Kugeln in der Kiste, Lyapunovfunktionen

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Kugeln-in-der-Kiste
In einer Kiste liegen Kugeln. Auf jeder steht eine natürliche Zahl ≥ 0. Zwei Personen A und
B spielen ein Spiel: A möchte die Kiste leeren, indem er eine Kugel nach der anderen daraus
entfernt. Ist die Kiste leer, hat er gewonnen. B darf für jede herausgenommene Kugel wieder
Kugeln aus einem unbegrenzten Reservoir hineinlegen. Es ist klar, daß A keine Chance hat zu
gewinnen, wenn die Möglichkeiten von B nicht eingeschränkt werden.
Als Einschränkung legen wir deshalb fest: B darf nur Kugeln mit Nummern hineinlegen, die
kleiner sind als die Nummer auf der herausgenommen Kugel. Nimmt A eine Kugel mit einer 0
aus der Kiste, darf B natürlich keine Kugel wieder in dei Kiste legen (es gibt ja keine Kugeln
mit einer kleineren Nummer als 0). Dafür können es aber beliebig (aber endlich) viele neue
Kugeln sein. Nimmt zum Beispiel A eine Kugel mit einer 5 heraus, kann B 1000 Kugeln mit
einer 4 wieder hineinlegen.
Ohne diese Einschränkung (neue Kugeln haben kleinere Nummern als die alte) verliert A
natürlich immer. Aber reicht die Einschränkung aus, damit A gewinnt? Dazu betrachten wir
folgende Spielvarianten:
a) B darf bei jedem Schritt keine Kugel hineinlegen.
b) B darf bei jedem Schritt höchstens eine Kugel hineinlegen.
c) B darf bei jedem Schritt höchstens zwei Kugeln hineinlegen.
d) B darf bei jedem Schritt soviele Kugeln hineinlegen, wie die Nummer auf der herausgenommenen Kugel angibt.
e) B darf bei jedem Schritt beliebig (aber endlich) viele Kugeln hineinlegen darf.
f) Wie e), aber A muß die Kugeln mit verbundenen Augen herausnehmen. Das heißt, A darf
sich keine Strategie zurechtlegen, welche Kugel er herausnimmt.
g) Wie e), aber B sagt A, welche Kugel er herausnehmen soll. Das heißt, A muß die für ihn
ungünstigste Variante wählen.
Es ist klar, daß das Spiel mit den Varianten a) bis g) für A immer ungünstiger wird. Man könnte
vermuten, daß irgentwann, spätestens bei Variante g), A das Spiel verliert. Tatsächlich hat B
aber keine Chance zu gewinnen. Die Einschränkung – “neue Kugeln haben kleinere Nummern
als die alte” – gibt dem Spiel eine eindeutige Richtung: A gewinnt immer.
Wir beweisen das für die Varianten a) bis d) mit der Konstruktion einer Lyapunovfunktion.
Für die Varianten e) bis g) scheint es keine Lyapunovfunktion zu geben. Wir beweisen alle
diese Varianten abstrakt logisch.
4.1
Lösungen der Aufgaben mit Lyapunovfunktionen
Die Idee der Untersuchung eines Spiels mit Lyapunovfunktionen besteht in folgendem: Der
Zustand des Systems ist kompliziert zu beschreiben (hier besteht er aus der Anzahl der Kugeln
und ihren Nummern). Wenn wir eine Funktion konstruieren können, die jedem Zustand eine
natürliche Zahl zuordnet und die Eigenschaft hat, bei jedem Spielschritt zu fallen, muß diese
Funktion nach endlich vielen Schritten den Wert 0 annehmen. Wenn die Funktion außerdem
noch so konstruiert ist, daß sie nur 0 werden kann, wenn ein bestimmter Zustand erreicht ist
(z.B. Kiste ist leer), so folgt aus dem monotonen Verhalten der Funktion während des Spiels,
daß der bestimmte Zustand nach endlich vielen Schritten angenommen werden muß.
Abstrakt ist die Definition einer Lyapunovfunktion folgende:
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4 KUGELN-IN-DER-KISTE
4.1.1
Lyapunovfunktionen
Wir betrachten ein Spiel, dessen Zustand eindeutig durch einen Parameter z gegeben ist. Z sei
die Menge aller möglicher Zustände. Ein Zustand – wir nennen ihn z∞ – sei ausgezeichnet. Das
kann z.B. ein Zustand sein, bei dem einer der Spieler gewonnen hat. Den Anfangszustand des
Spiels bezeichnen wir mit z0 und die Zwischenzustände mit zn . Ein Spielzug ist zn −
→ zn+1 . Die
Frage ist, ob z∞ im Laufe des Spiels erreicht werden kann, d.h., ob es ein endliches n∞ gibt mit
zn∞ = z∞ .
Eine Lyapunovfunktion zu einem Spiel ist eine Funktion F : Z −
→ N mit den Eigenschaften
• Beschränktheit: F (z) ≥ 0, ∀z ∈ Z
• Striktheit: F (z) = 0 ⇐⇒ z = z∞
• Monotonie: F (zn+1 ) < F (zn ), ∀n ≥ 0 (tatsächlich reicht n ≥ m für gewisses m ≥ 0)
Es ist klar, daß die Existenz einer Lyapunovfunktion die Existenz eines gesuchten n∞ impliziert.
Das folgt aus folgendem
Satz: Eine monoton fallende Folge natürlicher Zahlen erreicht nach endlich vielen Schritten 0.
Ziel bei dieser Art von Aufgaben ist die Konstruktion einer Lyapunovfunktion.
4.1.2
Zustandsbeschreibung
Als erstes ist der Zustand des Spiels zu beschreiben.
Es sei z der aktuelle Zustand der Kiste. Diese besteht aus k Kugeln mit den Nummern i1 , ..., ik
mit ij ≥ 0. Das heißt, man kann z als Paar
z = (k, {i1 , ..., ik })
betrachten. Die Reihenfolge der Kugeln ist egal, deshalb kann man die ij als der Größe nach
geordnet ansehen. Der Zustand der leeren Kiste ist z∞ = (0, ∅). Der Zustandsraum – die Menge
aller möglicher Zustände – sei Z. Es ist
n
o
Z = (k, {i1 , ..., ik }) | k ≥ 1, ij ≥ 0 ∪ (0, ∅)
Ein Spiel besteht aus Z und einer Folge von Zuständen: z0 , z1 , z2 , ....
Die Frage ist: Gibt es ein n mit zn = z∞ .
4.1.3
Lösung der Aufgabe a)
Wir setzen F (z) = k, die Anzahl der Kugeln. Offensichtlich sind die drei Bedingungen erfüllt.
4.1.4
Lösung der Aufgabe b)
Wir setzen
F (z) =
k
X
(ij + 1)
j=1
P
Offensichtlich sind die beiden ersten Bedingungen erfüllt (es gilt 0j=1 aj = 0).
Monotonie: Im ungünstisten Fall wird anstelle eine Kugel mit der Nummer ij eine mit der
Nummer ij − 1 hineingelegt. Dann gilt F (zn+1 ) − F (zn ) ≥ 1. Falls ij = 0, dann wird k − 1 aus
k und es gilt F (zn+1 ) − F (zn ) = 1, wobei k ≥ 1 sein kann.
4.2 Lösung der Aufgaben e), f), g)
4.1.5
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Lösung der Aufgabe c)
Wir setzen
F (z) =
k
X
j=1
2ij +1 − 1
Offensichtlich sind die beiden ersten Bedingungen erfüllt.
Monotonie: Im ungünstisten Fall wird eine Kugel mit der Nummer ij durch zwei Kugeln mit
den Zahlen ij − 1 ersetzt Dann ändert sich F um
F (zn+1 ) − F (zn ) ≥ 2 2ij − 1 − 2ij +1 − 1 = 2ij +1 − 2 − 2ij +1 + 1 = −1
4.1.6
Lösung der Aufgabe d)
Wir setzen
F (z) =
k
X
(ij + 1)ij +1
j=1
Offensichtlich sind die beiden ersten Bedingungen erfüllt.
Monotonie: Im ungünstisten Fall wird eine Kugel mit der Nummer n + 1 durch n + 1 Kugeln
mit den Zahlen n ersetzt Dann verringert sich F wenigstens um 1, weil
n + 1 n−1
n+1
n+1
n
n
+ ... + (n + 1)n + 1 > (n + 1) · nn
(n + 1)
=n
+ (n + 1) · n +
2
4.2
Lösung der Aufgaben e), f), g)
Wir beweisen, daß die Kiste nach endlich vielen Schritten leer ist, egal wie gespielt wird. Dazu
benutzen wir im Kern einen indirekten Beweis. Das ist eine Möglichkeit, das Abklingen einer
Größe zu zeigen, wenn man keine Lyapunovfunktion finden kann.
Bezeichnung: Eine k-Kugel ist eine Kugel mit der Zahl k darauf.
Der Beweis folgt aus einem Lemma (Hilfssatz) und drei Aussagen, die schrittweise bewiesen
werden, zum Teil indirekt. Diese Zerlegung macht die Aufgabe sehr übersichtlich und jeden
Beweisschritt fast offensichtlich.
Lemma: Endlich mal endlich viele Schritte ergibt endlich viele Schritte.
Das ist offensichtlich.
0. Aussage: Die Kiste ist nach endlich vielen Schritten leer.
1. Aussage: Es sind nur 0-Kugeln in der Kiste sind.
Die beiden nächsten Aussagen haben nur einen Sinn, wenn die maximaler Nummer in der Kiste
größer als 0 ist. Das nehmen wir an. (Wenn nicht, dann entspricht das der trivialen Spielvariante
a).)
2. Aussage: Die maximale Nummer auf den Kugeln in der Kiste sinkt nach endlich vielen
Schritten wenigstens um 1.
3. Aussage: Die Anzahl der Kugeln mit maximaler Nummer in der Kiste sinkt nach endlich
vielen Schritten wenigstens um 1.
Die Behauptung ist bewiesen, wenn die 3. Aussage und die Implikationen 3. Aussage =⇒ 2.
Aussage, 2. Aussage =⇒ 1. Aussage und 1. Aussage =⇒ 0. Aussage bewiesen sind.
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4 KUGELN-IN-DER-KISTE
Beweis der Implikation 3. Aussage =⇒ 2. Aussage:
Wenn die Anzahl der Kugeln mit maximaler Nummer nach endlich vielen Schritten um 1 sinkt,
dann gibt es (nach dem Lemma) nach endlich vielen Schritten keine solchen Kugeln mehr. Dann
ist die maximale Nummer wenigstens um 1 gesunken, falls sie vorher größer als 0 war oder die
Kiste ist leer.
Beweis der Implikation 2. Aussage =⇒ 1. Aussage:
Wenn die maximale Nummer nach endlich vielen Schritten um 1 sinkt, ist sie nach endlich
vielen Schritten 0.
Beweis der Implikation 1. Aussage =⇒ 0. Aussage:
Das ist offensichtlich und entspricht der Spielvariante a).
Damit ist die Implikation 3. Aussage =⇒ 0. Aussage bewiesen. Wenn Aussage 3 wahr ist, ist
die Kiste nach endlich vielen Schritten leer.
Beweis der 3. Aussage (mit vollständiger Induktion):
Induktionsanfang:
Angenommen, 1 ist die maximale Nummer. Wir beweisen indirekt, daß nach endlich vielen
Schritten eine 1-Kugel gezogen werden muß: Angenommen, daß ist falsch, daß heißt, man kann
beliebig oft eine 0-Kugel ziehen. Das geht aber nicht, weil es nur endlich viele 0-Kugeln gibt
und keine neuen Kugeln in die Kiste geworfen werden dürfen.
Induktionsvoraussetzung:
Falls k die maximale Nummer in der Kiste ist, sei Aussage 3 wahr. Nach der Implikation 3.
Aussage =⇒ 0. Aussage, ist die Kiste dann nach endlich vielen Schritten leer.
Induktionsschritt:
Angenommen, k + 1 ist die maximale Nummer. Wir nehmen an (indirekter Beweis), daß wir
keine solche Kugel ziehen müssen. Dann brauchen wir diese Kugeln gar nicht zu betrachten.
Wir könne sie alle in Gedanken aus der Kiste nehmen, ohne daß sich am Spielverlauf etwas
ändert. Dann ist es aber so, als ob nur Kugeln mit einer maximalen Nummer k in der Kiste
wären. Nach Induktionsvoraussetzung ist die Kiste dann nach endlich vielen Schritten leer.
Tatsächlich ist sie dann noch nicht leer, sondern enthält die Kugeln mit der Nummer k + 1,
die wir uns weggedacht haben. Im nächsten Spielschritt muß dann so eine Kugel aus der Kiste
genommen werden. Die Anzahl der (k + 1)-Kugeln sinkt also um 1.
Damit ist Aussage 3 für beliebige maximale Nummern bewiesen und aus der Implikation 3.
Aussage =⇒ 0. Aussage folgt, daß die Kiste unabhängig von der Spielvariante nach endlich
vielen Schritten leer ist.
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