Thromboembolische Komplikationen bei hämatologischen und onkologischen Patienten Dr. Frank Breywisch Prof. Dr. Georg Maschmeyer Klinikum Ernst von Bergmann Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin 14467 Potsdam [email protected] Agenda • Spontane Venenthrombose/Embolie: Tumorsuche indiziert/sinnvoll? • Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Komplikationen bei malignen Erkrankungen • Katheter- assoziierte Venenthrombosen • Verbesserung der Prognose durch Antikoagulation? Zusammenhang Thrombose – Tumor Trousseau – Syndrom ARMAND TROUSSEAU (1801 – 1867) wies als Erster bereits 1865 auf einen Zusammenhang zwischen Tumor und Thrombose hin. Er schrieb am 1. Januar 1867 an einen seiner Studenten: I am lost … the phlebitis that has just appeared tonight leaves me no doubt as to the nature of my illness.“ Khorana AA et al. Cancer 2007 Thromboseentstehung bei Tumorerkrankungen Strömungsveränderungen Gefäßveränderungen • Immobilisation • Invasion des Tumors in das Gefäß • tumorbedingte Kompression großer Venen • Endothelaktivierung unter Chemotherapie • Exsikkose • zentrale Venenkatheter Massive Thrombinbildung Veränderungen des Gerinnungssystems • Gerinnungsaktivierung durch Tissue Factor (TF) oder Cancer- Prokoagulanzien • Zytokine (TNFα ) oder Interleukine (z.B. IL8) Downregulierung Gerinnungsinhibitoren / Endothel Aktivierung • Interaktion zwischen Tumorzellen, Thrombozyten, Endothelzellen und Makrophagen (vermittelt durch Selektine) • Fibrin-Generierung • Gerinnungsunabhängige Faktoren (Komplement, PARs Angiogenese, Tumorwachstum und Metastasierung ,VEGFSynthese) Spontane Venenthrombose/Embolie: Tumorsuche indiziert? • 61.998 Patienten ohne bekannte Tumorerkrankung, stationär aufgenommen wegen tiefer Venenthrombose 1965-83 • 2.509 Tumorerkrankungen diagnostiziert => standardisierte Inzidenzrate (SIR) 4.4, (95% CI 4.2-4.6) • SIR für Polycythaemia vera = 12.9 (8.6-18.7), SIRs für Tumoren von Leber, Pankreas, Ovar, ZNS oder Hodgkin-Lymphom jeweils >5.0 • Höhere Inzidenzen bei Patienten < 65 Jahren • In Folgejahren weitere 6.081 Tumorerkrankungen diagnostiziert (SIR 1.3), selbst ≥10 Jahre später noch auf 1.3 erhöht Tumorsuche ist indiziert, aber ist sie auch sinnvoll? Baron JA et al (USA), Lancet 1998;351:1077-80 Spontane Venenthrombose/Embolie: Tumorsuche sinnlos? • 15.348 Patienten mit TVT und 11.305 Patienten mit LAE (1977-92) • Standardized incidence ratio (SIR) für Krebsdiagnose 1.3 in beiden Kohorten • Risiko war deutlich erhöht nur in den ersten 6 Mo. der Nachbeobachtung, dann rascher Abfall auf 1.0 nach 1 Jahr • 40% der Patienten mit Krebsdiagnose innerhalb 1 Jahres nach TVT hatten bei Diagnosestellung bereits Fernmetastasen • Starke Korrelation mit bestimmten Krebserkrankungen, insbesondere Pankreas, Ovar, HCC und Hirn Sörensen HT et al (Dänemark), N Engl J Med 1998;338:1169-73 Von 668 Patients mit Krebserkrankung zum Zeitpunkt einer TVT haben 44.0% Fernmetastasen 1-Jahres-Überleben 12% „Cancer diagnosed at the same time as or within one year after an episode of venous thromboembolism is associated with an advanced stage of cancer and a poor prognosis.“ N Engl J Med 2000;343:1846-50 • Meta-Analyse von 36 publizierten Studien • Prävalenz von zuvor unbekanntern Tumorerkankungen bei Patienten mit spontanen venösen Thromboembolien = 6.1% (95% CI, 5.0-7.1%) und innerhalb der nächsten 12 Monate = 10.0% (CI, 8.6-11.3%) • Ausgiebige Diagnostik einschließlich CT Abdomen/Becken erhöht signifikant die Zahl der entdeckten Tumorerkrankungen • Der Einfluß der Entdeckung der Krebsdiagnose auf Morbidität, Lebensqualität, Kosten-Nutzen und Lebenserwartung ist weiterhin ungeklärt • Aggressive Suche nach Tumorerkrankung bei Patienten mit TVT oder LAE ist nicht gerechtfertigt Ann Intern Med 2008;149:323-33 • Diagnostischer Ertrag bei „kleinem Programm“ (Anamnese, körp. Untersuchung, Routine-Labor, Thorax-Röntgenaufnahme): Entdeckung von 49.4% der okkulten Malignome • Zusätzlich CT Abdomen/kleines Becken => Steigerung auf 69.7% • 30.3% unentdeckt => „besondere Aufmerksamkeit“ Ann Intern Med 2008;149:323-33 • Umfang des Untersuchungsprogramms im Einzelfall festlegen • Empfehlung: gezielte Anamneseerhebung und körperlichen Untersuchung, Basislabors und Aktualisierung der geschlechts- und altersspezifischen Krebsfrüherkennungsmaßnahmen (gynäkologische Untersuchung, Prostata-Untersuchung, Koloskopie u.a.) • Computertomographie von Thorax und Abdomen nur als weiterführende Maßnahme bei speziellen Verdachtsmomenten Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten • etwa 4-fach erhöhtes Thromboserisiko bei Tumorpatienten • unter Chemotherapie weitere Erhöhung auf 6.5-faches Risiko • sowie ca. 3- bis 5-fach erhöhtes Thromboserezidivrisiko •Aber: insgesamt auch erhöhtes Blutungsrisiko Lyman GH et al (ASCO), J Clin Oncol 2007;25:5490-505 • • • • MEDENOX: Enoxaparin vs. Placebo (5,5% vs. 14,9%) 63% Risikoreduktion PREVENT: Dalteparin vs. Placebo (2,8% vs. 5,0%) 44% Risikoreduktion ARTEMIS: Fondaparinux vs. Placebo (5,6% vs. 10,5%) 47% Risikoreduktion Metaanalyse (Dentali et al. 2007): Blutungsrisiko (major bleeding) RR 1,32; 95% CI 0,73 – 2,37) nicht signifikant erhöht Abschätzung des individuellen ThromboembolieRisikos bei Patienten mit Malignomen Khorana AA & Connolly GC (Rochester), J Clin Oncol 2009;27:483947 Welche Malignome haben das höchste Thromboserisiko? Metastasierte Erkrankungen Regional begrenzte Erkrankungen Chew HK et al (Sacramento), Arch Intern Med 2006;166:458-64 Abschätzung des individuellen Thromboembolierisikos bei Patienten mit Malignomen Cave: immer auch individuelles Blutungsrisiko beachten !!! Khorana AA & Connolly GC (Rochester), J Clin Oncol 2009;27:4839-47 Wann ist eine Thromboseprophyaxe indiziert? (kaum Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien!!!) Onkologische Patienten mit chirurgischen Eingriffen sollen eine verlängerte VTE-Prophylaxe für 4 bis 5 Wochen erhalten. Stationäre Patienten mit Tumorerkrankungen sollen eine medikamentöse VTE- Prophylaxe erhalten. (Hochrisikoprophylaxe- Dosierung NMH oder Fondaparinux) Die Dauer der medikamentösen VTE- Prophylaxe sollte den gesamten Krankenhausaufenthalt umfassen. Bei Kontraindikationen gegen eine medikamentöse VTE- Prophylaxe sollen medizinische Kompressionsstrümpfe eingesetzt werden. Eine medikamentöse VTE-Prophylaxe für nicht hospitalisierte Tumorpatienten wird nicht generell empfohlen Im Einzelfall nach Risikoprofil (z.B. Lenalidomid/Thalidomid) Was sagen die Anderen? (ASCO 2007-, ACCP 2008-, NCCN 2009- Guidelines) •Thromboserisiko ist in den ersten 3 Monaten nach Diagnosestellung besonders hoch •Chemotherapie mit Thalidomid oder Lenalidomid • Kombination mit Anthrazyklinen/Dexamethason; EPO! •Hospitalisierte Patienten ohne Kontraindikationen •Perioperativ •Postoperativ für ≥ 4 Wochen nach Abdominal-/Becken-OP • insbesondere bei Vorliegen individueller Risikofaktoren Niedermolekulares Heparin vs. Placebo ambulante Patienten unter Chemotherapie • 2.0% von 769 Patienten unter Nadroparin vs 3.9% von 381 Pat. unter Placebo entwickelten einen Thromboembolie (p=0.02) => NNT = 54 • Größere Blutung: 0.7% vs 0% (p=0.18) • Kleinere Blutungen: 7.4% vs 7.9% • FAMOUS: Dalteparin vs. Placebo 2,4% vs. 3,3%; Blutung 4,7% vs. 2,7% • TOPIC I: Certoparin vs. Placebo 4% vs. 4%; Blutung 1,7% vs. 0% (Stad IV Mamma-Ca) • TOPIC II: Certoparin vs. Placebo 4,5% vs. 8,3%% (P=0,07); Blutung 3,7% vs. 2,2% (Stad IV NSCLC) • Schwere unerwünschte Ereignisse: 15.7% vs 17.6% Agnelli G et al (PROTECHT Study Group), Lancet Oncol 2009;10:930-1 • Keine generelle Empfehlung • Nur in besonderen Risikosituation • Antikoagulation ist bei Tumor-assoziierter Thrombose die etablierte Standardtherapie • Unter den wenigen Therapieoptionen sind niedermolekulare Heparin (NMH) vorzuziehen wegen ihrer Effektivität, Sicherheit und bequemen Handhabung J Clin Oncol 27:4895-901 TVT bei Patienten mit Tumorerkrankungen: NMH => Coumarin oder NMH => NMH? NNT = 13 Lee AYY et al (CLOT Study Group), N Engl J Med 2003;349:146-53 Orale Antikoagulation (INR 2-3) nach initialer Heparintherapie als (kostengünstigere) Alternative? Studien zeigen jährliches Risiko des VTE-Rezidives von 21-27% und größerer Blutungen von 12-13% Vorsicht bei oraler Antikoagulation: •Interaktionen mit Chemotherapie (5-FU u.a.) •Leberfunktionsprobleme •Thrombopenie unter Chemotherapie •GI-Resorption bei Inappetenz, Erbrechen, Diarrhoe •Umstellung vor Eingriffen mit Blutungsrisiko J Clin Oncol 27:4895-901 Therapie von VTE-Rezidiven unter laufender Antikoagulation VTE-Rezidive 9% bzw. 17% unter NMH bzw. OAK (kaum Daten aus klinischen Studien) Praktisches Vorgehen: • OAK, INR subtherapeutisch => Fortsetzung mit therapeutischer INR •OAK, INR therapeutisch => NMH •NMH => Dosiseskalation, evtl. FXa-Bestimmung darunter 8.6% erneutes Rezidiv, aber kein erhöhtes Blutungsrisiko J Clin Oncol 27:4895-901 Antikoagulation bei Thrombopenie • Schwere Thrombozytopenie und akute schwere Thrombose: Thrombozytentransfusion => Thr > 50 Gpt/L => volltherapeutische Antikoagulation • Thrombozyten 20-50 Gpt/L: NMH in halbtherapeutischer Dosis • Thrombozyten < 20 Gpt/L: individuelle Entscheidung* Meist wird keine Antikoagulation durchgeführt; Literatur zeigt aber auch bei Thr < 20 eine effektive Prophylaxe und Therapie mit NMH *) J Clin Oncol 27:4895-901 Antikoagulation bei Niereninsuffizienz • NMH = relativ kontraindiziert bei Niereninsuffizienz • Wenn auch orale VitK-Antagonisten problematisch sind, ist die Gabe von NMH unter anti-FXa-Monitoring vorzuziehen • Bei täglicher Einmalgabe ist ein Peak-Spiegel von anti-FXa nach 3-4 Std von 1.0-1.5 U/mL und ein Talspiegel vor der nächsten Gabe von 0.2-0.5 U/mL anzustreben • Bei nicht weiter verschlechterter Nierenfunktion ist eine Messung nicht häufiger als 1x pro Monat erforderlich J Clin Oncol 27:4895-901 Wann unfraktioniertes Heparin s.c.? NMH Bioverfügbarkeit bei s.c. Gabe ca 90% vs. UFH 10 – 30% NMH HIT II- Inzidenz etwa 1/10 des Risikos unter UFH NMH geringeres Osteoporoserisiko bei Langzeitanwendung Enoxaparin, Dalteparin und Tinzaparin auch bei schwerer Niereninsuffizienz unter Kontrolle der AntiXa- Spiegel sicher einsetzbar NMH fibrinolytischer Effekt (NMH Antitumor- Effekt?) Tumorpatienten mit Thrombose sollen anstelle von Vitamin KAntagonisten für 3 bis 6 Monate mit niedermolekularem Heparin behandelt werden. Art und Dauer der nachfolgenden Antikoagulation sollten sich nach der Aktivität des Tumorleidens und dem Blutungsrisiko richten. Wie lange soll die Antikoagulation nach stattgehabter Thrombose/Embolie fortgeführt werden? Pythia beantwortete die Fragen der Menschen im Auftrag von Apollon. Sie saß auf einem hohen Stuhl aus Bronze und war in einer Weihrauchwolke eingehüllt. Durch den Weihrauch wurde Pythia in einen rauchartigen Zustand versetzt, deswegen waren ihre Antworten oft zweideutig oder rätselhaft. Dennoch galten die Orakelsprüche als sicher... Wie hoch ist das Thromboserisiko bei Verwendung zentraler Venenkatheter? ZVK bei Tumorerkrankung: Heparinprophylaxe? 3.4 vs 3.7%* Ann Oncol 2006 14 vs 18%** J Clin Oncol 2005 *) Patienten mit Indikation zur AK ausgeschlossen **) Patienten mit ZVK nur zur TPE ausgeschlossen • 76.713 Patiententage Nachbeobachtung: 19/444 Patienten (4.3%) entwickelten symptomatische Thrombose • Mediane Zeit zur CRT: 30 Tage; mediane ZVK-Liegedauer 88 Tage • Risikofaktoren: >1 Insertionsversuch (odds ratio [OR] 5.5; p=0.03); Ovarial-Ca (OR 4.8; p=0.01); bereits vorhergehender ZVK (OR 3.8; p=0.01) 9/19 Patienten nur antikoaguliert; 8/19 AK und ZVK-Entfernung; 2/19 keine AK (kein Unterschied in der Verweildauer der Katheter zwischen Patienten mit und ohne Katheterthrombose) • Kein Thromboserezidiv, keine symptomatische LAE; 2/19 postthrombotisches Syndrom J Clin Oncol 2006;24:1404-8 ZVK-assoziierte Thrombose: NCCN-Leitlinie 2009 ZVK erforderlich, keine Kontraindikationen gegen AK => Antikoagulation; nach ZVK-Entfernung weitere ≥ 3 Monate Bei Persistenz der Thrombosesymptomatik => ZVK entfernen, ≥ 3 Monate anschließend AK KI gegen AK => ZVK entfernen (cave Emboliegefahr) ZVK nicht erforderlich => ZVK entfernen, ≥ 3 Monate AK www.nccn.org Mikrobielle Besiedelung und Risiko Katheter-assoziierter Thrombosen bei 105 onkologischen Patienten * *) ≥2 positive Kulturen aus der ZVK-Spülflüssigkeit hintereinander Van Rooden CJ et al (Leiden, NL), J Clin Oncol 2005;23:2655-60 Besseres Gesamtüberleben durch prophylaktische Heparinisierung? Besseres Gesamtüberleben durch prophylaktische Heparinisierung? 5000 IU Dalteparin sc für 1 Jahr vs Placebo Kakkar AK et al (London; FAMOUS Study Group), J Clin Oncol 2004;22:1944-8 Beispiel Pankreaskarzinom: Enoxaparin (1 mg/kg/d für 3 Mo, dann 40 mg/d) vs Kontrolle Blutungen 2,6% (Placebo) vs. 3,8% (Enoxaparin) n.s. Mediane Nachbeobachtung 45.44 Mo: TTP (O: 5.42 Mo; E: 5.03 Mo; p = 0.941) und OS (O: 7.98 Mo; E: 8.28 Mo; p = 0.501) nicht unterschiedlich Riess H et al (CONKO-4), J Clin Oncol 2010; 28(15 Suppl):4033 Andere Meinungen Zwei Metaanalysen aller klinischen Untersuchungen aus den 1990er-Jahren, bei denen die Effektivität von NMH gegenüber UFH bei der Behandlung der VTE geprüft wurde Reduktion der Mortalität nach drei Monaten bei allen Patienten, die NMH erhalten hatten. Der Benefit war bei onkologischen Patienten besonders ausgeprägt und konnte nicht durch eine Senkung der Inzidenz tödlicher Lungenembolien oder Blutungsereignisse erklärt werden. Siragusa, S., et al., Low-molecular-weight heparin and unfractionated heparin in the treatment of patients with acute venous thromboembolism: result of a meta-analysis. Am. J. Med. 100 (1996) 269-277. Hettiarachi, R. J., et al., Do heparins do more than just treat thrombosis? The influence of heparins on cancer spread. Thromb. Haemost. 82 (1999) 947-952. Andere Meinungen „Heparin has a survival benefit in cancer patients in general, and in patients with limited small cell lung cancer in particular. Heparin might be particularly beneficial in cancer patients with limited cancer or a longer life expectancy.“ Heparine scheinen eher die Bildung von Metastasen als das Fortschreiten des Primärtumors zu beeinflussen Akl EA et al (Cochrane Review), J Exp Clin Cancer Res 2008;27:1-22 „Der Einfluß von Antikoagulanzien auf das Überleben von Tumorpatienten muss weiter untersucht werden, die generelle Gabe kann nicht empfohlen werden.“ Lyman GH et al (ASCO), J Clin Oncol 2007;25:5490-505 Prophylaxe… Antikoagulation bei Tumorpatienten: SubstanzAuswahl Khorana AA, Ann Oncol 2009;20:1619-30