„Streit um die Stammzellenforschung“ Lösungshinweise

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Klausur am 31.05.2014
Prof. Dr. Silja Vöneky
Universität Freiburg
„Streit um die Stammzellenforschung“
Lösungshinweise
Aufgabe: Erfolgsaussichten eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht
Das von der Landesregierung von L angestrebte Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hat
Aussicht auf Erfolg, wenn es zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Statthafte Verfahrensart
Statthafte Verfahrensart ist vorliegend eine abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2
GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG.
II. Antragsberechtigung
Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG ist die Landesregierung des Landes L antragsberechtigt.
III. Antragsgegenstand
Als tauglichen Antragsgegenstand nennen Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und § 76 BVerfGG Bundes- und
Landesrecht. Das EÄG ist ein förmliches Bundesgesetz.
Fraglich ist jedoch, wie es sich auswirkt, dass das Gesetz zwar bereits ausgefertigt und verkündet,
jedoch noch nicht in Kraft getreten ist. Nach Sinn und Zweck der abstrakten Normenkontrolle, namentlich dem Schutz der Rechtsordnung vor verfassungswidrigen Rechtsnormen,1 ist es – grundsätzlich – jedenfalls erforderlich, dass die Norm verkündet wurde, da erst mit der Verkündung das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen und aus dem Entwurf Recht geworden ist. Letzteres bedeutet
aber auch, dass mit Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens bereits alle maßgeblichen Schritte des
Parlaments vorliegen und mithin die Norm auch vor ihrem Inkrafttreten bereits „Bundesrecht“ im
Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG darstellt.2 Daher ist es vorliegend unschädlich, dass das EÄG zwar
schon verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten ist. Es handelt sich um einen tauglichen Antragsgegenstand.
IV. Antragsgrund
Die Zulässigkeit des Antrags setzt zudem nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG das Bestehen von „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln“ über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Norm voraus
(Antragsgrund). Demgegenüber verlangt § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG weitergehend, dass der Antragsteller die Norm positiv für nichtig hält. Im vorliegenden Fall muss die Frage allerdings nicht entschieden werden, weil die Landesregierung des Landes L von der Verfassungswidrigkeit des EÄG überzeugt
ist. Da es sich bei dem Normenkontrollverfahren um ein objektives Beanstandungsverfahren handelt,
ist die Geltendmachung der Verletzung eigener Rechte durch den Antragsteller nicht notwendig.
V. Klarstellungsinteresse
Jedoch verlangt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung ein „besonderes objektives Interesse an der
Klarstellung der Geltung der Norm“.3 Dieses liegt vor, wenn aufgrund der Zweifel an der Verfas-
1
Klein, in Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht (3. Auflage 2012), Rn. 662 f.; Meyer, in v. Münch/Kunig, GG (6. Aufl. 2012),
Art. 93 Rn. 31-32.
2
Klein, in Benda/Klein, a.a.O., Rn. 675 ff.
3
BVerfGE 88, 203 (334); st. Rspr.
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sungsmäßigkeit die Anwendung oder praktische Wirksamkeit der Norm in Frage gestellt wird.4 Bei
dem EÄG handelt es sich um eine Norm, deren Verfassungsmäßigkeit und damit Gültigkeit im Hinblick auf ihr baldiges Inkrafttreten objektiv von Interesse ist. Das Klarstellungsinteresse ist daher zu
bejahen.
VI. Form
Gemäß § 23 Abs. 1 BVerfGG ist der Antrag der Landesregierung schriftlich und begründet beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Von der Einhaltung dieser Formvorschrift ist auszugehen. Weitere besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen bestehen nicht; insbesondere besteht kein Fristerfordernis.
VII. Zwischenergebnis
Die abstrakte Normenkontrolle der Landesregierung des Landes L gegen das EÄG ist zulässig.
B. Begründetheit
Der Antrag ist begründet, wenn das EÄG in formeller oder materieller Hinsicht mit dem Grundgesetz
unvereinbar ist.
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Das EÄG ist formell verfassungsmäßig, wenn es vom Bundesgesetzgeber innerhalb seiner Zuständigkeit in dem grundgesetzlich vorgesehenen Verfahren und in der grundgesetzlich vorgesehenen Form
erlassen wurde.
1. Gesetzgebungskompetenz
Zunächst müsste der Bund die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass des EÄG haben. Gemäß Art.
70 Abs. 1 GG gilt der Grundsatz der Länderzuständigkeit. Es müsste also eine grundgesetzliche Bestimmung vorliegen, die den Bund zur Regelung der Stammzellforschung ermächtigt. Eine solche
Bestimmung findet sich in Art. 74 Abs. 1 Nr. 26 GG, der dem Bund die konkurrierende Gesetzgebung
für alle Bereiche der modernen Fortpflanzungsmedizin für den Menschen zuweisen soll. Bei der Erzeugung von menschlichen embryonalen Stammzellen handelt es sich um ein Verfahren, das mit der
medizinisch unterstützten Erzeugung menschlichen Lebens im engen Sachzusammenhang steht. Der
Kompetenztitel ist daher einschlägig.
Gemäß Art. 72 Abs. 2 GG hat der Bund auf dem in Art. 74 Abs. 1 Nr. 26 GG bezeichneten Gebiet jedoch nur dann das Recht zur Gesetzgebung, soweit dies zur Herstellung gleicher Lebensverhältnisse
im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist. In Frage kommt hier das Kriterium der Rechtseinheit. Dieses ist dann erfüllt, wenn
bei Überlassung der Materie an die Regelungsgewalt der Bundesländer eine Rechtszersplitterung mit
problematischen Folgen droht.5 Die Herstellung menschlicher embryonaler Stammzellen ist eine
hochsensible, ethisch und moralisch umstrittene Materie. Zudem entscheidet ihre Zulassung bzw. ihr
Verbot gleichzeitig auch über eine mögliche Strafbarkeit der ausführenden Forscher. Eine unterschiedliche Strafbarkeit in den einzelnen Bundesländern wäre im Hinblick auf Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit nicht vertretbar. Es ist daher wichtig, dass eine gesamtdeutsche Regelung der Erzeugung embryonaler Stammzellen erfolgt. Somit sind die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG
erfüllt. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes besteht.
Anmerkung: Es kann kein Einzelwissen erwartet werden, aber das Auffinden des Art. 74 Abs. 1
Nr. 26 GG und des Art. 72 Abs. 2 GG mit entsprechender Argumentation. Vertretbar wäre
4
5
Vgl. BVerfGE 96, 133 (137 f.).
BVerfGE 106, 62 (145).
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auch der Hinweis auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (dann ohne Art. 72 Abs. 2 GG), da das EÄG – wie
im Sachverhalt angegeben - die bisherige Strafbarkeit der Stammzellherstellung aufhebt.
2. Gesetzgebungsverfahren
Das EÄG müsste jedoch auch im grundgesetzlich vorgesehenen Verfahren erlassen worden sein (Art.
76 ff. GG). Von der ordnungsgemäßen Einleitung des Verfahrens gemäß Art. 76 Abs. 1 GG und der
ordnungsgemäßen Weiterleitung an den Bundesrat gemäß Art. 76 Abs. 2, Abs. 3 GG ist auszugehen.
a. Beteiligung des Bundesrates
Zu prüfen ist weiterhin, ob die Beteiligung des Bundesrates den grundgesetzlichen Vorschriften der
Art. 77 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2-4 GG entspricht. Von der unverzüglichen Weiterleitung des beschlossenen Gesetzes an den Bundesrat gemäß Art. 77 Abs. 1 S. 2 GG ist auszugehen. Auf die Weiterleitung
hat der Bundesrat nicht reagiert. Fraglich ist, ob der Bundespräsident das Gesetz trotzdem nach vier
Wochen ausfertigen und verkündigen durfte. Für die Frage, welche Vorschriften für die Beteiligung
des Bundesrates entscheidend sind, ist maßgeblich, ob es sich um ein Einspruchs- oder ein Zustimmungsgesetz handelt. Nach der Systematik des Grundgesetzes unterliegt ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz grundsätzlich nur dem Einspruch des Bundesrates. Hinsichtlich der Zustimmungsbedürftigkeit gilt das Enumerationsprinzip: Sie ist nur erforderlich, wenn dies im Grundgesetz explizit
vorgesehen ist.6 Im vorliegenden Fall ist keine grundgesetzliche Bestimmung ersichtlich, die eine
solche Zustimmungsbedürftigkeit begründen könnte. Die Zustimmungspflicht gemäß Art. 74 Abs. 2
GG bezieht sich nur auf Art. 74 Nr. 25 und 27, nicht aber auf Nr. 26. Somit handelt es sich um ein
Einspruchsgesetz. Gemäß Art. 77 GG hat der Bundesrat bei Einspruchsgesetzen zwei Möglichkeiten
vorsorglicher Rechtswahrung: den Einspruch (Abs. 3) und die Anrufung des Vermittlungsausschusses
(Abs. 2). Unterbleibt eine solche innerhalb der zweiwöchigen Frist der Art. 77 Abs. 2 S.1, Abs. 3 S. 1
GG, so kommt nach Art. 78 GG das Gesetz im Hauptverfahren ordnungsgemäß zustande. Trotz des
bloßen Schweigens des Bundesrates ist das EÄG daher gemäß Art. 78 GG ordnungsgemäß zustande
gekommen.
b. Ausfertigung und Verkündung: Die gemäß Art. 82 Abs. 1 GG erforderliche Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten liegt vor.
3. Form: Mängel der Form des Gesetzes sind nicht ersichtlich; insbesondere ist die gemäß Art. 82
Abs. 1 GG erforderliche Verkündung im Bundesgesetzblatt erfolgt.
4. Zwischenergebnis zur formellen Verfassungsmäßigkeit: Das EÄG ist formell verfassungsmäßig.
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Der Antrag des Landes wäre begründet, wenn das EÄG mit dem GG unvereinbar wäre. Das BVerfG
prüft dabei die zur Kontrolle gestellt Norm unter allen rechtlichen Gesichtspunkten und ist dabei
nicht an den Antragsinhalt gebunden.7 Das BVerfG wird daher das EÄG unter allen Gesichtspunkten
prüfen und nicht nur einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (des Embryos)
erwägen, sondern auch die Vereinbarkeit mit den Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2
Abs. 1 S. 1 GG (der aktuell bzw. künftig erkrankten Personen) prüfen.
1. Verstoß gegen Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG
In Frage kommt zunächst ein Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG dadurch,
dass das EÄG die Herstellung embryonaler Stammzellen aus menschlichen befruchteten Eizellen, die
6
Degenhart, Staatsrecht I (29. Auflage 2013), Rn. 225 f.; von Münch/Mager, Staatsrecht, Bd. 1 (7. Auflage 2009), Rn. 753.
Pieroth, Jarass/Pieroth, GG (12. Auflage), Art. 93 Rn. 27 (m.w.N. auf die Rspr. des BverfG); kritisch Detterbeck, in Sachs, GG
(6. Auflage 2011), Art. 93 Rn. 53, soweit das BVerfG dem Antragsberechtigten nach der Einleitung des obj. Verfahrens das
Verfahren seiner Verfügungsbefugnis entzieht.
7
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im Rahmen der künstlichen Befruchtung zu Reproduktionszwecken entstehen, unter bestimmten
Voraussetzungen erlaubt, was zur Folge hat, dass dabei diese menschlichen befruchteten Eizellen
(menschliche Embryonen) zerstört werden. Eine Verletzung des Grundrechts der Menschenwürde
liegt vor, wenn der Schutzbereich eröffnet ist und das EÄG in ihren Schutzbereich eingreift.
Anmerkung: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden Entscheidungen zur Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruches (BVerfGE 39, 1 und 88, 203) die Verpflichtung zum
Schutz ungeborenen Lebens einschließlich seiner Menschenwürdedimension aus einer Kombination von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art 1 Abs. 1 GG gewonnen und seine Prüfung weitestgehend daran ausgerichtet. Dies ist methodisch nicht überzeugend, da die Menschenwürde
bereits bei jedem Eingriff – nach ganz herrschender Ansicht – verletzt ist und ein Eingriff damit nicht gerechtfertigt werden kann. Aus diesen Gründen werden die beiden Grundrechte im
Folgenden getrennt geprüft. Eine Lösung mit gemeinsamer Prüfung ist dennoch vertretbar.
a. Menschenwürde als materielle Grundrechtsbestimmung
Da u.a. Art. 1 Abs. 3 GG eine umfassende Bindung der Staatsgewalten an „nachfolgende“ Grundrechte bestimmt, wäre es möglich, in der Menschenwürdegarantie ein Grundprinzip der Verfassung, nicht
aber ein Individualgrundrecht zu sehen.8 Dem steht jedoch die Überschrift des ersten Abschnitts –
„Die Grundrechte“ – und nach mancher Ansicht auch die Entstehungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 GG9
– entgegen. Zudem sprechen die zentrale Rolle der Menschenwürdegarantie im Grundgesetz und
ihre große Bedeutung für den Individualschutz für die Einordnung als Grundrecht.10 Mithin muss sich
das EÄG an Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht auf Menschenwürde messen lassen.
b. Schutzbereich
Eine Verletzung der Menschenwürde ist nur denkbar, wenn sowohl der persönliche als auch der
sachliche Schutzbereich der Menschenwürde durch das EÄG eröffnet ist.
Fraglich ist, ob der persönliche Schutzbereich der Menschenwürde hinsichtlich der zur Stammzellgewinnung verwendeten befruchteten Eizellen eröffnet ist. Es ist umstritten, wann die Grundrechtsträgerschaft hinsichtlich der Menschenwürde beginnt, d.h., ab welchem Stadium ein menschlicher
Embryo im Hinblick auf dieses Grundrecht rechtsfähig ist. Es könnte argumentiert werden, dass allen
nicht-geborenen Menschen insgesamt ohne Rücksicht auf das von ihnen erreichte Stadium der
Schutz durch die Menschenwürdegarantie abzusprechen ist.11 Dafür spricht, dass dem Embryo IchBewusstsein, Vernunft und Fähigkeit zur Selbstbestimmung, namentlich alle Fähigkeiten, die typischerweise mit Menschenwürde als ein Mehr zum bloßen Lebensrecht einhergehen, fehlen.12 Jedoch
spricht gegen die vorgebrachten Argumente, dass die kognitiven Fähigkeiten, die zur Selbstbestimmung erforderlich sind, ganz oder teilweise auch bei geborenen Menschen fehlen können.13 Daran,
diesen Personen die Menschenwürde abzusprechen, denkt angesichts der klaren historischen Konzeption des Grundrechtes aber niemand.14 Somit lässt sich argumentieren, dass menschlichen Embryonen nicht von vornherein die Grundrechtsträgerschaft abgesprochen werden kann.
Anmerkung: Die aA ist ebenfalls gut vertretbar, wenn sie entsprechend begründet wird; hingewiesen werden müsste hier auf die klassische Schutzrichtung der Menschenwürde für geborene Menschen vor erniedrigender Behandlung, wie bspw. Folter als Argument. Dann müssen
8
Vgl. Enders, in Berliner Kommentar-GG (Loseblatt, Stand 2011), Art. 1 Rn. 60 ff.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als
Verfassungsbegriff (1990), 164 ff. m. w. N.
9
Herdegen, in Maunz/Dürig, GG (69. EL 2013), Art. 1 Abs. 1 Rn. 16.
10
Herdegen, a.a.O., Rn. 29; vgl. auch BVerfGE 61, 126 (137).
11
So Dreier, in Dreier, GG (3. Auflage 2013), Art. 1 Abs. 1 Rn. 66–71.
12
Dreier, a.a.O., Rn. 66 f. unter Verweis auf die Entkopplung von Menschenwürdegarantie und Lebensschutz.
13
Grote/Kraus, Fälle zu den Grundrechten (2. Auflage 2001), 151; auch Dreier, a.a.O., Rn. 65, erkennt den Schutz psychisch
Kranker ausdrücklich an.
14
Sacksofsky, Der verfassungsrechtliche Status des Embryos in vitro (2001), 51.
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jedoch hilfsgutachtlich die weiteren Fragen des Schutzbereiches von Art. 1 Abs. 1 GG geprüft
werden.
Fraglich ist aber weiterhin, ab wann ein Embryo als Träger der Menschenwürde angesehen werden
kann. Denkbare Zeitpunkte wären die Befruchtung der Eizelle oder ein späterer Zeitpunkt erst nach
dem – hier laut Sachverhalt relevanten - sechsten Tag (bspw. die Nidation der Eizelle in die Gebärmutter). Für den Zeitpunkt der Befruchtung spricht, dass jede befruchtete menschliche Eizelle aus
sich heraus ein Individuum hervorbringen kann.15 Dagegen spricht, dass sich bis zu einem späteren
Zeitpunkt noch eineiige Zwillinge herausbilden können, sich also nicht eindeutig bereits ein (!)
Mensch als Mensch entwickelt.16 Einen solch späteren Zeitpunkt anzunehmen, widerspricht jedoch
einem Würdeverständnis, das den Schutz bei der Entwicklung als Mensch, nicht zum Menschen ansetzt.17
Anmerkung: Die aA ist gut vertretbar. Von d. Verf. können keine Spezialbegriffe, wie „Nidation“ etc., erwartet werden, wohl aber Überlegungen dazu, ob Würdeschutz erst nach dem
sechsten Tag nach der Befruchtung, also zu einem späteren Entwicklungszeitpunkt, vom GG
gewährt wird.
Folgt man der Ansicht, die auf den Zeitpunkt der Befruchtung abstellt, so stellt sich die Frage, ob hier
eine Rolle spielt, ob die Befruchtung in vitro stattfindet. Hier ist mit der künstlichen Einpflanzung in
die Gebärmutter ein weiterer Schritt erforderlich, um die Menschwerdung des Embryos zum Erfolg
zu führen. Bei den Eizellen, aus denen die Stammzellen gewonnen werden können, steht sogar bereits fest, dass dieser entscheidende Schritt nicht mehr erfolgen wird. Vertretbar ist hier, zu argumentieren, dass die vom Kinderwunsch geprägte, ursprüngliche Bestimmung des Embryos zur Einpflanzung in den Mutterleib ausreicht, um den Würdeschutz des Embryos zu begründen.18
Anmerkung: Von d. Verf. können Argumente dazu erwartet werden, ob der Menschenwürdeschutz vorliegend durch die „Todgeweihtheit“ entfällt. Dagegen spricht jedoch, dass – übertragen auf den geborenen Menschen – die Lebenserwartung eines Menschen für den Menschenwürdeschutz grundsätzlich keine Rolle spielt und gerade Sterbenden der volle Schutz der
Menschenwürde zukommen muss, um sie vor erniedrigender Behandlung und Verobjektivierung zu schützen; hier könnte auch die Argumentation des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz
(vgl. BVerfGE 115, 118) angeführt werden.
Zusammenfassend gilt daher, nach hier vertretener Ansicht, dass auch der Embryo in vitro ab der
Befruchtung Träger des Grundrechts auf Menschenwürde ist. Der personale Schutzbereich ist daher eröffnet. [aA. ist vertretbar; dann ist hilfsgutachtlich weiter zu prüfen.]
Fraglich ist weiterhin, wie der sachliche Schutzbereich der Menschenwürde angesichts ihrer normativen Offenheit zu definieren ist. Es finden sich Ansätze zur positiven Umschreibung der Menschenwürde. Als Fortsetzung bestimmter philosophischer und christlicher Überzeugungen ließe sich Menschenwürde als dem Menschen von Gott oder der Natur mitgegebener Wert verstehen.19 Dafür
spricht, dass bei der Schaffung des Grundrechts der Menschenwürde an diese Traditionen angeknüpft werden sollte.20 Fraglich ist jedoch, ob eine solch historische Auslegung mit Blick auf die pri15
Herdegen, Maunz/Dürig, GG (69. EL 2013), Art. 1 Abs. 1 Rn. 65; a.A. Dreier, in Dreier, GG (3. Auflage 2013), Art. 1 Abs. 1
Rn. 71.
16
Vgl. Coester-Waltjen, FamRZ 1984, 230 (235); Hofmann JZ 1986, 253 (258); Volkmann, Staatsrecht II: Grundrechte (2.
Aufl. 2011), 70.
17
So das BVerfG: E 88, 203 (252 f.).
18
Herdegen, a.a.O., Art. 1 Abs. 1 Rn. 66.
19
Ders., a.a.O., Rn 34.
20
Enders, in Berliner Kommentar-GG (Loseblatt, Stand 2011), Art. 1 Rn. 10 ff.
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mären Grundsätze der Verfassungsauslegung nach Wortlaut, Systematik, Telos überzeugen kann.
Wegen der Schwierigkeiten einer positiven Definition der Menschenwürde bei einer objektiven Verfassungsinterpretation ist es vorzugswürdig, auf die Struktur des Verletzungsvorganges abzustellen.21
Demnach ist die Menschenwürde betroffen, wenn der konkrete Mensch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt wird22 (sog. Demütigungsverbot).23 Somit ist vorliegend im Ergebnis
keine positive Prüfung des sachlichen Schutzbereiches vorzunehmen, sondern zu untersuchen, ob die
Menschenwürde durch das EÄG in der beschriebenen Weise verletzt wird.
c. Verletzung
Zu untersuchen ist, ob die Verwendung von nicht mehr benötigten Embryonen, die im Zuge einer
künstlichen Befruchtung geschaffen wurden, zum Zwecke der Stammzellgewinnung eine Verletzung
von deren Menschenwürde darstellt. Nach dem oben Gesagten müsste der Embryo dazu in seinem
Menschsein erniedrigt oder zum bloßen Objekt staatlicher Willkür gemacht werden. Ein Aspekt bei
der Bestimmung des Schutzniveaus ist, dass die Menschenwürde hier nicht in ihrer Abwehrfunktion
betroffen ist. Denn nicht der Staat selbst führt die Stammzellgewinnung durch, sondern er ermöglicht
durch seine Gesetzgebung nur die Durchführung durch Dritte. In Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG trifft den
Staat eine Schutzpflicht, die in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG explizit angeordnet ist. Zwar ist dem Staat ein
weiter Entscheidungsspielraum bezüglich Art und Umfang der Erfüllung dieser Schutzpflicht zuzuerkennen; in Extremfällen erfordert sie jedoch, dass grundrechtsgefährdende Verhaltensweisen Dritter
unter Strafe gestellt werden.24 In jedem Fall sind entsprechende gesetzgeberische Aktivitäten zumindest daraufhin überprüfbar, ob sie auf sorgfältiger Tatsachenermittlung und vertretbaren Einschätzungen beruhen.25 Zudem greift das Untermaßverbot: Unter Berücksichtigung anderer Rechtsgüter
muss ein angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht werden.26
Bereits gegen eine Erniedrigung des Embryos durch die Verwendung (und Vernichtung) für die Forschung spricht vorliegend, dass diese nur für „hochrangige“ Forschungszwecke genutzt werden dürfen, wie es das Gesetz vorschreibt. Zwar kann allein durch die „selbstlose Spende“ eine Verletzung
nicht verneint werden, da über die Menschenwürde der Embryonen nicht durch andere Personen,
auch nicht die Eltern, disponiert werden kann; es ist aber gut vertretbar, zu argumentieren, dass der
Staat dann seine Schutzpflicht nicht verletzt, wenn er es nicht verbietet, dass Embryonen, die faktisch
keine Lebensperspektive mehr haben, für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden. Dafür spricht
der hohe Rang der hier betroffenen Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG in der grundgesetzlichen Ordnung als vorbehaltlos gewährtes Grundrecht und auch der Schutz der Berufsfreiheit für
alle Deutschen in Art. 12 Abs. 1 GG. Die in Art. 5 GG geschützte Wissenschaft umfasst jede Tätigkeit,
die nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist;27 vorliegend ist die Nutzung der Embryonen auf Grundlagenforschung und Tätigkeiten zur
Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Verfahren beschränkt und damit offensichtlich beschränkt auf wissenschaftliche Nutzung im oben genannten Sinn. In der Regel wird – ohne dass dies
näher im Gesetz gekennzeichnet wird – diese Tätigkeit zudem einen Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1
GG darstellen, also auf Dauer angelegt sein und der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage
dienen.28
21
Vgl. BVerfGE 30, 1 (25 f.): „Alles [hängt] von der Festlegung ab, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt
sein kann. Offenbar lässt sich das nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falls.“
22
BVerfGE 27, 1 (6).
23
Graf Vitzthum, ZRP 1987, 33 (34); Sternberg-Lieben, JuS 1986, 677; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (29.
Aufl. 2013), Rn. 374.
24
BVerfGE 39, 1 (47); vgl. dazu auch Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, a.a.O., Rn. 381a.
25
BVerfGE 88, 203 (254).
26
BVerfGE 88, 203, Leitsatz 6.
27
Vgl. bspw. BVerfG 90, 1 (12).
28
Vgl. bspw. BVerfG 32, 1 (28 f.).
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Anmerkung: Hier wird keine ausführliche Prüfung der Wissenschafts- und Berufsfreiheit erwartet, da es unproblematisch ist, dass die durch das Gesetz geregelten Tätigkeiten in den
Schutzbereich dieser Grundrechte fallen. Inwieweit die Berufs- neben der Wissenschaftsfreiheit zu prüfen ist, ist umstritten.29 Teilweise wird davon ausgegangen, dass Art. 5 Abs. 3 GG
gegenüber der Berufsfreiheit Vorrang genießt. Im Folgenden wird im Hinblick auf die unterschiedliche Schutzrichtung von einer Idealkonkurrenz ausgegangen, da im vorliegenden Fall
z.B. auch die Verwertung wissenschaftlicher Forschung im Raum steht und damit die „Wissenschaft als Beruf“.30
Dagegen kann eingewandt werden, dass die Vernichtung menschlichen Lebens für die Forschung ein
typischer Fall der Verdinglichung und Verobjektivierung ist, wie die Übertragung dieses Falls auf den
geborenen Menschen zeigt, da die Embryonen als Zelllieferanten – und damit als Mittel zum Zweck –
genutzt werden. Andererseits fehlt es bei der Nutzung für hochrangige Forschungszwecke jedoch an
dem speziellen Aspekt der Erniedrigung, der den typischen Fällen von Menschenwürdeverstößen,
wie etwa Folter, innewohnt. Zu beachten ist zudem, dass die Stammzellherstellung und -forschung
langfristig dazu dienen soll, (mehr) Krankheiten (besser) heilen zu können, was auch im Sachverhalt
benannt wird; auch diesbezüglich muss der Gesetzgeber seine Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG
erfüllen und darf nicht potentiell zur Krankheitsbekämpfung erfolgreiche Forschung unangemessen
verhindern.
Schließlich hängt die Nutzung der befruchteten Eizellen nach dem Gesetzeswortlaut als weitere Hürde von der Zustimmung einer interdisziplinär zusammengesetzten Ethikkommission ab. Fraglich ist
jedoch, ob dieser Schutz auch angemessen und wirksam ist. Zweifel daran ergeben sich aus der fehlenden Regelung der Zusammensetzung des Ethikgremiums. Auch scheint es fraglich, ob das Gesetz
den Einsatz allein für „hochrangige Forschungszwecke“ gewährleisten kann, wenn andererseits nach
dem Wortlaut die Herstellung für alle „Forschungsvorhaben zur Grundlagenforschung oder zur Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Verfahren“ ohne weitere Spezifizierung erfolgen kann.
Aufgrund des staatlichen Einschätzungsspielraumes ist jedoch nur zu prüfen, ob das Untermaßverbot
verletzt ist. Gegen eine nähere Bestimmung spezieller Forschungsvorhaben bereits im Gesetz spricht,
dass damit der Gesetzgeber zu weitgehend den Freiheitsraum der Wissenschaft einschränken würde,
die gerade darauf angewiesen ist, adäquate Forschungsvorhaben selbst zu bestimmen. Zudem
scheint der Einsatz einer „interdisziplinären Ethikkommission“ - auch wenn nicht näher bezeichnet
ist, welche Disziplinen vertreten sein sollen und in welcher Quantität - grundsätzlich geeignet, nicht
nur die Hochrangigkeit der Forschungsvorhaben zu prüfen, sondern auch ethisch-moralische Aspekte
zu bewerten.
Mangels anderer Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber von korrekten Tatsachen und vertretbaren Einschätzungen der Lage ausgegangen ist. Mit Blick auf die Gesamtumstände,
insbesondere den frühen Zeitpunkt der Nutzung nach dem sechsten Tag, die nicht kommerziell determinierte Freigabe durch die Eltern, die klare Zweckbestimmung für hochrangige Forschung und
die fehlenden faktischen Entwicklungschancen des betroffenen Embryos, ist es daher überzeugender, keine Verobjektivierung im Sinne einer Erniedrigung anzunehmen, so dass durch die konkrete
Ausgestaltung des Gesetzes eine Verletzung der Menschenwürde durch das EÄG im Ergebnis nicht
festzustellen ist.
Anmerkung: Hier ist eine aA in gleicher Weise überzeugend, wenn sie kohärent begründet
wird.
29
30
Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG (12. Auflage), Art. 5 Rn. 120 m.w.N.
Bethge, in Sachs, GG (6. Auflage), Art. 5 Rn. 220a.
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2. Verstoß gegen Recht auf Leben, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
a. Schutzbereich
Die befruchteten Eizellen müssten bereits am sechsten Tag auch nach einer in-vitro-Befruchtung
Träger des Grundrechts auf Leben sein. Richtet man sich nach dem oben diskutierten Kontinuitätsargument, also der Entwicklung als Mensch, nicht zum Menschen, ab der Befruchtung, so liegt es nahe, den Zeitpunkt des Lebensbeginns bei eben dieser anzusetzen, da das Leben als inhärent programmierter Prozess seinen Gang genommen hat.31 Die Freigabe der befruchteten Eizelle für die
Forschung durch die Eltern vermag den Lebensschutz als solchen hingegen nicht mehr zu beseitigen,
da er unabhängig vom Willen der Eltern besteht. Zudem erfordert der Gedanke des umfassenden
Lebensschutzes, der in Abkehr zur nationalsozialistischen „Vernichtung lebensunwerten Lebens“32
hinter dem Grundrecht steht, einen möglichst weitreichenden und lückenlosen Schutz des Lebens;
auch aus historischer Sicht ist also ein Lebensschutz ab der Befruchtung vorzuziehen.33 Der persönliche Schutzbereich ist daher eröffnet.
Anmerkung: Auch hier ist wieder eine aA vertretbar, wenn sie kohärent begründet wird. D.
Verf. sollte dann aber prüfen, inwiefern Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als objektives Verfassungsrecht den Schutz der Embryonen gewährleistet; vgl. dazu Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz: Kommentar (Loseblatt, Stand 2011), Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Rn. 30.
Da das EÄG die Erzeugung von Stammzellen aus befruchteten menschlichen Eizellen, bei der die Abtötung des Embryos unumgänglich ist, erlaubt, ist der sachliche Schutzbereich des Grundrechts auf
Leben gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ebenfalls eröffnet.
b. Eingriff und Rechtfertigung
Erkannt werden muss durch d. Verf., dass hier wieder nicht die abwehrrechtliche Funktion des
Grundrechts betroffen ist, sondern sich die Frage nach einer Schutzpflicht des Staates auch im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stellt.
Für die Bejahung einer umfassenden staatlichen Schutzpflicht beim Grundrecht auf Leben spricht,
dass hier Grundrechtsverletzungen, die aus Grundrechtsgefährdungen durch Dritte entstehen können, stets irreparabel sind.34 Zu prüfen ist daher, ob das Untermaßverbot mit Blick auf diese Schutzpflicht ebenfalls nicht verletzt ist. Auch dies muss anhand einer Abwägung der beteiligten Interessen
und mit Blick auf die ergriffenen Schutzmaßnahmen beantwortet werden.35
Das Recht auf Leben der betroffenen Embryonen ist im Kernbereich betroffen, da die Embryonen bei
der Stammzellgewinnung zerstört werden; es ist der schwerste denkbare Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz
1 GG. Andererseits spricht für eine Freigabe der Herstellung von Stammzellen die Wissenschaftsfreiheit, die Berufsfreiheit der durchführenden Forscher und die Pflicht des Staates, die Entwicklung
potentiell erfolgreicher Verfahren zur Krankheitsbekämpfung nicht zu verhindern (vgl. o.). Zwar vermag die faktische „Todgeweihtheit“ und auch die Freigabe durch die Eltern nicht den Eingriff in das
Grundrecht auf Leben der Embryonen zu rechtfertigen, es ist aber gut vertretbar, gerade auch mit
Blick auf die Verfahrenshürde der Einschaltung einer Ethikkommission, unter Berücksichtigung aller
Umstände, die Zulassung der Zerstörung als noch gerechtfertigt zu bewerten, um Wissenschaftsfreiheit und Berufsfreiheit nicht unverhältnismäßig einzuschränken (s.o. bei Art. 1 GG). Auch hier ist mit
31
Di Fabio, in Maunz/Dürig, GG (69. EL 2013), Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 25.
BVerfGE 39, 1 (36).
33
So die wohl herrschende Ansicht, vgl. Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (6. Auflage 2010), Art. 2 Rn. 176; SchulzeFielitz, in Dreier, GG (3. Auflage 2013), Art. 2 Abs. 2 Rn. 29, 40 f.; Steiner, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz
(1992), 22.
34
Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte (29. Auflage 2013), Rn. 433.
35
Volkmann, Staatsrecht II: Grundrechte (2. Aufl. 2011), 82.
32
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Blick auf den staatlichen Einschätzungsspielraum daher davon auszugehen, dass das Untermaßverbot
nicht verletzt ist.
Das EÄG verstößt nach hier vertretener Auffassung auch nicht gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Anmerkung: Auch hier ist wieder eine aA. vertretbar, wenn sie kohärent begründet wird.
3. Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
Nach dem oben Gesagten kann vorliegend nach der hier vertretenen Ansicht kein Verstoß gegen die
Wissenschaftsfreiheit angenommen werden. Zwar fällt die durch das EÄG normierte Tätigkeit in den
Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit (vgl. oben) und die im Gesetz genannten Einschränkungen
bei der Herstellung der Stammzellen stellen einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit dar, dieser ist
jedoch mit Blick auf die Schutzpflichten aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für die betroffenen Embryonen nach hier vertretener Auffassung durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt. Insgesamt kann hier auf die Argumentation oben bei Art. 1 und Art. 2 GG verwiesen
werden.
Richtig ist, den Einsatz einer Ethikkommission, die jedes konkrete Forschungsvorhaben überprüfen
soll, bevor eine Stammzellherstellung ermöglicht wird, hier besonders zu betonen: Zwar stellt diese
verfahrensrechtliche Hürde einen weiteren entscheidenden Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit dar;
da die Mitglieder der Kommission jedoch „unabhängig“ sind und die Kommission „interdisziplinär“,
also (auch) mit Wissenschaftlern der betroffenen Disziplinen besetzt ist, wird durch die Kommission
gerade keine staatliche Steuerung von Wissenschaft im Einzelfall erfolgen, sondern eine solche Steuerung vermieden, so dass ein Verletzung der Wissenschaftsfreiheit nach hier vertretener Ansicht
verneint werden muss.
4. Verstoß gegen die Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG
Gleiches gilt in Bezug auf einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit: Zwar tritt Art. 12 Abs. 1 GG nach
der hier verfolgten Lösung nicht hinter Art. 5 Abs. 3 GG zurück (vgl. oben), so dass ein Eingriff in den
Schutzbereich durch das EÄG in Form einer Berufsausübungsregelung vorliegt; auch dieser Eingriff ist
jedoch hinsichtlich der Schutzpflichten des Gesetzgebers aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1
GG nach hier vertretener Auffassung gerechtfertigt. Hier kann auf die Argumentation oben bei Art. 1
und Art. 2 GG und verwiesen werden.
Anmerkung 1: Dass der Vorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG schrankenrechtlich durch Art. 5
Abs. 3 eingeschränkt wird, muss nach dieser Lösung nicht erörtert werden, da hier eine Rechtfertigung (sogar) durch kollidierendes Verfassungsrecht vorliegt.
Anmerkung 2: Falsch wäre es jedoch, wenn Verf. eine Verletzung von Abs. 5 und Art. 12 GG
deswegen nicht prüfen würden, weil das Bundesland L das Gesetz aus anderen Gründen für
verfassungswidrig hält (abstrakte Normenkontrolle als objektives Beanstandungsverfahren).
5. Verstoß gegen Pflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit lebender Menschen, Art. 2
Abs. 1 S. 1 GG
Es kann zudem ein Verstoß gegen die gesetzgeberische Pflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der bereits lebenden, aber (bereits oder zukünftig) erkrankten Menschen geprüft werden,
weil das EÄG die Stammzellherstellung weiterhin auf sog. todgeweihte und selbstlos gespendete
Embryonen beschränkt und ein positives Votum einer Ethikkommission zudem vor jeder Herstellung
und Forschung erforderlich ist. Zwar soll die Stammzellherstellung und –forschung langfristig dazu
dienen, (mehr) Krankheiten (besser) heilen zu können (vgl. o.). Allerdings kann – nach hier vertrete-9-
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ner Auffassung – der Gesetzgeber mit Blick auf die hochrangigen Grundrechte der betroffenen Embryonen keine weitergehende Freigabe der Forschung bzw. Herstellung von Stammzellen verfassungskonform zulassen.
Anmerkung: Wird eine andere Ansicht vertreten, müsste d. Verf. überzeugend darlegen, warum der Gesetzgeber seine Schutzpflicht in dieser Hinsicht verletzt hat, obwohl er die Forschung teilweise freigibt und obwohl ihm bei der Erfüllung von Schutzpflichten ein sehr weiter
Ermessensspielraum zusteht. Gerade letzteres erscheint kaum begründbar.
6. Verstoß gegen Art. 80 Abs. 1 GG
Da das EÄG eine Verordnungsermächtigung an die Bundesregierung enthält, ist zudem zu prüfen, ob
es die Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 GG erfüllt.
a. Tauglicher Ermächtigungsadressat
Gemäß Art. 80 Abs. 1 GG kann die Bundesregierung durch Bundesgesetz zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt werden. Die im EÄG ermächtigte Bundesregierung ist daher tauglicher Ermächtigungsadressat.
b. Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß
Art. 80 Abs. 1 GG gibt zudem vor, dass die Ermächtigungsnorm Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung regeln muss. Hierbei reicht es aus, wenn sich für den Verordnungsgeber das „Programm“ aus dem Gesamtzusammenhang der Norm ergibt.36 Aus Gründen des Demokratieprinzips
und seinem Wesentlichkeitsgebot, wonach der parlamentarische Gesetzgeber die grundrechtswesentlichen Bereiche regeln muss,37 ist zudem erforderlich, dass der Gesetzgeber selbst bereits im
Gesetz erkennen lässt, was aufgrund der Verordnung vom Bürger gefordert werden kann.38 Zweck
des EÄG ist die begrenzte Ermöglichung der Stammzellherstellung für bestimmte Forschungszwecke.
Der Inhalt der geplanten Rechtsverordnung ist im EÄG mit „dem Näheren“, also einer inhaltlichen
Vertiefung – nicht einer Erweiterung in die Breite –, der zuvor genannten Verfahrensregeln, des Einsatzes einer Ethikkommission, angegeben. Hiermit ist auch gleichzeitig das Ausmaß bestimmt: Der
Verordnungsgeber soll nur ermächtigt sein, das Verfahren der Zulassung der Stammzellerzeugung
aus Embryonen durch die genannte interdisziplinär zusammengesetzte Ethikkommission zu regeln.
Die Anforderungen an die Bestimmtheit sind jedoch umso höher anzusetzen, je schwerwiegender die
Auswirkungen der gesetzgeberischen Delegation, etwa im Fall von Grundrechtseingriffen, sind.39 Im
EÄG sind mit der Menschenwürde und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der
Embryonen auf der einen Seite sowie der Wissenschafts- und Berufsfreiheit auf der anderen Seite
bedeutsame Grundrechte berührt. Entscheidend ist daher, ob das Gesetz die wesentlichen Voraussetzungen der Zulassung einer konkreten Stammzellherstellung bestimmt:
Hier werden zwar die Kriterien in Absatz 1 und 2 des Gesetzes genannt, allerdings äußert sich das
EÄG nicht zur Zusammensetzung und nicht zum Entscheidungsmodus der Ethikkommission, außer,
dass diese „interdisziplinär“ und „unabhängig“ sein solle. Fraglich ist, ob dies ausreicht, um den Anforderungen von Art. 80 Abs. 1 GG zu genügen.
Dagegen kann die Hochrangigkeit der berührten Grundrechte und die Gewichtigkeit der Schutzpflichten für Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit angeführt werden. Die Ethikkommission ist
die einzige nach dem Gesetz eingesetzte Stelle, die im Einzelfall die Möglichkeit hat, die Stammzell36
St. Rspr., vgl. BVerfGE 2, 334; 36, 228.
Maunz, in Maunz/Dürig, GG (69. EL 2013), Art. 80 Rn. 28.
38
BVerfGE 20, 305.
39
BVerfGE 58, 257 (277 f.); 62, 203 (210) m. w. N.; Brenner, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (6. Auflage 2010), Art. 80 Rn.
37.
37
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herstellung zu begutachten und ggf. zu verhindern. Somit kommt ihr eine maßgebliche Rolle bei der
Anwendung des Gesetzes im Einzelfall zu. Demgegenüber deckt „interdisziplinär“ eine große Bandbreite an möglichen Auswahlverfahren und Qualifikationen der Mitglieder ab. Durch die Besetzung
der Ethikkommission kann der Verordnungsgeber somit mittelbar entscheidenden Einfluss auf die
Entscheidungen im Einzelfall nehmen. Andererseits bleibt auch die Bundesregierung als spätere Verordnungsgeberin an Sinn und Zweck der Ermächtigung gebunden; die spätere Zusammensetzung der
Ethikkommission bleibt also bei verfassungskonformer Auslegung des Gesetzes nicht ungelenkt, sondern ergibt sich mittelbar aus dem Gesetzeszweck.
Die Verordnungsermächtigung im EÄG genügt damit nach hier vertretener Auffassung den Anforderungen nach Art. 80 GG.
Anmerkung: Hier ist die Gegenansicht mit guter Begründung vertretbar. Wird auf die Unbestimmtheit der Begriffe in Abs. 1 EÄG abgestellt („Grundlagenforschung“, „Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Verfahren“, „hochrangige Forschungszwecke“), sollte jedoch
auch auf das Argument eingegangen werden, dass Wissenschaft – auch mit Blick auf Art. 5
Abs. 3 GG - nicht zu sehr durch staatliche, inhaltliche Vorgaben eingeschränkt werden darf.
7. Verstoß gegen das Demokratieprinzip
Möglicherweise verstößt jedoch die Einsetzung einer unabhängigen Ethikkommission gegen das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG. Danach muss alle staatliche Gewalt vom Volke ausgehen; dieses gilt grundsätzlich auch für den Vollzug von Gesetzen.
Vorliegend bestimmt das Gesetz, dass die interdisziplinäre Ethikkommission notwendig ein positives
Votum bezüglich einer konkreten Stammzellherstellung abgeben muss und diese erst danach erfolgen darf. Da damit der konkrete Gesetzesvollzug und die „Genehmigung“ einer konkreten Stammzellherstellung allein von der Ethikkommission durchgeführt wird, übt diese Staatsgewalt aus, die
unabhängig von ihrer konkreten Qualifizierung in jedem Fall funktional mit der Genehmigung durch
eine staatliche Behörde gleichbedeutend ist.
Anmerkung: Hier wird keine nähere verwaltungsrechtliche Qualifizierung des Votums durch
die Verfasser verlangt; so ist umstritten, ob es sich bei diesen positiven Voten von Ethikkommissionen, die beispielsweise auch nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) vor einer Forschung
an Menschen erforderlich sind, um Verwaltungsakte handelt. Dies ist mit guten Gründen vertretbar, wenn, wie hier, das positive Votum notwendige Voraussetzung für die Durchführung
eines Forschungsvorhabens ist.
Die nach Art. 20 Abs. 2 GG erforderliche sog. demokratische Legitimation der Staatsgewalt ist gegeben, wenn ein ununterbrochener Legitimationszusammenhang zwischen Volk und handelndem Organ vorliegt (so die herrschende Meinung).40 Vorliegend sind zwei Aspekte demokratischer Legitimation relevant: die sachlich-inhaltliche und die organisatorisch-personelle Legitimation.41 Sachlichinhaltliche Legitimation bedeutet, dass die Ausübung von Staatsgewalt inhaltlich auf das Volk, also in
grundrechtswesentlichen Bereichen auf den parlamentarischen Gesetzgeber, zurückführbar ist. Organisatorisch-personelle Legitimation besteht, wenn jeder mit der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben betraute Amtsträger durch eine ununterbrochene Legitimationskette von Berufungsakten an das
direkt durch das Volk gewählte Parlament gebunden ist.42 Beide Formen demokratischer Legitimation
40
BVerfGE 77, 1 (40).
Dreier, in Dreier, GG (3. Auflage 2013), Art. 20 (Demokratie) Rn. 113; Böckenförde, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II
(3. Auflage 2005), §24 Rn. 14 ff.
42
Böckenförde, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II (3. Auflage 2005), §24 Rn 15.
41
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können einander zumindest teilweise ersetzen, soweit ein gewisses Legitimationsniveau sichergestellt wird.43
Das EÄG bestimmt zwar die Voraussetzungen zulässiger Stammzellherstellung und den Einsatz der
Ethikkommission, regelt aber nicht die Auswahl, Berufung und Qualifikation der Mitglieder. Zudem
sind die Mitglieder, da „unabhängig“, nach dem Gesetz in ihrer Entscheidung nicht an Weisungen
übergeordneter staatlicher Behörden gebunden, so dass die organisatorisch-personelle Legitimation
geschwächt ist. Grundsätzlich ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass durch die Berufungsakte der Mitglieder eine Rückbindung an die Staatsverwaltung besteht und die Ethikkommissionen sogar Teil der
unmittelbaren Staatsverwaltung werden. Zudem sind die Kriterien der Bewertung von Vorhaben
durch die Kommission durch Abs. 1 des EÄG noch hinreichend bestimmt; es liegt daher im Ergebnis
bei verfassungskonformer Interpretation – nach hier vertretener Ansicht – kein Verstoß gegen das
Demokratieprinzip vor.
Anmerkung: Dies ist eine schwierige und auch leicht zu übersehene, aber wichtige Frage der
Verfassungsmäßigkeit des vorliegenden Gesetzes. Auch hier ist wiederum mit guter Begründung die Gegenauffassung vertretbar.
8. Ergebnis zur materiellen Verfassungsmäßigkeit
Das EÄG ist damit materiell verfassungsgemäß.
C. Gesamtergebnis
Die abstrakte Normenkontrolle der Landesregierung des Landes L wäre nach hier vertretener Auffassung zulässig, aber unbegründet, da das EÄG formell und materiell verfassungskonform ist.
43
Vgl. BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (67).
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