Rudolstädter naturhistorische Schriften 19, 3 – 14 Juni 2014 Alfred Russel Wallace im Malayischen Archipel: Von der Entdeckung der natürlichen Selektion zum Naturschutz Ulrich Kutschera* Mit 6 Abbildungen Zusammenfassung Wäre Charles Darwin (1809 – 1882) während seiner fünfjährigen Weltreise ums Leben gekommen, so würden wir heute Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) als den Urvater des Prinzips der natürlichen Selektion würdigen und möglicherweise vom »Wallaceismus« sprechen. Wallace, der mit 14 Jahren die Schule verlassen musste, um als Landvermesser sein Geld zu verdienen und keine Universität besuchen konnte, war Autodidakt. Nach Forschungsreisen (Amazonas-Region: 1848 – 1852; Südost-Asien: 1854 – 1862), war Wallace als freiberuflicher Schriftsteller in England tätig. Seine Beiträge zur Systematik (er entdeckte und beschrieb zahlreiche Tierarten), Evolutionsbiologie, Zoo-Geographie, Anthropologie und anderer Gebiete sind in seinen 22 Büchern und ca. 700 Publikationen zusammengefasst. In zwei Artikeln (Sarawak-Paper; Ternate-Essay), verfasst 1855 und 1858 im Malayischen Archipel, beschrieb Wallace seine Theorie der Evolution durch natürliche Auslese. Er entdeckte das Naturgesetz unabhängig von Darwin, akzeptierte die Priorität seines älteren Kollegen und blieb daher zeitlebens im Schatten von Darwin, bis 2008 der Begriff »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen Selektion« eingeführt wurde. Im Gegensatz zu Darwin warnte Wallace vor Umweltzerstörungen in den tropischen Waldregionen. Er gilt daher als Mitbegründer der Naturschutzbewegung des 20. Jahrhunderts. Kesimpulan Keberadaan Alfred Russel Wallace di Nusantara Dari penemuan seleksi alami sampai ke pelestarian alam Seandainya (1809 – 1882) meninggal sedang perjalananya keliling dunia, pasti kita hormati Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) sebagai penemu seleksi alami, dan mungkin kita berbicara tentang »Wallaceisme«. Waktu berumur 14 tahun dia harus meninggalkan sekolah dan terpaksa bekerja sebagai pengukur tanah untuk mencari nafkah. Sebagai autodidak dia tidak pernah berkuliah di universitas. Setelah menjalankan perjalanan riset ke Amerika ke daerah Amazon (1848 – 1852) dan Asia Tenggara (1854 – 1862) Wallace berusaha sediri sebagai pengarang bebas. Kontribusinya di bidang sistematik (banyak spesies baru dideskripsinya), biologi evolusi, zoogeografi, antropolgi dan bidang lain terdapat dalam 22 buku dan kira-kira 700 publikasi lain. Di dalam dua artikel (dinamai Sarawak-paper dan Ternate-Essay), yang dikarang pada tahun 1855 dan 1858 di Nusanatara, Wallace menguraikan teorinya tentang evolusi lewat seleksi alami, Dia menemukan hukum alam itu terlepas dari Darwin, tetapi mengakui prioritas koleganya yang lebih tua sehinggi dia selama hidup kurang dapat perhatian dibandingkan dengan Darwin. Baru pada tahun 2088 istilah »Prinsip Darwin-Wallace tentang seleksi alami« dilazimkan. Lain dari Darwin Wallace menperingkatkan manusia akan bahaya perusakan lingkungen dalam daerah hutan tropis. Karena itu dia dianggap salah satu dari pendiri gerakan pelestarian alam di abad yang keduapuluh. * Prof. Dr. U. Kutschera, Institut für Biologie der Universität Kassel, Heinrich-Plett-Str. 40, D-34132 Kassel, Germany; Tel.: 0561 - 804 - 4467, Fax: 0561 - 804 - 4009, E-Mail: [email protected], Website: http://www.uni-kassel.de/fb19/plantphysiology/ 4 U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz Summary Alfred Russel Wallace in the Malay Archipelago: From the discovery of natural selection to nature conservation If Charles Darwin (1809 – 1882) had died on his five-year journey around the world we would today be honouring Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) as the founder of the principle of evolution by natural selection, and we would therefore speak of »Wallaceism«. Wallace, who had to leave school aged 14 in order to earn money as a land surveyor and was unable to attend university, was completely self-educated. After extensive expeditions (Amazon, 1848 – 1852; Southeast Asia, 1854 – 1862), Wallace lived as a freelance writer in England. His contributions to systematics (he discovered and described many new animal species), evolutionary biology, zoogeography, anthropology and other branches of the life sciences are contained in his 22 books and 700 other publications. In two articles (Sarawak paper; Ternate essay), written in 1855 and 1858 in the Malay Archipelago, Wallace outlined his theory of evolution by natural selection. He discovered this law of nature independently of Charles Darwin and acknowledged the priority of his senior colleague. Therefore he remained in the shadow of Darwin until, in 2008, the term »Darwin-Wallace principle of natural selection« was introduced. In contrast to Darwin, Wallace warned of the consequences of the destruction of the tropical rainforests, and hence became one of the founders of the nature conservation movement of the 20th century. Keywords: Darwin, evolution, evolutionary biology, natural selection, Wallace, nature conservation. Einleitung Vor zwölf Jahren wurde ein Sammelband mit dem Titel Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits veröffentlicht, in dem neben dem »Titelhelden« Charles Robert Darwin (1809 – 1882) so bedeutende Naturforscher wie Carl Linnaeus (1707 – 1778), Jean Baptiste de Lamarck (1744 – 1829) und August Weismann (1834 – 1914) in Einzelkapiteln vorgestellt sind (Jahn & Schmitt 2001). Weiterhin haben die Autoren auch Spezialisten, wie Robert Lauterborn (1869 – 1952) oder Oskar Heinroth (1871 – 1945) ausführlich gewürdigt, wobei neben dem Leben der Forscher auch deren wissenschaftliche Leistungen angemessen dargestellt wurden. Ein Generalist der Biologie, den man im 19. Jahrhundert zu den bedeutendsten Wissenschaftlern seiner Generation gezählt hat (Poulton 1913), der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823 – 1913), fehlt in dieser zweibändigen Biologie-Historiographie. Der Evolutionsforscher Wallace wird lediglich im Kapitel zu Charles Darwin in wenigen Sätzen, in gewisser Weise als »Fußnote«, erwähnt. Seine eigen­ständigen wissenschaftlichen Leistungen werden jedoch in kei- nem Satz genannt (Jahn & Schmitt 2001). Auch im »Darwin-Jahr 2009« hat man Alfred R. Wallace bestenfalls als »Zweit-Entdecker der natürlichen Selektion«, meistens als Anhang zum »hoch geehrten Mr. Darwin« angeführt, ihn aber nur selten als originelle Forscherpersönlichkeit vorgestellt (Ausnahmen: s. Hoßfeld & Olsson 2009, Kutschera 2009). Im »Wallace-Jahr 2013« sind dann aber zwei deutschsprachige Bücher zu Leben und Werk des Biologen erschienen, der mit 14 Jahren die Schule verlassen musste, um seinen Lebensunterhalt als Landvermesser zu verdienen, und aufgrund der Armut seiner Eltern nie an einer Universität studieren konnte (Glaubrecht 2013, Kutschera 2013 a). Nach einer ersten Sammelexkursion nach Südamerika (Amazonas-Region), 1848 bis 1852, hielt sich Wallace (Abb. 1) von 1854 bis 1862 im Malayischen Archipel auf, das heute die Staaten Singapur, Malaysia und Indonesien umfasst. Diese Forschungsreisen im Alleingang prägten den Autodidakten nachhaltig. In diesem Beitrag sollen die Entdeckungen und Schlussfolgerungen von Wallace bezüglich des Artenwandels dargelegt werden, die im Wesentlichen während seiner Tropenreisen entstanden sind. Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014) Abb. 1. Alfred Russel Wallace (1823 – 1913), dargestellt in dem einzig erhaltenen Portrait-Foto von seiner Malaysia-Reise, Februar 1862, in Singapur. Wallace durchkreuzte den Malayischen Archipel acht Jahre lang und hielt sich immer wieder in Singapur auf, wo er u. a. Käfer sammelte, die er zum Verkauf bzw. einer wissenschaftlichen Bearbeitung nach London sandte. – Foto: nach einer historischen Aufnahme. 5 er weltberühmt. Nach seiner Rückkehr nach England (1862) war Wallace bis zu seinem Lebensende als freiberuflicher Schriftsteller, ohne feste Anstellung, tätig. In seinen 22 Büchern und über 700 Einzelpublikationen, die er als alleiniger Autor verfasst hat, behandelte der Biologe und Geograph ohne formale akademische Ausbildung Themen, die von der zoologischen Systematik (Ornithologie, Entomologie) bis zur Astrobiologie und Anthropologie reichen (Hoßfeld & Olsson 2009; Kutschera 2012, 2013 a, b). Trotz der Entdeckung bzw. der Beschreibung zahlreicher Tierarten (z. B. Wallace-Flugfrosch Rhacophorus nigropalmatus Boulenger, 1895 oder Wallace-Dschungeladler Spizaetus nanus Wallace, 1868) und der Begründung der evolutionären Zoogeographie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin ist Wallace insbesondere durch zwei theoretische Aufsätze bekannt geworden. Diese beiden Artikel hat der Wissenschaftler während seiner achtjährigen Forschungsreise im Malayischen Archipel verfasst. Sein »Sarawak Law-Paper (Sarawak-GesetzArtikel)« aus dem Jahr 1855 enthält die allgemeinen Grundlagen seiner Theorie zur ArtenTransformation, ein Prozess, den wir heute als Evolution bezeichnen. Drei Jahre später verfasste Wallace auf einer »Molukken-Insel« seinen »Ternate Essay (Ternate-Aufsatz)«, in welchem der Freilandbiologe den »struggle for existence«, d. h. den Daseinswettbewerb in der Natur, als Antriebskraft des Artenwandels vorschlug. In den nachfolgenden Abschnitten soll die Entdeckung der Arten-Transformation über natürliche Auslese beschrieben, und die Wirkung dieser beiden Aufsätze auf die Gedankenwelt von Charles Darwin dargelegt werden. Spezialist und Generalist der Biologie Das Sarawak-Gesetz und die Nashornvögel Alfred Russel Wallace war einer der vielseitigsten Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Nach seinen bereits eingangs erwähnten Forschungsreisen in das Amazonasgebiet und nach Südost-Asien, die acht Jahre dauerten, wurde Im Nordwesten von Borneo, einer Insel im südost-asiatisch gelegenen Archipel, ist der Bundesstaat Sarawak (Malaysia) lokalisiert. Sarawak ist auch als »Land der Nashornvögel (Bumi Kenyalang)« bekannt und eine besonders eindrucks- 6 U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz Abb. 2. Der Rhinozerosvogel Buceros rhinoceros, das Wappentier des Bundesstaates Sarawak (Malaysia), dargestellt auf einer Münze aus dem Jahr 1976. Abb. 3. Der Ornithologe Alfred Russel Wallace erforschte die Vogelwelt des Malayischen Archipels und war nicht nur vom Rhinozerosvogel, sondern auch von anderen Spezies, wie z. B. den »Bienen-Fressern« aus Singapur, beeindruckt. Abgebildet sind Malaienspint Merops viridis (links) und Rotbartspint Nyctyornis amictus. Die zuletzt genannte Spezies bezeichnete Wallace in seinen Notizbüchern als eine der »loveliest of Eastern birds«. Aus Wallace, A. R.: Ann. Mag. Nat. Hist. 15, 95 – 99, 1855. volle Art, der Rhinozerosvogel Buceros rhinoceros, ist das Wappentier dieses Staates (Abb. 2). Alfred Wallace hat die Nashornvögel, deren Weibchen sich in eine Bruthöhle einmauern und dann mit ihrem Jungen vom Männchen gefüttert werden, ausführlich erforscht und 1863 diese Ergebnisse publiziert (Kutschera 2013 a). In Abbildung 3 sind zwei andere tropische Vogelarten, sogenannte »Bienen-Fresser« oder Spinte der Gattungen Merops und Nyctyornis abgebildet. Wallace hat neben den Nashornvögeln auch diese Federtiere auf seinen Reisen gefangen, untersucht und als getrocknete Exportware nach England versandt. Weiterhin fing Wallace tausende verschiedener Käfer, die, über seinen Londoner Händler nach Europa gebracht, dort von Spezialisten untersucht und beschrieben worden sind (Abb. 4). In diesem Abschnitt soll auf die erste theoretische Arbeit von Wallace (1855) eingegangen werden. Im Februar 1855 vollendete der 32-jährige Wallace, der zu diesem Zeitpunkt im Staat Sarawak / Borneo lebte, einen Aufsatz, der Ende desselben Jahres im Fachjournal Annals and Magazine of Natural History veröffentlicht wurde (Wallace 1855). Obwohl der Autor über sein Studium der Werke von Charles Lyell mit den Thesen des französischen Biologen Jean Baptiste de Lamarck (Hauptwerk Philosophie Zoologique, 1809) bekannt war, nannte er diesen wichtigen Naturforscher an keiner Stelle. Im Wesentlichen ging es Wallace darum, die »Widerlegung« der Lamarck´schen Theorie einer Transformation der Arten, ausgehend von Urformen, durch Lyell (1832) zu korrigieren. Wallace war, durch das Studium der Fachliteratur und seine Naturbeobachtungen, vom Artenwandel überzeugt und wollte in diesem Aufsatz dieses Konzept eigenständig und präzise begründen. Er habe, so hob er hervor, dieses Prinzip über viele Jahre hinweg immer wieder aufs Neue überdacht und durch unabhängige Belege bestätigt gesehen. Daher lautete der Titel des Aufsatzes von Wallace wie folgt: »On Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014) Abb. 4. Zeichnungen von vier tropischen Käferarten der Gattung Stigmatium, die A. R. Wallace wenige Tage nach seiner Ankunft in Singapur gesammelt und nach London gesandt hatte. Dort wurden die »Wallace-Käfer« wissenschaftlich bearbeitet und teilweise als neue Arten beschrieben. Aus Westwood, J. O.: Proc. Zool. Soc. Lond. 23, 19 – 26, 1855. the law which has regulated the introduction of new species (Über das Gesetz, das die Einführung neuer Arten geregelt hat)«. Wallace (1855) fasste in diesem theoretischen Aufsatz zahlreiche Tatsachen aus der Geologie, Geographie und Verbreitung der Tiere zusammen. Weiterhin legte er klar, dass die zeitliche Abfolge fossil erhaltener Tiere eindeutig das Konzept des Artenwandels unterstütze. Diese Beschäftigung mit der Fossilienkunde (Paläontologie) erwuchs aus der Tatsache, dass ein bedeutender Forscher, Edward Forbes (1815-1854), in einem aktuellen Aufsatz behauptet hatte, die Fossil-Abfolgen würden keinen Beleg für eine Abstammung der Arten aus urtümlichen Lebewesen liefern. Aus den zusammengetragenen Befunden zur räumlich-zeitlichen Verbreitung der Organismen der Erde sowie seiner Interpretation paläontologischer Daten leitete Wallace sein »Sarawak-Gesetz« ab: »Every species has come into existence coincident both in space and time with a pre-existing closely allied species (Jede Art entstand in Raum und Zeit zusammenfallend mit einer verwandten Vorläufer-Art)«. Dieses Gesetz, das im Prinzip mit der Hauptaussage von Lamarck (1809) übereinstimmt, begründete Wallace unter Anführung zahlreicher unabhängiger Belege: Die geographische Verbreitung verschiedener Tiergruppen, Stammbäume zur natürlichen Klassifikation der Organismen, sowie geologische Vorgänge auf der Erdoberfläche, wie Kontinentalveränderungen in vertikaler Position, die Bildung von Gebirgen, Inseln, Tiefseegräben usw. Da Lyell (1832) die naturalistischen Thesen 7 von Lamarck (1809) durch theistische Konzepte ersetzen wollte (unabhängige Erschaffungen von Artengruppen), ging es Wallace (1855) u. a. darum, die von ihm zusammengetragenen Fakten ohne Verweis auf übernatürliche Faktoren zu interpretieren. Besonders hervorzuheben ist eine Idee, die Wallace (1855) beiläufig erwähnt: Alle Lebewesen wären seiner Ansicht nach als komplexes, sich immer mehr verzweigendes System einzelner Abstammungslinien zu interpretieren, wobei der Autor auf die Äste einer alten, verwachsenen Eiche verweist. Wallace (1855) erwähnt auch hypothetische Urformen aller Organismen der Erde, ein Konzept, welches in der Regel Charles Darwin zugeschrieben wird. Mit seiner Eichen-Analogie nahm Wallace (1855) das von Darwin (1859) eingeführte Konzept eines hypothetischen »Baum des Lebens (Tree of Life)« vorweg (Kutschera 2013 a). Interessanterweise geht Wallace (1855) auch auf die Galapagos-Inseln ein. Diese archaischen Meereserhebungen vulkanischen Ursprungs hatten niemals Kontakt zum südamerikanischen Festland. Sie müssen daher, wie auch andere durch derartige geologische Prozesse entstandene Inseln im Ozean, von herbei gedrifteten Organismen besiedelt worden sein (z. B. auf Baumstämmen sitzende Bodenbewohner oder durch Stürme verschlagene Vogelschwärme). Weiterhin diskutierte Wallace (1855) die rudimentären Organe beinloser Echsen und Schlangen sowie die Becken-Rudimente der Wale. Diese Organreste interpretierte der ungläubige Wallace im Sinne einer Abstammung von Vorläuferformen. Er stellt sich sinngemäß die folgende Frage: »Wären die Spezies unabhängige Einzelschöpfungen, ohne Verbindung zu Vorläuferarten, was bedeuten dann diese rudimentären Organe bzw. Nicht-Perfektionen?« Wallace (1855) beantwortet die von ihm selbst gestellte Frage wie folgt: Unter Verweis auf sein Gesetz folge eindeutig, dass lebende Arten von Vorläufer-Spezies abstammen, und das entlang kontinuierlicher, gradueller Generationen-Linien. Der Sarawak-Aufsatz von Wallace (1855) enthält somit eine Reihe von Prinzipien, die vier Jahre später von Darwin (1859) zusammenfas- 8 U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz send dargestellt worden sind: Ein langsamer, gradueller Artenwandel; die Galapagos-Inseln als Beweis für herbei gedriftete Gründerpopulationen, die neue Arten hervorbringen können; rudimentäre Organe als Belege für eine Arten-Transformation. Zusammenfassend argumentiert Wallace (1855), dass diese Tatsachen gegen unabhängige Schöpfungsakte sprechen würden, wie sie u. a. der berühmte Geologe Lyell noch 1832 angenommen hatte (in späteren Jahren wandelte sich Lyell vom gläubigen Naturforscher zum Anhänger des Darwin-Wallace’schen Evolutionsprinzips). Wie oben dargelegt, geht Wallace (1855) ausführlich auf geologische Vorgänge auf der Erdoberfläche ein und diskutierte diese physikalischen Vorgänge im Zusammenhang mit Artbildungsprozessen. Diese neuartige, die Geologie mit der Stammesentwicklung der Organismen vereinigende Interpretation fehlt in den Schriften von Darwin (1859, 1872) weitgehend. In diesem Punkt war Wallace seinem vierzehn Jahre älteren Kollegen voraus. Erst in den letzten Jahren wurde unser Bild von der Stammesentwicklung mit Bezug zur Kontinentaldrift (bzw. Platten-Tektonik) vervollständigt. Im »Darwin-Jahr 2009« wurde ein integratives »Synade-Modell« der Makroevolution formuliert (Kutschera 2009, 2011, 2013 a). Ein ähnliches Schema zur biologischen Evolution wurde bereits von Wallace (1855) in groben Zügen umrissen, obwohl damals weder von der Erdplatten-Dynamik im heutigen Sinne, noch der Symbiogenese (primäre Endosymbiose) etwas bekannt war. Ein neues Naturgesetz ohne Außenwirkung Biologiehistorische Studien haben gezeigt, dass Charles Darwin den Sarawak-Aufsatz von Wallace (1855) gekannt und sein Privatexemplar sogar mit Kommentaren versehen hatte. Dennoch war Darwin von diesem Artikel wenig beeindruckt - wir können aus heutiger Sicht sagen, er hat im Grunde diesen ersten evolutionstheoretischen Beitrag seines jüngeren Kolle- gen Wallace ignoriert. Woran lag das? Meiner Ansicht nach ist dies u. a. auf die recht allgemein gehaltene und spekulative Darstellungsweise des Autors zurückzuführen. Wallace (1855) führt kaum nachvollziehbare Beispiele an und hat somit ein wenig eindrucksvolles Manuskript publiziert (Details s. Kutschera 2013 a). Ganz anders verlief die Perzeption dieses Beitrages zur Evolution, verfasst im Malayischen Archipel, bei Darwins Freund und Kollegen, Charles Lyell. Der renommierte Geologe las den Sarawak-Artikel mehrfach und war nachhaltig beeindruckt, möglicherweise wegen der ausführlichen Darstellungen zu geologischen Veränderungen auf der Erdoberfläche. Wie aus verschiedenen Quellen zu entnehmen ist, wandelte sich Lyell u. a. unter dem Einfluss des Aufsatzes des 32-jährigen Wallace vom Evolutions-Skeptiker zum Befürworter der Arten-Transformation. Lyell hat in verschiedenen Schriften immer wieder betont, dass er sich mehr und mehr zum Vertreter der »Theorie des langsamen Artenwandels« entwickelt habe. Einige Jahre später hat er, gemeinsam mit Joseph Dalton Hooker (1817 – 1911), eine Doppel-Veröffentlichung evolutionstheoretischer Aufsätze von Wallace und Darwin vorangebracht. Diese Episode aus der Geschichte der Evolutionsbiologie ist im nächsten Abschnitt dargestellt. Der Daseinswettbewerb im Malayischen Fieberrausch Alfred Russel Wallace hat seine Lebenser­ innerungen publiziert und damit der Nachwelt tiefe Einblicke in die Entwicklung seiner biologischen Gedankenwelt hinterlassen. Wie der Autor schreibt (Wallace 1905), lebte er ab Januar 1857 für ein halbes Jahr auf der Aru-Insel südwestlich von Neu Guinea. Dort sammelte er, mit Helfern, unzählige Tiere, die er mit Gewinn in London verkaufen lassen konnte. Als Autodidakt der Biologie verfügte Wallace über ein derart breites systematisches Artenwissen, dass es für ihn kein Problem war, die verschiedensten Tiergruppen sowie Pflanzen zu klassifizie- Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014) ren. Bereits damals reifte die Idee in ihm heran, wie neue Arten, ohne »Schöpfungsakte« eines biblischen Gottes, entstehen können: Auf abgelegenen Inseln wären kleine Gruppen von Lebewesen, die dorthin gebracht worden sind, in der Lage, neue Eigenschaften zu entwickeln und dadurch abgeleitete Arten hervorzubringen. Nach eigenen Angaben hielt sich der Urwaldforscher im Januar 1858 auf der Molukken-Insel Ternate auf (andere Autoren gehen davon aus, dass Wallace auf der Gewürzinsel Gilo, heute Halmahera genannt, lebte, s. Glaubrecht 2013). Nach einer fast vierjährigen Zeit als Forschungsreisender im Malayischen Archipel lag der 35-jährige Biologe wieder einmal mit einer fiebrigen Erkrankung in seiner Palmenhütte. Während dieser Rauschzustände unter der Wirkung von Malaria-Erregern kam dem einsamen Mann im Urwald eine grandiose Idee, die unser Bild von der Lebewelt bis heute verändert hat: Wallace kombinierte das Prinzip von Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) zum Bevölkerungswachstum bei limitierenden Ressourcen (Nahrungsmittel usw.), mit dem er sich Jahre zuvor beschäftigt hatte, mit seinen Beobachtungen zur Variabilität der Tiere. Der von ihm tagtäglich beobachtete »Überlebenskampf« der Organismen im Freiland, den wir heute als Daseinswettbewerb interpretieren, kombinierte Wallace mit dem Malthus’schen Prinzip der Ressourcen-Begrenzung, verbunden mit dem lange bekannten Phänomen einer Übervermehrung sämtlicher bisher untersuchter Lebewesen der Erde. Wallace fasste seine Ideen, die er in zwei Abenden entwickelte, innerhalb kurzer Zeit zu einem zwanzig Seiten langem Manuskript zusammen, das mit der Überschrift »On the Tendency of Varieties to depart indefinitively from the Original Type (Zur Tendenz von Varietäten, unbegrenzt vom Original-Typus abzuweichen)« versehen wurde. In diesem »Ternate-Essay« steht der entscheidende Satz: »The life of wild animals is a struggle for existence (Das Leben wilder Tiere ist ein Daseinswettbewerb)«. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich hervorgehoben, dass der Begriff »struggle for existence« bereits in 9 der Malthus-Schrift von 1798 vorkommt und nicht etwa von Wallace oder Darwin geprägt worden ist (Kutschera 2008 a, 2013 a). Kurz zusammengefasst, argumentierte Wallace in seinem Ternate-Essay wie folgt. Einfache Berechnungen zeigen, dass z. B. Vögel, ausgehend von einem einzigen Pärchen und unbegrenzter Nahrung, bei ausreichendem Raum, in 15 Jahren nahezu 10 Millionen Nachkommen hinterlassen könnten - offensichtlich kommen die allermeisten Vögel um, denn die Populationen bleiben über Jahrzehnte hinweg in etwa konstant. Dieses Ausleseprinzip in der Natur beschrieb Wallace (1858) sinngemäß wie folgt: »Jene Individuen innerhalb variabler Populationen, die am besten in der Lage sind, sich Nahrung zu beschaffen, und Feinde zu vermeiden, werden überleben und Nachkommen hinterlassen […] Die am besten angepassten Individuen überleben in ihren Abkömmlingen, während die meisten Mitglieder dieser Populationen eliminiert werden.« Obwohl Wallace den Schlüsselbegriff »Natural Selection (natürliche Auslese)« nicht benutzt ist offensichtlich, dass dieser Artikel wesentliche Thesen enthält, die Darwin (1859) dann ausführlich dargelegt hat. Wallace war seit längerem darüber informiert, dass Darwin sich mit dem »Artenproblem« befasst und dazu umfassende Aufzeichnungen gesammelt hatte. Da damals jedoch der Geologe Charles Lyell bekannter war als der jüngere Darwin, und Wallace nicht ein zweites Mal einen Aufsatz ohne Wirkung in einem Fachjournal veröffentlichen wollte, sandte er sein Manuskript, von der Insel Ternate aus, an C. Darwin, mit der Bitte, diesen Text zunächst zu bewerten und ihn dann an den berühmten Geologen und Lamarck-Kritiker Lyell weiterzuleiten. Die nachfolgende Geschichte zählt zu den bekanntesten Episoden aus der Historiographie zur Evolutionsbiologie (Glaubrecht 2013, Hoßfeld & Olsson 2009, Kutschera 2003). Am 9. März 1858 ging das Wallace-Manuskript, mit Begleitschreiben, von der Molukken-Insel Ternate ab, und kam am 18. Juni 1858 im Down House (England, Grafschaft Kent) an. Charles Darwin war schockiert, da er bereits nahezu 20 10 U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz Jahre lang eine sehr ähnliche Theorie, bei ihm »Natural Selection« genannt, in Vorbereitung hatte. Darwin veranlasste zunächst die Veröffentlichung des Manuskriptes von Wallace, gemeinsam mit eigenen Text-Fragmenten, die dann kurz darauf (30. Juni 1858) im Fachjournal Proceedings of the Linnean Society London, Zoology, veröffentlicht worden sind. Die Titelseite dieser Doppel-Publikation Darwin-Wallace 1858 ist in Abbildung 5 wiedergegeben. C. Darwin war der erste Autor dieser gemeinsamen Publikation und sicherte sich damit die Priorität als Erst-Entdecker des Prinzips der Evolution durch natürliche Selektion (Darwin 1858). Alfred Wallace, der sich zu dieser Zeit im Malayischen Archipel aufhielt, erfuhr erst später von der Veröffentlichung seines Manuskripts, dessen Korrekturen er nie gelesen hatte. Wallace hat bis zu seinem Lebensende immer wieder hervorgehoben, dass er als Zweit-Entdecker des Auslesemechanismus in der Natur, heute als »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen Selektion« bezeichnet (Kutschera 2008 b; Abb. 6), zufrieden war. Da Wallace ein aufrichtiger, an der Sache interessierter und nicht eitler Naturforscher war, erkannte er zeitlebens die Priorität seines älteren Kollegen C. Darwin neidlos an. So widmete er z. B. sein erfolgreiches Buch, The Malay Archipelago (Wallace 1869) seinem verehrten Kollegen C. Darwin mit dem sinngemäßen Zusatz: »Ich widme dieses Buch Charles Darwin, dem Autor der Origin of Species, nicht nur als Zeichen persönlicher Wertschätzung und Freundschaft, sondern auch um meine tiefe Verehrung für seine Genialität und seine Werke zum Ausdruck zu bringen.« Nach diesem schockierenden Erlebnis fasste Charles Darwin seine in 20-jähriger Arbeit zusammengetragene Fakten, als »Auszug (Abstract)«, zu einem Buch zusammen, welches im November 1859 unter dem Titel On the Origin of Species im Druck erschienen ist und eine bis heute andauernde Wirkung erzielen konnte (Darwin 1859, 1872). Alfred Wallace befasste sich nach 1860 nicht mehr schwerpunktmäßig mit dem »Artenproblem«, da ihm klar war, dass dieses The- ma von C. Darwin bearbeitet wurde und somit »in den Händen« eines kompetenten und aufrichtigen Kollegen lag. Wie Costa (2013) darlegt, hatte Wallace ursprünglich geplant, ein eigenes »Artenbuch« zu verfassen, das unter dem Titel »On the organic law of change (Über das organische Gesetz der Veränderungen)« erscheinen sollte. Die Aufzeichnungen von Wallace wurden im »Wallace-Jahr 2013« editiert und veröffentlicht - sie belegen, wie nahe Wallace an der Lösung dieses »Rätsels aller Rätsel« war. Er wandte sich jedoch anderen Themen zu und wurde als Forschungsreisender, Begründer der evolutionären Zoogeographie, Pionier der Biodiversitätsforschung und anderer Gebiete weltbekannt (Glaubrecht 2013, Haffer 2007, Junker & Hoßfeld 2009, Kutschera 2009, 2013 a, 2013 b, Mayr 1988, 2001). Prinzip der natürlichen Selektion 1867 bis 1913 und der Geisterglaube Ein Grund, warum Wallace unabhängig von Charles Darwin das Naturgesetz der natürlichen Auslese entdecken und formulieren konnte war die Tatsache, dass er sich als Forschungsreisender von eingefangenen/getöteten Tieren, die er als Präparate nach England zu einem Zwischenhändler sandte, finanzieren musste. Wallace sammelte, mit Helfern, im Verlaufe dieser acht Jahre im Malayischen Archipel nach eigenen Angaben ca. 125 000 Naturalien (Insekten, Vögel, Säuger usw.), wobei er etwa 20 000 km Reisestrecke zurücklegte. Dies ist eine in der Biologiegeschichte wohl einmalige Leistung, welche den »Autodidakten der Naturforschung« über alle seine Kollegen hinaus hebt. Beim Sammeln dieser Naturobjekte (z. B. Käferarten) (Abb. 4) fiel Wallace auf, dass kein Lebewesen, innerhalb einer Population, dem nächsten gleich ist: Die biologische Variabilität ist ein Naturgesetz, das ihm während seiner Tropenreisen nahezu täglich vor Augen stand. Bezüglich der Tatsache der biologischen Evolution und dem Antrieb des Artenwandels (d. h. des Mechanismus) äußerte sich Wallace nach 1880 immer wieder sinngemäß in den fol- Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014) genden Worten: Die Evolution ist heute ein allgemein akzeptiertes und belegtes Prinzip bzw. eine Tatsache, während die Frage nach den Antriebskräften unter Fachleuten diskutiert wird (Kutschera & Hoßfeld 2013). Im Jahr 1867 verfasste Wallace eine »Darwin-Verteidigungs-Schrift«, in welcher er u. a. den damals populären Glauben an einen Schöpfer, der über ein »Intelligentes Design« die Lebewesen hervorgebracht hätte, sachlich widerlegte. In diesem Aufsatz fasste Wallace (1867) das Prinzip der natürlichen Selektion, mit Bezug zu Darwins Hauptwerk, in den folgenden sechs Thesen zusammen: 1. Vervielfachung der Individuenzahlen in geometrischer Abfolge, 2. begrenzte Populationen im Freiland, 3. Erblichkeit oder Ähnlichkeit der Nachkommen mit ihren Eltern, 4. Variabilität, 5. permanente Änderungen der physikalischen Lebensbedingungen auf der Erdoberfläche, 6. das Gleichgewicht in der Natur. Auf Grundlage dieser sechs Tatsachen begründet Wallace (1867), dass die Angepasstheit der Lebensformen in der Natur durch natürliche Ausleseprozesse zustande gekommen sei, während der Glaube an übernatürliche Schöpfungsakte in den Bereich der Religion zähle. Bis zu seinem Lebensende diskutierte Wallace immer wieder aufs Neue das Prinzip der natürlichen Selektion, meist unter Verweis auf Darwin (1859). In seinem evolutionstheoretischen Hauptwerk Darwinism (1889) geht Wallace allerdings weit über Darwin (1859) hinaus und begründet eine »Neo-Darwin’sche Theorie«, die u. a. eine Vererbung erworbener Eigenschaften ausklammert, ein präzises Artkonzept enthält und die zweigeschlechtliche Fortpflanzung (sexuelle Reproduktion) als Ursache der biologischen Variabilität postuliert. In diesem Thesensystem greift Wallace (1889) die Konzepte von August Weismann (1834 – 1914) auf und integriert sie in sein Theoriensystem zur Evolution der Organismen. Noch in seinem letzten Buch Social Environment and Moral Progress geht Wallace (1913) auf das Selektionsprinzip ein und beschreibt es ein weiteres Mal in eigenen Worten (Kutschera & Hoßfeld 2013). 11 Es sei abschließend betont, dass Alfred Wallace, beginnend mit seinem »Ternate-Essay« (1858), über Jahrzehnte hinweg das Selektionsgesetz verfeinert hat und letztendlich die natürliche Auslese als »Elimination der weniger gut angepassten Varianten« definierte. Im Jahr 1908 wurde Wallace zum 50. Jubiläum seiner »Molukkeninsel-Publikation« (Abb. 5) die Darwin-Wallace-Medaille der Linnean Society of London verliehen. In seiner Dankesrede betonte der 85-jährige Biologe, er sei, wie Darwin, eben nur ein begeisterter Käfersammler gewesen. Charles Darwin, so Wallace, wäre der eigentliche Begründer des Selektionsprinzips, und ihm komme nur eine Rolle als Mit-Entdecker zu, so der bescheidene Forscher. Um die Leistungen des »ewigen Zweiten« gebührend zu würdigen, wurde der Begriff »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen Selektion« geprägt (Kutschera 2008 b; Abb. 6). Hätte Charles Darwin seine fünfjährige Weltreise auf der HMS Beagle nicht überlebt, so würden wir heute Alfred R. Wallace als Entdecker des Selektionsprinzips würdigen und möglicherweise hätte sich der Begriff »Wallaceismus« durchgesetzt. Im Gegensatz zu dem unpolitischen Darwin war Wallace sehr an gesellschaftlichen Themen interessiert (er vertrat zeitlebens den Sozialismus). Daher beobachtete Wallace mit sorge die Naturzerstörungen im Malayischen Archipel (s. unten). Bei Darwin (1859) wird die Abstammung mit Abänderung (Evolution) noch als Theorie bezeichnet. Sein 14 Jahre jüngerer Kollege ging einen Schritt weiter: Für Wallace (1889, 1913) war Evolution eine Tatsache, wobei die natürliche Selektion bei sich ändernder Umwelt der entscheidende »Antriebsmotor« des Artenwandels in Populationen von Tieren und Pflanzen darstellt. Leider befasste sich Wallace ab 1864 immer intensiver mit dem damals populären Spiritismus. Diese unwissenschaftlichen Glaubensinhalte (z. B. eine Kontaktaufnahme des Geistes verstorbener Menschen mit lebenden Verwandten sei belegt usw.) akzeptierte er und vermengte diese Spekulationen teilweise mit seinen biologischen Theorien (z. B. zur Erklärung der 12 U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz Abb. 5. Faksimile der Titelseite der Doppelveröffentlichung von Darwin und Wallace (1858), mit dem ersten Satz des einleitenden Textes der Herausgeber Lyell und Hooker. Man beachte, dass die Autoren als »unermüdliche Forscher« bezeichnet wurden. Aus Kutschera 2003. Abb. 6. Charles Robert Darwin (1809 – 1882) und Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) in jungen Jahren. Beide Forscher haben unabhängig voneinander die Naturzüchtung im Freiland entdeckt und wissenschaftlich beschrieben. Daher sprechen wir heute vom »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen Selektion«, und nicht mehr vom »Darwinismus«. Fotos: nach historischen Bildern. Evolution der höheren geistigen Eigenschaften des Menschen, s. Wallace 1889). Die Frage, warum der brillante Naturforscher Wallace den Spiritismus akzeptierte und diesen zeitlebens verteidigte, wird in einer aktuellen Monographie beantwortet (Kutschera 2013 a) und soll hier nicht näher diskutiert werden. Schlussfolgerungen: Vom Selektionsprinzip zum Naturschutz Bereits während seiner ersten Wochen in Singapur bemerkte Alfred Wallace (Abb. 1), dass die Wälder von den dort lebenden Menschen teilweise abgeholzt waren, um Palmenplantagen zu pflanzen. In späteren Jahren merkte Wallace immer wieder an, dass egoistische Menschen eine verantwortungslose Naturzerstörung verursachen, was verhindert werden muss. Der Forschungsreisende warnte davor, dass diese Vernichtung natürlicher Lebensräume schneller erfolgen könnte als die Beschreibung der dort lebenden Arten durch Biologen. Wallace gilt daher als einer der Urväter der wissenschaftlich begründeten Naturschutzbewegung des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus hat er das Anthropozän, d. h. das »Zeitalter der menschlichen Umwelt-Destruktivität«, vorhergesehen (Kutschera 2013 a, b). Mit die- Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014) sen praktischen Schlussfolgerungen seiner aus reinem Forscherdrang durchgeführten Untersuchungen hat Wallace belegt, dass anwendungsfreie Natur-Erkundungen, wie z. B. das Sammeln und Bestimmen von Käfern, unvorhersehbare Konsequenzen für das Wohl der Menschheit mit sich bringen können: Nur das, was man wissenschaftlich erfasst hat, kann wirkungsvoll vor einer Zerstörung geschützt werden. Im Juli 2013 wurde über eine Pressemitteilung des Department of Global Ecology der Carnegie Institution for Science (Stanford, California, USA) bekannt gemacht, dass inzwischen etwa 80 % der natürlichen Waldregionen auf Sarawak von den dort lebenden Menschen zerstört worden sind. Unter Einsatz der von Carnegie-Wissenschaftlern entwickelten Flugzeug-Monitoring-Methode konnte das wahre Ausmaß der Abholzung tropischer Regenwälder im malayischen Borneo erfasst werden. Diese Bedrohung der Biodiversität tropischer Regionen wurde mit diesen neuen Studien offengelegt und kann jetzt gezielt unterbunden bzw. rückgängig gemacht werden. Alfred Wallac­e hat während seiner Reisen im Malayischen Archipel somit nicht nur die natürliche Selektion entdeckt und beschrieben, sondern auch als einer der Ersten erkannt, dass die evolvierte Biodiversität durch Menschen bedroht und zerstört wird. In Anerkennung dieser Einsichten sollten wir Alfred Russel Wallace, dem »Mann im Schatten von Charles Darwin«, einen Ehrenplatz unter den verantwortungsvollen Forscherpersönlichkeiten seiner Zeit zuerkennen. Literatur Costa, J. T. (ed., 2013): On the Organic Law of Change. A Facsimile Edition and Annotated Transcription of Alfred Russel Wallace’s Species Notebook of 1855 – 1859. – Cambridge, Massachusetts. Darwin, C. (1858): On the tendency of species to form varieties; and on the perpetuation of varieties and species by natural means of selection. I. Extract from an unpublished work on species, II. Abstract of a letter from C. 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