Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KOMPENDIUM Die Pellagra Professor Dr. med. Georg Otto Schlütz und Professor Dr. med. Donald Stewart McLaren*) Aus dem Center of Research, University of Damascus, Damascus, Syrian Arab Republic (Direktor: Professor Dr. med. G. 0. Schlütz) und dem Department of Clinical Nutrition, School of Medicine, American University of Beyrut, Beyrut, Lebanon (Direktor: Professor Dr. med. D. S. McLaren) Die Pellagra scheint bereits vor 5000 Jahren, bei den Begründern der altbabylonischen Kultur den Sumerern bekannt gewesen zu sein, wenn auch nur in magischdämonischer Form : Pazuzu, der „Greifer", ein raubtierhaft aussehender Dämon mit Raubvogelkrallen an Händen und Füßen und gewaltigen Flügeln, galt als magischer Überträger einer Krankheit, die das Gesicht gelb und die Zunge schwarz oder dunkel verfärbte. Vor etwa 300 Jahren beschrieb Bruino ein pellagra-ähnliches Syndrom bei amerikanischen Indianern, das er mit Maisernährung in Zusammenhang brachte. Die erste klare Beschreibung der Pellagra in Europa stammt von dem Spanier Casal und seinem Schüler Thiery (1735). Sie hatten festgestellt, daß die Krankheit im Frühjahr gehäuft auftritt und vor allem die Landbevölkerung befällt, deren proteinarme Nahrung hauptsächlich aus Mais und Maisprodukten bestand. Bald danach beschrieb Frapoli die Pellagra in Italien (1771) und gab ihr den italienischen Namen „Pellagra", was pelle agra = rauhe Haut bedeutet. Die Krankheit grassierte in Italien so stark, daß die Sanitätskommission von Venedig 1776 ein Verbotsedikt für den Handel mit Mais erließ, der von schlechtem Geruch oder schlechtem Geschmack war oder eine Verfärbung aufwies. In den Vereinigten Staaten wurde um 1911 heftig über die Ätiologie der Pellagra diskutiert. Die sogenannte Illinois-Pellagra-Kommission wollte in der proteinarmen Kost nur einen prädisponierenden Faktor erkennen und glaubte an eine gastrointestinale Infektion, die durch einen unbekannten Erreger ausgelöst worden sein sollte. Auch die sogenannte Thompson-McFadden-Pellagra-Kommission kam in Südcarolina, wo sie 5000 Pellagrakranke untersuchte, zu dem Schluß, daß Pellagra eine spezifische Infektionskrankheit sei und nichts mit dem Verzehr von gutem oder schlechtem Mais zu tun habe. Eine andere Hypothese, die VektorTheorie Sambons, besagt: ähnlich der Malaria würde die Pellagra durch Insekten übertragen. Sie stützt sich auf das gehäufte Vorkommen der Krankheit unter der Landbevölkerung in wasserreichen Gegenden, außerdem sprach eine jahreszeitliche Abhängigkeit für diese Krankheit. Wenn auch nahezu 200 Jahre lang die Verbindung von endemischer Pellagra mit Maisernährung vermutet wurde, konnten ihre genauen diätetischen Grundlagen doch erst in den letzten 55 Jahren abgeklärt werden. Die forschende Biochemie beschäftigt sich noch heute mit ihnen. Infektions- und Vektortheorie in der Genese der Pellagra waren um die Jahrhundertwende dominant. Dies war auch noch der Fall, als Kasimir Funk 1912 die Pellagragenese mit dem Fehlen eines essentiellen Nährstoffs, wahrscheinlich eines Erst in den letzten fünf Dezennien ist es gelungen, die Ursachen der Pellagra aufzudecken, die vor allem unter der armen ländlichen Bevölkerung, die sich hauptsächlich von Mais ernährte, grassierte. Der Verdacht, daß es sich bei dieser Krankheit sowohl um einen Vitamin- als auch einen Aminosäurenmangel handeln könne, wurde erst in den vierziger Jahren bewiesen. Nachdem die ErnährungSlage, auch in den Entwicklungsländern, erheblich verbessert werden konnte, ist die klassische Form der Pellagra nahezu verschwunden. Die atypische Pellagra, die ohne Beteiligung der Haut verläuft, aber auf Nikotinsäuretherapie anspricht, ist keineswegs selten. Latenter Nikotinsäuremangel ist auch in Europa stärker verbreitet, als allgemein angenommen wird. Wieviel Niacin der Mensch benötigt, ist individuell verschieden; der Bedarf ist von der Kalorienzufuhr abhängig. „Vitamins", in Verbindung brachte, und als Joseph Goldberger vom U. S. Public Health Service auf Grund alarmierender Pellagrafälle — im Jahre 1912 waren in den Vereinigten Staaten 10 000 Personen schwer erkrankt, von denen 40 Prozent starben — zwei Jahre später mit der Klärung des Pellagraproblems beauftragt worden war. Sozusagen als Karriere-Epidemiologe mit 15jähriger amtsärztlicher Tätigkeit und mit allen Fragen von Infektionskrankheiten und ihren Übertragungsmöglichkeiten vertraut, begann Goldberger seine Arbeit, ohne je einen Fall von Pellagra zu Gesicht bekommen zu haben. Vielleicht war es gerade dieser Tat') Die Veröffentlichung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Ausschuß „Ernährungsfragen in Entwicklungsländern" der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 7 vom 15. Februar 1973 409 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Pellagra sache zu verdanken, daß er das Problem ohne Vorurteile leidenschaftslos und mit naturwissenschaftlich sachlicher Kritik analysierte. Bereits drei Monate nach seinem Amtsantritt kam Joseph Goldberger in seiner ersten Publikation über die Pellagra zu vollkommen entgegengesetzten Ansichten gegenüber den herrschenden Theorien. Er leitete sie aus drei epidemiologischen Tatsachen ab: Pellagra ist mit Armut verbunden, sie tritt vorwiegend unter der Landbevölkerung auf; in Krankenhäusern, in denen Pellagra gehäuft vorkommt, erkrankt nie das Pflegepersonal. Goldberger schloß daraus, daß Pellagra nicht übertragbar sei, sie werde vielmehr durch diätetische Faktoren ausgelöst. Besonders interessant ist es, daß der amerikanische Epidemiologe sowohl an einen Vitamin- (pellagra preventive factor) als auch Aminosäurenabbau Kohlenhydratabbau Fettsäuren abbau CO .T 1 NSAURE Brenzt raubensäure aktivierte Essigsäure Oxalessigsäure 2H Äpfelsäure Die Publikationen Goldbergers stießen zunächst auf eisiges Schweigen; man war nicht willens, eine nutritive Ätiologie der Pellagra zu akzeptieren. In seiner 1919 erschienenen ausführlichen Pellagramonographie erwähnt H. F. Harris die bahnbrechenden Arbeiten Goldbergers noch mit keinem Wort. Knapp zehn Jahre später gelang es Goldberger, das Gegenstück der menschlichen Pellagra beim Hund, die Blacktongue-Krankheit, experimentell zu erzeugen. Er starb im Jahre 1929, ohne den „Pellagrapreventive-factor" identifiziert zu haben. Dies blieb Elvehjem und seinen Mitarbeitern vorbehalten, die im Jahre 1937 den „Antiblacktonguefactor" aus Leberextrakt isolierten und als Nikotinsäure identifizierten. Diese wurde dann mit großem Erfolg in die Behandlung der menschlichen Pellagra eingeführt. Acht Jahre später traten Elvehjem, Krehl, Teply und Sarma den Beweis an, daß die Tryptophanarmut von Mais der verantwortliche Faktor für das gehäufte Auftreten von Pellagra in Gegenden mit hohem Maiskonsum ist. Zitronensäure DPN- einen Aminosäuremangel — speziell des Tryptophans — dachten. Isozitronensäure 002 Fumarsäure ct-Ketoglutarsaure 1.. 2H Chemie Bernsteinsäure 002 DPN-10 oder TPN- ,Flavinenzyme- 0 DPN- Atmungskette Flavinenzyme— Vit. B2 C) = Elektronen CytochromSystem 0 Cytochromoxydase Sauerstoff 0-- 2H + H20 Darstellung 1: Schlüsselstellung der Nikotinsäure im Stoffwechsel sowie der Pyridinenzyme (DPN + TPN in denen Niacin das Koenzym darstellt) im Zitronensäurezyklus 410 Heft 7 vom 15. Februar 1973 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Nikotinsäure und Nikotinsäureamid werden meistens unter dem Sammelnamen Niacin zusammengefaßt und sind als Vitamin gleichbedeutend den Synonymen Pellagraschutzstoff oder „Pellagra-preventive-factor (Darstellung 1). Der Körper gewinnt sein Niacin nicht nur aus der Nahrung, sondern auch noch indirekt durch die endogene Überführung von Tryptophan in Nikotinsäure im Intermediärstoffwechsel. Dabei entsprechen ungefähr 60 Milligramm Tryptophan einem Milligramm Niacin. 60 Milligramm Tryptophan stellen somit ein Niacinäquivalent dar. Für die einzelnen Stufen der Tryptophankonversion zu Niacin im Stoffwech- Zur Fortbildung, Aktuelle Medizin Pellagra sel sind drei Vitamine erforderlich: Thiamin, Niacin und Vitamin B6. Mit den im Harn nachweisbaren Metaboliten des Tryptophan- und Niacinstoffwechsels lassen sich Mangelzustände des Pyridoxins und Niacins aufdecken. Nahrungsquellen Niacinhaltig sind vor allem Fleisch, Hefe, Erdnüsse, Paranüsse, Datteln und Hülsenfrüchte. Milch und Eier weisen zwar nur einen geringen Niacingehalt auf, doch sind sie relativ reich an Tryptophan und besitzen somit ein hohes Niacinäquivalent. Mais ist im allgemeinen nicht arm an Niacin; es liegt aber in gebundener für den Körper nicht verwertbarer Form vor, und wird erst nach Alkali-Behandlung frei. Von den Maisprodukten enthalten jeweils 100 Gramm Maiskorn Maisvollmehl Maisgrieß Corn-Flakes Popcorn Stärke (Maizena) Abbildung 1: Alkoholische Pellagra mit Enzephalopathie (Südafrikaner) 1,7 mg Niacin 1,4 mg Niacin 1,4 mg Niacin 2,1 mg Niacin 2,2 mg Niacin 0,03 mg Niacin Bedarf Der tägliche Bedarf an Niacin wird mit Rücksicht auf die Umwandlung von Tryptophan zu Niacin heute vielmehr in Niacinäquivalenten angegeben. Wieviel Niacin der Organismus benötigt, hängt von der Kalorienzufuhr ab. Um das Auftreten von Pellagra zu verhindern, ist für Erwachsene eine Mindestzufuhr von 4,4 mg/1000 kcal erforderlich; das sind also bei einer Zufuhr von weniger als 2000 kcal pro Tag 8,8 Milligramm Niacin. Die US-National Academie of Sciences empfiehlt für Säuglinge, Kinder und Erwachsene eine tägliche Zufuhr von 6,6 mg/1000 kcal. Während Schwangerschaft und Laktation ist der Niacinbedarf erheblich erhöht. Deshalb sollen für die Dauer der Schwangerschaft zusätzlich täglich drei Milligramm und für die Zeit der Abbildung 2: Stomatitis angularis als Ausdruck des oro-oculo-genitalen Syndroms bei Pellagra (Riboflavinmangel) (Südafrikaner) Laktation täglich sieben Milligramm Niacin verabreicht werden. Verbreitung der Pellagra Auf Grund des dauernd ansteigenden reichhaltigen Angebots an Nahrungsmitteln ist in den letzten drei Dezennien die klassische Form der Pellagra nahezu verschwunden. Auch in den Entwicklungsländern haben Agrar- und Gesundheitspolitik zu einem erheblichen Rückgang der Pellagra geführt. Einzelherde finden sich noch in Südosteuropa, in Afrika und im Vorderen Orient, wo für einen Teil der Bevölkerung Mais noch das Nahrungsmittel schlechthin ist. In den Vereinigten DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 7 vom 15. Februar 1973 411 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Pellagra Staaten und in Südafrika führt chronischer Alkoholismus zu einem vermehrten Niacindefizit (Abbildung 1); Pellagrazeichen werden hier — im Gegensatz zu europäischen Alkoholikern (vermehrter Bierkonsum?) — häufig beobachtet. Alkoholabusus ist also diagnostisch ein bedeutender anamnestischer Faktor. Therapeutisch kann die Zufuhr von Niacin bei alkoholischer Enzephalopathie, die ohne dermatologische und gastroenterale Symptome einhergeht, lebensrettend sein. Klinisches Bild der klassischen Pellagra Die menschliche Pellagra ist sicher keine reine Niacinavitaminose, für ihr Zustandekommen ist der Mangel mehrerer Vitamine verantwortlich, wenn auch ihre Hauptsymptome durch den Niacinmangel vorwiegend bestimmt sind. Besonders durch das Defizit an Vitamin B, und B6 kann eine adäquate endogene Niacinsynthese aus Tryptophan verhindert werden. Andererseits besteht bekanntlich bei sechzig Prozent aller Pellagrakranken eine reversible Achylie, wobei die schlechte Resorption von Vitamin B12 ebenfalls zum neurologischen Symptomenkomplex beitragen dürfte. Wegen ihrer gemeinsamen Beteiligung an den oxydativen Prozessen in der Zelle und ihres meistens gemeinsamen Vorkommens in den Nahrungsmitteln werden bei Pellagra nahezu regelmäßig auch Zeichen der Aribofla- vinose als Ausdruck des oro-oculogenitalen Syndroms beobachtet: Die pellagröse Cheilitis (Abbildung 2), Skrotaldermatitis, Vulvitis pellagrosa, filiforme, follikuläre Hyperkeratose des Gesichts. Wie bei den meisten Avitaminosen verläuft das Prodromalstadium uncharakteristisch und äußert sich im allgemeinen durch Appetitmangel, Gewichtsverlust, Abnahme der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, Unlust, Verstimmung, Schlaflosigkeit, leichten, geistigen Verwirrungszuständen, Wundsein und Brennen der Zunge und gelegentlich auch Diarrhöen. Sie können sehr leicht als Zeichen eines Niacinmangels übersehen werden, namentlich wenn Hautsymptome fehlen. Einfach ist die Diagnose zu stellen, wenn die drei typischen Abbildung 3: Pellagra: Akute Phase (Ostafrikaner) mit „Pellagra-Handschuh" — Abbildung 4: Pellagra: Akute Phase — Casalsches Halsband (Ostafrikaner) 414 Heft 7 vom 15. Februar 1973 DEUTSCHES ARZTEBLATr Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Pellagra Symptome vorliegen, die der Pellagra den Namen der Krankheit der drei Ds eingetragen haben: Dermatitis, Diarrhö, Dementia. Veränderungen der Haut Die Veränderungen der Haut bestehen in entzündlichen Erythemen, die meist im Frühjahr oder im Frühsommer nach stärkerer Sonnenexposition vor allem an den Handrücken und unbekleideten Körperteilen symmetrisch auftreten. Im allgemeinen ist auch ein geringfügiges Hautödem vorhanden, das von leichtem Pruritus begleitet ist. Nach kurzer Dauer bilden sich Pusteln und Beulen, die zusammenfließen und bersten. Die im Anfang braungelben, später braungrauen und durch Hämorrhagien ins Schwärzliche übergehenden Schuppen sind für die ungewöhnliche Farbe und rauhe Haut der Oberfläche verantwortlich. Die Epidermis an den Fingern verdickt sich, die Gelenkfalten verschwinden. Schmerzhafte Fissuren entwickeln sich an Fingern und Handinnenflächen. Tiefe Rhagaden, Blasen und Krusten auf und neben den Erythemen können auch an bekleideten Körperstellen auftreten und somit das Bild der pemphigoiden Pellagra zeigen. Sehr oft kann das Nikolski-Phänomen") ausgelöst werden. Von den Händen kann sich das Erythem weiter auf die Vorderarme ausbreiten; hier bildet sich dann symmetrisch und scharf von gesunder Haut abgegrenzt, der „Pellagra-Handschuh" (Abbildung 3), ein Phänomen, das auch als „Pellagra-Stiefel" an den unteren Extremitäten auftreten kann. Imponierend ist die Symmetrie der Hautläsionen im Gesicht. Befallen sind Stirn, Wangen, Kinn, Lippen und Nasenseiten, gelegentlich auch die Augenlider ähnlich dem „Schmetterlingserythem" bei Lupus erythematodes; zwischen Haaransatz und Erythem ist aber stets ein *) Ablösbarkeit der Epidermis durch Druck auf die Haut. Abbildung 5: Kwashiorkor: Nicht zu verwechseln mit Pellagra, differentialdiagnostisch wichtig normaler Hautstreifen. Das Gesicht ist allerdings oft nur wenig betroffen. Manchmal sieht man auch das „Casalsche Halsband" (Abbildung 4), das sich um den ganzen Hals herumzieht und sich meistens mit einem länglichen Fortsatz über das Brustbein als „Krawatte" erstreckt. Im Frühstadium wird oft an den stark verhornten Handinnenflächen eine auffallende Gelbfärbung beobachtet (Flinkersches Zeichen). Gastrointestinaltrakt Glatte, rote Zunge und nackte Zungenpapillen werden als Kriterien des Niacinmangels bezeichnet. Relativ früh treten Glossitis und Stomatitis auf. Schwellung und Rötung der Zungenspitze und der Zungenränder greifen in kurzer Zeit auf die ganze Zunge über und befallen Zahnfleisch, Lippen und die gesamte Mundschleimhaut. Die Zunge bekommt ein rauhes Aussehen. Bald zeigen Zunge und Mundschleimhaut weißliche pseudomembranöse Beläge, die sich nach einigen Tagen abheben und erosiv-ulzeröse Herde hinterlassen. Rhagaden an den Lippen und leicht blutendes Zahnfleisch bei erhöhtem Speichel- fluß machen das Essen zur Qual. Störungen des Magen-Darm-Traktes gesellen sich hinzu, die sich in Übelkeit, Erbrechen und Magenschmerzen äußern. Über die Hälfte aller Pellagrakranken weisen eine gastrische Achylie auf, wässerigschleimige Durchfälle sind an der Tagesordnung. In schweren Fällen werden auch schaumig-blutige Stühle beobachtet. Es kann zu enormem Gewichtsverlust mit allgemeiner Erschöpfung und letalem Ausgang kommen; dieses Krankheitsbild hat man mit dem Namen „Typhus pellagrosus" belegt. Neuro-psychische Symptomatik Im Prodromalstadium dominieren pseudo-neurasthenische Symptome wie Schlaflosigkeit, Kopfweh, Schwindelgefühl, Übererregbarkeit, Gedächtnisschwäche und starke Stimmungsschwankungen, die sich in schweren Fällen zu depressiven Psychosen mit Stupor, Demenz, Halluzinationen und schweren Verwirrtheitszuständen entwickeln können. Charakteristisch für die „Nikotinsäuremangel-Enzephalopathie" (Abbildung 1) ist die träge Lichtreaktion der Pupillen, Störungen der Bewegungsabläufe, Tre- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 7 vom 15. Februar 1973 415 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Pellagra mor, Rigor, Verlust der Sehnenreflexe und das Auftreten von spastischen Paresen. Diese Symptome sind wahrscheinlich nicht nur alleiniger Ausdruck des Nikotinsäuremangels, sondern auch des Defizits an weiteren Vitaminen der BGruppe, vor allem von Bi, B6 und B12. Jedenfalls hat man bei experimentellem Nikotinsäuremangel diese Symptome bisher nicht beobachtet. Atypische Pellagra Nicht immer zeigt sich die Pellagra mit ihren drei charakteristischen Symptomen; oft tritt sie auch mono- und oligosymptomatisch auf. Sie äußert sich dann in hartnäckigen Stomatitiden, isolierten pellagroiden Erythemen und isolierten Enterokolitiden, geistigen Veränderungen im Sinne einer Altersdemenz mit und ohne pellagroide Veränderungen der Haut und zentralnervösen Störungen im neuropsychischen Bereich. Fälle, die keine Hautbeteiligung aufweisen, wohl aber auf Nikotinsäuretherapie ansprechen, werden in der Literatur „Pellagra sine Pellagra" genannt. Latenter Nikotinsäuremangel ist auch in Europa weiter verbreitet, als allgemein angenommen wird. Studien in neun Gegenden der Schweiz, bei denen die Ernährung von 1668 Personen analysiert wurde, ergaben, daß 62 Prozent von ihnen ihren Bedarf an Niacin nicht hundertprozentig deckten. Über längere Zeit äußert sich eine solch unzureichende Nikotinsäureversorgung in dauerndem Hungergefühl, das meistens mit Zucker und Süßwaren gedämpft wird. Dadurch wird aber der Bedarf an Nikotinsäure weiter erhöht, zumal oft auch überdurchschnittlich viel Reis und Teigwaren gegessen werden. Eine typische Reaktion ist dann — vor allem im Vorderen Orient — ein unwahrscheinlich hoher Verbrauch an Kaffee und Fleischextrakt, die beide den „Pellagra-preventive-factor" enthalten. Hierdurch wird instinktiv eine — wenn auch insuffiziente — Niacinzufuhr erreicht. Der Bedarf an Niacin scheint nicht nur von Rasse und Population, sondern genauso auch von Individuum zu Individuum erheblich zu schwanken. Das geht schon daraus hervor, daß in einer Bevölkerungsgruppe wie beispielsweise in Syrien, wo die meisten Menschen dieselbe Nahrung aufnehmen, im Jahre durchschnittlich vier bis fünf Pellagrafälle auftreten. Das sind diejenigen Personen mit einem außergewöhnlich hohen Niacinbedarf. Hierfür sprechen auch Experimente von G. A. Goldsmith, der drei Personen über 90 Tage lang mit einer Weizendiät verpflegte, die 200 Milligramm Tryptophan und fünf Milligramm Niacin enthielt. Nach beendigter Versuchsperiode wies ein Proband die charakteristischen Zeichen der Pellagra auf, der zweite lediglich Verdachtszeichen und der dritte überhaupt keine Anzeichen eines Niacinmangels. Sekundärer Niacinmangel a) Das Hartnup-Syndrom: Eine hereditäre Erkrankung, die rezessiv vererbt wird und sich in Aminoacidurie, zerebrellarer Ataxie und lichtempfindlicher Dermatitis mit pellagra-ähnlichem Erscheinungsbild äußert. Es liegt nicht nur ein intestinaler Tryptophanabsorptionsdefekt, sondern auch eine renale tubuläre Schädigung der Aminosäurenrückresorption vor. Das Pellagrasyndrom ist hier mit einer Störung im Tryptophantransport zu erklären, durch den die endogene Niacinproduktion herabgesetzt wird. b) Das Tada-Syndrom (Tryptophanpyrrolasedefekt?): Es wurde 1963 von Tada beschrieben, bei dem große Mengen von Tryptophan im Harn ausgeschieden werden. Klinisch besteht Ähnlichkeit mit dem Hartnup-Syndrom. Das Tada-Syndrom äußert sich in Zwergwuchs, Photosensibilität und Schwachsinn. Diagnostisch kann der Hinweis auf blaue Flecke in den Windeln der Kinder hilfreich sein. 416 Heft 7 vom 15. Februar 1973 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT c) „Blue-Diaper"-Syndrom: Bei ihm werden ebenfalls blaue Flecken (Kondensationsprodukt zweier Indikanmoleküle) in den Windeln beobachtet, klinisch geht es aber mit Fieberattacken, Obstipation, Irritabilität und Nephrolithiasis einher. Im Serum ist der Calciumgehalt erhöht. Zum Hartnup-Syndrom bestehen Beziehungen insofern, als intestinale Resorptionsstörungen für Tryptophan vorliegen. d) Malignes Karzinoid-Syndrom: Bei ihm werden bis zu 60 Prozent des verfügbaren Tryptophans in Serotonin umgewandelt, während normalerweise nur etwa ein Prozent in 5-Hydroxytryptamin überführt wird. Somit wird die endogene Niacinsynthese erheblich eingeschränkt. e) Acrodermatitis enterohepatica: Diese schwerwiegende Erkrankung im frühen Kindesalter ist durch Diarrhö, Apathie, aurikuläre, periorale und akrale Dermatitis gekennzeichnet. Als Ursache der pellagrodien Hauterscheinungen wird ein vererbter Tryptophanstoffwechseldefekt diskutiert. f) Isonicotinsäurehydrazid-Medikation: lsoniacid verdrängt Nicotinamid aus Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid und führt in der Langzeitbehandlung zu pellagraähnlichen Erscheinungen. Eine weitere Komplikation stellt der gleichzeitige Pyridoxinmangel dar. g) Vitamin-B6-Mangel: Er führt auf Grund seiner Beteiligung an der endogenen Niacin-Biosynthese ebenfalls zu pellagraähnlichen Hautsymptomen. h) 6-Mercaptopurin-Medikation: Diese Substanz, die zur Therapie bei Leukämien verwendet wird, kann zur Pellagra führen. Differentialdiagnose Differentialdiagnostisch kommen bei pellagrösen Hauterscheinungen noch in Frage: einfaches Sonnenerythem, Lupus erythematodes, se- Zur Fortbildung Aktuelle Medizin borrhoisches Exanthem, Porphyria cutanea tarda und Kwashiorkor (Abbildung 5). AuCh der pemphigoide Typ der Pellagra muß vom Pemphigus vulgaris abgegrenzt werden. Korrigierende und rekonstruierende Operationen an der Ohrmuschel Therapie Selbst bei schweren gastroenteralen Symptomen genügen im allgemeinen orale Gaben von 50 bis 100 Milligramm Nicotinamid, alle vier bis sechs Stunden. Nur wenn Schluckbeschwerden bestehen, ist der parenterale Weg angezeigt. Dabei soll eine intravenöse Zufuhr wegen der Gefahr des Auftretens eines anaphylaktischen Schocks 25 Milligramm nicht übersteigen. Goldsmith empfiehlt, in diesen Fällen dreimal täglich 100 Milligramm intramuskulär zu applizieren. Gewöhnlich bessert sich der Zustand des Patienten schon innerhalb der ersten 24 Stunden bedeutend. Wegen der polyavitaminotischen Zeichen der Pellagra verabreicht man erfolgreich zusätzlich Hefeextrakt, Vitamin-B-Komplex oder Leberextrakte; diese Medikation ist notfalls mit Riboflavin und Vitamin B12 zu ergänzen. Die Diät soll kalorienreich sein und 100 bis 150 Gramm Eiweiß enthalten; außerdem muß sie breiig sein, um weitere Irritationen des Verdauungstraktes zu vermeiden. Bettruhe ist einzuhalten. Neuropsychotisches Verhalten der Patienten sollte verständnisvoll toleriert werden. Bei schwerer Dermatitis mit Schuppen und Krusten sowie Sekundärinfektion sind Waschungen mit einem Desinfizienz angebracht. Massive Diarrhöen sind so lange mit Tinctura Opii zu behandeln, bis die Durchfälle mit Nicotinamid unter Kontrolle gehalten werden können. Literatur beim Verfasser Biochemistry Research and Training Center Louzmila-Hospital Amman/Jordan Djebel Weibdeh Dr. med. Claus Walter Der Hausarzt wird oft nach der Möglichkeit zur Korrektur „abstehender" Ohren oder der Rekonstruktion mißgebildeter Ohrmuscheln gefragt. Durch Schilderung der operativen Möglichkeiten und Schwierigkeiten wird gezeigt, welche Erfahrung, Kunstfertigkeit und Geduld zur Erzielung befriedigender Ergebnisse notwendig sind. Während die Korrektur abstehender Ohren fast immer in einer Sitzung gut gelingt, muß man bei der Rekonstruktion der Ohrmuschel meist schrittweise vorgehen, und nicht allzu oft erreicht man das schöne Vorbild der Natur. Bei einleuchtender Begründung durch den Arzt übernehmen die Krankenkassen im allgemeinen die Kosten für die Operation in dem ihren Bestimmungen entsprechenden Rahmen. Die Ohrmuschel entwickelt sich aus den Kiemenanlagen des ersten und zweiten Kiemenbogens. Vom 21. Tag an erscheinen beim Embryo je drei Ektodermverdickungen, aus denen sich dann bis zur sechsten Woche die Ohrmuschel in ihrer eigentlichen Form ausbildet. Jeweils drei Epithelknospen werden dem Mandibular- und dem Hyoidbogen zugeordnet. Die Anlagen des Mandibularbogens bilden sich aber im wesentlichen zurück, so daß 85 Prozent der fertigen Ohrmuschel dem Hyoidbogen entstammen. Da sich auch das Mittel- und Innenohr aus diesen Anlagen entwikkein, kann es bei Störungen der Entwicklung auch zu Mißbildungen im Gehörgang, Mittelohr und Innenohr kommen. Das spielt für die Indikation zu Operationen an der Ohrmuschel allein unter Umständen eine wichtige Rolle. Zwei Ohrmuscheltypen vor allem beschäftigen den plastisch-chirur- gisch tätigen Hals-Nasen-OhrenArzt: Die „abstehenden Ohren" und die eigentlichen Ohrmuschelmißbildungen. Kinder mit abstehenden Ohren werden häufig gehänselt. Die Beseitigung der Stellungsanomalie ist aus psychischen Gründen deshalb ärztlich indiziert. Es gibt die verschiedensten Varianten auffälliger oder abstehender Ohrmuscheln, man kann sich aber auf vier Hauptgruppen beschränken, die noch durch folgende Besonderheiten charakterisiert sein können: O Anthelix vorhanden, aber prominent, 0 Fehlen des Grus superius, 0 Fehlen des Anthelix und 0 Abdrängen des Ohres vom Kopf durch einen hyperpneumatischen Warzenfortsatz. DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 7 vom 15. Februar 1973 417