186 4. Gesundheit und Krankheit – Definitionen, Theorien, Modelle und Klassifikationen Der Arzt Adolf Kussmaul hat bereits im Jahr 1899 auf die Notwendigkeit hingewiesen, psychische Phänomene auch physiologisch zu untersuchen. »Die Psychologie beginnt erst seit kurzem, die Vorgänge im Nervensystem da, wo leibliches und seelisches Geschehen sich verflechten, mit den Strahlen der psychophysischen Untersuchungsmethoden zu beleuchten. Noch immer herrscht hier tiefe Dunkelheit, und es gibt kein Gebiet der Medizin, wo der Aber- und Wunderglaube größere Triumphe feierte als gerade auf diesem. Phantasten und Schwindler treiben hier ihr geschäftiges Wesen, und selbst der ernste Forscher fällt leicht in gefährliche Fallstricke.«341 fortgeschritten. Anders im Bereich der psychischen Störungen: Hier bestehen bislang »für keine einzige psychische Störung hinreichend gesicherte ätiologische und pathogenetische Modelle, die es erlauben, alle relevanten Befunde widerspruchsfrei einzuordnen und entsprechende wissenschaftlich begründete Interventionen abzuleiten«.342 S. 23 Die im Folgenden dargestellten Klassifikationen müssen sich daher mit pragmatischen Lösungen behelfen. 4.6 Klassifikationssysteme von Krank­hei­ ten und Behinderungen Medizinische Klassifikationssysteme dienen der weltweiten Verständigung über Fragen von Krankheit, Gesundheit und Behinderung. Krankheitsklassifikationen sind eine notwen­ dige Voraussetzung für die Vergleichbarkeit von medizinisch-wissenschaftlicher Forschung und für die Einheitlichkeit von Krankheitsstatistiken. Sie dienen dazu, dass in der medizinischen Wissenschaft und Versorgung weltweit eine einheitliche Sprache gesprochen wird. Ein ideales Klassifikationssystem würde Krankheiten nach ihren Ursachen (Ätiologie), Krankheitsmechanismen (Pathogenese) und ihren Krankheitszeichen (Symptomen und Messwerten) eindeutig beschreiben, in Gruppen einteilen und klar voneinander abgrenzen. Das Erfassen der Krankheitszeichen würde dann eine eindeutige Zuordnung zu einer Diagnose erlauben und Aussagen zu den Ursachen, zur Prognose und zur Therapie ermöglichen. Dieses Ideal ist derzeit und bis auf weiteres nicht zu verwirklichen, weil die Kenntnisse über die Ursachen von Krankheiten grundsätzlich unvollständig sind. In der somatischen Medizin ist das Wissen diesbezüglich vergleichsweise 4.6.1 Die Internationale Klassifikation von Krankheiten (ICD) Die internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases – ICD) ist ein weltweit gültiges System für die Klassifikation von Krankheiten, Gesundheitsstörungen und Todesursachen. Herausgeber ist die Weltgesundheitsorganisation. Die ICD stellt eine Weiterentwicklung der Bertillon-Klassifikation von Todesursachen aus dem Jahr 1893 dar, die 1948 auf Krankheiten und Verletzungen ausgeweitet wurde. Derzeit ist die 10. Revision aus dem Jahr 1992 gültig, die 11. Revision wird derzeit erarbeitet und soll 2015 erscheinen. Die ICD umfasst 22 Kapitel mit jeweils 4 bis 22 Hauptgruppen. Die einzelnen Krankheiten und Gesundheitsprobleme, insgesamt etwa 20.000, werden mit bis zu fünf Zeichen kodiert. Der Buchstabe I sagt beispielsweise aus, dass es sich um eine Krankheit des Herz-Kreislauf-Systems handelt. Die Ziffern bezeichnen die Diagnose und ihre Unterformen – F20 bezeichnet die Schizophrenie, F20.0 bis F20.9 die verschiedenen Formen der Schizophrenie. In Deutschland stellt die ICD-10-GM die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung ­ von Diagnosen dar, die in der ambulanten (§ 295 Abs. 1) und stationären Versorgung 341 Kussmaul 1899 342 Wittchen und Hoyer 2011 4. Gesundheit und Krankheit – Definitionen, Theorien, Modelle und Klassifikationen 187 Kapitel Gliederung Titel I A00-B99 Bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten II C00-D48 Neubildungen III D50-D90 Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems IV E00-E90 Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten V F00-F99 Psychische und Verhaltensstörungen VI G00-G99 Krankheiten des Nervensystems VII H00-H59 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde VIII H60-H95 Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes IX I00-I99 Krankheiten des Kreislaufsystems X J00-J99 Krankheiten des Atmungssystems XI K00-K93 Krankheiten des Verdauungssystems XII L00-L99 Krankheiten der Haut und der Unterhaut XIII M00-M99 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes XIV N00-N99 Krankheiten des Urogenitalsystems XV O00-O99 Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett VI P00-P96 Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben XVII Q00-Q99 Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien XVIII R00-R99 Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind XX V01-Y98 Äußere Ursachen von Morbidität und Mortalität XXI Z00-Z99 Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen XXII U00-U99 Schlüsselnummern für besondere Zwecke Abbildung 67 Gliederung der Internationalen Klassifikation von Krankheiten. Quelle: DIMDI (§ 301 SGB V) im Rahmen der GKV verpflichtend ist. Die amtliche Todesursachenstatistik beruht ebenfalls auf der ICD. 4.6.2 Klassifikation psychischer Störungen Mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association und dem Kapitel V der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stehen zwei Klassifikationssysteme für Diagnosen psychischer Störungen zur Verfügung. Als psychische Störung wird Verhalten ange- sehen, das mit Leiden, Beeinträchtigungen oder einem erhöhten Sterberisiko einhergeht. Beobachtbar sind Veränderungen in den Bereichen Emotion, Kognition, soziale Interaktion und Körperfunktion.343 S. 8 Die ICD versteht unter Störung (disorder) das Vorliegen von klinisch erkennbaren Symptomen oder Verhalten, das in den meisten Fällen mit Leiden verbunden ist und mit der Beeinträchtigung persönlicher Funktionen. Soziale Abweichung oder Konflikt allein, ohne persönliche Einschränkung, sollte nicht als psychische Störung im Sinner dieser Definition kategorisiert werden. 188 4. Gesundheit und Krankheit – Definitionen, Theorien, Modelle und Klassifikationen 4. Gesundheit und Krankheit – Definitionen, Theorien, Modelle und Klassifikationen 189 Störung »›Disorder‹ is not an exact term, but it is used here to imply the existence of a clinically recognizable set of symptoms or behaviour associated in most cases with distress and with interference with personal functions. Social deviance or conflict alone, without personal dysfunction, should not be included in mental disorder as defined here«.343 »Störung« ist kein exakter Begriff, sondern wird hier benutzt, um auf das Vorhandensein von klinisch erkennbaren Symptomen bzw. Verhalten hinzuweisen, die in den meisten Fällen mit Leiden und mit der Beeinträchtigung persönlicher Funktionen einhergehen. Soziale Abweichung oder Konflikt alleine, ohne persönliche Dysfunktion, sollte nicht als seelische Störung betrachtet werden. Die Klassifikation psychischer Störungen würde sich im Idealfall auf umfassendes Wissen der Symptomatologie, der Krankheitsursachen (Ätiologie) und der therapeutischen Beeinflussbarkeit stützen. Die Diagnose soll relevant, re­liabel und valide sein. Eine Diagnose ist relevant, wenn sie spezifische therapeutische Möglichkeiten eröffnet, sie ist reliabel, wenn sie verlässlich, d.h. unabhängig von der Person des Diagnostizierenden, gestellt werden kann, und sie ist valide, wenn sie tatsächlich das beschreibt, was vorliegt. Die Diagnosesysteme psychischer Störungen sind in ihren aktuellen Versionen von diesem Ideal noch weit entfernt. Bislang ist es – abgesehen von einigen organisch bedingten psychischen Störungen wie Demenzen – für kein einziges Störungsbild gelungen, morphologische und funktionelle Veränderungen des Gehirns mit den Symptomen oder dem Syndrom eines Störungsbildes robust in Einklang zu bringen. Im Vergleich zu früheren stellen die aktuellen Versionen des DSM und der ICD jedoch einen großen Fortschritt dar. Die Beschreibung der Diagnosen wurde präzisiert und ihre Verlässlichkeit wurden standardisierte, strukturierte Vorgehensweisen für die Befunderhebung in Form von Leitfäden für diagnostische Interviews sowie Testverfahren entwickelt. 343 WHO 2004, S. 11 erhöht, so dass sie im Großen und Ganzen als praktikabel und nützlich angesehen werden. Vor 1980 – dem Jahr in dem die 4. Version des DSM veröffentlicht wurde – war die Lage der Psychia­ trie im Bereich der operationalisierten klinischen Diagnostik noch desaströs. Die Beschreibung der Symptome war unpräzise, die Symptomgruppierungen waren nicht ausreichend voneinander abgrenzbar, unterschiedliche empirisch nicht ausreichend belegte Vorstellungen über die Ätiologie fanden Eingang in das System. Zwei spektakuläre Studien aus dem Jahr 1971 legten das Elend offen. Beim Anblick desselben Filmes von einem Patienteninterview kamen amerikanische und britische Psychiater zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen – 69% der amerikanischen Psychiater diagnostizierten eine Schizophrenie aber nur 2% der britischen Kollegen, während 75% der britischen Psychiater eine abnorme Persönlichkeit zu erkennen glaubten, aber nur 8% der amerikanischen Psychiater.344 In einer zweiten Studie aus dem Jahr 1973 wurden freiwillige gesunde Probanden die Diagnose Schizophrenie nicht mehr los, nachdem sie vor der Einweisung behauptet hatten, Stimmen zu hören und sich dann anschließend während des Klinikaufenthalts ganz normal verhalten hatten.345 Heute haben wir mit der ICD-10 und dem DSM-5 zwei psychiatrische Diagnosesysteme, die Theorien zur Ätiologie mangels empirischer Belege für ihre Gültigkeit – abgesehen von der Gruppe der organisch bedingten psychischen Störungen – außen vor lassen. Es handelt sich um deskriptive (beschreibende) Diagnosesysteme, in der die Diagnosen aufgrund von Symptomen und Syndromen gestellt werden. Zur Beschreibung werden die verbalen Äußerungen und das beobachtbare Verhalten der Patienten erfasst. Zur Vereinheitlichung der Beobachtung und zur Steigerung der Reliabilität der Dia­gnose Kategorialer und dimensionaler Ansatz Die Diagnoseklassifikation folgt einem kategorialen Ansatz. Damit wird die Gruppierung bestimmter Merkmale (Symptome) und ihre Einordnung in ein System von Kategorien bezeichnet. So werden die Symptome Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Zukunftspessimismus als eine Gruppe typischer, zusammengehöriger Symptome betrachtet und in die Diagnosekategorie Depression eingeordnet. Gruppierte zusammengehörige Symptome werden als Syndrom bezeichnet. Syndrome setzen sich aus obligaten und fakultativen Symptomen zusammen. Diagnosen wiederum setzen sich aus Symptomen und Syndromen sowie Zusatzmerkmalen zusammen, die sich z.B. auf die Zeitdauer, den Verlauf, den Schweregrad beziehen. Neben den Symptomen berücksichtigt der kategoriale Ansatz auch die Dauer der Beschwerden (z.B. mindestens zwei Wochen bei der Depression), die Beeinträchtigungen (bei der Depression z.B. Unfähigkeit, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen) sowie auch Ausschlusskriterien (keine Verursachung durch körperliche Erkrankung). Die Abgrenzbarkeit der Kategorien erfordert ausreichende Unterschiede der Symptomgruppen. Der kategoriale Ansatz folgt im Prinzip einer dichotomen Sicht – die Symptomgruppe ist entweder feststellbar oder nicht feststellbar, der Patient ist entweder krank oder gesund. Der dimensionale Ansatz (Dimension: Abmessung, Ausdehnung, Maß)346 hingegen geht davon aus, dass die beobachteten Phänomene quantitativ darstellbar und kon- 344 Kendell et al. 1971 345 Rosenhan 1973 346 Duden online http://www.duden.de/rechtschreibung/Dimension tinuierlich verteilt sind. Der Grad der Ausprägung ist dann entscheidend für die Bewertung der Symptome. Das kategoriale Denken ist zwar in der Diagnose von psychischen Störungen vorherrschend, der dimensionale Ansatz wird – v.a. bei den Persönlichkeitsstörungen – zumindest als sinnvolle Ergänzung diskutiert. Auf den Punkt gebracht Bei den Diagnosen psychischer Störungen handelt es sich um Konstrukte, also um »Bezeichnungen für das, worauf sich theoretische Begriffe beziehen, nämlich etwas, das selbst nicht beobachtbar ist, sondern zum Zwecke der Erklärung beobachtbarer Daten angenommen, gefordert oder eben konstruiert worden ist«.40 S. 400 Diese Konstrukte werden in einem Konsensusverfahren von internationalen Experten für einen gewissen Zeitraum festgelegt und sollten auf dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Forschung und Erkenntnis beruhen. Wann immer neue Erkenntnisse nahelegen, einzelne Störungen, Einteilungsgründe oder Strukturen zu ändern, wird eine neuerliche Revision vorgenommen.343 S. 8 Der 1952 erstmals erschienene DSM liegt seit 2013 in der 5. Version vor und auch die ICD wurde mehrfach überarbeitet. Experten diskutieren in Arbeitsgruppen und einigen sich darüber, ob Verhaltensauffälligkeiten bzw. Normabweichungen als Krankheitssymptome angesehen und als psychische Störung definiert werden. Auf den ersten Blick erscheint es angemessen, dass hier Experten entscheiden. Tatsächlich geht dies aber mit Problemen einher. Die Grenzen zwischen normal und nicht normal zu ziehen, ist eine Entscheidung, die nicht allein auf Wissenschaft beruht, vielmehr gehen hier kulturelle und soziale Werte und Normen und subjektive Bewertungen ein. Medizinische Experten neigen wie alle Experten eines Fachgebietes wohlmeinend und regelhaft dazu, die Fragen, mit denen sich ihre 190 4. Gesundheit und Krankheit – Definitionen, Theorien, Modelle und Klassifikationen Disziplin befasst, für besonders wichtig zu halten, die Grenzen ihres Zuständigkeitsbereiches zu erweitern und damit letztlich auch ihre Klientel zu vergrößern. Geht es um Zustände, die mit Arzneimitteln behandelt werden, versuchen pharmazeutische Unternehmen nach Kräften Einfluss zu nehmen (S. 149 ff.). Die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft hat über das DSM die Macht zu definieren, was als Störung angesehen wird und was nicht. Die Leiter der Arbeitsgruppen, welche die Vorversionen DSM-III (Robert Spitzer) und DSM-IV (Allen Frances) entwickelten, sahen ihre Aufgabe darin, den Enthusiasmus ihrer Kollegen zu zügeln und der Tendenz zur Ausweitung von Diagnosen entgegenzuwirken. Für das DSM-IV hatten Psychiater 94 neue Diagnosen vorgeschlagen, von denen nur zwei übernommen wurden.347 Das DSM-5 wird von verschiedenen Seiten kritisiert, weil an mehreren Stellen wohlmeinende Experten ihre Sicht mit neuen Diagnosen und weiten Interpretationsspielräumen durchgesetzt haben. Eine weitere Lawine unseliger Modekrankheiten würde losgetreten, die diagnostische Inflation weiter verschärft.348 S. 204 Wer sich sorge, eine Krankheit zu haben, könne die Diagnose »complex somatic symptom disorder« erhalten, normale Trauer werde zur »schweren depressiven Störung«, Vergesslichkeit alter Menschen würde zur »leichten neurokognitiven Störung«, Temperamentsausbrüche zur »Affektregulationsstörung« und impulsive Fressattacken zur »Heißhungerstörung«.348 S. 17 Darüber hinaus bildeten Mitglieder mit finan­ziellen Interessenkonflikten die Mehrheit der Steuerungsgruppe des DSM-V (19 von 29) sowie der Arbeitsgruppen, die sich mit Störungsbildern befassten, die in erster Linie medikamentös behandelt werden. Die Überarbeitung und die Definition der jeweiligen Störung lag somit in den Händen von Experten, die finanzielle Beziehungen zu den Firmen haben, die Medikamente für genau diese Störungen herstellen, so z.B. ■■ 12 von 18 Experten in der Arbeitsgruppe Affektive Störungen ■■ 12 von 14 Experten in der Arbeitsgruppe Psychotische Störungen ■■ 7 von 7 Experten in der Arbeitsgruppe SchlafWach-Störungen.349, 350 Zurzeit wird das Kapitel über psychische Störungen in der ICD überarbeitet. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Weltgesundheitsorganisation hier eine eigenständige Strategie findet. 347 Frances 2013a 348 Frances 2013b 349 Cosgrove und Krimsky 2012 350 Klemperer 2012b Kritische Würdigung Psychische Störungen in Diagnosekategorien einzuordnen ist sinnvoll, wenn dies der betroffenen Person nutzt. Dieser Nutzen sollte – wie bei somatischen Krankheiten auch – in Behandlungsmöglichkeiten bestehen, die zu einer Verbesserung der Lebenserwartung und/ oder Lebensqualität führen. Die bisherigen Diagnosesysteme stellen pragmatische, aber keinesfalls vollkommene Lösungen angesichts der beschränkten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen dar. Der deskriptive, also beschreibende Ansatz psychischer Störungen hat sich dabei grundsätzlich als hilfreich erwiesen. Ein ungelöstes Problem ist allerdings die von manchen einflussreichen Psychiatern und pharmazeutischen Unternehmen betriebene »Psychiatrisierung« von Alltagsproblemen und deren medikamentöse Behandlung durch Ausweitung der Störungsdefinitionen. Vertiefung ■■ DSM-5-Website der APA http://www.dsm5.org ■■ Frances A (2013). Saving Normal: An Insider’s 4. Gesundheit und Krankheit – Definitionen, Theorien, Modelle und Klassifikationen 191 Revolt Against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life. William Morrow 4.6.3 Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ist ein weiteres Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation. Die ICF wurde im Jahr 2001 verabschiedet, ersetzt die Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) von 1980 und enthält eine biopsychosoziale Perspektive von Behinderung. Behinderung ist nach ICF definiert als gesundheitsbedingte Teilhabestörung und stellt das negative Ergebnis der Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem einer Person und den Kontextfaktoren – die in der Umwelt und der Person liegen können – dar.351 S. 1 Diese Perspektive ist auch die Grundlage des SGB IX, dessen Titel »Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen« lautet. ICF und ICD ergänzen sich – die ICD hilft, Krankheiten in einheitlicher Sprache zu kategorisieren, die ICF verhilft zu einer einheitlichen Sprache aller Beteiligten – z.B. Betroffene, Ärzte, Sozialarbeiter, Rehabilitationsträger – in Fragen von Behinderung und Rehabilitation. Im Folgenden werden die Kernkonzepte der ICF in knapper Form dargelegt.352 353 Funktionale Gesundheit Die funktionale Gesundheit bildet den Kern der ICF. Eine Person gilt als funktional gesund, wenn vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der Kontextfaktoren): ■■ ihre körperlichen Funktionen (einschließlich 351 Schuntermann 2011 352 Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2008 353 Schuntermann 2009 des geistigen und seelischen Bereichs) und ihre Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen) ■■ sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten) und ■■ sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen) Kontextfaktoren Die funktionale Gesundheit ist das Ergebnis komplexer Abhängigkeiten und Wechselwirkungen des nach ICD definierten Gesundheitsproblems. Kontextfaktoren bilden den gesamten Lebenshintergrund einer Person ab und können sich positiv als Förderfaktoren oder negativ als Barrieren auf die funktionale Gesundheit auswirken. Umweltfaktoren beziehen sich auf die materielle, soziale und verhaltensbezogene Umwelt. Personenbezogene Faktoren bezeichnen Eigenschaften und Attribute der Person, wie Alter, Geschlecht, Ausbildung, Lebensstil, Motivation. Körperfunktionen und Körperstrukturen Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen einschließlich der psychologischen Funktionen, z.B. mentale Funktionen, Sinnesfunktionen und Schmerz, Stimm- und Sprechfunktionen. Körperstrukturen sind Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Teile, z.B. Strukturen des Nervensystems, das Auge, das Ohr und mit diesen in Zusammenhang stehende Strukturen, Strukturen, die an der Stimme und dem Sprechen beteiligt sind.