4. Quartal 2008 TÜV SÜD Journal Ernährung: Der biomolekulare Verbraucher 4 Weltbevölkerung: Wachstum und kein Ende? 16 Defibrillatoren: Jede Minute zählt 24 www.tuev-sued.de www.tuv-sud.com Story I Nutrigenomics 4 Vor Jahrmillionen wurde das menschliche Gen auf Nahrungsmangel und Bewegung getrimmt – und so funktioniert unser Körper noch heute. Die Folge: Der moderne Mensch lebt in einem Körper, dessen »Verbrauchsuhr« noch immer nach Steinzeit-Kriterien tickt. Mit Nutrigenomics wollen Forscher dieses Problem umgehen. Der biomolekulare Verbraucher or rund 200.000 Jahren war das Leben bestimmt nicht leicht – aber es gehorchte einem denkbar einfachen Gesetz: Laufe und sammle, dann überlebst du diesen Tag! Steinzeitmenschen hatten keine Wahl: Sie mussten mindestens 1.300 kcal an Energie täglich aufwenden, um genügend Nahrung, also neue Kalorien, zu finden – wer das nicht schaffte, konnte sein Leben auf Dauer nicht sichern und auch seine Gene nicht in die nächste Generation übertragen. Und die Wurzeln dieses Prinzips reichen sogar noch weiter zurück, nämlich bis in die Zeit vor 2,3 Millionen Jahren, als die allerersten Primaten der Gattung Homo sich in den afrikanischen Steppen auf die Hinterbeine stellten. Mit diesem evolutionären Schritt erfolgte eine Verschiebung von voluminöser, energiearmer hin zu nährstoff- und energiedichter Ernährung. Seit dieser Zeit V wurde das menschliche Genom in Richtung Nahrungsmangel und Bewegung »getrimmt«, in einem ewig langen Prozess, den ein paar Hundert Jahre Industriegesellschaft nicht verändert haben! Die Wissenschaft sieht es heute als erwiesen an, dass der Anstieg des Fleischverzehrs und die Nutzung des Feuers treibende Evolutionsfaktoren für die menschliche Entwicklung gewesen sind. Die verschiedenen Vorläufer des modernen Menschen haben ihren Energiebedarf kontinuierlich gesteigert – beim Neandertaler lag der durchschnittliche Energiebedarf bereits bei 3.000 bis 5.000 kcal täglich, bei regionalen und saisonalen Unterschieden. Heute lebt und arbeitet der Mensch in entwickelten Staaten viel bewegungsärmer. Und leider ist eine über die Ernährung gesteuerte, schnelle genetische Anpassung an den Nahrungsüberfluss und die relative Bewegungsarmut 5 Was ist gesund, was nicht? Darauf gibt es allgemeingültige Antworten. Die Nutrigenomics versucht darüber hinaus zu erforschen, wie die genetische Veranlagung eines Menschen und seine Ernährung wechselseitig voneinander abhängen bzw. sich beeinflussen. unwahrscheinlich: »Wenn überhaupt messbare genetische Veränderungen des menschlichen Genoms stattfinden, dann brauchen sie Tausende von Jahren, nicht nur wenige Jahrhunderte«, sagt Prof. Hannelore Daniel, Mitbegründerin der europäischen NutriGenomics Organization (NuGO). Das über Millionen Jahre selektionierte menschliche Gen ist also heute wie vor 200.000 Jahren auf Nahrungsmangel und Bewegung ausgelegt. Wer das ignoriert und bei Bewegungsarmut genauso viele Kalorien zu sich nimmt wie ein Neandertaler, der wird in der Regel dick. Wer sich bei der Ernährung an der Steinzeit orientieren möchte, sollte dann auch weniger auf die Masse als auf die »Klasse« achten: Denn gesichert ist bis heute nur, dass eine relativ energiearme und mineralstoffreiche Kost mit einem geringen Risiko, an Diabetes Typ 2, essenzieller Hypertonie oder Arteriosklerose zu erkranken, korrespondiert und deshalb als »gesund« empfohlen werden kann. Genetische Anpassung: Laktose-Unverträglichkeit Der Konsum von Milchprodukten ist in unserer westeuropäischen Kultur weitverbreitet. Nur wenige Menschen wissen, dass immerhin 10 bis 15 Prozent der Europäer an einer Laktose-Unverträglichkeit leiden, die verhindert, dass der in Milchprodukten enthaltene Michzucker vom Darm verdaut werden kann – Durchfall- und Bauchkrampfbeschwerden sind oft die Folge. Noch weniger Menschen wissen aber, dass diese Lak tose- Unverträglichkeit außerhalb Westeuropas der »Normalfall« ist: Mehr als 85 Prozent der Subsahara-Afrikaner haben diese Unverträglichkeit, bei den Asiaten sind es fast 100 Prozent. Grund ist eine einzige Genvariante, die es einem Großteil der Europäer und der weißen Bevölkerung in den USA erlaubt, ohne Beschwerden Milchprodukte zu konsumieren: In Europa entwickelte sich nämlich vor rund 320 Generationen eine Agrarkultur, die sehr stark auf Ackerbau und Milchviehzucht aufbaute. Folglich bildete sich bei den frühen Europäern eine Genvariante heraus, bei der das Enzym Laktase den über die Nahrung aufgenommenen Milchzucker aufspaltet und so seine Verdauung ermöglicht. Unser Körper ist auf Vorrat programmiert Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Fettleibigkeit – auch Adipositas genannt – beruhen nach modernen Erkenntnissen auf Störungen im »genetischen Programm« des menschlichen Körpers. Grundsätzlich ist der Mensch auf gute »Vorratshaltung« angelegt: In guten Zeiten legt der Körper Reserven an, die in mageren Zeiten wieder abgebaut werden. Was zur Steinzeit noch evolutionär Sinn machte, sorgt in der heutigen Überflussgesellschaft für Probleme. Denn unser Stoffwechsel ist immer noch auf Bevorratung eingestellt – die Folge: Gerade in den Industriestaaten nehmen Probleme wie Übergewicht und Adipositas zu. Story I Nutrigenomics Story I Nutrigenomics 6 Möglicherweise wird es in einigen Jahrzehnten bereits Supermärkte geben, die spezielle Angebote auf Basis von Genomuntersuchungen führen. Die individuelle genetisch basierte Ernährungsberatung könnte dann auch Entscheidungen für Restaurantbesuche aller Art beeinflussen. kontakt Heidi Hagenreiner TÜV SÜD Unternehmenskommunikation +49 - 89-5791-2935 +49 - 89-5791-2645 heidi.hagenreiner@ tuev-sued.de www.tuev-sued.de Trotzdem gibt es individuelle Unterschiede: Fast jeder kennt eine Person, die fast alles und das meist auch noch in großen Mengen essen kann, ohne zuzunehmen, während andere trotz strenger Diät kaum von ihren Pfunden herunterkommen. Grund dafür sind die Unterschiede im genetischen Material: Forscher schätzen, dass über 100 Gene an der Regulation des Körpergewichts beteiligt sind – schon 5 bis 20 dieser Genvarianten reichen, um Adipositas auszulösen. Die spannende Frage ist nur: Welche Gene sind das? DNA-»Schnipsel« im Fokus der Forschung Verantwortlich für die Ungleichheiten zwischen den Menschen sind die »Single Nucleotide Polymorphisms« (SNPs) – das sind DNA-»Schnipsel«, von denen die Forscher im menschlichen Genom bereits über vier Millionen Varianten identifiziert haben. Ihnen wird Einfluss auf ernährungsbedingte Erkrankungen, aber auch die entscheidende Rolle beim Ausbruch vererbbarer Krankheiten zugeschrieben. »SNPs sind für die Forschung ganz heiße Objekte, denn sie erklären uns viele Zu sam menhänge, die wir bislang nur vermuten konnten«, erklärt Dr. Karin Bergmann, Ernährungswissenschaftlerin und Buchautorin. »Der früher oft als Volksglaube abgewertete Verdacht, dass hohe Cholesterinwerte innerhalb einer Familie über die Generationen hinweg weitervererbt werden, konnte durch die SNP-Forschung inzwischen sicher bewiesen werden!« Ein weiteres Beispiel für die Funktion der SNPs ist der Geschmacksinn des Menschen: Bei 70 Prozent aller Europäer findet sich auf den Genen für Geschmacksrezeptoren ein SNP, der diese Menschen bis zu tausendmal empfindlicher auf die Bitterstoffe in Kohl oder Spinat reagieren lässt als alle andere Menschen. »Das erklärt doch sehr deutlich, warum so viele Menschen um Kohlgerichte einen großen Bogen machen, während andere dieses Gemüse mit Genuss verzehren können«, sagt Dr. Bergmann. Dass die Gene nicht nur unsere Ernährung beeinflussen, sondern auch umgekehrt die Ernährung unsere Gene, beweist die Forschung der letzten 30 Jahre: Bestimmte Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln wirken als zellkernaktive Einflussfaktoren und steuern den Stoffwechsel oder lösen sogar Stoffwechselerkrankungen aus – Beispiel: Grillfleisch! Auf einer dunkel gegrillten Fleischoberfläche entsteht krebserregendes Benzpyren: ein Alarmsignal für die menschliche Leber, denn schon nach Verzehr winziger Mengen dieses Stoffes werden im Leberstoffwechsel bestimmte Gene für Enzyme »angeschaltet«, die versuchen, das krebserzeugende Benzpyren zu neutralisieren. Gendiagnostik für präventive Ernährung Eines ist heute schon sicher: Für die weitverbreitetsten Zivilisationskrankheiten wie beispielsweise Diabetes Typ II gibt es nicht nur ein Gen pro Krankheit mit einem 7 Story I Nutrigenomics Genomanalyse zur Ausrichtung des Essverhaltens? 500 400 300 »Würden Sie Ihren Arzt um eine Genomanalyse bitten, sodass Sie Ihr Essverhalten besser an Ihren genetischen Anlagen ausrichten können?« Eine Befragung von 598 Personen in Deutschland kam zu folgendem Ergebnis: 200 184 100 130 121 114 8 41 0 Ja, ohne Zweifel Ja, wahrscheinlich Nein, wahrscheinlich nicht Nein, unter keinen Umständen Ich habe noch nie darüber nachgedacht Keine Antwort Quelle: Public Understanding of Nutrigenomics – a Survey; Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam, 2007. hohen Risikofaktor, sondern zum Teil mehr als 100 Gene für eine Krankheit mit vielen kleinen Risikofaktoren! Bei Diabetes Typ 2 sind es geschätzte 200 unterschiedliche Gene – gerade einmal 18 davon sind bislang identifiziert. Schwierig wird es für die Forschung allerdings bei der Ableitung von Ernährungsempfehlungen: Sie richten sich bisher nach klassischen Faktoren wie Alter, Lebenssituationen wie Wachstum oder Schwangerschaft sowie nach bereits erkannten Erkrankungen. Zukünftig soll es mithilfe der Gendiagnostik möglich sein, ein individuell vorhandenes Krankheitsrisiko schon vor dem Krankheitsausbruch zu bestimmen und präventive Ernährungs empfehlungen in Bezug auf das erkannte Risiko auszusprechen. »Diese Forschung steckt aber noch in den Kinderschuhen – da haben wir noch einen langen Forschungsweg vor uns«, betont auch Prof. Daniel. Zwei Forschungswege erkennbar Obwohl Millionen internationaler Forschungsgelder in die Entwicklung und den Ausbau nutrigenomischer Forschungsmethoden fließen, räumen Forscher ein, dass der Beitrag der SNPs zum tatsächlichen Krankheitsausbruch viel kleiner sein könnte als der der klassischen Risikofaktoren wie Übergewicht, mangelnde Bewegung oder das Rauchen. Trotzdem werden die Chancen dieser Forschung weltweit hoch angesetzt: Die moderne Genomanalyse erlaubt eine viel frühere Bestimmung des Krankheitsrisikos, als es derzeit möglich ist. Präventive Maßnahmen könnten eher eingeleitet werden und brächten eventuell mehr Erfolg. »Auch die Akzeptanz auf Patientenseite könnte größer sein, weil das Risiko für die einzelne Person nachgewiesen und nicht nur aufgrund der Vorerkrankungen und des Lebensstils allgemein vermutet wird«, so Prof. Hannelore Daniel. Zwei Nutzungspfade zeichnen sich damit heute ab: Bequem, aber teuer wäre es, Medikamente und »Nutraceuticals« am individuellen Genom eines Menschen auszurichten und von einzelnen Patientengruppen nutzen zu lassen. Kostengünstig, aber unbequem wäre es, das individuelle Genom zu ignorieren und wie bisher auf allgemeine Gesundheits- und Lebensstilempfehlungen zu setzen. Noch sprechen Forscher also vorsichtig über Wahrscheinlichkeiten und Risikoabschätzungen, denn niemand kann heute seriös über den Stellenwert einer genetischen Analyse in Bezug auf spätere Krankheitsausbrüche Auskunft geben. Ob es also künftig »nutrigenomische Ecken« in Supermärkten oder Kaufhäusern geben wird, ist heute noch Spekulation! I info TÜV SÜD bietet im Bereich Lebensmittelsicherheit ein breites Dienstleistungsspektrum an: I Lebensmittel-Prüfzeichen »Geprüfte Qualität« I Beurteilung von Eigenmarkenlieferanten nach IFS (International Food Standard) I Zertifizierung nach dem BRC I kombinierte Prüfungen aus Global Standard for Food Safety ISO 9001:2000, HACCP und anderen Prüfdienstleistungen I TÜV SÜD-Lieferantenaudits Dazu kommen spezielle Prüfungsstandards für spezifische Produkte, für Futtermittel, Verpackungen, Rohwaren, Halbfertigwaren, Dienstleistungen, Geräte, Hygiene, Umwelt- und Qualitätsmanagement. TÜV SÜD: Für Sie weltweit vor Ort international Amerika – NAFTA: TÜV SÜD America Inc. 10 Centennial Drive 01923 Peabody, MA 01960-7900, USA + 1- 978-573- 2500 + 1- 978-977-0157 Europa: TÜV SÜD AG Westendstraße 199 D-80686 München + 49 - 89 - 57 91- 0 Hamburg + 49 - 89 - 57 91 - 15 51 Berlin Asien – Pazifik: TÜV SÜD Asia Pacific 3 Science Park Drive #04-01/05 The Franklin Singapore 118223 Hannover national + 65-6773-9731 + 65-6872-4948 Mittel- und Osteuropa: TÜV SÜD Central Eastern Europe s.r.o. Novodvorska 994 CZ-142 21 Praha 4 + 4 20 - 2- 39 04 - 67 01 Mönchengladbach Leipzig Erfurt Dresden Köln Deutschland: TÜV SÜD AG Westendstraße 199 D-80686 München + 49 - 89 - 57 91 - 0 Frankfurt Mannheim Nürnberg Stuttgart Augsburg Regensburg München + 49 - 89 - 57 91 - 15 51 ... und ca. 400 weitere Niederlassungen/Büros in Deutschland! + 4 20 - 2- 39 04 - 67 05 impressum Verleger und Herausgeber: TÜV SÜD AG, Westendstraße 199, 80686 München Inhaber: TÜV SÜD e.V. 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