Von der Entdeckung der natürlichen Selektion zum Naturschutz

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Rudolstädter naturhistorische Schriften 19, 3 – 14
Juni 2014
Alfred Russel Wallace im Malayischen Archipel:
Von der Entdeckung der natürlichen Selektion zum Naturschutz
Ulrich Kutschera*
Mit 6 Abbildungen
Zusammenfassung
Wäre Charles Darwin (1809 – 1882) während seiner fünfjährigen Weltreise ums Leben gekommen, so würden wir heute Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) als den Urvater des Prinzips der natürlichen Selektion
würdigen und möglicherweise vom »Wallaceismus« sprechen. Wallace, der mit 14 Jahren die Schule verlassen
musste, um als Landvermesser sein Geld zu verdienen und keine Universität besuchen konnte, war Autodidakt.
Nach Forschungsreisen (Amazonas-Region: 1848 – 1852; Südost-Asien: 1854 – 1862), war Wallace als freiberuflicher Schriftsteller in England tätig. Seine Beiträge zur Systematik (er entdeckte und beschrieb zahlreiche Tierarten), Evolutionsbiologie, Zoo-Geographie, Anthropologie und anderer Gebiete sind in seinen 22 Büchern und ca. 700 Publikationen zusammengefasst. In zwei Artikeln (Sarawak-Paper; Ternate-Essay), verfasst
1855 und 1858 im Malayischen Archipel, beschrieb Wallace seine Theorie der Evolution durch natürliche
Auslese. Er entdeckte das Naturgesetz unabhängig von Darwin, akzeptierte die Priorität seines älteren Kollegen und blieb daher zeitlebens im Schatten von Darwin, bis 2008 der Begriff »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen Selektion« eingeführt wurde. Im Gegensatz zu Darwin warnte Wallace vor Umweltzerstörungen in
den tropischen Waldregionen. Er gilt daher als Mitbegründer der Naturschutzbewegung des 20. Jahrhunderts.
Kesimpulan
Keberadaan Alfred Russel Wallace di Nusantara
Dari penemuan seleksi alami sampai ke pelestarian alam
Seandainya (1809 – 1882) meninggal sedang perjalananya keliling dunia, pasti kita hormati Alfred Russel
Wallace (1823 – 1913) sebagai penemu seleksi alami, dan mungkin kita berbicara tentang »Wallaceisme«.
Waktu berumur 14 tahun dia harus meninggalkan sekolah dan terpaksa bekerja sebagai pengukur tanah untuk
mencari nafkah. Sebagai autodidak dia tidak pernah berkuliah di universitas. Setelah menjalankan perjalanan riset ke Amerika ke daerah Amazon (1848 – 1852) dan Asia Tenggara (1854 – 1862) Wallace berusaha sediri sebagai pengarang bebas. Kontribusinya di bidang sistematik (banyak spesies baru dideskripsinya), biologi evolusi, zoogeografi, antropolgi dan bidang lain terdapat dalam 22 buku dan kira-kira 700 publikasi lain.
Di dalam dua artikel (dinamai Sarawak-paper dan Ternate-Essay), yang dikarang pada tahun 1855 dan 1858
di Nusanatara, Wallace menguraikan teorinya tentang evolusi lewat seleksi alami, Dia menemukan hukum
alam itu terlepas dari Darwin, tetapi mengakui prioritas koleganya yang lebih tua sehinggi dia selama hidup
kurang dapat perhatian dibandingkan dengan Darwin. Baru pada tahun 2088 istilah »Prinsip Darwin-Wallace tentang seleksi alami« dilazimkan. Lain dari Darwin Wallace menperingkatkan manusia akan bahaya
perusakan lingkungen dalam daerah hutan tropis. Karena itu dia dianggap salah satu dari pendiri gerakan pelestarian alam di abad yang keduapuluh.
* Prof. Dr. U. Kutschera, Institut für Biologie der Universität Kassel, Heinrich-Plett-Str. 40,
D-34132 Kassel, Germany; Tel.: 0561 - 804 - 4467, Fax: 0561 - 804 - 4009,
E-Mail: [email protected], Website: http://www.uni-kassel.de/fb19/plantphysiology/
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U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz
Summary
Alfred Russel Wallace in the Malay Archipelago:
From the discovery of natural selection to nature conservation
If Charles Darwin (1809 – 1882) had died on his five-year journey around the world we would today be honouring Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) as the founder of the principle of evolution by natural selection, and we would therefore speak of »Wallaceism«. Wallace, who had to leave school aged 14 in order to earn
money as a land surveyor and was unable to attend university, was completely self-educated. After extensive expeditions (Amazon, 1848 – 1852; Southeast Asia, 1854 – 1862), Wallace lived as a freelance writer in England.
His contributions to systematics (he discovered and described many new animal species), evolutionary biology,
zoogeography, anthropology and other branches of the life sciences are contained in his 22 books and 700 other
publications. In two articles (Sarawak paper; Ternate essay), written in 1855 and 1858 in the Malay Archipelago,
Wallace outlined his theory of evolution by natural selection. He discovered this law of nature independently of Charles Darwin and acknowledged the priority of his senior colleague. Therefore he remained in the
shadow of Darwin until, in 2008, the term »Darwin-Wallace principle of natural selection« was introduced. In
contrast to Darwin, Wallace warned of the consequences of the destruction of the tropical rainforests, and
hence became one of the founders of the nature conservation movement of the 20th century.
Keywords: Darwin, evolution, evolutionary biology, natural selection, Wallace, nature conservation.
Einleitung
Vor zwölf Jahren wurde ein Sammelband mit
dem Titel Darwin & Co. Eine Geschichte der
Biologie in Portraits veröffentlicht, in dem neben dem »Titelhelden« Charles Robert
Darwin (1809 – 1882) so bedeutende Naturforscher wie Carl Linnaeus (1707 – 1778), Jean
Baptiste de Lamarck (1744 – 1829) und August Weismann (1834 – 1914) in Einzelkapiteln vorgestellt sind (Jahn & Schmitt 2001).
Weiterhin haben die Autoren auch Spezialisten,
wie Robert Lauterborn (1869 – 1952) oder
Oskar Heinroth (1871 – 1945) ausführlich
gewürdigt, wobei neben dem Leben der Forscher auch deren wissenschaftliche Leistungen
angemessen dargestellt wurden.
Ein Generalist der Biologie, den man im
19. Jahrhundert zu den bedeutendsten Wissenschaftlern seiner Generation gezählt hat
(Poulton 1913), der britische Naturforscher
Alfred Russel Wallace (1823 – 1913), fehlt
in dieser zweibändigen Biologie-Historiographie. Der Evolutionsforscher Wallace wird
lediglich im Kapitel zu Charles Darwin in
wenigen Sätzen, in gewisser Weise als »Fußnote«, erwähnt. Seine eigen­ständigen wissenschaftlichen Leistungen werden jedoch in kei-
nem Satz genannt (Jahn & Schmitt 2001).
Auch im »Darwin-Jahr 2009« hat man Alfred
R. Wallace bestenfalls als »Zweit-Entdecker
der natürlichen Selektion«, meistens als Anhang zum »hoch geehrten Mr. Darwin« angeführt, ihn aber nur selten als originelle Forscherpersönlichkeit vorgestellt (Ausnahmen: s.
Hoßfeld & Olsson 2009, Kutschera 2009).
Im »Wallace-Jahr 2013« sind dann aber
zwei deutschsprachige Bücher zu Leben und
Werk des Biologen erschienen, der mit 14 Jahren die Schule verlassen musste, um seinen
Lebensunterhalt als Landvermesser zu verdienen, und aufgrund der Armut seiner Eltern nie an einer Universität studieren konnte
(Glaubrecht 2013, Kutschera 2013 a). Nach
einer ersten Sammelexkursion nach Südamerika
(Amazonas-Region), 1848 bis 1852, hielt sich
Wallace (Abb. 1) von 1854 bis 1862 im Malayischen Archipel auf, das heute die Staaten
Singapur, Malaysia und Indonesien umfasst.
Diese Forschungsreisen im Alleingang prägten den Autodidakten nachhaltig. In diesem
Beitrag sollen die Entdeckungen und Schlussfolgerungen von Wallace bezüglich des Artenwandels dargelegt werden, die im Wesentlichen während seiner Tropenreisen entstanden
sind.
Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014)
Abb. 1. Alfred Russel Wallace (1823 – 1913), dargestellt in dem einzig erhaltenen Portrait-Foto von seiner Malaysia-Reise, Februar 1862, in Singapur. Wallace durchkreuzte den Malayischen Archipel acht
Jahre lang und hielt sich immer wieder in Singapur
auf, wo er u. a. Käfer sammelte, die er zum Verkauf
bzw. einer wissenschaftlichen Bearbeitung nach London sandte. – Foto: nach einer historischen Aufnahme.
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er weltberühmt. Nach seiner Rückkehr nach
England (1862) war Wallace bis zu seinem
Lebensende als freiberuflicher Schriftsteller,
ohne feste Anstellung, tätig. In seinen 22 Büchern und über 700 Einzelpublikationen, die
er als alleiniger Autor verfasst hat, behandelte
der Biologe und Geograph ohne formale akademische Ausbildung Themen, die von der zoologischen Systematik (Ornithologie, Entomologie) bis zur Astrobiologie und Anthropologie
reichen (Hoßfeld & Olsson 2009; Kutschera 2012, 2013 a, b). Trotz der Entdeckung bzw.
der Beschreibung zahlreicher Tierarten (z. B.
Wallace-Flugfrosch Rhacophorus nigropalmatus Boulenger, 1895 oder Wallace-Dschungeladler Spizaetus nanus Wallace, 1868) und
der Begründung der evolutionären Zoogeographie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin
ist Wallace insbesondere durch zwei theoretische Aufsätze bekannt geworden. Diese beiden
Artikel hat der Wissenschaftler während seiner
achtjährigen Forschungsreise im Malayischen
Archipel verfasst.
Sein »Sarawak Law-Paper (Sarawak-GesetzArtikel)« aus dem Jahr 1855 enthält die allgemeinen Grundlagen seiner Theorie zur ArtenTransformation, ein Prozess, den wir heute als
Evolution bezeichnen. Drei Jahre später verfasste Wallace auf einer »Molukken-Insel« seinen
»Ternate Essay (Ternate-Aufsatz)«, in welchem
der Freilandbiologe den »struggle for existence«,
d. h. den Daseinswettbewerb in der Natur, als
Antriebskraft des Artenwandels vorschlug. In
den nachfolgenden Abschnitten soll die Entdeckung der Arten-Transformation über natürliche Auslese beschrieben, und die Wirkung dieser beiden Aufsätze auf die Gedankenwelt von
Charles Darwin dargelegt werden.
Spezialist und Generalist der
Biologie
Das Sarawak-Gesetz und die
Nashornvögel
Alfred Russel Wallace war einer der vielseitigsten Naturforscher des 19. Jahrhunderts.
Nach seinen bereits eingangs erwähnten Forschungsreisen in das Amazonasgebiet und nach
Südost-Asien, die acht Jahre dauerten, wurde
Im Nordwesten von Borneo, einer Insel im südost-asiatisch gelegenen Archipel, ist der Bundesstaat Sarawak (Malaysia) lokalisiert. Sarawak
ist auch als »Land der Nashornvögel (Bumi Kenyalang)« bekannt und eine besonders eindrucks-
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U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz
Abb. 2. Der Rhinozerosvogel Buceros
rhinoceros, das Wappentier des Bundesstaates Sarawak (Malaysia), dargestellt auf einer Münze aus dem Jahr
1976.
Abb. 3. Der Ornithologe Alfred Russel Wallace erforschte die Vogelwelt
des Malayischen Archipels und war
nicht nur vom Rhinozerosvogel, sondern auch von anderen Spezies, wie
z. B. den »Bienen-Fressern« aus Singapur, beeindruckt. Abgebildet sind Malaienspint Merops viridis (links) und
Rotbartspint Nyctyornis amictus. Die
zuletzt genannte Spezies bezeichnete
Wallace in seinen Notizbüchern als
eine der »loveliest of Eastern birds«.
Aus Wallace, A. R.: Ann. Mag. Nat.
Hist. 15, 95 – 99, 1855.
volle Art, der Rhinozerosvogel Buceros rhinoceros,
ist das Wappentier dieses Staates (Abb. 2).
Alfred Wallace hat die Nashornvögel, deren Weibchen sich in eine Bruthöhle einmauern
und dann mit ihrem Jungen vom Männchen gefüttert werden, ausführlich erforscht und 1863
diese Ergebnisse publiziert (Kutschera 2013
a). In Abbildung 3 sind zwei andere tropische
Vogelarten, sogenannte »Bienen-Fresser« oder
Spinte der Gattungen Merops und Nyctyornis
abgebildet. Wallace hat neben den Nashornvögeln auch diese Federtiere auf seinen Reisen gefangen, untersucht und als getrocknete
Exportware nach England versandt. Weiterhin
fing Wallace tausende verschiedener Käfer,
die, über seinen Londoner Händler nach Europa gebracht, dort von Spezialisten untersucht
und beschrieben worden sind (Abb. 4).
In diesem Abschnitt soll auf die erste theoretische Arbeit von Wallace (1855) eingegangen
werden. Im Februar 1855 vollendete der 32-jährige Wallace, der zu diesem Zeitpunkt im
Staat Sarawak / Borneo lebte, einen Aufsatz, der
Ende desselben Jahres im Fachjournal Annals
and Magazine of Natural History veröffentlicht
wurde (Wallace 1855). Obwohl der Autor über
sein Studium der Werke von Charles Lyell
mit den Thesen des französischen Biologen
Jean Baptiste de Lamarck (Hauptwerk Philosophie Zoologique, 1809) bekannt war, nannte er
diesen wichtigen Naturforscher an keiner Stelle.
Im Wesentlichen ging es Wallace darum, die
»Widerlegung« der Lamarck´schen Theorie einer Transformation der Arten, ausgehend von
Urformen, durch Lyell (1832) zu korrigieren.
Wallace war, durch das Studium der Fachliteratur und seine Naturbeobachtungen, vom Artenwandel überzeugt und wollte in diesem Aufsatz dieses Konzept eigenständig und präzise
begründen. Er habe, so hob er hervor, dieses
Prinzip über viele Jahre hinweg immer wieder
aufs Neue überdacht und durch unabhängige
Belege bestätigt gesehen. Daher lautete der Titel des Aufsatzes von Wallace wie folgt: »On
Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014)
Abb. 4. Zeichnungen von vier tropischen Käferarten
der Gattung Stigmatium, die A. R. Wallace wenige Tage nach seiner Ankunft in Singapur gesammelt
und nach London gesandt hatte. Dort wurden die
»Wallace-Käfer« wissenschaftlich bearbeitet und teilweise als neue Arten beschrieben. Aus Westwood, J.
O.: Proc. Zool. Soc. Lond. 23, 19 – 26, 1855.
the law which has regulated the introduction
of new species (Über das Gesetz, das die Einführung neuer Arten geregelt hat)«. Wallace
(1855) fasste in diesem theoretischen Aufsatz
zahlreiche Tatsachen aus der Geologie, Geographie und Verbreitung der Tiere zusammen.
Weiterhin legte er klar, dass die zeitliche Abfolge fossil erhaltener Tiere eindeutig das Konzept
des Artenwandels unterstütze. Diese Beschäftigung mit der Fossilienkunde (Paläontologie)
erwuchs aus der Tatsache, dass ein bedeutender Forscher, Edward Forbes (1815-1854), in
einem aktuellen Aufsatz behauptet hatte, die
Fossil-Abfolgen würden keinen Beleg für eine
Abstammung der Arten aus urtümlichen Lebewesen liefern. Aus den zusammengetragenen
Befunden zur räumlich-zeitlichen Verbreitung
der Organismen der Erde sowie seiner Interpretation paläontologischer Daten leitete Wallace sein »Sarawak-Gesetz« ab: »Every species
has come into existence coincident both in space and time with a pre-existing closely allied
species (Jede Art entstand in Raum und Zeit
zusammenfallend mit einer verwandten Vorläufer-Art)«. Dieses Gesetz, das im Prinzip mit
der Hauptaussage von Lamarck (1809) übereinstimmt, begründete Wallace unter Anführung zahlreicher unabhängiger Belege: Die
geographische Verbreitung verschiedener Tiergruppen, Stammbäume zur natürlichen Klassifikation der Organismen, sowie geologische
Vorgänge auf der Erdoberfläche, wie Kontinentalveränderungen in vertikaler Position, die Bildung von Gebirgen, Inseln, Tiefseegräben usw.
Da Lyell (1832) die naturalistischen Thesen
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von Lamarck (1809) durch theistische Konzepte ersetzen wollte (unabhängige Erschaffungen von Artengruppen), ging es Wallace
(1855) u. a. darum, die von ihm zusammengetragenen Fakten ohne Verweis auf übernatürliche Faktoren zu interpretieren.
Besonders hervorzuheben ist eine Idee, die
Wallace (1855) beiläufig erwähnt: Alle Lebewesen wären seiner Ansicht nach als komplexes,
sich immer mehr verzweigendes System einzelner Abstammungslinien zu interpretieren, wobei der Autor auf die Äste einer alten, verwachsenen Eiche verweist. Wallace (1855) erwähnt
auch hypothetische Urformen aller Organismen der Erde, ein Konzept, welches in der Regel Charles Darwin zugeschrieben wird. Mit
seiner Eichen-Analogie nahm Wallace (1855)
das von Darwin (1859) eingeführte Konzept
eines hypothetischen »Baum des Lebens (Tree
of Life)« vorweg (Kutschera 2013 a). Interessanterweise geht Wallace (1855) auch auf die
Galapagos-Inseln ein. Diese archaischen Meereserhebungen vulkanischen Ursprungs hatten
niemals Kontakt zum südamerikanischen Festland. Sie müssen daher, wie auch andere durch
derartige geologische Prozesse entstandene Inseln im Ozean, von herbei gedrifteten Organismen besiedelt worden sein (z. B. auf Baumstämmen sitzende Bodenbewohner oder durch
Stürme verschlagene Vogelschwärme).
Weiterhin diskutierte Wallace (1855) die
rudimentären Organe beinloser Echsen und
Schlangen sowie die Becken-Rudimente der
Wale. Diese Organreste interpretierte der ungläubige Wallace im Sinne einer Abstammung von
Vorläuferformen. Er stellt sich sinngemäß die
folgende Frage: »Wären die Spezies unabhängige Einzelschöpfungen, ohne Verbindung zu Vorläuferarten, was bedeuten dann diese rudimentären Organe bzw. Nicht-Perfektionen?« Wallace
(1855) beantwortet die von ihm selbst gestellte Frage wie folgt: Unter Verweis auf sein Gesetz
folge eindeutig, dass lebende Arten von Vorläufer-Spezies abstammen, und das entlang kontinuierlicher, gradueller Generationen-Linien.
Der Sarawak-Aufsatz von Wallace (1855)
enthält somit eine Reihe von Prinzipien, die vier
Jahre später von Darwin (1859) zusammenfas-
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U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz
send dargestellt worden sind: Ein langsamer,
gradueller Artenwandel; die Galapagos-Inseln
als Beweis für herbei gedriftete Gründerpopulationen, die neue Arten hervorbringen können; rudimentäre Organe als Belege für eine
Arten-Transformation. Zusammenfassend argumentiert Wallace (1855), dass diese Tatsachen gegen unabhängige Schöpfungsakte
sprechen würden, wie sie u. a. der berühmte
Geologe Lyell noch 1832 angenommen hatte (in späteren Jahren wandelte sich Lyell vom
gläubigen Naturforscher zum Anhänger des
Darwin-Wallace’schen Evolutionsprinzips).
Wie oben dargelegt, geht Wallace (1855)
ausführlich auf geologische Vorgänge auf der
Erdoberfläche ein und diskutierte diese physikalischen Vorgänge im Zusammenhang mit
Artbildungsprozessen. Diese neuartige, die
Geologie mit der Stammesentwicklung der Organismen vereinigende Interpretation fehlt in
den Schriften von Darwin (1859, 1872) weitgehend. In diesem Punkt war Wallace seinem
vierzehn Jahre älteren Kollegen voraus.
Erst in den letzten Jahren wurde unser Bild
von der Stammesentwicklung mit Bezug zur
Kontinentaldrift (bzw. Platten-Tektonik) vervollständigt. Im »Darwin-Jahr 2009« wurde ein
integratives »Synade-Modell« der Makroevolution formuliert (Kutschera 2009, 2011, 2013
a). Ein ähnliches Schema zur biologischen Evolution wurde bereits von Wallace (1855) in
groben Zügen umrissen, obwohl damals weder
von der Erdplatten-Dynamik im heutigen Sinne, noch der Symbiogenese (primäre Endosymbiose) etwas bekannt war.
Ein neues Naturgesetz ohne
Außenwirkung
Biologiehistorische Studien haben gezeigt, dass
Charles Darwin den Sarawak-Aufsatz von
Wallace (1855) gekannt und sein Privatexemplar sogar mit Kommentaren versehen hatte.
Dennoch war Darwin von diesem Artikel wenig beeindruckt - wir können aus heutiger Sicht
sagen, er hat im Grunde diesen ersten evolutionstheoretischen Beitrag seines jüngeren Kolle-
gen Wallace ignoriert. Woran lag das? Meiner
Ansicht nach ist dies u. a. auf die recht allgemein gehaltene und spekulative Darstellungsweise des Autors zurückzuführen. Wallace
(1855) führt kaum nachvollziehbare Beispiele an und hat somit ein wenig eindrucksvolles
Manuskript publiziert (Details s. Kutschera
2013 a).
Ganz anders verlief die Perzeption dieses
Beitrages zur Evolution, verfasst im Malayischen Archipel, bei Darwins Freund und Kollegen, Charles Lyell. Der renommierte Geologe las den Sarawak-Artikel mehrfach und war
nachhaltig beeindruckt, möglicherweise wegen der ausführlichen Darstellungen zu geologischen Veränderungen auf der Erdoberfläche.
Wie aus verschiedenen Quellen zu entnehmen
ist, wandelte sich Lyell u. a. unter dem Einfluss
des Aufsatzes des 32-jährigen Wallace vom
Evolutions-Skeptiker zum Befürworter der Arten-Transformation. Lyell hat in verschiedenen
Schriften immer wieder betont, dass er sich mehr
und mehr zum Vertreter der »Theorie des langsamen Artenwandels« entwickelt habe. Einige
Jahre später hat er, gemeinsam mit Joseph Dalton Hooker (1817 – 1911), eine Doppel-Veröffentlichung evolutionstheoretischer Aufsätze
von Wallace und Darwin vorangebracht. Diese Episode aus der Geschichte der Evolutionsbiologie ist im nächsten Abschnitt dargestellt.
Der Daseinswettbewerb im Malayischen
Fieberrausch
Alfred Russel Wallace hat seine Lebenser­
innerungen publiziert und damit der Nachwelt
tiefe Einblicke in die Entwicklung seiner biologischen Gedankenwelt hinterlassen. Wie der
Autor schreibt (Wallace 1905), lebte er ab Januar 1857 für ein halbes Jahr auf der Aru-Insel
südwestlich von Neu Guinea. Dort sammelte er,
mit Helfern, unzählige Tiere, die er mit Gewinn
in London verkaufen lassen konnte. Als Autodidakt der Biologie verfügte Wallace über ein
derart breites systematisches Artenwissen, dass
es für ihn kein Problem war, die verschiedensten Tiergruppen sowie Pflanzen zu klassifizie-
Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014)
ren. Bereits damals reifte die Idee in ihm heran,
wie neue Arten, ohne »Schöpfungsakte« eines
biblischen Gottes, entstehen können: Auf abgelegenen Inseln wären kleine Gruppen von Lebewesen, die dorthin gebracht worden sind, in
der Lage, neue Eigenschaften zu entwickeln
und dadurch abgeleitete Arten hervorzubringen.
Nach eigenen Angaben hielt sich der Urwaldforscher im Januar 1858 auf der Molukken-Insel Ternate auf (andere Autoren gehen
davon aus, dass Wallace auf der Gewürzinsel Gilo, heute Halmahera genannt, lebte, s.
Glaubrecht 2013). Nach einer fast vierjährigen Zeit als Forschungsreisender im Malayischen Archipel lag der 35-jährige Biologe wieder einmal mit einer fiebrigen Erkrankung in
seiner Palmenhütte. Während dieser Rauschzustände unter der Wirkung von Malaria-Erregern kam dem einsamen Mann im Urwald eine
grandiose Idee, die unser Bild von der Lebewelt bis heute verändert hat: Wallace kombinierte das Prinzip von Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) zum Bevölkerungswachstum
bei limitierenden Ressourcen (Nahrungsmittel
usw.), mit dem er sich Jahre zuvor beschäftigt
hatte, mit seinen Beobachtungen zur Variabilität der Tiere. Der von ihm tagtäglich beobachtete »Überlebenskampf« der Organismen
im Freiland, den wir heute als Daseinswettbewerb interpretieren, kombinierte Wallace mit
dem Malthus’schen Prinzip der Ressourcen-Begrenzung, verbunden mit dem lange bekannten
Phänomen einer Übervermehrung sämtlicher
bisher untersuchter Lebewesen der Erde. Wallace fasste seine Ideen, die er in zwei Abenden
entwickelte, innerhalb kurzer Zeit zu einem
zwanzig Seiten langem Manuskript zusammen,
das mit der Überschrift »On the Tendency of
Varieties to depart indefinitively from the Original Type (Zur Tendenz von Varietäten, unbegrenzt vom Original-Typus abzuweichen)« versehen wurde. In diesem »Ternate-Essay« steht
der entscheidende Satz: »The life of wild animals is a struggle for existence (Das Leben wilder Tiere ist ein Daseinswettbewerb)«. Es sei an
dieser Stelle ausdrücklich hervorgehoben, dass
der Begriff »struggle for existence« bereits in
9
der Malthus-Schrift von 1798 vorkommt und
nicht etwa von Wallace oder Darwin geprägt
worden ist (Kutschera 2008 a, 2013 a).
Kurz zusammengefasst, argumentierte Wallace in seinem Ternate-Essay wie folgt. Einfache Berechnungen zeigen, dass z. B. Vögel,
ausgehend von einem einzigen Pärchen und
unbegrenzter Nahrung, bei ausreichendem
Raum, in 15 Jahren nahezu 10 Millionen Nachkommen hinterlassen könnten - offensichtlich
kommen die allermeisten Vögel um, denn die
Populationen bleiben über Jahrzehnte hinweg
in etwa konstant. Dieses Ausleseprinzip in der
Natur beschrieb Wallace (1858) sinngemäß
wie folgt: »Jene Individuen innerhalb variabler
Populationen, die am besten in der Lage sind,
sich Nahrung zu beschaffen, und Feinde zu vermeiden, werden überleben und Nachkommen
hinterlassen […] Die am besten angepassten
Individuen überleben in ihren Abkömmlingen,
während die meisten Mitglieder dieser Populationen eliminiert werden.« Obwohl Wallace
den Schlüsselbegriff »Natural Selection (natürliche Auslese)« nicht benutzt ist offensichtlich,
dass dieser Artikel wesentliche Thesen enthält,
die Darwin (1859) dann ausführlich dargelegt
hat. Wallace war seit längerem darüber informiert, dass Darwin sich mit dem »Artenproblem« befasst und dazu umfassende Aufzeichnungen gesammelt hatte. Da damals jedoch der
Geologe Charles Lyell bekannter war als der
jüngere Darwin, und Wallace nicht ein zweites Mal einen Aufsatz ohne Wirkung in einem
Fachjournal veröffentlichen wollte, sandte er
sein Manuskript, von der Insel Ternate aus, an
C. Darwin, mit der Bitte, diesen Text zunächst
zu bewerten und ihn dann an den berühmten
Geologen und Lamarck-Kritiker Lyell weiterzuleiten.
Die nachfolgende Geschichte zählt zu den
bekanntesten Episoden aus der Historiographie
zur Evolutionsbiologie (Glaubrecht 2013,
Hoßfeld & Olsson 2009, Kutschera 2003).
Am 9. März 1858 ging das Wallace-Manuskript,
mit Begleitschreiben, von der Molukken-Insel
Ternate ab, und kam am 18. Juni 1858 im Down
House (England, Grafschaft Kent) an. Charles
Darwin war schockiert, da er bereits nahezu 20
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U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz
Jahre lang eine sehr ähnliche Theorie, bei ihm
»Natural Selection« genannt, in Vorbereitung
hatte. Darwin veranlasste zunächst die Veröffentlichung des Manuskriptes von Wallace,
gemeinsam mit eigenen Text-Fragmenten, die
dann kurz darauf (30. Juni 1858) im Fachjournal Proceedings of the Linnean Society London,
Zoology, veröffentlicht worden sind. Die Titelseite dieser Doppel-Publikation Darwin-Wallace 1858 ist in Abbildung 5 wiedergegeben.
C. Darwin war der erste Autor dieser gemeinsamen Publikation und sicherte sich damit die
Priorität als Erst-Entdecker des Prinzips der
Evolution durch natürliche Selektion (Darwin
1858). Alfred Wallace, der sich zu dieser Zeit
im Malayischen Archipel aufhielt, erfuhr erst
später von der Veröffentlichung seines Manuskripts, dessen Korrekturen er nie gelesen hatte.
Wallace hat bis zu seinem Lebensende immer
wieder hervorgehoben, dass er als Zweit-Entdecker des Auslesemechanismus in der Natur,
heute als »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen Selektion« bezeichnet (Kutschera 2008
b; Abb. 6), zufrieden war. Da Wallace ein aufrichtiger, an der Sache interessierter und nicht
eitler Naturforscher war, erkannte er zeitlebens
die Priorität seines älteren Kollegen C. Darwin neidlos an. So widmete er z. B. sein erfolgreiches Buch, The Malay Archipelago (Wallace 1869) seinem verehrten Kollegen C. Darwin
mit dem sinngemäßen Zusatz: »Ich widme dieses Buch Charles Darwin, dem Autor der
Origin of Species, nicht nur als Zeichen persönlicher Wertschätzung und Freundschaft, sondern auch um meine tiefe Verehrung für seine
Genialität und seine Werke zum Ausdruck zu
bringen.«
Nach diesem schockierenden Erlebnis fasste Charles Darwin seine in 20-jähriger Arbeit
zusammengetragene Fakten, als »Auszug (Abstract)«, zu einem Buch zusammen, welches im
November 1859 unter dem Titel On the Origin of Species im Druck erschienen ist und eine
bis heute andauernde Wirkung erzielen konnte
(Darwin 1859, 1872).
Alfred Wallace befasste sich nach 1860
nicht mehr schwerpunktmäßig mit dem »Artenproblem«, da ihm klar war, dass dieses The-
ma von C. Darwin bearbeitet wurde und somit
»in den Händen« eines kompetenten und aufrichtigen Kollegen lag. Wie Costa (2013) darlegt, hatte Wallace ursprünglich geplant, ein
eigenes »Artenbuch« zu verfassen, das unter
dem Titel »On the organic law of change (Über
das organische Gesetz der Veränderungen)« erscheinen sollte. Die Aufzeichnungen von Wallace wurden im »Wallace-Jahr 2013« editiert
und veröffentlicht - sie belegen, wie nahe Wallace an der Lösung dieses »Rätsels aller Rätsel«
war. Er wandte sich jedoch anderen Themen zu
und wurde als Forschungsreisender, Begründer
der evolutionären Zoogeographie, Pionier der
Biodiversitätsforschung und anderer Gebiete
weltbekannt (Glaubrecht 2013, Haffer 2007,
Junker & Hoßfeld 2009, Kutschera 2009,
2013 a, 2013 b, Mayr 1988, 2001).
Prinzip der natürlichen Selektion 1867
bis 1913 und der Geisterglaube
Ein Grund, warum Wallace unabhängig von
Charles Darwin das Naturgesetz der natürlichen Auslese entdecken und formulieren konnte war die Tatsache, dass er sich als Forschungsreisender von eingefangenen/getöteten Tieren,
die er als Präparate nach England zu einem
Zwischenhändler sandte, finanzieren musste.
Wallace sammelte, mit Helfern, im Verlaufe dieser acht Jahre im Malayischen Archipel
nach eigenen Angaben ca. 125 000 Naturalien
(Insekten, Vögel, Säuger usw.), wobei er etwa 20
000 km Reisestrecke zurücklegte. Dies ist eine
in der Biologiegeschichte wohl einmalige Leistung, welche den »Autodidakten der Naturforschung« über alle seine Kollegen hinaus hebt.
Beim Sammeln dieser Naturobjekte (z. B. Käferarten) (Abb. 4) fiel Wallace auf, dass kein
Lebewesen, innerhalb einer Population, dem
nächsten gleich ist: Die biologische Variabilität ist ein Naturgesetz, das ihm während seiner
Tropenreisen nahezu täglich vor Augen stand.
Bezüglich der Tatsache der biologischen Evolution und dem Antrieb des Artenwandels (d.
h. des Mechanismus) äußerte sich Wallace
nach 1880 immer wieder sinngemäß in den fol-
Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014)
genden Worten: Die Evolution ist heute ein allgemein akzeptiertes und belegtes Prinzip bzw.
eine Tatsache, während die Frage nach den Antriebskräften unter Fachleuten diskutiert wird
(Kutschera & Hoßfeld 2013).
Im Jahr 1867 verfasste Wallace eine »Darwin-Verteidigungs-Schrift«, in welcher er u. a.
den damals populären Glauben an einen Schöpfer, der über ein »Intelligentes Design« die Lebewesen hervorgebracht hätte, sachlich widerlegte. In diesem Aufsatz fasste Wallace (1867)
das Prinzip der natürlichen Selektion, mit Bezug zu Darwins Hauptwerk, in den folgenden
sechs Thesen zusammen: 1. Vervielfachung der
Individuenzahlen in geometrischer Abfolge, 2.
begrenzte Populationen im Freiland, 3. Erblichkeit oder Ähnlichkeit der Nachkommen
mit ihren Eltern, 4. Variabilität, 5. permanente
Änderungen der physikalischen Lebensbedingungen auf der Erdoberfläche, 6. das Gleichgewicht in der Natur. Auf Grundlage dieser sechs
Tatsachen begründet Wallace (1867), dass die
Angepasstheit der Lebensformen in der Natur
durch natürliche Ausleseprozesse zustande gekommen sei, während der Glaube an übernatürliche Schöpfungsakte in den Bereich der Religion zähle.
Bis zu seinem Lebensende diskutierte Wallace immer wieder aufs Neue das Prinzip der
natürlichen Selektion, meist unter Verweis auf
Darwin (1859). In seinem evolutionstheoretischen Hauptwerk Darwinism (1889) geht Wallace allerdings weit über Darwin (1859) hinaus und begründet eine »Neo-Darwin’sche
Theorie«, die u. a. eine Vererbung erworbener Eigenschaften ausklammert, ein präzises
Artkonzept enthält und die zweigeschlechtliche Fortpflanzung (sexuelle Reproduktion) als
Ursache der biologischen Variabilität postuliert. In diesem Thesensystem greift Wallace
(1889) die Konzepte von August Weismann
(1834 – 1914) auf und integriert sie in sein Theoriensystem zur Evolution der Organismen.
Noch in seinem letzten Buch Social Environment and Moral Progress geht Wallace (1913)
auf das Selektionsprinzip ein und beschreibt es
ein weiteres Mal in eigenen Worten (Kutschera & Hoßfeld 2013).
11
Es sei abschließend betont, dass Alfred
Wallace, beginnend mit seinem »Ternate-Essay« (1858), über Jahrzehnte hinweg das Selektionsgesetz verfeinert hat und letztendlich die
natürliche Auslese als »Elimination der weniger
gut angepassten Varianten« definierte. Im Jahr
1908 wurde Wallace zum 50. Jubiläum seiner »Molukkeninsel-Publikation« (Abb. 5) die
Darwin-Wallace-Medaille der Linnean Society of London verliehen. In seiner Dankesrede betonte der 85-jährige Biologe, er sei, wie
Darwin, eben nur ein begeisterter Käfersammler gewesen. Charles Darwin, so Wallace, wäre der eigentliche Begründer des Selektionsprinzips, und ihm komme nur eine Rolle
als Mit-Entdecker zu, so der bescheidene Forscher. Um die Leistungen des »ewigen Zweiten« gebührend zu würdigen, wurde der Begriff »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen
Selektion« geprägt (Kutschera 2008 b; Abb.
6). Hätte Charles Darwin seine fünfjährige Weltreise auf der HMS Beagle nicht überlebt,
so würden wir heute Alfred R. Wallace als
Entdecker des Selektionsprinzips würdigen und
möglicherweise hätte sich der Begriff »Wallaceismus« durchgesetzt. Im Gegensatz zu dem
unpolitischen Darwin war Wallace sehr an
gesellschaftlichen Themen interessiert (er vertrat zeitlebens den Sozialismus). Daher beobachtete Wallace mit sorge die Naturzerstörungen im Malayischen Archipel (s. unten).
Bei Darwin (1859) wird die Abstammung
mit Abänderung (Evolution) noch als Theorie
bezeichnet. Sein 14 Jahre jüngerer Kollege ging
einen Schritt weiter: Für Wallace (1889, 1913)
war Evolution eine Tatsache, wobei die natürliche Selektion bei sich ändernder Umwelt der
entscheidende »Antriebsmotor« des Artenwandels in Populationen von Tieren und Pflanzen
darstellt.
Leider befasste sich Wallace ab 1864 immer
intensiver mit dem damals populären Spiritismus. Diese unwissenschaftlichen Glaubensinhalte (z. B. eine Kontaktaufnahme des Geistes
verstorbener Menschen mit lebenden Verwandten sei belegt usw.) akzeptierte er und vermengte diese Spekulationen teilweise mit seinen biologischen Theorien (z. B. zur Erklärung der
12
U. Kutschera: A. R. Wallace im Malayischen Archipel – von der natürlichen Selektion zum Naturschutz
Abb. 5. Faksimile der Titelseite
der Doppelveröffentlichung von
Darwin und Wallace (1858),
mit dem ersten Satz des einleitenden Textes der Herausgeber
Lyell und Hooker. Man beachte, dass die Autoren als »unermüdliche Forscher« bezeichnet
wurden. Aus Kutschera 2003.
Abb. 6. Charles Robert Darwin (1809 – 1882) und Alfred
Russel Wallace (1823 – 1913)
in jungen Jahren. Beide Forscher
haben unabhängig voneinander
die Naturzüchtung im Freiland
entdeckt und wissenschaftlich
beschrieben. Daher sprechen
wir heute vom »Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen
Selektion«, und nicht mehr vom
»Darwinismus«. Fotos: nach historischen Bildern.
Evolution der höheren geistigen Eigenschaften
des Menschen, s. Wallace 1889). Die Frage,
warum der brillante Naturforscher Wallace
den Spiritismus akzeptierte und diesen zeitlebens verteidigte, wird in einer aktuellen Monographie beantwortet (Kutschera 2013 a) und
soll hier nicht näher diskutiert werden.
Schlussfolgerungen: Vom Selektionsprinzip zum Naturschutz
Bereits während seiner ersten Wochen in Singapur bemerkte Alfred Wallace (Abb. 1), dass
die Wälder von den dort lebenden Menschen
teilweise abgeholzt waren, um Palmenplantagen zu pflanzen. In späteren Jahren merkte Wallace immer wieder an, dass egoistische
Menschen eine verantwortungslose Naturzerstörung verursachen, was verhindert werden
muss. Der Forschungsreisende warnte davor,
dass diese Vernichtung natürlicher Lebensräume schneller erfolgen könnte als die Beschreibung der dort lebenden Arten durch Biologen. Wallace gilt daher als einer der Urväter
der wissenschaftlich begründeten Naturschutzbewegung des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus hat er das Anthropozän, d. h. das »Zeitalter der menschlichen Umwelt-Destruktivität«,
vorhergesehen (Kutschera 2013 a, b). Mit die-
Rudolstädter naturhistorische Schriften 19 (2014)
sen praktischen Schlussfolgerungen seiner aus
reinem Forscherdrang durchgeführten Untersuchungen hat Wallace belegt, dass anwendungsfreie Natur-Erkundungen, wie z. B. das
Sammeln und Bestimmen von Käfern, unvorhersehbare Konsequenzen für das Wohl der
Menschheit mit sich bringen können: Nur das,
was man wissenschaftlich erfasst hat, kann wirkungsvoll vor einer Zerstörung geschützt werden.
Im Juli 2013 wurde über eine Pressemitteilung des Department of Global Ecology der Carnegie Institution for Science (Stanford, California, USA) bekannt gemacht, dass inzwischen
etwa 80 % der natürlichen Waldregionen auf
Sarawak von den dort lebenden Menschen zerstört worden sind. Unter Einsatz der von Carnegie-Wissenschaftlern entwickelten Flugzeug-Monitoring-Methode konnte das wahre
Ausmaß der Abholzung tropischer Regenwälder
im malayischen Borneo erfasst werden. Diese Bedrohung der Biodiversität tropischer Regionen wurde mit diesen neuen Studien offengelegt und kann jetzt gezielt unterbunden bzw.
rückgängig gemacht werden. Alfred Wallac­e
hat während seiner Reisen im Malayischen Archipel somit nicht nur die natürliche Selektion entdeckt und beschrieben, sondern auch
als einer der Ersten erkannt, dass die evolvierte Biodiversität durch Menschen bedroht und
zerstört wird. In Anerkennung dieser Einsichten sollten wir Alfred Russel Wallace, dem
»Mann im Schatten von Charles Darwin«, einen Ehrenplatz unter den verantwortungsvollen Forscherpersönlichkeiten seiner Zeit zuerkennen.
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YouTube Kanal des AK Evolutionsbiologie (www.
evolutionsbiologen.de):
http://www.youtube.com/user/evolutionsbio­logenDE
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