworten in derselben Weise. Lassen Sie uns gemeinsam entdecken, wie diese Dimension
Es gab und gibt eine Tradition innerhalb des Christentums, die sich für ein moralisches Recht auf den
Einsatz von Gewalt in sorgfältig definierten Umständen ausspricht, insbeson­dere durch die Anwendung
des Kriteriums des „gerechten Krieges“, das von Augustinus von Hippo formuliert und von Thomas von
Aquin weiterentwickelt wurde.
33
Und hier müssen wir, in den Worten der ersten Überlegun­gen Daniel Madigans SJ zu Ein gemeinsames Wort,
an­erkennen, dass: „... eine ehrliche Prüfung unseres Gewis­sens uns nicht vergessen lassen wird, dass unsere
Zukunft nicht nur durch Konflikte zwischen uns bedroht ist. Im Laufe der Jahrhunderte von unbestrittenen
Konflikten und Aus­einandersetzungen zwischen den Mitgliedern unserer bei­den Traditionen hatte jede
Gruppe auch ihre eigenen in­ternen Konflikte, die viel mehr Menschenleben auf dem Gewissen hatten und
haben als interreligiöse Streitigkeit­en. Mehr Muslime werden täglich von anderen Muslimen getötet als
durch Christen oder andere. Die große Zahl der Toten im Iran-Irak-Krieg in den 1980er Jahren waren alles
Muslime. Kaum einer der Millionen von Christen, die in europäischen Kriegen im Laufe der Jahrhunderte
starben, wur­den durch Muslime getötet. Die größte Schande des letzten Jahrhunderts war die Ermordung
von Millionen von Juden durch Christen, die durch ihre eigene lange Tradition des Antisemitismus
konditioniert waren und verführt von einer vergifteten nationalistischen und rassistischen neuen Ideolo­
gie. In den letzten I5 Jahren in Afrika wurden Millionen von Christen in grauenhaften Bürgerkriegen durch
ihre Glau­bensgenossen abgeschlachtet ... Lassen Sie uns also nicht in den Denkirrtum verfallen, dass der
muslimisch-christliche Konflikt der größte Konflikt auf der Welt oder Krieg die schwerste Bedrohung der
menschlichen Zukunft ist.“
32
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123
der christlichen Sprache, geboren aus der bedingungslosen und selbstaufopfernden Liebe
zum Nächsten, mit der Sprache des Koran korreliert.
Eine solche Herangehensweise kann uns über eine bloße Bestätigung hinaus, dass wir in
Frieden mit jenen sind, die mit uns in Frieden leben, an einen Ort bringen, an dem unsere
religiösen Überzeugungen ein Mittel dafür sein können, Frieden zu schaffen, wo er fehlt.
Eine solche Verpflichtung, gemeinsam das gemeinsame Wohl zu suchen, kann unserer Überzeugung nach Hand in Hand gehen mit der grundsätzlichen Erkenntnis, dass wir selbst mit
unserer Hingabe an Gott und den Nächsten nicht erwarten können, eine Art ‚neutrale Position’ abseits der Traditionen unseres Glaubens zu finden, die uns gestatten würde, eine Art
Union zwischen unseren diversen Überzeugungen auszuhandeln. Weit davon entfernt, ein
Grund zur Beunruhigung zu sein, leistet das Festhalten an unserer Wahrheit, während wir
gleichzeitig die Gewalt ablehnen, zwei äußerst positive Dinge. Erstens bestätigt es die transzendente Quelle unseres Glaubens: sie sagt, dass unsere Ansichten nicht nur menschliche
Konstruktionen sind, die wir abwerfen können, wenn sie uns unbequem werden. Zweitens
spricht sie, indem sie darauf besteht, dass keine anderen Werte, keine säkularen Werte absolut sind, allen anderen Wertesystemen die Rechtfertigung für unkontrollierte Gewalt ab.
Transzendente Werte können nur von jenen mit Gewalt verteidigt werden, die deren transzendenten Charakter nicht voll verstehen; und wenn kein anderer Wert absolut ist, kann
kein anderer Wert das Recht auf bedingungslose Verteidigung mit allen Mitteln und ungeachtet der Kosten für sich beanspruchen.
Selbst wenn wir akzeptieren, dass unsere Systeme religiösen Glaubens nicht durch ein ‚rationales’ Argument versöhnt werden können, weil sie vom Geschenk der Offenbarung abhängen, verwerfen wir aufgrund eben dieser Idee alle Behauptungen, dass die unterwerfende menschliche Macht die ultimative Autorität und die Vermittlerin in dieser Welt ist.
Angesicht[s] der Tatsache, wie bereits ausgeführt, dass die christliche Geschichte zu viele Beispiele enthält, bei denen Christen die ursprüngliche Abkehr vom Zyklus der Vergeltung verraten haben, können wir eine solche Vision nur in Form einer Frage an Christen und Muslime
vorbringen: wie kamen wir jemals zu dem Denkansatz, uns das wahrhaft Transzendente als
Muster endloser und steriler Wiederholungen von Gewalt vorzustellen oder zu verkünden?
Genau an diesem Punkt können wir gemeinsam einen Weg entwickeln, auf dem religiöse
Vielfalt betrachtet werden kann, der Aufgabe der sozialen Einheit und des Handelns als Kraft
für das allgemeine Wohl zu dienen. Als Gläubige können wir niemals behaupten, die soziale
Harmonie könne durch eine unkontrollierte zwingende Macht erreicht werden. Dies bedeutet, dass wir nicht verpflichtet sind, irgendeine gesellschaftliche Ordnung im Hinblick auf ihre
Legitimität und Gerechtigkeit zu verteidigen oder für diese zu argumentieren. So wie die
Welt heute ist, bewohnen die diversen Religionen sehr häufig ein Territorium, eine Nation,
eine soziale Einheit (dabei kann es sich um relativ kleine Einheiten, wie z. B. eine Schule oder
eine Wohngemeinschaft oder ein Unternehmen handeln). In einem solchen Umfeld können wir die pragmatische und säkulare Frage der ‚allgemeinen Sicherheit’ nicht vermeiden:
was wir für das Gedeihen unserer Überzeugungen brauchen ist verbunden mit dem, was
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andere Gruppen für das Gedeihen ihrer Überzeugungen benötigen. Wir lernen, dass wir uns
am besten verteidigen können, indem wir andere verteidigen. In einer pluralen Gesellschaft
sichern sich Christen ihre Religionsfreiheit dadurch, dass sie sich für die Religionsfreiheit anderer Glaubensrichtungen einsetzen, damit diese dasselbe Recht erhalten, in der kontinuierlichen Diskussion über die Ausrichtung und den Ethos der Gesellschaft Gehör zu finden.
Und wir gehen noch weiter. Wenn wir es uns zur zweiten Natur machen, einander zu verteidigen, sollten wir auch in der Lage sein, andere Gruppen und Gemeinschaften zu verteidigen. Wir können gemeinsam für jene sprechen, die keine Stimme und keinen Einfluss in der
Gesellschaft haben: die Ärmsten, die Ausgestoßenen, die Machtlosen, Frauen und Kinder,
Migranten und Minderheiten; und wir können auch gemeinsam für jene große, alles umfassende Wirklichkeit sprechen, die keine ‚Stimme’ und keine Macht hat: unsere geschädigte
und missbrauchte materielle Umwelt, von der uns unsere Glaubenstraditionen sagen, dass
wir sie ehren und für sie Sorge tragen sollen.
Unsere Stimme im gesellschaftlichen Diskurs wird stärker sein, wenn sie eine gemeinsame
ist. Wenn wir uns getreu dem Gebot der Liebe verhalten wollen, müssen wir Wege finden,
die weitaus effektiver darin sind, unsere Gesellschaften zu beeinflussen, dem Weg Gottes zu
folgen bei der Förderung dessen, was zum menschlichen Gedeihen beiträgt: Ehrlichkeit und
Treue in den öffentlichen und privaten Beziehungen, bei unseren Geschäften sowie in der
Ehe und der Familie; die Erkenntnis, dass der Wert eines Menschen keine wirtschaftliche Frage ist; die klare Erkenntnis, dass weder materieller Reichtum noch Unterhaltung eine wahre
und tiefreichende menschliche Erfüllung garantieren können.
Gemeinsam auf der Suche in der Weise Gottes
Der Text Ein gemeinsames Wort zwischen uns und Euch stellt einen eindringlichen Aufruf zum
Dialog und zur Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen dar. Es findet bereits auf
vielen Ebenen einiges in diesem Bereich statt, aber die sehr große geographische (43 Länder) und theologische Vielfalt der Unterzeichner Ihres Schreibens stellt einen einzigartigen
Anstoß dar, die Begegnungen zu vertiefen und auszuweiten. Als Teil der gemeinsamen Form
und Struktur unserer Sprache über Gott können wir eine gemeinsame Verpflichtung auf die
Wahrheit und den Wunsch erkennen, zu ergründen, wie unser Leben in Übereinstimmung
mit der ewigen Wahrheit zu leben ist. Wie oben ausgeführt, fordert uns das christliche Verständnis von Liebe zusammen mit unserer gemeinsamen Anerkennung der absoluten Transzendenz des Göttlichen auf, eine Vision radikaler und umgestaltender Gewaltlosigkeit zu
verfolgen. Wir fühlen uns verpflichtet, mit Ihnen und allen unseren Nachbarn nachzudenken
und zusammenzuarbeiten, mit einem Augenmerk sowohl auf praktisches Tun und Dienen
als auch auf einen langfristigen Einsatz für alles, was zum wahren gemeinsamen Wohl aller
Menschen vor Gott führt.
Dies ist ein günstiger Moment, um die Zukunft für unseren Dialog zu koordinieren. Wir schlagen eine Herangehensweise vor, die sich auf Dialog und Verkündigung, ein Dokument des
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Vatikan aus dem Jahr 1991, bezieht, dessen vier Kategorien eines interreligiösen Dialogs
weitgehend als hilfreich erachtet werden. Diese sind:
a) der Dialog über das Leben, „wobei die Menschen sich bemühen, in offener und nachbarschaftlicher Weise zu leben“;
b) der Dialog des Handelns, „bei dem Christen und andere zusammen an der ganzheitlichen Entwicklung und Befreiung der Menschen arbeiten“;
c) der Dialog des theologischen Austauschs, „bei dem sich Experten um ein tiefgehenderes Verständnis ihres jeweiligen religiösen Erbes bemühen“; und
d) der Dialog der religiösen Erfahrung, „bei dem Menschen, die in ihren eigenen religiösen Traditionen verwurzelt sind, ihre spirituellen Reichtümer austauschen.“
Diese Typologie kann allgemeiner auf das gesamte Begegnungsmuster zwischen Christen
und Muslimen angewandt werden, selbst wenn es nicht direkt als ‚Dialog’ beschrieben wird.
Daraus ergeben sich drei Notwendigkeiten:
a) die Partnerschaften und Programme an der Basis zwischen unseren Gemeinschaften zu
stärken, die sich für Gerechtigkeit, Frieden und das Allgemeinwohl der menschlichen Gesellschaft auf der ganzen Welt einsetzen;
b) die theologischen Diskussionen und Forschungen der religiösen Führer und Gelehrten zu
intensivieren, die nach einer klareren Einsicht in die göttliche Wahrheit suchen, und dies
durch den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Gruppen zu realisieren, die sich durch
Kollegialität, gegenseitige Achtung und Vertrauen auszeichnen;34
c) die Achtung der christlichen und muslimischen Gläubigen für die religiösen Praktiken
und Erfahrungen des jeweils anderen vertiefen, da sie sich als Menschen erkennen, deren
Leben sich an der Liebe zu Gott ausrichtet.35
Diese unterschiedlichen Arten der Begegnung müssen zusammen stattfinden, um ein ausgewogenes und effektives Begegnungsmuster sicherzustellen. Der Ansatz Ihres Schreibens
zeigt die Bedeutung gemeinsamer und eingehender Studien von Bibel- und Korantexten,
um sicherzustellen, dass alle Dimensionen der Begegnung abgedeckt sind und dass Christen
und Muslime im Hinblick auf ihre jeweiligen Glaubenstraditionen verantwortlich sind und
auf diese Vielfalt zurückgreifen, bei gleichzeitiger Anerkennung der Grenzen – zumindest
anfänglich – unserer Fähigkeit, die Schriften der Anderen autoritativ zu kommentieren.36
Während sich diese Kolloquien durch einen hohen Grad akademischen Strebens auszeichnen sollten,
sollten sie sich auch auf die persönliche Hingabe der religiösen Führer und Gelehrten auf ihren jeweiligen
Glauben beziehen und dies ausdrücken.
35
Dies wird erfordern, Zeit miteinander zu verbringen, die Tiefe der Spiritualität des anderen zu prüfen und
die Vielfalt und die Tiefe von Gebeten, Angedenken und Feiern in beiden Glaubensrichtungen zu sehen.
36
Die christliche Bibel, Altes und Neues Testament zusam­men, bildet eine große Erzählung (mit zugegebenermaßen vielen untergeordneten Teilen, von denen einige nicht dem Erzählmodell folgen) von der
34
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Wie bereits erwähnt, ist die Rolle des Koran nicht wirklich der Rolle der Bibel im Christentum gleich. Für Christen wurde das Wort Gottes Fleisch in Gestalt von Jesus Christus. Unser Verständnis der Schrift ist, dass sie Zeugnis für Christus ist und ihre Gültigkeit von ihm
her bezieht und die Darstellungen der Propheten und Apostel über sein Wirken enthält. Sie
ist die Stimme des lebendigen Geistes, der, so glauben die Christen, unter uns und in uns
weilt. Nichtsdestotrotz ist für uns wie für die Muslime das Lesen der Schriften eine konstante
Quelle der Inspiration, der Nahrung und Korrektur, und dies macht es für Christen und Muslime möglich, aufeinander zu hören und einander infragezustellen, während man die Texte,
durch die wir von Gottes Willen und Absichten erfahren haben, liest und interpretiert. Und
für Chris­ten und Muslime ist es beim Lesen der Schriften wichtig, den Platz des jüdischen
Volkes und der hebräischen Schriften in unsere Begegnung einzubeziehen, da wir beide
auf unsere Ursprünge in dieser Geschichte der göttlichen Offenbarung und des göttlichen
Handelns schauen.
Der Einsatz der Schriften im interreligiösen Dialog hat ein erhebliches Potenzial, aber es gibt
auch Risiken bei dieser Herangehensweise, etwa wenn wir denken, dass wir die heiligen
Texte des anderen kennen oder verstehen, sie aber tatsächlich ausschließlich mit unseren
eigenen Augen lesen. Wir hoffen, dass ein frühes Ergebnis des gemeinsamen Studierens und
Diskutierens die Ausarbeitung weiser Richtlinien, Verfahren und Bildungsprogramme für diesen Bereich unserer Begegnung sein wird.
Angesichts der vielfältigen Begegnungsformen, die wir zusammen abhalten, um unser gemeinsames Bemühen zu vertiefen, können wir drei wichtige Ergebnisse identifizieren, um
die wir uns gemeinsam bemühen. Sie werden von der Errichtung und Aufrechterhaltung
glaubwürdiger und dauerhafter Strukturen der Kollegialität, des Vertrauens und des Respekts
zwischen den wichtigsten Personen und Gemeinschaften unserer beiden Glaubensrichtungen abhängen. Diese drei Ergebnisse sind:
a) Aufrechterhaltung und Stärkung des Impulses, was bereits in der christlich-muslimischen
Begegnung stattfindet. Eine wichtige Bereicherung sind in dieser Hinsicht die kontinuierlichen Gespräche über Ihren Brief und die christlichen Reaktionen darauf. Rückblickend hat
es einen wachsenden Grundbestand an Aktivitäten und Reflexionen in diesem Bereich
gegeben, zumindest seit Nostra Aetate (1965). Die kürzlich stattgefundene Versammlung
religiöser muslimischer Führer und Gelehrter in Mekka und z. B. die anschließende Kon
Schöpfung bis zur neuen Schöpfung, vom Garten Eden bis zum neuen Jerusalem, das vom Himmel auf
die Erde nieder kommt. In dieser Erzählung wird Jesus Christus als Höhepunkt der Geschichte der Schöpfung der Welt einerseits und der Beauftragung Abrahams andererseits gesehen: die Geschichten über
Je­sus sind nicht nur ‚Geschichten über Jesus’, sondern ‚Geschichten über Jesus als Erfüllung des Paktes und der
Schöpfung’. Die zahlreichen Lehren, die sich in der gesamten Bibel finden lassen (Glaubenslehre von Gott,
Verhaltens­regeln, religiöse Praktiken, etc.) sind in den Kontext dieser übergreifenden Geschichte gestellt
und werden in diesem Kontext am besten verständlich. Es ist empfehlenswert, im Einzelnen zu prüfen,
wie Muslime diese Aspekte der christ­lichen Schrift sehen und ob die Möglichkeit besteht, in ei­ner solchen
Perspektive neue Chancen für einen Dialog zu orten.
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ferenz in Madrid sind weitere vielversprechende Entwicklungen. Es ist wichtig, dass neue
Initiativen dieses größere Bild der christlich-muslimischen Begegnung erkennen, und sich
selbst in Bezug dazu setzen und sowohl von deren Erfolgen als auch Rückschlägen lernen.
b) Sichere Räume zu schaffen, in denen Unterschiede – aber auch Annäherungen – zwischen Christen und Muslimen ehrlich und kreativ artikuliert und untersucht werden können. Unsere zwei Glaubensrichtungen unterscheiden sich erheblich in Fragen, die für uns
von zentraler Bedeutung sind, Fragen des Glaubens sowie Fragen der Praxis. Es ist wesentlich für unsere Begegnungen, dass wir Wege finden, diese Differenzen frei, aber höflich zu
behandeln; tatsächlich wurde eine diesbezügliche Ehrlichkeit als sicheres Zeichen eines
reifen Dialogs beschrieben.
c) Sicherzustellen, dass unsere Begegnungen nicht nur den Teilnehmenden dienen, sondern in der Lage sind, Einfluss auf viele Menschen zu nehmen – Christen und Muslime –
auf allen Ebenen der örtlichen Gemeinden, aber auch auf jene, die sich mit den weitgefassteren Realitäten unserer Gesellschaften und unserer Welt beschäftigen. Die Suche
nach dem Allgemeinwohl ist ein Zweck, für den sich Christen und Muslime gemeinsam
einsetzen können, und sie führt uns in einen komplexen Bereich, in dem wir nach Wegen
suchen, in der Welt heutiger globaler und demokratischer Politik wirksam zu handeln.
Bei der Vielzahl der Begegnungs- und Teilnahmemuster wäre es wünschenswert, einige
allgemeine Prioritäten zu erstellen, um die christlich-muslimischen Beziehungen fokussiert
und effektiv um eine Reihe von Kernthemen zu gruppieren. Auch hier sind es drei Schritte,
die angeraten zu sein scheinen:
a) Erstens gibt es in beiden Traditionen ein dringendes Bedürfnis nach Wissen über den
jeweils anderen. Wir sind alle beeinflusst von Vorurteilen und Missverständnissen, die wir
aus der Vergangenheit übernommen haben – und die häufig in der Gegenwart durch
die Macht der medialen Stereotypenbildung erneuert werden. Das Lehren und Lernen
über die Realität und die Vielfalt des Islam, so wie Muslime ihren Glauben praktizieren,
sollte für Christen eine ebensolche Priorität genießen wie ein Verstehen der gegenwärtigen Christenheit für Muslime. Konkret könnten sich solche Bildungsangebote anfänglich
darauf konzentrieren, den Klerus bzw. die Imame und Religionslehrer für ihre öffentlichen
interreligiösen Aufgaben vorzubereiten.
b) Zweitens müssen die Gelegenheiten für eine lebendige Begegnung mit Menschen anderen Glaubens, sowohl innerhalb als auch über nationale Grenzen hinweg, ausgeweitet
und in einem Klima des Vertrauens und des Respekts entwickelt werden. Diese sollten auf
vielen Ebenen stattfinden und in vielen verschiedenen Kontexten. Diese Gelegenheiten
könnten sich sinnvollerweise auf Bildungsprojekte konzentrieren, auf Bemühungen zur
Umsetzung der Millenniumsziele und auf die gemeinsame Arbeit zur Versöhnung in Situationen des Konflikts und historischer Feindschaften,
c) Schließlich muss es, damit die Begegnungen nachhaltig über einen längeren Zeitraum
bestehen können, eine Verpflichtung auf den Prozess und füreinander seitens der Teilneh128
EZW-Texte Nr. 202/2009
mer geben. Eine solche Verpflichtung, die sich zu Zuneigung, Respekt, Kollegialität und
Freundschaft entwickelt, ist Ausdruck der Nächstenliebe; es geschieht auch in der Liebe
zu Gott und in Erwiderung auf Gottes Willen.
Wir glauben, dass Ein gemeinsames Wort zwischen uns und Euch den Weg eröffnet, diese
Schritte in einem neuen Geist durchzuführen. Die beschränkten Möglichkeiten der Abgabe weiterer Statements und des Versandes weiterer Schreiben im Vorfeld von Treffen sind
offensichtlich, wie gut und freundlich die damit verfolgten Absichten auch sein mögen. Wir
freuen uns daher sehr darauf, von Angesicht zu Angesicht einige der Fragen zu besprechen,
die sich aus diesem Austausch von Briefen ergeben, und – wie bereits gesagt – die Konzepte
zu untersuchen, die skizziert wurden, und die neuen Möglichkeiten für eine kreative gemeinsame Arbeit zum Wohle unserer Welt zu ergründen.
Zu Ihrer Einladung, tiefer in Dialog und Zusammenarbeit als ein Teil unserer gläubigen Antwort auf die Offenbarung der Absicht Gottes für die Menschheit einzutreten, sagen wir daher: Ja! Amen.
In der Liebe Gottes,
+ Rowan, Erzbischof von Canterbury
14. Juli 2008
Quelle: CIBEDO-Beiträge 3/2008, S. 22-33
Englischer Text:
www.archbishopofcanterbury.org/media/word/2/j/A_Common_Word_for_the_Common_Good.doc
(Wir danken für die Abdruckgenehmigung.)
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14. Abschlusserklärung
der Yale Common Word Conference
„Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ – ein von führenden Muslimen an führende
Christen gerichteter offener Brief – begann mit dem Wunsch führender Muslime, dem koranischen Gebot zu folgen und Christen und Juden anzusprechen: Sprich: „O Volk der Schrift,
kommt herbei zu einem Wort, das uns und euch gemeinsam ist: dass wir niemandem außer Gott
dienen und wir ihm nichts zur Seite stellen“ (3,64).1 Die Absicht hinter „Ein Wort, das uns und
euch gemeinsam ist“ ist nicht, die Theologie einer Religion einer anderen aufzuzwingen oder
einen Bekehrungsversuch zu machen. Es versucht auch nicht, unsere beiden Religionen auf
eine künstliche Einheit zu reduzieren, die auf dem Doppelgebot basiert.
Gleichwohl haben Muslime in „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ anerkannt, dass
der Islam und das Christentum tatsächlich essentielle Gemeinsamkeiten teilen: die Liebe zu
Gott und die Nächstenliebe, die in dem großen Doppelgebot des Evangeliums beschrieben
werden und in der Tora verwurzelt sind: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst.“2 Die von der Yale University initiierte Antwort von über 500 führenden Christen
hat bestätigt, dass diese Gemeinsamkeit tatsächlich vorhanden ist und eine Grundlage für
den Dialog zwischen unseren beiden Religionen darstellt.
„Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ ist in unseren heiligen Texten verwurzelt. Es entstand von innen heraus und wurde nicht von außen aufgezwungen. Die Liebe zu Gott und
die Nächstenliebe sind Teil unseres gemeinsamen abrahamischen Erbes. Auf diesem Prinzip
basierend soll unsere Bemühung sicherstellen, dass Religionen heilen anstatt zu verletzen
und die menschliche Seele nähren anstatt menschliche Beziehungen zu vergiften. Dies Doppelgebot lehrt uns, was wir von uns selbst fordern müssen und was wir vom anderen erwarten sollten in dem, was wir tun, was wir sagen und was wir sind.
Teilnehmer der Konferenz haben eine Reihe von theologischen und praktischen Themen auf
eine offene, von Ehrlichkeit und Wohlwollen gekennzeichnete Art diskutiert. Die diskutierten
theologischen Themen beinhalteten verschiedene Verständnisse von der Einheit Gottes, von
Jesus Christus und seiner Passion und von der Liebe zu Gott. Die praktischen Themen bein Anmerkung des Übersetzers: Der Wortlaut des Koranverses entspricht der Übersetzung des englischen
Originals von „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ durch Abd al-Hafidh Wentzel, die dieser Dokumentation vorangestellt ist. Die in der Wissenschaft üblicherweise verwendete Koranübersetzung Rudi
Parets (Stuttgart/Berlin/Köln 92004) weicht hier leicht ab: „Sag: Ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einem
Wort des Ausgleichs (?) zwischen uns und euch! (Einigen wir uns darauf ) dass wir Gott allein dienen und
ihm nichts (als Teilhaber an seiner Göttlichkeit) beigesellen.“
2
A.d.Ü.: Bibeltext wird nach der Lutherbibel in der Fassung von 1984 zitiert.
1
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halteten die Weltarmut, die Kriege im Irak und in Afghanistan, die Situation in Palästina und
Israel, die Gefahren weiterer Kriege und die Religionsfreiheit.
Teilnehmer der Konferenz stimmten in Folgendem überein:
1. Muslime und Christen bejahen die Einheit und Absolutheit Gottes. Wir erkennen an, dass
Gottes gnädige Liebe unendlich und ewig ist und alle Dinge umfasst. Diese Liebe ist für
unsere beiden Religionen zentral und Kern des jüdisch-christlich-islamischen monotheistischen Erbes.
2. Wir erkennen an, dass alle menschlichen Wesen das Recht auf die Bewahrung von Leben,
Religion, Besitz, Intellekt und Würde haben. Kein Muslim oder Christ soll dem anderen diese Rechte verwehren und auch nicht die Verunglimpfung oder Entweihung der heiligen
Symbole, Gründungsgestalten oder Orte der Anbetung des jeweils anderen dulden.
3. Wir sind diesen Prinzipien und ihrer Förderung durch fortwährenden Dialog verpflichtet.
Wir danken Gott, dass er uns in dieser historischen Bemühung zusammengebracht hat
und bitten, dass Er unsere Absichten läutern und uns durch Seine allumfassende Gnade
und Liebe Erfolg gewähren möge.
31. Juli 2008
Quelle des englischen Textes:
www.yale.edu/faith/downloads/Yale_Common_Word_Conf_2008_Final_Decl.pdf
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D er H e ra u s ge ber
Dr. theol. Friedmann Eißler, geb. 1964, Pfarrer, EZW-Referent für Islam und andere nicht­
christliche Religionen, neue religiöse Bewegungen, östliche Spiritualität, interreligiösen Dialog.
Dieser EZW-TEXT kann in Studienkreisen, bei Seminaren, Tagungen und dergleichen angewendet werden. Die EZW-TEXTE können einzeln oder in größerer Menge bei der EZW, Auguststraße 80 in 10117 Berlin, angefordert werden.
Gesamtprospekt und Titelverzeichnis werden auf Wunsch gern zugesandt.
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