Zur Islamischen Charta des Zentralrats der Muslime in

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"Islamische Charta" des Zentralrats der Muslime in Deutschland
Zur Islamischen Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben der Diskussion über die Stellung des Islam im Allgemeinen und besonders der Muslime hierzulande zu den Werten der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung verstärkte Bedeutung zugemessen. Mit einer als "Islamische Charta" bezeichneten
Grundsatzerklärung hat der 'Zentralrat der Muslime' (ZMD) versucht, die eigene Position in Bezug auf
die deutsche Verfassungsordnung zu klären. Dieses Bemühen ist grundsätzlich zu begrüßen, wenngleich die Charta – um es bereits vorweg zu sagen – zu unkonkret ist und der ZMD bei zahlreichen
Punkten genauer darlegen muss, was er tatsächlich meint.
Die "Islamische Charta" ist im Februar 2002 verabschiedet und kurz darauf in der Bundespressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Mit dieser Grundsatzerklärung will der ZMD ein besseres
Verständnis für die Lage der Muslime in Deutschland ermöglichen und eine fundierte Grundposition
für den weiteren Dialog mit der deutschen Öffentlichkeit darlegen.
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland
Der ZMD ging 1994 aus dem 'Islamischen Arbeitskreis Deutschland' hervor. In den Anfangsjahren
waren in den im ZMD zusammengeschlossenen Vereinen etwa 30.000 Muslime organisiert. Nachdem
im Jahre 2000 der 'Verband der Islamischen Kulturzentren' (VIKZ) aus dem ZMD ausgetreten ist, werden von den verbliebenen Vereinen nur noch etwa 10.000 - 15.000 Muslime vertreten. Bei insgesamt
3,2 Millionen Muslimen in Deutschland stellt der ZMD eine eher unbedeutende Größe dar.
Unter den derzeit 19 Mitgliedsvereinen des ZMD sind neun islamistische Organisationen bzw. Institutionen
von denen acht der 'Muslimbruderschaft' (MB) zuzurechnen sind. Der Sprecher des ZMD ist Mitbegründer
und langjähriger Funktionär des 'Islamischen Zentrums Aachen', das von dem damaligen Führer der syrischen
'Muslimbruderschaft' Prof. Issam El-Attar gegründet wurde.
Der ZMD wurde – wie andere organisationsübergreifende islamische Spitzenverbände – mit dem Ziel
gegründet, eine gemeinsame Vertretung islamischer Vereine zu schaffen, um Körperschaftsrechte
als Religionsgemeinschaft zu erlangen.
Bewertung der "Islamischen Charta"
In den insgesamt 21 Thesen der "Islamischen Charta"
·
werden grundsätzliche Aussagen zum Islam, zum Glauben und ethischen und moralischen
Prinzipien gemacht (Thesen 1 - 9);
·
werden allgemeine Grundsätze zum Verhältnis von Muslimen in der Diaspora zur Mehrheitsgesellschaft entwickelt (Thesen 10 - 15), die mögliche Befürchtungen der Mehrheitsgesellschaft, dass eine Unvereinbarkeit mit der deutschen Verfassungsordnung bestehen könnte,
zerstreuen sollen;
·
werden die Rolle, die der ZMD im Bemühen um eine friedliche Koexistenz von Muslimen und
Nicht-Muslimen spielen will und die Frage, wie er sich selbst verortet, behandelt. Hierbei werden Versicherungen abgegeben und Schlüsselbegriffe aus dem öffentlichen Diskurs in der
Mehrheitsgesellschaft eingebracht, offenbar, um eine Nähe zu dieser herzustellen und Differenzen nicht aufscheinen zu lassen (These 16 - 21).
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Die Thesen 10-15
Im Mittelpunkt des Interesses stehen aus Sicht des Verfassungsschutzes die Thesen 10 bis 15. Diese
werden daher ausführlich diskutiert und bewertet.
These 10: "Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora"
Diese These formuliert eine rechtliche Position, durch die es Muslimen möglich sein soll, "sich in jedem beliebigen Land" aufzuhalten, "solange sie ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können".
Diese rechtliche Position wird folgendermaßen erläutert: "Das islamische Recht verpflichtet Muslime in
der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen
Minderheit einzuhalten sind."
Was heißt dies genau? Mit "islamischem Recht" ist nichts anderes als die Scharia gemeint, deren
Erwähnung hier vom ZMD vermutlich bewusst unterlassen wurde, da sie bei Nicht-Muslimen häufig
negative Assoziationen weckt.
Demnach ist es die übergeordnete, quasi "universelle" Scharia, die nach Ansicht des ZMD die Muslime verpflichtet, sich außerhalb des islamischen Gebietes an die jeweilige, hier: deutsche, Rechtsordnung zu halten. Es ist nicht die "lokale" Rechtsordnung, die eigene Verbindlichkeit beanspruchen
kann. Die Scharia steht über jeder anderen Rechtsordnung, sie kann aber unter bestimmten Umständen ermöglichen, dass eine "lokale" Rechtsordnung (zumindest zeitweilig) befolgt wird. Zu diesen
Umständen zählen "Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung", die als "Verträge"
qualifiziert werden. Was aber, wenn Muslime einen solchen "Vertrag" gar nicht eingehen, weil sie zum
Beispiel nicht legal eingereist oder als Deutsche geboren sind? Eine solche schariarechtliche Konstruktion der grundsätzlichen Anerkennung des "lokalen" Rechts aufgrund eines schariagemäßen
"Vertrages", kann nicht befriedigen. Sie ist nur dann vertretbar, wenn Muslime sich nur vorübergehend
in Deutschland aufhalten.
Muslime leben heute in größerer Zahl aber nicht vorübergehend sondern auf Dauer in Deutschland.
Deshalb kommt dem Spannungsverhältnis zwischen der Scharia und der säkularen deutschen
Rechtsordnung besondere Bedeutung zu. Die hier dargelegte Vorstellung eines – schariagemäßen –
"Vertrages" ist der Dreh- und Angelpunkt für alle weiteren Thesen, denn alle Bekenntnisse zur deutschen Rechtsordnung stehen unter dem Vorbehalt, dass die Vertragskonstruktion gültig ist. Wir werden am Schluss der Bewertung noch einmal auf dieses Thema zurückkommen.
These 11: "Muslime bejahen die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche
und demokratische Grundordnung"
Unter Bezugnahme auf den in der These 10 entwickelten Vertragsgedanken bejaht der ZMD Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit dem dazugehörenden Parteienpluralismus, die
Religionsfreiheit sowie das aktive und passive Wahlrecht der Frau.
Warum das Wahlrecht der Frauen hier explizit erwähnt wird, ist nicht klar. Wahlrecht und Wählbarkeit
von Frauen gibt es auch in islamischen Ländern. Es wirkt deshalb zufällig, wenn das Wahlrecht der
Frauen in dieser These ausdrücklich angesprochen wird. Möglicherweise versucht der ZMD so zu
überspielen, dass er sich zur Gleichberechtigung der Frauen in einem westlichen Verständnis nicht
eindeutig bekennt.
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Die Thesen und Erklärungen des ZMD sind oft unklar und schwammig. Sie fordern zu Interpretationen
heraus, wie sie tatsächlich zu verstehen sind beziehungsweise warum der ZMD nicht eindeutiger formuliert hat.
Das Bekenntnis zur Religionsfreiheit ist eine positive Ausnahme von den so oft unverbindlich bleibenden Aussagen. Es heißt dort: "Daher akzeptieren sie [die Muslime des ZMD] auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung und jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens." Dies ist eine eindeutige Stellungnahme gegen die oft gesehene Praxis in der islamischen Welt, Apostasie (Abfall vom Glauben) unter Strafe zu stellen, sogar mit dem Tode zu ahnden. Diese Aussage stützt sich nicht nur auf die Vertragskonstruktion, sondern wird mit dem Koran untermauert, indem man sich auf den Vers: "lâ ikrâha fî d-dîn"
(In der Religion gibt es keinen Zwang; Koran, 2:256) bezieht.
Allerdings steht auch dieses deutliche Bekenntnis zur Religionsfreiheit unter einem Vorbehalt, da in
der 14. These der "vom Koran anerkannte religiöse Pluralismus" bejaht wird. Dieser kann – je nach
Interpretation des Koran – eingeschränkt sein (vgl. These 14).
These 12: "Wir zielen nicht auf Herstellung eines klerikalen ‚Gottesstaates’ ab"
Die Zielrichtung dieser Aussage ist in zweierlei Hinsicht unscharf: Der Begriff "Gottesstaat" hat ebenso
wie "klerikal" einen ausgesprochen christlichen Hintergrund. Beide Wörter sind daher im Hinblick auf
das, was Islamisten anstreben, unpassend. Dennoch wird vor allem "Gottesstaat" in den Medien ständig und fast ausschließlich in Bezug auf den Islam und/oder Islamismus gebraucht, was den ZMD
veranlasst haben mag, diesen Begriff zu übernehmen.
Eine derartige Lesart ist aber aus islamischer Sicht verfehlt. Islamisten selbst sprechen vielmehr von
"hâkimîyatu’llâh", der Herrschaft Gottes, die es durchzusetzen gelte. Insofern könnte auch jeder Islamist mit Fug und Recht behaupten, einen "Gottesstaat" gar nicht anzustreben, schon gar keinen klerikalen.
Lediglich im schiitischen Islam, könnte man – mit Einschränkungen – von einer klerikalen Hierarchie
unter den Gelehrten sprechen. Man kann daher den Zusatz "klerikal" als Absage an das iranische
Modell einer islamischen Republik verstehen, die sich auf Theologen und deren Fähigkeiten zur Auslegung der Offenbarung stützt. Eine fundamentalistisch-islamistisch begründete "Herrschaft Gottes",
die bestrebt ist, das geoffenbarte Wort buchstabengetreu umzusetzen, ist mit der vom ZMD gewählten
Formulierung jedoch nicht eindeutig ausgeschlossen.
Insofern bleibt auch das Bekenntnis des ZMD zum "System der Bundesrepublik Deutschland, in dem
Staat und Religion harmonisch aufeinander bezogen sind" undeutlich, da nicht die dem deutschen
Verfassungssystem eigene Trennung von Staat und Kirche betont wird, sondern eine harmonische
Beziehung, deren Ausgestaltung nicht erläutert wird.
These 13: "Es besteht kein Widerspruch zwischen der islamischen Lehre und dem Kernbestand
der Menschenrechte"
Bezüglich der Menschenrechte wird festgestellt, dass "zwischen den im Koran verankerten, von Gott
gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung (...) kein
Widerspruch" bestehe. Der ZMD legt weder dar, auf welche gottgewährten Individualrechte er sich
bezieht noch, was ihm als "Kernbestand" der westlichen Menschenrechte gilt.
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Zum Grund und Umfang der hier vorgenommenen Einschränkungen muss sich der ZMD erklären.
In Bezug auf Ehe- und Erbrecht heißt es: "Das Islamische Recht gebietet, Gleiches gleich zu behandeln, und erlaubt, Ungleiches ungleich zu behandeln." Zunächst scheint dieser Satz unverfänglich zu
sein; die Frage ist jedoch, was gilt als ungleich? Da zum Beispiel Männer und Frauen nach der Scharia als ungleich gelten, sind sie auch unterschiedlich zu behandeln. Damit es dadurch nicht zum Konflikt mit der deutschen Rechtsordnung kommt, wird die oben genannte Vertragskonstruktion bemüht:
"Das Gebot des islamischen Rechts, die jeweilige lokale Rechtsordnung anzuerkennen, schließt die
Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb- und Prozessrechts ein." Der Konflikt zwischen der Scharia
und der deutschen Rechtsordnung wird vom ZMD nicht durch eine zeitgemäße Interpretation der islamischen Rechtsquellen (dem Koran und den Überlieferungen des Propheten) gelöst, sondern mittels
der genannten Vertragskonstruktion umgangen.
These 14: "Vom jüdisch-christlich-islamischen Erbe und der Aufklärung geprägt"
Zur Erläuterung dieser These verweist der ZMD auf die gemeinsamen geistesgeschichtlichen Wurzeln
und stellt fest, dass "die europäische Kultur (...) vom klassisch griechisch-römischen sowie jüdischchristlich-islamischen Erbe und der Aufklärung geprägt" sei. Ferner wird die Behauptung aufgestellt,
die europäische Kultur sei "ganz wesentlich von der islamischen Philosophie und Zivilisation
beeinflusst". Damit wird die europäische Kultur quasi zu einer Ausformung der islamischen umgedeutet. Sicher haben beide gerade in den Ursprüngen vieles gemeinsam, im Lauf der Geschichte kam es
zu wechselseitigen Beeinflussungen, und während des europäischen Mittelalters kamen zweifellos
aus dem islamischen Orient entscheidende Anregungen. Über Jahrhunderte haben sich aber die europäische und islamische Kultur verschieden entwickelt, so dass die Gesellschaften in der islamischen
Welt und in Europa heute große Unterschiede aufweisen.
Der ZMD ist hier bemüht, die zweifellos vorhandenen Gemeinsamkeiten herauszustellen. Er verkennt
und überdeckt dabei jedoch die unterschiedlichen Entwicklungen und die aus der Unterschiedlichkeit
resultierenden Probleme im gegenseitigen Verständnis, gerade auch im Hinblick auf die Aufklärung,
die im Abendland, nicht aber im islamischen Raum, zu von religiöser Autorität freien Denkstrukturen
geführt hat.
Es heißt weiter, dass "auch im heutigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne (...) Muslime
einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen leisten" wollen. Dadurch wird suggeriert, die
Muslime hätten früher bei der Bewältigung von Krisen im Abendland einen Beitrag zu ihrer Bewältigung geleistet, was ohne nähere Erklärung jedoch nicht nachvollziehbar ist. Auf die heutige Zeit bezogen wird hinzugefügt: "Dazu zählen u.a. die Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus, die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Chauvinismus sowie die gesunde Lebensweise
einer Gemeinschaft, die jede Art von Süchtigkeit ablehnt."
Was den religiösen Pluralismus angeht, so besteht zwischen der islamisch-koranischen und der modernen westlichen Vorstellung eine Diskrepanz. Im Koran werden die jüdische und christliche Religion
ausdrücklich erwähnt. Sie werden toleriert, weil sie so genannte "Schriftbesitzer" (Religionen mit einer
schriftlichen Überlieferung) sind. Im Verlauf der Geschichte wurden weitere Religionsgemeinschaften
als Schriftbesitzer angesehen und damit toleriert, auch wenn sie nicht ausdrücklich im Koran erwähnt
werden. Dies zeigt, dass der Islam durchaus Spielraum für Interpretationen lässt. Wenn der ZMD in
These 11 das Recht akzeptiert, "gar keine Religion zu haben", hier aber den "vom Koran anerkannten
religiösen Pluralismus" bejaht, bleibt mindestens unklar, ob nach Auffassung des ZMD beispielsweise
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"Islamische Charta" des Zentralrats der Muslime in Deutschland
auch bekennende Atheisten oder Naturreligionen in diesem religiösen Pluralismus einen gleichberechtigten Platz haben.
Rassismus und nationaler Chauvinismus kommen auch in der islamischen Welt vor. Man kann jedoch
mit Recht feststellen, dass Beides islamischen Religionsprinzipien – egal welcher Ausrichtung – vollkommen zuwiderläuft.
Wenn "die gesunde Lebensweise einer Gemeinschaft, die jede Art von Süchtigkeit ablehnt" bejaht
wird, so muss man fragen, was mit "gesunder Lebensweise" und "Süchtigkeit" gemeint ist. Vordergründig kann dieser Aussage wohl jeder zustimmen. Aber manche Muslime, insbesondere islamistische, sehen gerade in der westlichen Gesellschaft und Lebensform an sich eine ungesunde Lebensweise, die die Menschen zur Sucht (Alkohol, Drogen, übertriebener Konsum aller Art) verleitet. Es liegt
nahe, gerade hier den entscheidenden "Beitrag zur Bewältigung von Krisen", den die Muslime laut
ZMD leisten wollen, zu sehen. Dem entspricht auch die von Islamisten dem Westen vorgehaltene
"materialistische Ausrichtung", die in einen Gegensatz zur "ideellen Werteorientierung" des Islam gestellt wird.
These 15: "Die Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa ist notwendig"
Diese These könnte als Wunsch verstanden werden, einen Euro-Islam herauszubilden, also eine europäisch-islamische Identität, in der abendländische und morgenländische Traditionen zusammengeführt werden. Diese Synthese könnte ebenso mit der abendländischen Kultur wie mit dem Islam und
den Verfassungsordnungen in der Europäischen Union im Einklang steht.
Unter einer "muslimischen Identität in Europa" kann jedoch auch das Gegenteil verstanden werden,
nämlich eine Identität, die zwar in Europa herausgebildet wird, aber die abendländischen Werte wie
Demokratie, Parteienpluralismus oder die Gleichberechtigung der Geschlechter und vieles mehr außer
Acht lässt, und sich stattdessen an Strömungen in der islamischen Welt orientiert, die diesen Werten
ablehnend gegenüberstehen. Wie bei anderen Aussagen, fehlt auch hier wieder die Eindeutigkeit.
Weiter heißt es unter diesem Punkt: "Der Koran fordert den Menschen immer wieder dazu auf, von
seiner Vernunft und Beobachtungsgabe Gebrauch zu machen. In diesem Sinne ist die islamische
Lehre aufklärerisch und blieb von ernsthaften Konflikten zwischen Religion und Naturwissenschaft
verschont." So konfliktfrei, wie hier dargestellt, war das Verhältnis von islamischer Lehre, verkörpert
durch die Religionsgelehrten, und den Naturwissenschaften jedoch keineswegs. Die "Vernunft" (caql)
ist zwar ein im islamischen Denken wichtiger und häufig verwendeter Begriff, aber der Bezugspunkt
dabei bleibt immer die Religion, der Islam. Der Gebrauch der Vernunft bleibt deshalb immer von religiös begründeten Schranken begrenzt. Insofern ist die Behauptung, dass die "islamische Lehre aufklärerisch" sei, durchaus infrage zu stellen.
Es gibt eine Reihe von Ansätzen, in denen muslimische Denker auf islamischer Grundlage einen Prozess der geistigen Bewegung in die Richtung, in die das christliche Europa durch die Aufklärung gegangen ist, angestoßen und fortgeschrieben haben. Bislang ist für die Öffentlichkeit jedoch nicht erkennbar, dass der ZMD solche Ansätze aufgegriffen oder sich gar eindeutig zu ihnen bekannt hätte.
Weiter heißt es: "Im Einklang damit fördern wir ein zeitgenössisches Verständnis der islamischen
Quellen, welches dem Hintergrund der neuzeitlichen Lebensproblematik und der Herausbildung einer
eigenen muslimischen Identität in Europa Rechnung trägt." Es ist oben bereits ausgeführt worden,
dass die angestrebte "eigene muslimische Identität" durchaus im Gegensatz zur westlichen Gesell5/8
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schafts- und Werteordnung stehen kann. Darüber hinaus ist keineswegs zweifelsfrei, was mit einem
"zeitgenössischen Verständnis der islamischen Quellen" gemeint ist. Angesichts der Realitäten in
manchen islamischen Ländern wären unmissverständliche Worte angebracht gewesen. Die Anwendung von Körperstrafen beispielsweise in Saudi-Arabien und die Versuche in Nord-Nigeria Frauen, die
uneheliche Kinder zur Welt gebracht haben, unter Berufung auf die Scharia zu steinigen, erregten in
der Deutschen Öffentlichkeit großes Aufsehen. Auch diese Vorkommnisse sind im wörtlichen Sinne
"zeitgenössisch", und sie prägen das Bild vom Islam. Klare und unmissverständliche Aussagen hierzu
wären deshalb sicher hilfreicher als wohlformulierte Sätze, die so allgemein gehalten sind, dass sowohl ein dem Islam kritisch gegenüberstehender Nicht-Muslim sie ebenso bejahen könnte, wie ein
islamistischer Fundamentalist.
Die Thesen 16 - 21
In diesen Thesen beschäftigt sich der ZMD mit der Rolle, die er sich selbst zuschreibt. Zunächst hält
der ZMD fest: "Deutschland ist der Mittelpunkt unseres Interesses und unserer Aktivitäten" (These 16).
Gleichzeitig soll "die Verbindung mit der islamischen Welt" nicht vernachlässigt werden. Er sieht eine
seiner wichtigsten Aufgaben darin, im Dialog zum "Abbau von Vorurteilen durch Transparenz (und)
Öffnung" (These 17) beizutragen.
Offenheit und Transparenz sind in der Tat unabdingbare Voraussetzungen für einen erfolgreichen
Dialog. Die Erläuterungen zu den Thesen 10 bis 15 zeigen, dass der ZMD seinen eigenen Anspruch
bisher nicht eingelöst hat. Bestehende Unterschiede wurden unter mehrdeutigen Formulierungen verdeckt, die religiös-ideologischen Voraussetzungen nicht offengelegt.
Unter der These "Wir sind der gesamten Gesellschaft verpflichtet" bietet der ZMD an, einen Beitrag zu
Toleranz, Ethik, Umwelt- und Tierschutz leisten zu wollen. Er versteht sich als Partner im Kampf gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus und Gewalt. Diese Themen werden
ohne weitere Erläuterung erwähnt; oft ist nicht einmal klar, welchen Bezug sie zum Islam haben. Bei
manchen Stichworten wird es ein Nicht-Muslim sicherlich sogar als befremdlich empfinden, wenn sie
hier ohne weiteres für den Islam reklamiert werden, z.B.: Tierschutz (Stichwort Schächten), Kampf
gegen Sexismus (Stichwort Patriarchat) und Gewalt (Stichwort Dschihad und Terrorismus).
Nach eigenem Bekunden strebt der ZMD die "Integration unter Bewahrung der islamischen Identität"
(These 19) an. Wie weit die Integration gehen soll und was als islamische Identität bewahrt werden
soll, wird nicht dargelegt. Konkrete Hinweise finden sich allenfalls in der These 20. Hier werden die
Anliegen aufgeführt, die für das Leben der Muslime in Deutschland jenseits aller Absichtserklärungen
und Beteuerungen eine ganz praktische Bedeutung haben. Für den ZMD ist die Umsetzung dieser
Forderungen die Voraussetzung für eine "würdige muslimische Lebensweise im Rahmen des Grundgesetzes und des geltenden Rechts". Die elf aufgeführten Forderungen, die von der Einrichtung islamischer Friedhöfe über Einführung eines deutschsprachigen islamischen Religionsunterrichtes bis
zum lautsprecherverstärkten Gebetsruf reichen, sind grundsätzlich sicherlich berechtigt. Im einzelnen
müsste jedoch bei der Umsetzung auf die kulturelle Prägung der Mehrheitsgesellschaft, sowie rechtliche und pragmatische Gesichtspunkte Rücksicht genommen werden.
In der These 21 werden die Parteien abschließend indirekt ermahnt, sich für die Muslime einzusetzen:
"Die wahlberechtigten Muslime werden für diejenigen Kandidaten stimmen, welche sich für ihre Rechte und Ziele am stärksten einsetzen und für den Islam das größte Verständnis zeigen". Solcherart
Wahlempfehlung werden bei den deutschen Muslimen nicht verfangen.
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Abschließende Feststellungen
Mit der "Islamischen Charta" ist es dem ZMD nicht gelungen, die nötige Klarheit zu bringen. Die Fragwürdigkeiten in den Positionen der ZMD werden vielmehr hinter vordergründig unproblematischen
Formulierungen versteckt. Dennoch kann sich der ZMD das Verdienst anrechnen, mit dieser Charta
zumindest eine dringend notwendige Diskussion sowohl innerhalb der Muslime als auch zwischen
Muslimen und Nicht-Muslimen angeregt zu haben.
Für die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen der Scharia und der deutschen Rechtsordnung, ist
es wichtig, folgendes festzuhalten: Die Scharia ist eine Rechts- und Lebensordnung. Sie regelt die
Rechte und Pflichten zwischen den Menschen (Recht), und sie beschreibt die Pflichten des Menschen
gegenüber Gott (Kultus). Sie ist damit integraler Bestandteil der Religion. Die Muslime können sie
weder beiseite schieben, noch jene Passagen aus dem Koran streichen, die auf den ersten Blick mit
dem Grundgesetz unvereinbar erscheinen. Das Spannungsverhältnis ist jedoch lösbar, denn die
Scharia ist auslegbar.
Bei einer fundamentalistischen Herangehensweise werden die Grundlagen der Scharia, nämlich der
Koran und die Überlieferungen des Propheten, wörtlich verstanden und rigide umgesetzt, also möglichst nicht interpretiert. Solche Tendenzen haben sich in den letzten Jahrzehnten in der islamischen
Welt verstärkt. Sie sind in den Medien stark präsent und prägen das Bild vom Islam und der Scharia in
der deutschen Öffentlichkeit negativ. Tatsächlich wäre eine derartige Umsetzung der Scharia mit der
deutschen Verfassungsordnung nicht vereinbar. Solchen Tendenzen muss entgegengewirkt werden.
Demgegenüber existieren aber auch andere Strömungen, bis hin zu sehr liberalen, die vor allem den
"Geist" der Offenbarung im Koran ihrem Verständnis von der Scharia zugrunde legen. Die Vereinbarkeit von deutscher Rechts- und Verfassungsordnung und Scharia ist deshalb - bei entsprechender
Auslegung - durchaus möglich.
Wenn also, wie hier in der Charta geschehen, unausgesprochen die Scharia hinter den eloquenten
aber mehrdeutigen Formulierungen hervorscheint, ist ein genaueres Hinsehen geboten. Welche Interpretation der Scharia vertritt der ZMD? Hierüber muss Klarheit geschaffen werden. Ein Bekenntnis zur
freiheitlichen demokratischen Grundordnung allein reicht nicht aus, wenn nicht gleichzeitig die Scharia
von den Muslimen so fortentwickelt und interpretiert wird, dass diese nicht die Möglichkeit offen lässt,
dass sie der deutschen Verfassungsordnung widerspricht. Es versteht sich von selbst, dass es keine
fundamentalistische Auffassung von Scharia sein kann. Liberale Muslime wissen dies und haben sich
lange vor dem 11. September 2001 entsprechend geäußert.
Eine Diskussion über die Vereinbarkeit von Scharia und Verfassungsordnung müsste freilich in einem
umfassenderen Rahmen als nur vom ZMD geführt werden und möglichst viele Muslime einbeziehen.
Leider wird aber dieses allen Dialogen und Diskussionen zugrunde liegende Problem in der Charta
gar nicht angesprochen und keine Richtung gewiesen, in der die Überlegungen seitens der Muslime
weiter gehen könnten.
Vielmehr scheint hier der Versuch unternommen worden zu sein, die essentielle Problematik zwischen
der Verfassungsordnung und der Scharia durch mehrdeutige Formulierungen zu überdecken. Mit
halbherzigen - weil auch ganz anders auslegbaren - Zugeständnissen an westliche Sichtweisen und
einem – unter Vorbehalt stehenden - Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung
kann der Verdacht, dass letztendlich doch eine ganz andere Gesellschaftsordnung angestrebt wird,
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die hier bewusst verschleiert werden soll, nicht ausgeräumt werden! Tragfähige Anstrengungen, tatsächlich "ein zeitgenössisches Verständnis der islamischen Quellen, welches dem Hintergrund der
neuzeitlichen Lebensproblematik und der Herausbildung einer eigenen" europäischen Identität von
Muslimen "Rechnung trägt", zu entwickeln, sind weitgehend nicht erkennbar.
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