Experimentierfeld deutscher Besatzungspolitik: Polen 1939 Klaus-Michael Mallmann, Jochen Böhler, Jürgen Matthäus Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, 252 S., € 49,90 Die Ziele des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939 lagen darin, die Existenz des polnischen Nationalstaates zu zerstören, die wirtschaftlichen Ressourcen Polens für das Reich auszubeuten und den westlichen Teil Polens als »Lebensraum« für die deutsche Bevölkerung zu gewinnen. Hitler hatte dies der Wehrmachtsführung am 23. Mai und 22. August 1939 in aller Deutlichkeit dargelegt. Die destruktive Wucht NS-Deutschlands traf Polen wie sonst nur die Sowjetunion und die europäischen Juden. Bis zum 25. Oktober 1939 ermordeten Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten etwa 20.000 Zivilisten außerhalb von Kampfhandlungen. Etwa die Hälfte der Opfer wurde durch Wehrmachtseinheiten ermordet, die vor allem darauf zielten, vermeintliche Freischärler zu töten und jeden potenziellen Widerstand im Keim zu ersticken. SS- und Polizeieinheiten hatten den expliziten Auftrag, die polnische Führungsschicht zu »liquidieren« und damit die polnische Gesellschaft gewissermaßen zu »enthaupten«. Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, der sogenannte Volksdeutsche Selbstschutz, Polizeibataillone und SS-Truppen erschossen Abertausende Staatsangestellte, Priester, Adlige, Rechtsanwälte, Lehrer, Wissenschaftler usw. Antisemitische Gewalt geschah ebenfalls in einem mörderischen Ausmaß, wie es selbst 1938 in Österreich nicht vorgekommen war. Diese Art der Kriegführung und der Komplizenschaft von Wehrmacht, SS und Polizei hatte es bis dahin in dieser verbrecherischen Weise nicht gegeben. Im Rückblick erscheint die deutsche Politik in Polen ab 1939 wie ein Experimentierfeld deutscher Besatzungspolitik. Deutsche Entscheidungsträger in Wehrmacht, SS, Polizei und Wirtschaft versuchten, aus den Erfahrungen mit Konflikten und Problemlagen in Polen zu lernen und sie in Zukunft zu vermeiden.1 Die deutsche Politik im besetzten Polen ab 1939 gehört zur Vorgeschichte der späteren Besatzungspolitik, vor allem ab Juni 1941 in der Sowjetunion, die sich in einer anderen Dimension bewegte: So fielen etwa im August 1941 in Kamenets-Podolsk einem einzigen Massaker über 20.000 Juden zum Opfer. Die Studie von Mallmann, Böhler und Matthäus beschäftigt sich mit einem Teilaspekt der Kriegführung in Polen 1939, der mörderischen Tätigkeit der Einsatzgruppen. Wie dem Editorial zu entnehmen ist, wollen die drei Herausgeber den Forschungsstand zu den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in Polen erweitern, sich mit der »Dynamisierung der Gewalt« von 1939 bis 1941 auseinandersetzen und die Einsicht 01 Bulletin des Fritz Bauer Instituts Rezensionen / Frühjahr 2009 »mentale Disposition der Kommandoführer« herleiten. (S. 7) Ein Quellenteil bildet die zweite Hälfte des Buches. Von Beginn an irritiert der apodiktische Tonfall. Die zentrale These des Bandes wird als Feststellung präsentiert: »Damit steht fest – der Grundstein zu Vernichtungskrieg und Holocaust wurde 1939 gelegt.« (S. 12) Die These steht jedoch keineswegs fest und ist durchaus diskussionswürdig: Was genau meint denn »Grundstein« und die Einsatzgruppen seien »Weichensteller auf dem Weg in den Rassen- und Vernichtungskrieg« (S. 99) gewesen? In welchem Verhältnis stehen hier Kontinuität und Diskontinuität in den je unterschiedlichen Kontexten? In Anmerkungen mokieren sich die Autoren darüber, dass ihre These noch nicht längst Standard in der Geschichtswissenschaft sei. (z. B. S. 202, Anm. 29). In polemischem Stil werden andere Forschungen abgekanzelt, so sei etwa Krausnicks Studie zu den Einsatzgruppen in Polen bereits bei ihrem Erscheinen 1981 überholt gewesen (S. 14), weil sie die reichhaltige Forschung in Polen nicht berücksichtigt habe. Leider sucht man den Einfluss der polnischen Forschung auf die Darstellung auch in dieser Studie weitgehend vergeblich, denn sie wird nur in Fußnoten summarisch aufgelistet. Ich finde, dass auch die Polemiken gegen erstklassige Historiker wie Sybille Steinbacher und Klaus-Peter Friedrich zu weit gehen. (S. 212 f., Anm. 199; S. 234, Anm. 616) Ein kollegialerer Tonfall würde die wissenschaftliche Kontroverse wesentlich erleichtern. Denn es lohnt sich, über das zu streiten, was in dieser Studie empirisch präsentiert wird. 17 Einsatzkommandos, 21 Polizeibataillone und zwei berittene Abteilungen mordeten im besetzten Polen. So detailliert konnte man sich bisher nicht über die Organisation der Einsatzgruppen, das Personal und ihre Tätigkeit informieren. In handbuchartigen Abschnitten erfährt man genauer, dass die Kommandoführer der »Frontkämpfergeneration« und der »Kriegsjugendgeneration« angehörten, deren Habitus und Weltanschauung durch Ulrich Herbert und Michael Wildt so überzeugend herausgearbeitet worden sind. Die mörderische Tätigkeit der Kommandos wird für die unterschiedlichen Regionen geschildert und gezeigt, dass sie der der Wehrmacht gegenläufig war. Waren zu Beginn die Erschießungen der Wehrmacht sehr zahlreich und gingen dann zurück, verlief die Entwicklung bei den Einsatzgruppen umgekehrt. Deren Mordzahlen waren bis auf einige Ausnahmen zu Anfang relativ niedrig und steigerten sich ab Mitte September 1939. Wichtig erscheint auch, dass die Opferzahlen der durch den Volksdeutschen Selbstschutz, die Stabstruppen der SS-Kavallerie und die Ordnungspolizei Ermordeten oft höher lagen als die der Sicherheitspolizei. Insgesamt fielen in Polen bis Ende 1939 der deutschen Besatzungsherrschaft 47.500 Polen (30.000 in Danzig-Westpreußen, 10.000 im Warthegau, 1.500 in Ostoberschlesien, 1.000 im Regierungsbezirk Ziechenau, 5.000 im Generalgouvernement) und 7.000 Juden zum Opfer. Gleichwohl gerät die Schilderung der Praxis der Einsatzgruppen etwas karg, weil sie fast ausschließlich auf Be- 1 richten der Sicherheitspolizei selber beruht und situative Dynamiken eher angedeutet als entwickelt werden. Dazu fehlt es wohl weiterhin an Quellen. Einen Abschnitt zur »Dynamisierung der Gewalt« von 1939 bis 1941 gibt es nicht. Stattdessen werden die Forschungsergebnisse zu 1939 neben Thesen Mallmanns zur mentalen Disposition der Sicherheitspolizei gestellt, die bereits im Jahr 2000 publiziert und hier leicht umformuliert wurden.2 Der Vergleich ergibt vor allem gewichtige Unterschiede zwischen 1939 und 1941. Eine argumentative Rückbindung an die Ausgangsthese des »Grundsteins« hätte vielleicht mehr Klarheit gebracht, weil dann der Prozess der Radikalisierung von 1939 bis 1941 in den Blick gekommen wäre. In analytischer Hinsicht spielen Böhlers These von der »Freischärlerpsychose« – bezogen auf die ersten Septemberwochen 1939 – und Mallmanns These, dass in den ersten Monaten des Krieges gegen die Sowjetunion die »Akteure […] sich kollektiv als Gefangene ihrer Phobien« erwiesen hätten (S. 93), eine zentrale Rolle.3 Psychologisierende Spekulationen können wichtig und zutreffend sein, lassen sich aber nur schwer belegen. Mir kommen in diesen auf die mentalen Dispositionen abhebenden Argumentationen die politischen, militärstrategischen, besatzungspolitischen und kriegswirtschaftlichen Kontexte, Interessen und Konfliktkonstellationen viel zu kurz. Der Quellenteil mit einer breiten Auswahl an Dokumenten – darunter vielen aus Polen – illustriert, was im darstellenden ersten Teil angesprochen wurde. Leider sind die Texte zu einem anderen Zweck kaum zu verwenden. Die meisten Quellen sind nur in Auszügen wiedergegeben, es fehlen Kommentierungen, Verweise und Erläuterungen. Warum ein längerer Bericht aus dem sowjetisch besetzten Ostpolen (Dok. 97) dabei ist, bleibt ganz unklar. Die angekündigte Publikation zusätzlicher Quellen im Internet ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Dieses Buch bietet eine Fundgrube an Informationen. Schade, dass die drei hochkarätigen Historiker nicht etwas mehr Sorgfalt auf die Argumentationen und die Quellenedition verwandt haben. 1 Vgl. dazu schon Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933–1940, Stuttgart 1969; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 32–106; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 419–485; Alexander B. Rossino, Hitler strikes Poland: Blitzkrieg, Ideology and Atrocity, Lawrence, Kansas 2003; Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, S. 51–56. 2 Vgl. die beiden Aufsätze von Mallmann, »Menschenjagd und Massenmord. Das neue Instrument der Einsatzgruppen und -kommandos 1938–1945« und »Die Türöffner der ›Endlösung‹. Zur Genesis des Genozids«, in: Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. »Heimatfront« und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 291–316 und 437–463. 3 Vgl. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt am Main 2006. Christoph Dieckmann Keele University (United Kingdom) Einsicht 01 Bulletin des Fritz Bauer Instituts Rezensionen / Frühjahr 2009 2