Von den Tropen in die Stube Vielfalt den Gesneriengewächse Dokumentarserie n° 40 der Conservatoire et Jardin botaniques der Stadt Genf. Broschüre in 5000 Exemplaren herausgegeben anlässlich der Ausstellung «Von den Tropen in die Stube». Pierre-André Loizeau Direktion Alain Chautems, Mathieu Perret, David Aeschimann Rédaktion Übersetzung Liz Hopkins (Englisch), Martin Spinnler (Deutsch) Koordination Botanischer Garten Der Universität Zürich Bildmaterial Gestaltung Druck Peter Enz Sämtliches Bildmaterial ist Eigentum der Autoren dieser Broschüre, mit Ausnahme der nach der Bildlegende speziell erwähnten Fotografen. Matthieu Berthod Fotorotar AG – Egg/ZH Alle Rechte zur Vervielfältigung oder Abdruck sind vorbehalten © CJBG – Genf, Mai 2016 © Texte Die Autoren © Bilder Die Autoren und zitierten Fotografen ISBN 2-8277-0340-8 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Vom Wohnzimmer in die Tropen 7 Was sind Gesneriaceen? 7 Evolution 11 Epiphyten: Pflanzen zwischen Himmel und Erde 13 Die Bestäuber der Gesneriaceen 17 Die Beziehung zwischen Pflanze und Bestäuber : Quelle der Blütenvielfalt 23 Feldforschung und Sammeln 27 Die Entdeckung neuer Arten 31 3. Von den Tropen ins Wohnzimmer 37 Das Usambaraveilchen: Verkaufsschlager im Supermarkt und vom Aussterben bedroht 39 Gloxinia: die brasilianische Gesnerie der Blumenzüchter 41 4. Die Europäischen Gesneriaceen 43 Die fünf europäischen Gesneriaceen-Arten 45 Relikte der europäischen Tertiärflora 49 Drei europäischen Gessneriaceen, die im Jardin botanique de Genève kultivierten werden 52 5. Eine dem Schweizer Gelehrten Conrad Gesner gewidmete Pflanzenfamilie 55 1.Tropische Zimmerpflanzen, Ursprung und Vielfalt der Gesneriaceen «Les Conservatoire et Jardin botaniques schen Garten von Genf unternommenen de la Ville de Genève » und der Botanische Expeditionen sind über 3000 tropische Garten der Universität Zürich beleuchten Arten beschrieben worden. Sie zeichnen gemeinsam den Ursprung tropischer Zim- sich durch eine bemerkenswerte Vielfalt merpflanzen. Wir laden Sie zu einem Rund- der Blütenformen und -farben aus, und ver- gang durch unsere Gewächshäuser ein. schiedene unter ihnen finden für die Zucht Erleben und entdecken Sie, unter welchen von Zierpflanzen Verwendung. tropischen Bedingungen diese Gartengewächse gedeihen und erfahren Sie mehr Um die komplexen Prozesse zu verdeut- über die Ursachen ihrer aussergewöhnli- lichen, die zu dieser üppigen Vielfalt chen Vielfalt. geführt haben, stützen wir uns auf das Fachwissen und die Kompetenz von For- In dieser Ausstellung werden Sie die schenden und Gärtnern der beiden Insti- Gesneriaceen näher kennenlernen, eine tutionen in Genf und Zürich. Neben den Pflanzenfamilie, welche die tropische wissenschaftlichen Informationen, die wir Vielfalt verkörpert und deren Namen den Ihnen vermittelt, sollen Sie die Pflanzen berühmten Zürcher Naturforscher Conrad aber auch berühren, riechen und beobach- Gessner ehrt. Seit ihrer Entdeckung im ten können und dadurch einen sinnlichen 17. Jahrhundert bei der Erforschung der Eindruck von der tropischen Pflanzenviel- Antillen bis zu den jüngsten vom Botani- falt gewinnen. 4 Ihre Zimmerpflanzen : ein Blick auf die Biodiversität der Tropen Zusammen mit Orchideen, Begonien, Phi- ten Villen leisten. Durch Fortschritte im lodendren, Ficus, Palmen und Bromelien Transportwesen und beim Bau und Betrieb haben die Gesneriaceen unseren Wohn- von Gewächshäusern wurden tropische bereich erobert. All diese Pflanzen wurden Pflanzen aber leichter verfügbar. Mit der wegen ihrer bemerkenswerten Formen und allgemeinen Verbreitung der Zentralhei- farbenfrohen Blüten ausgewählt und ver- zung in der Mitte des 20. Jahrhunderts mitteln uns einen Einblick in die beeindru- wurde die Zucht von Zimmerpflanzen in ckende Biodiversität der Tropen. Nordamerika und Europa immer populärer. Inzwischen findet eine grosse Anzahl von Die Zucht seltener exotischer Tropenpflan- Pflanzen in unseren Wohnungen im wahrs- zen konnten sich im 19. Jahrhundert nur ten Sinne des Wortes blühende Wuchsbe- Besitzer von Gewächshäusern oder beheiz- dingungen. 5 Gesneriaceae Calceolariaceae Plantaginaceae Scrophulariaceae Lamiaceae Lamiales Wie erkennt man eine Gesnerie ? Krautige Pflanze mit gegenständigen Blättern, selten busch- oder strauchförmig Krone aus 5 zu einer Röhre verwachsenen Kronblättern Saintpaulia 2 oder 4 Staubblätter; diese oft miteinander verwachsen Zahlreiche kleine Samen, auf der Fruchtwand angeordnet 2.Vom Wohnzimmer in die Tropen, die Vielfalt einer tropischen Familie Was sind Gesneriaceen ? Die Familie der Gesneriaceen ( = Gesnerien- Gesneriaceen, Lippenblütler und Wegerich- gewächse) umfasst über 3000 Arten. Diese gewächse sind wiederum Vertreter der grö- sind mit der Gattung Salbei (Lippenblütler sseren Gruppe der Lamiales mit etwa 80000 = Lamiaceae) und dem Löwenmaul (Wege- Arten, was ungefähr einem Fünftel aller Blü- richgewächse = Plantaginaceae) verwandt. tenpflanzen entspricht. Woher kommen die Gesneriaceen ? Die Gesneriaceen kommen überall in den (z.B. Chile, Südafrika, Australien, Neusee- Tropen vor. Ausserdem sind sie teilweise land) in Regionen mit temperiertem Klima auch in Europa und auf der Südhalbkugel verbreitet. Geographische Verbreitung der Gesneriaceen. Angaben zum Vorkommen: Global Biodiversity Information Facility 7 1 2 3 4 5 In welchen Lebensräumen gedeihen Gesneriaceen ? gebirgige Dürreperioden überstehen. Andere hin- Hochlagen. Sie gedeihen auf Bäumen gegen sind auf eine immerfeuchte Umge- (als Epiphyten) oder wachsen auf Felsen. bung angewiesen und wachsen z.B. an Einige Arten können in Knollen oder Rhi- Flussufern oder im Unterholz von Nebel- zomen Wasser speichern und damit lange wäldern. Gesneriaceen bevorzugen 1 Chile, epiphytisch: Asteranthera ovata © Jason Hollinger - Wikimedia Commons 2 Ecuador, epiphytisch: Kohleria affinis © Andreas Kay 3 Panama, Unterholz tropischer Wälder: Besleria sp. 4 Südafrika : Streptocarpus dunnii © Nzfauna - Wikimedia Commons 5 Brasilien, Espirito Santo: granitischer Inselberg mit Paliavana prasinata 9 Zeit in Mio Jahren 11 Besleria 10 Mitraria Südpazifik Heute10 2030 405060 70 11 10 9 9 Diastema 8 8 Sinningia 5 Ramonda Europa 6 Columnea Südamerika 7 Drymonia 7 6 5 4 3 3 Saintpaulia Afrika 4 Paraboea 2 2 Aeschynanthus 1 Primulina Asien 1 Auf DNS-Analysen basierender phylogenetischer Baum («Stammbaum») der Gesneriaceen 1 © Michael Wolf - Wikimedia Commons 4 © Qing-Jun Li 10 © Stan Shebs - Wikimedia Commons Evolution Alle Gesneriaceen gehen auf einen gemein- Dank den Methoden der DNS-Analyse kann man samen Vorfahren vor ungefähr 70 Millionen heute genauere Aussagen über die Verwandt- Jahren zurück. Im Verlauf dieser langen Ent- schaftsverhältnisse und das Alter einzelner Arten wicklungsgeschichte haben die Gesneriaceen machen. Diese Analysen haben es erlaubt, für die alle Kontinente besiedelt und sich in ver- Gesneriaceen eine neue, plausiblere Systematik schiedene Linien mit je eigener Morphologie zu erarbeiten und die Ursachen ihrer ausserge- und geographischer Verbreitung entwickelt. wöhnlichen Vielfalt besser zu verstehen. Entwicklungsgeschichte der Pflanzen anhand ihrer Gene 1: Die DNS der Pflanzen entziffern 2: Den Baum des Lebens rekonstruieren Moderne Labormethoden ermöglichen das Die Analyse der DNS-Sequenz erlaubt Aussa- Entziffern der DNS-Sequenz. Die DNS ist ein gen über die Verwandtschaft zwischen Arten langes Molekül in Form einer Doppel-Helix und unter gewissen Bedingungen auch über (Helix: Spirale), das aus einer Abfolge von das Alter der Arten. Dabei gilt folgender Grund- Bausteinen (Basen) gebildet wird, die mit satz: je näher miteinander verwandt Arten sind, den Buchstaben A, C, G und T bezeichnet desto ähnlicher sind sich ihre DNS-Sequenzen. werden. Die Reihenfolge dieser Buchstaben Auf Grundlage der DNS-Analyse lässt sich also im DNS-Molekül entspricht einer Sprache, ein phylogenetischer Baum (oder «Stamm- in welcher die gesamte genetische Informa- baum») ableiten, welcher die wahrscheinlichen tion jedes einzelnen Lebewesens codiert ist. Verwandtschaftsverhältnisse darstellt. Columnea Gloxinia Saintpaulia Salbei Salbei Saintpaulia Gloxinia 11 Columnea Epiphytische Gesneriaceen der Gattung Glossoloma (rote Blüten) im Nebelwald, Panama Epiphyten: Pflanzen zwischen Himmel und Erde Epiphyten, diese markanten Elemente tropi- «epiphytisch» genannte Lebensform angenom- scher Üppigkeit, wachsen auf Bäumen, weit men, unter anderem Arten aus den Familien der über dem festen Grund. Vertreter aus mehreren Orchideen, Bromelien, Kakteen, aber auch Farne Pflanzengruppen haben diese bemerkenswerte, und rund 560 Gesneriaceen-Arten. Luftige Lebensräume che vom Stammfuss bis hinauf in die Baum- Die Variabilität dieser ökologischen Faktoren krone. Die einzelnen epiphytischen Arten sind innerhalb eines Waldes begünstigt die Arten- an spezielle Feuchtigkeits- und Lichtverhält- vielfalt der Epiphyten und generell den Arten- nisse angepasst. Diese hängen wiederum von reichtum tropischer Wälder. Epiphyt auf Ameisennest Epiphyt auf humus Stammepiphyt – + Licht der Höhe ab, auf welcher die Pflanze wächst. Feuchtigkeit Epiphyten besiedeln verschiedene Baumberei- + – Halbepiphyt 13 è è Die tropischen Bergwälder: ein Paradies für Epiphyten In tropischen Bergwäldern zwischen 800m Epiphyten weiterer Familien besonders und 2500m, einer Höhe mit viel Nieder- zahlreich vertreten. So gehören beispiels- schlag und konstant hoher Luftfeuchtig- weise 25% aller Pflanzen Ecuadors zu den keit, sind epiphytische Gesneriaceen und Epiphyten. Die epiphytischen Gesneriaceen Die Familie der Gesneriaceen gehört zu einer der 10 epiphytenreichsten Familien. Einige Beispiele: Aeschynanthus Columnea Nematanthus Codonanthe Anzahl Arten: 185 Verbreitung : Tropisches Asien (China, Indien und Hinterindien, Indonesien bis Neuguinea) Anzahl Arten: 270 Verbreitung: Tropisches Amerika von Mexiko bis Bolivien und Nordost-Brasilien Anzahl Arten: 30 Verbreitung : Atlantischer Regenwald Brasiliens Anzahl Arten: 8 Verbreitung: Atlantischer Regenwald Brasiliens 15 Die Evolution epiphytischer Gesneriaceen Columnea è Epiphytische Pflanzen Bodenpflanzen Bei den Gesneriaceen ist die epiphytische Lebensweise in Amerika und im tropischen Asien unabhängig voneinander entstanden. In Amerika haben sich die ersten Epiphyten vor ungefähr 30 Mio Jahren aus der Linie der Columnea entwickelt. Columnea ist eine Gesneriaceengruppe, die heute mehr als 500 Arten umfasst. Die Bestäuber der Gesneriaceen Alle Gesneriaceen sind für die Pollen- sogar Fledermäusen bestäubt. Die Wechsel- übertragung von Blüte zu Blüte auf Tiere wirkung zwischen einer Pflanze und ihrem angewiesen. Dieser für die Vermehrung Bestäuber ist oft sehr spezifisch. Die Evo- der Pflanzen grundlegende Vorgang wird lution dieser Wechselwirkung ist eine der Bestäubung genannt. Die Blüten der Gesne- Ursachen der ausserordentlichen Blütenviel- riaceen werden von Kolibris, Bienen und falt, die diese Familie auszeichnet. Kolibris – die Bestäuber Amerikas Die Kolibris ernähren sich vom Nektar der Blü- von mehr als 70% der amerikanischen Gesneri- ten, die sie besuchen. Dank ihren feinen Schnä- aceen. Die Kolibris, von denen es heute unge- beln und der Fähigkeit auf der Stelle zu fliegen fähr 338 Arten gibt, sind vor ca. 20 Millionen (Schwirrflug) sind Kolibris wirkungsvolle Bestäu- Jahren nach Amerika eingewandert. Sie sind ber und spielen damit eine entscheidende Rolle hauptsächlich in den Anden und im atlantischen bei der Vermehrung von 7000 Pflanzenarten und Regenwald Brasiliens verbreitet. Blüten von Vanhouttea (Brasilien), die durch Kolibris der Gattung Leucochloris (links) und Phaethornis (rechts) bestäubt werden. © Ivonne SanMartin-Gajardo 17 Bienen beim Sammeln von Pollen, indem sie eine Gesnerien-Blüte (Paraboea) zum Vibrieren bringen. © Anton Weber © Qing-Jun Li Tropische Bienen Eine grosse Vielfalt von Bienen und Hum- vom Blütennektar ernähren, besuchen männ- meln besucht die Blüten der Gesneriaceen. liche Prachtbienen die Blüten vor allem um Die Insekten suchen dort den Blütennektar, Duftharze zu sammeln, die sie an ihren Hin- welchen sie mit einem zur Zunge umgeform- terbeinen deponieren. Die Duftstoffe haben ten Mundwerkzeug aufsaugen. die Aufgabe, Weibchen anzulocken. Vor Die Pracht- oder Orchideenbienen fallen allem Orchideen werden auf diese beson- durch ihre metallisch schimmernde Färbung dere Art bestäubt, aber auch einige Gesneri- besonders auf. Während sich die Weibchen aceen wie beispielsweise Gloxinia perennis. Bienen der Gattung Euglossa (links) und Eulaema (recht) © USGS Bee Inventory and Monitoring Lab et The Packer Lab Die Vibrationsbestäubung Verschiedene Hummeln und Bienen sind Salzstreuer erinnert, lässt sich die Pollen- in der Lage Pollen zu sammeln, indem sie menge, die beim Besuch eines Bestäu- mit ihrer Flugmuskulatur die Blüten zum bers abgegeben wird, präzise dosieren. Vibrieren zu bringen. Pflanzen, die auf Ungefähr 8% aller Pflanzen werden auf diese Art bestäubt werden, geben den Pol- diese Art bestäubt, darunter Tomaten und len meist durch kleine Öffnungen frei, die Kartoffeln, aber auch einige Gesneria- sich am Ende ihrer Staubblätter befinden. ceen wie beispielsweise Saintpaulia und Mithilfe dieser Einrichtung, die an einen Ramonda. 19 Nektarfressende Fledermaus (Glossophaga soricina) beim Besuch einer Gesnerien-Blüte (Sinningia brasiliensis). © Ivonne SanMartin-Gajardo Nektarfressende Fledermäuse In den tropischen Regionen Amerikas ernäh- der Duftstoffe lokalisieren. Im stationären ren sich einige Fledermäuse vorwiegend von Schwirrflug steckt die Fledermaus ihren Nektar. Nach Anbruch der Abenddämme- Kopf in die Blüte und sammelt den Nektar rung suchen diese besonders erfolgreichen mit ihrer langen, rauen Zunge. Während Bestäuber die Blüten auf, welche sie mit- dieses kurzen, den Bruchteil einer Sekunde hilfe ihres Echoortungssystems und anhand dauernden Kontakts wird Pollen auf den Bestäuber übertragen, der ihn danach auf die nächste Blüte überträgt und sie dadurch bestäubt. Bei den Gesneriaceen ist diese Bestäubungsart unabhängig voneinander in der Karibik, in Brasilien und in den Anden entstanden. Blüten, die von Fledermäusen bestäubt werden, erkennt man an ihrer grünlichen Farbe, der weiten Öffnung und der Durch eine Fledermaus bestäubte Paliavana prasinata (Brasilien) grossen Nektarproduktion, die vorwiegend © Ivonne SanMartin-Gajardo während der Nacht stattfindet. Sich entwickelnde Beziehungen Anhand des phylogenetischen Baums der Gesne- riaceen immer wieder von neuem entwickelt. Die riaceen lässt sich erkennen, dass die Bestäu- Bestäubung durch Fledermäuse, die bei ungefähr bung durch Bienen ihr ursprünglichstes Bestäu- zehn Gesneriaceen-Arten vorkommt, hat sich erst bungssystem darstellt. Die ersten durch Kolibris vor 5 bis 10 Millionen Jahren entwickelt und ist bestäubten Blüten treten vor 20 Millionen Jahren damit vergleichsweise jung. Die Entwicklung auf, gleichzeitig mit der Einwanderung der ers- unterschiedlicher ten Kolibris in Südamerika. Diese neue Art der -methoden ist einer der Gründe für die Blüten- Bestäubung hat sich in den Gruppen der Gesne- vielfalt in dieser Pflanzenfamilie. 21 Bestäubungssysteme und Formen- und Farbenvielfalt einiger Gesneriaceen-Blüten Die Beziehung zwischen Pflanze und Bestäuber: Quelle der Blütenvielfalt Blüten haben nicht deshalb spektakuläre und darf und Verhalten von Bienen, Kolibris oder attraktive Formen und Farben, um uns Men- Fledermäusen. Die Blüten haben sich den schen zu gefallen. Vielmehr ist die Blüten- unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforde- vielfalt oft das Resultat intensiver Wechsel- rungen der Bestäuber angepasst, indem sie beziehungen zwischen Blüte und Bestäuber, ihre Farben und Formen und das Nektaran- die sich über Jahrmillionen entwickelt haben. gebot variieren. Dies alles dient letztlich dem Tierische Bestäuber besuchen Blüten, um Anlocken des Bestäubers, der den optimalen sich von deren Nektar zu ernähren. Es gibt Transport des Pollens von einer zur nächsten aber erhebliche Unterschiede im Energiebe- Blüte einer Art gewährleisten soll. Energiequelle Nektar Die Blüten locken ihre Bestäuber meist an, indem sie ihnen zuckerhaltigen Nektar als flüssige Energiequelle anbieten. Bei den Gesneriaceen wird der Nektar in speziellen Drüsen gebildet. Der Nektar gelangt durch winzige Öffnungen (Stomata) zu Kammern am Grund der Fruchtblätter und reichert sich dort an. Menge und Konzentration des Nektars variieren je nach Energiebedarf der einzelnen Bestäuber. So produzieren durch Fledermäuse bestäubte Blüten bis zu 100 Mal mehr Nektar als insektenbestäubte Blüten. Dafür haben insektenbestäubte Blüten aber Nektardrüsen am Grund des Stempels und Detailaufnahme der Spaltöffnungen einer Blüte von Paliavana prasinata. © Sarah Cachelin viel höhere Zuckerkonzentrationen. 23 Beispiele von kolibribestäubten Gesneriaceen-Blüten Menschen Kolibris Bienen Wellenlänge (nm) 400 500 600 700 Kolibri beim Besuch verschiedener Blüten der Gattung Columnea. Je nach Blütentyp wird der Pollen auf unterschiedliche Stellen des Vogels übertragen: Stirn, Schnabel oder Kinn © Amaya–Márquez (1996) Biene auf Nektarsuche in Blüten von Sinningia. Der Pfeil zeigt die Stelle, an der die Staubblätter mit dem Bestäuber in Kontakt kommen. © SanMartin-Gajardo (2004) Farbwahrnehmung gemäss visuellem System von Mensch, Kolibri und Biene Weshalb sind durch Kolibris bestäubte Blüten häufig rot? Nicht alle Tiere nehmen Farben gleich von Bienen aber kaum wahrgenommen. So wahr. Die Farbwahrnehmung von Kolibris werden rote Blüten nur selten von Bienen gleicht derjenigen von Menschen. Hinge- besucht und bieten stattdessen den wert- gen sehen Bienen die Wirklichkeit ganz vollen Nektar denjenigen Tieren an, die als anders : Sie können ultraviolettes Licht einzige fähig sind, sie zu bestäuben: die wahrnehmen, sehen aber Rottöne nur Kolibris. schlecht. Rote Blüten locken also eigentlich nicht Deshalb werden rote Blüten zwar von Kolibris an, sondern verstecken sich vor Menschen und Vögeln sehr gut erkannt, Bienen ! Blütenmorphologie und Bestäubung Wenn es darum geht, einen bestimmten röhrenförmigen durch Kolibris bestäubten Bestäubertyp anzulocken, sind Grösse Blüten nicht möglich ist. Wo der Pollen und Gestalt einer Blüte ausschlagge- beim Blütenbesuch auf dem Bestäu- bend. So müssen Bienen in die Blüte ber haften bleibt, hängt sowohl von der kriechen können, um an den Nektar zu Länge der Staubblätter als auch von ihrer gelangen, was ihnen aber bei den eng Lage ab. 25 Feldforschung: Präparieren der Pflanzen è Herbarbelege Triebe und Samen DNA Herbaium Genf Lebendsammlung Gesneriaceen (Brasilien) DNA-Bank è è è Verbreitungskarte der Arten Anzahl Arten pro Rasterquadrat 1–8 9 – 21 22 – 47 48 – 81 82 – 147 Beschreibung der Morphologie Molekulare Phylogenie Feldforschung und Sammeln Will man die Biodiversität tropischer Regionen kann man sie bestimmen? Wo sind sie im phylo- untersuchen, sind die Arbeit im Feld und das genetischen Stammbaum verortet? Diese Fragen Sammeln von Pflanzen unerlässliche Elemente lassen sich nur klären, wenn man die im Feld der Forschung. Woher stammen die Arten? Wie gesammelten Informationen berücksichtigt. Botanische Forschung in Panama und Brasilien Vom Feld ins Herbarium Die gesammelten Pflanzen werden gepresst oder Triebe aufbewahrt, um später daraus und beschriftet und dann in die Herbarsamm- Pflanzen zu vermehren. Die Merkmale all lung integriert. Für die DNA-Sequenzanalyse dieser Proben und Herbarbelege dienen als im Labor werden Proben von Pflanzenblättern Grundlage für die Bestimmung, Beschreibung genommen. Häufig werden zusätzlich Samen und Klassifikation von Arten. 27 Werkzeuge für die Arterhaltung Unsere Forschung und die Projekte im Feld Verbreitung der gesammelten Informatio- liefern wichtige Beiträge zur Messung und nen und Erkenntnisse. Als Ergebnis unserer Beschreibung und zum Schutz der Biodiver- Forschung konnten in Brasilien rund 210 sität. Die daraus entstandenen Kataloge, Arten beschrieben werden, wovon 33 Arten Florenwerke und Roten Listen dienen der als bedroht gelten. Artenliste der brasilianischen Flora, darunter rund 210 Gesneriaceen-Arten. Araujo & Chautems, 2010 Rote Liste der brasilianischen Flora, darunter 33 Gesneriaceen-Arten, die als gefährdet oder bedroht gelten. Chautems et al., 2013 29 Dieser Typenbeleg dient als Grundlage zur Beschreibung von Sinningia canastrensis. Genfer Herbarium. 1753 erscheinen die ersten von Linné verfassenten wissenschaftlichen GesneriaceenBeschreibungen 2015 wird in der Zeitschrift Candollea eine von Chautems und Mitverfassern neu beschriebene Art veröffentlicht. Die Entdeckung neuer Arten Kommt ein Botaniker zum Schluss, dass aber erst zulässig, nachdem die gesamte sich eine Pflanze von allen bisher beschrie- Literatur und alle Herbarbelege der betref- benen Arten unterscheidet, handelt es sich fenden Pflanzengruppe berücksichtigt wor- für ihn um eine neue Art. Dieser Schluss ist den sind. Die Beschreibung der Gesneriaceen-Arten: Eine Arbeit, die bereits über 300 Jahre dauert der botanischen Nomenklatur gilt. Die Arten beschrieben worden. 1753 ist das Erforschung der Tropen ist längst nicht Erscheinungsjahr von Linnés Werk Spe- abgeschlossen, und es werden jedes Jahr cies Plantarum, das als Ausgangspunkt neue Arten entdeckt. Anzahl beschriebene Arten Seit 1753 sind ununterbrochen neue 2016 Rund 3000 bekannte Arten; zahlreiche weitere warten noch auf ihre Entdeckung. Jahr 31 Einige neue Arten aus Brasilien, von oben nach unten und von links nach rechts Sinningia bullata Chautems & M. Peixoto, Sinningia «Catolés», Sinningia gerdtiana Chautems Sinningia bragae Chautems & al., Sinningia «Itaguassu», Nematanthus punctuatus Chautems, Sinningia kautskyi Chautems, Sinningia «Pancas», Sinningia helioana Chautems & Rossini Die erste beschriebene tropische Gesnerie Vor 300 Jahren wird der französische Botaniker Charles Plumier (1646-1704) von König Ludwig XIV mit der Erforschung der Antillen beauftragt. Im Verlauf zweier Reisen in den Jahren 1693 und 1695 entdeckt und beschreibt er zahlreiche der Wissenschaft bisher unbekannte Pflanzen und nennt eine davon Gesnera. Mit diesem Namen ehrt er den Schweizer Naturkundler und Gelehrten Conrad Gessner. Plumiers Gesnera, der Linné später den wissenschaftlichen Namen Gesneria humilis gibt, gilt als erste beschriebene tropische Gesneriaceen-Art und dient als Referenzart (Typus) der Gattung Gesneria, die wiederum der Familie der Gesneriaceen. den Namen gab. Neue brasilianische Arten In den letzten 30 Jahren hat eine intensive Bestimmung zahlreicher bisher unbekannter Erforschung der brasilianischen Gesneria- Pflanzen geführt. Die Beispiele, die Sie hier aus- ceen zur Entdeckung und wissenschaftlichen gestellt sehen, illustrieren die ausserordentliche Beschreibung von 35 neuen Arten und zur Vielfalt der brasilianischen Gesneriaceen. 33 Oben 1831 veröffentlichte Abbildung von Sinningia helleri Unten Sinningia helleri, 2015 in der Umgebung von Rio de Janeiro wiederentdeckt. © Marilia S. Wängler Eine Wiederentdeckung nach 190 Jahren 1825 veröffentlicht Christian Gottfried helleri keinerlei Erwähnung mehr, weder in Daniel Nees von Esenbeck die Beschrei- Europa noch in ihrer Heimat Brasilien. Im bung und eine Kupferstich-Darstellung von Frühling 2015 wird sie wiederentdeckt, Sinningia helleri, einer neuen, in der Umge- als in einer Facebook-Gruppe, die sich der bung von Rio de Janeiro gesammelten bra- Bestimmung brasilianischer Pflanzen wid- silianischen Art. Herbarbelege und Darstel- met, Informationen ausgetauscht werden. lungen in Gartenbau-Zeitschriften jener Zeit Es ist eine bedeutungsvolle Wiederentde- zeigen, dass die Pflanze danach den Weg ckung, handelt es sich doch bei dieser sel- in verschiedene botanische Gärten Europas ten beobachteten Art um die Referenzart gefunden hat. Seit 1909 aber fand Sinningia (Typus) der Gattung Sinningia. 35 Achimenes patens « Major » © Simon Garbutt Aeschynanthus evrardii Episcia «Red Bolivia» © Mauro Peixoto Streptocarpus «Joker» © Mauro Peixoto 3.Von den Tropen ins Wohnzimmer -Wild- pflanzen als Quelle von Zuchtformen Die Gesneriaceen: geschätzte Zimmerpflanzen Neben dem populären Usambaraveilchen vermarktet. Deren Popularität wird durch die oder Saintpaulia werden weitere gartenbau- Aktivitäten von Liebhabervereinen wie der lich interessante Arten aus den Gesneria- «Swedish Gesneriad Society » in Europa oder ceen-Gattungen Achimenes, Aeschynanthus, der «Gesneriad Society » in den Vereinigten Columnea, Episcia, Kohleri und Streptocarpus Staaten zusätzlich gefördert. Vermehrung von Gesneriaceen Die Vermehrung ist einer der gartenbaulichen sich problemlos mittels künstlicher Bestäubung Vorzüge dieser Familie. Die meisten Arten kön- gewinnen. Sie sind zahlreich und klein (selten nen sehr einfach mit Stecklingen aus Blättern länger als 1 mm) und keimen nach wenigen oder der Sprossachse oder mit Rhizom- oder Tagen oder Wochen. Aus Samen gezogene Knollenteilen vermehrt werden. Samen lassen Pflanzen blühen nach 6 bis 12 Monaten. 37 Farben- und Formenvielfalt einiger gartenbaulicher Kulturvarietäten von Saintpaulia Das Usambaraveilchen: Verkaufsschlager im Supermarkt und vom Aussterben bedroht Wegen ihrer Farbe, die an Veilchen erin- Verbreitung zu Gefährdungsstufen zwischen nert, heisst die Gattung Saintpaulia Usam- «potentiell gefährdet» und «vom Aussterben baraveilchen, sie ist aber mit unseren bedroht. heimischen Veilchen nicht einmal entfernt Die ursprünglich eingeführte Art und die dar- verwandt. Die ursprüngliche Art Saintpaulia aus gezüchteten Formen gehören heute zu den ionantha wurde erstmals 1893 in Deutsch- am häufigsten gehandelten Zimmerpflanzen. land anhand kultivierter Exemplare beschrie- Man findet sie sowohl in den Regalen der Blu- ben, deren Samen von den Usambara-Ber- menhandlungen als auch in Supermärkten. gen im heutigen Tansania stammten. Die Die zurzeit existierenden ungefähr 2000 Vari- Gattung umfasst ein halbes Dutzend Arten, etäten werden von wenigen Produzenten in die alle aus den ostafrikanischen Ländern grossen Mengen gezüchtet. Der Jahresum- Tansania und Kenia stammen. Gemäss der satz des Usambara-Handels beträgt mehrere Roten Liste der «International Union for 10 Millionen Franken. Dass diese massenhaft Conservation of Nature and Natural Resour- gehandelte Pflanze in ihrem ursprünglichen ces» (IUCN) gehören alle Saintpaulia-Arten Verbreitungsgebiet vom Aussterben bedroht wegen ihrer sehr geringen geographischen ist, mag deshalb paradox erscheinen. Eine Saintpaulia in ihrer natürlichen Umgebung in Tansania © African violet project, Gerard D. Hertel, West Chester University, Bugwood.org 39 Links Gloxinia speciosa var. macrophylla, in Curtis’s Botanical Magazine veröffentlichte Abbildung (1842) Unten 2010 in der Nähe von Cardoso Moreira (Bundesstaat Rio de Janeiro) fotografierte Pflanze. Sie hat grosse Ähnlichkeit mit der links abgebildeten Kulturvarietät Gloxinia speciosa var. macrophylla! © Idimá G. Costa Oben Gloxinia speciose-hybride «Hector Wong» Rechts Belgique horticole 17, tab. 16 (1867) Gloxinia – die brasilianische Gesnerie der Blumenzüchter 1815 wird eine wahrscheinlich in der Umge- und Treibhäusern der damaligen Zeit ver- bung der damaligen Hauptstadt Rio de Jan- wendet. Es werden zahlreiche neue Formen eiro gesammelte Pflanze nach England einge- gezüchtet und beschrieben, die sich insbeson- führt. In der Nähe Londons blüht sie in einer dere in Farbnuancen unterscheiden, welche privaten Gartenanlage. Der Eigentümer M. von violett und dunkelrot bis weiss reichen. Joachim Conrad Loddiges nennt sie Gloxinia Die vielen Varietäten sind entweder aus speciosa und erfasst sie im ersten Band des spontanen Mutationen oder aus Kreuzungen «Botanical Cabinet», einer Schriftenreihe, in mit brasilianischen Wildformen entstanden. welcher er die in seinen Treibhäusern gedei- Botaniker nennen die Gloxinia der Blumen- henden exotischen Pflanzen illustriert. Ab züchter Sinningia speciosa. Inzwischen findet Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt Gloxinia man diese selten gewordene Pflanze nur noch speciosa zunehmende Wertschätzung und in einigen fragmentierten Arealen des atlanti- wird immer öfter als Zierpflanze in den Salons schen Regenwalds in Brasilien. Mit aufrechter Blüte : Gloxinia fifyana tritt auf die Bühne 1845 entsteht in England aus einer grosse Erfolge und werden zu einem geheim gebliebenen Kreuzung Gloxinia festen Bestandteil des viktorianischen fifyana, eine Zuchtform mit aufrechter Salons. Auch heute noch werden sie Blütenkrone. Zwischen 1850 und 1900 gehandelt, sind aber inzwischen etwas feiern die daraus gezüchteten Varietäten aus der Mode gekommen. 41 Ramonda myconi Gesnerie der Pyrenäen (Jardin botanique de Genève) Haberlea rhodopensis Gesnerie des Balkans (Jardin botanique de Genève) Saintpaulia ionantha Afrikanische Gesnerie (Tansania), Zimmerpflanze mit zahlreichen Zuchtformen Streptocarpus sp. Afrikanische Gesnerie, Zimmerpflanze mit zahlreichen Zuchtformen © Ron Myhr 4. Gesneriaceen nur in den Tropen? Nein, auch in Europa! Die Familie der Gesneriaceen umfasst rund drei Gattungen kommen aber im Süden Euro- 3300 meist tropische Arten. Fünf Arten aus pas vor, in den Pyrenäen und auf dem Balkan. Familienähnlichkeiten… Die europäischen Gesneriaceen der Gattung Eine andere europäische Gesnerie, Haber- Ramonda haben eine grosse Ähnlichkeit mit lea rhodopensis, gleicht auffallend den der beliebten Zimmerpflanze Saintpaulia ursprünglich aus Afrika stammenden Zim- ionantha, deren deutscher Name Usamba- merpflanzen der Gattung Streptocarpus. raveilchen auf ihre afrikanische Herkunft weist : die Usambara-Berge in Tansania. 43 1 2 3 4 5 Die fünf europäischen Gesneriaceen-Arten 1 Haberlea rhodopensis * Rhodopen und Balkangebirge (Bulgarien und Griechenland) 2 Jancaea heldreichii Olymp (Griechenland) © en.protothema.gr / Newsroom 3 Ramonda myconi * Pyrenäen und Katalonien (Frankreich und Spanien) 4 Ramonda nathaliae * Zentraler Balkan (insb. Mazedonien) 5 Ramonda serbica Zentraler und westlicher Balkan (insb. Albanien) © Johannes Flohe * Wird im Jardin botanique de Genève kultiviert Regenerationsfähige Pflanzen Die europäischen Gesneriaceen haben eine Widerstandskraft Millionen von Jahren bei Blütenpflanzen seltene Fähigkeit: Sie überdauern. Die fünf europäischen Gesne- können nach einer Dürreperiode Wasser riaceen gedeihen in niederen bis mittleren aufnehmen und wiederergrünen. Damit Gebirgslagen und in schattigen Felsspalten sind sie bestens an klimatischen Schwan- auf Kalkgestein (teilweise auch auf Serpen- kungen angepasst und konnten dank ihrer tin oder silikathaltigem Substrat). 45 Der Lorbeerwald in «Los Tilos» im Nordwesten der Insel La Palma (Kanarische Inseln, 6. April 2015) vermittelt einen Eindruck von der tropischen Vegetation, wie sie im Zeitalter des Tertiärs nördlich der Alpen verbreitet war. Relikte der europäischen Tertiärflora Im Tertiär (vor 65 bis 2.6 Millionen Jahren) den beginnenden Gletscherzeiten im Quar- war Zentraleuropa von einer tropischen bis tär ging die tropische Vegetation in Europa subtropischen Vegetation bedeckt, die durch- zurück und verschwand dann gänzlich. schnittliche Jahrestemperatur war im Ver- Man vermutet, dass dabei auch zahlreiche gleich zu heute um bis zu 10°C höher. Heute europäische Gesneriaceen ausgestorben geht man davon aus, dass die tropische Pflan- sind. Die fünf heute noch existierenden zenfamilie der Gesneriaceen während des Ter- europäischen Arten kommen in den Pyre- tiärs in Europa weit verbreitet war. näen und auf dem Balkan vor und zählen Gegen Ende des Tertiärs (weniger warm ; zu den besten Beispielen für Relikte der vor ca. 25 Millionen Jahren) und später mit wärmeliebenden europäischen Tertiärflora. Bestätigung einer alten Hypothese mit molekulargenetischer Datierung Seit Ende des 19. Jahrhunderts gingen Bota- Gemäss Petrova & al. trennten sich die niker zunehmend davon aus, dass die euro- Entwicklungslinien von Haberlea auf der päischen Gesneriaceen ihren Ursprung im einen und Ramonda/Jancaea auf der ande- Tertiär haben. Mittels molekulargenetischer ren Seite vor ungefähr 25 Millionen Jahren. Datierung (sog. molekulare Uhr) konnte diese Die Trennung der Gattung Ramonda in eine Hypothese vor kurzem bestätigt werden. Man pyrenäische und eine balkanische Linie erfol- datiert heute den Ursprung der europäischen gte vor ungefähr 8.5 Millionen, diejenige Gesneriaceen auf das Oligozän, vor ungefähr der Gattung Jancaea von der balkanischen 30 Millionen Jahren. Damals fand die Tren- Ramonda-Linie vor ca. 7 Millionen Jahren. Viel nung der europäischen von den asiatischen jünger ist die Entwicklung in die beiden Arten Gesneriaceen statt (siehe Petrova & al. (2015), Ramonda nathaliae und R. serbica: Sie fand International Journal of Plant Sciences 176: während der letzten Eiszeiten statt, also vor 499–514). einigen 10000 bis 100 000 Jahren. 47 Woodwardia radicans in «Los Tilos», im Nordosten von La Palma (Kanaren, 6. April 2015). Die Farnwedel sind über einen Meter gross. Detail aus der Tafel 5 der Flora tertiaria helvetiae von Oswald Heer (1855-1859). Fundort: Eriz (Kt. Bern). Lithographische Darstellung von Woodwardia rössneriana, eine fossile Art, die mit Woodwardia radicans nahe verwandt ist. © Bibliothèque des CJBG Die Tertiärrelikte Im Tertiär dominierten Lorbeerwälder in Quartär ging die tropische Vegetation in Zentraleuropa, also immergrüne Feuchtwäl- Europa zurück und verschwand dann gänz- der, die durch verschiedene Baumarten aus lich. Heute findet man Lorbeerwälder nur der Familie der Lauraceen charakterisiert noch an einigen feuchten Nordhanglagen sind. Gegen Ende des Tertiärs und später der Kanareninseln (z.B. auf La Gomera und mit den beginnenden Gletscherzeiten im La Palma), sowie auf Madeira. Oswald Heer, Pionier der Erforschung der Tertiärflora Im 19. Jahrhundert gehörte der Schweizer Oswald Heer (1809-1883) zu den Pionieren der Erforschung von Flora und Insekten des Tertiärs. Sein Werk Flora tertiaria helvetiae (1855-1859) behandelt die Fossilien von 920 Arten und enthält 156 Kupferstiche, welche die Beschreibungen illustrieren.Die meisten der von Oswald Heer beschriebenen Arten sind längst aus Europa verschwunden. Einige wenige Arten wie z.B. der Wurzelnde KettenOswald Heer (1809-1883) war seit 1834 Direktor des Botanischen Gartens in Zürich. Ab 1835 hatte er an der Universität Zürich und ab 1855 zusätzlich an der ETH Zürich die Professur für Botanik. farn (Woodwardia radicans) oder die Zwergpalme (Chamaerops humilis) kommen aber noch heute im Süden Europas vor. © Bibliothèque des CJBG Der Wurzelnde Kettenfarn (Woodwardia radicans) Während des Tertiärs kamen Farne dieser rien, auf den Azoren, in Madeira und auf den Gattung auf der Nordseite der Alpen vor. Kanarischen Inseln. Diese Pflanzen, die man Populationen von Woodwardia radicans gibt als lebende Fossilien bezeichnen kann, sind es heute noch im Nordwesten Spaniens, in Relikte aus dem Tertiär, als Europa von tropi- Portugal, Korsika, Süditalien, Kreta, Alge- scher Vegetation bedeckt war. 49 Eine im Botanischen Garten kultivierte Chamaerops humilis. Tafel 31 der Flora tertiaria helvetiae von Oswald Heer (1855-1859). Fundort: Uznach (Kt. St. Gallen). Lithographische Darstellung von Chamaerops helvetica, eine fossile Art, die mit der heutigen Chamaerops humilis nahe verwandt ist. © Bibliothèque des CJBG Chamaerops humilis südöstlich von «Prado del Rey» (Andalusien, 16. Oktober 2013). Die Zwergpalme (Chamaerops humilis) Im Tertiär kamen kleine Palmen dieser Gat- telmeergebiet verbreitet. Wie Woodwardia tung ebenfalls nördlich der Alpen vor. Heute radicans ist auch sie ein Zeuge (oder leben- ist die Zwergpalme noch im westlichen Mit- des Fossil) der europäischen Tertiärflora. Ramonda myconi, eine pyrenäische Gesnerie, im Botanischen Garten kultiviert. Das Beispiel der europäischen Gesneriaceen Trotz fehlender fossiler Beweise geht man tenpflanzen. Betrachtet man ihren feinen davon aus, dass die tropische Pflanzen- Bau und ihre Vergänglichkeit, wird ver- familie der Gesneriaceen während des ständlich, weshalb wir heute keine Fos- Tertiärs in Europa weit verbreitet war. Die silien europäischer Gesneriaceen kennen fünf in Europa noch vorkommenden Arten und somit diese Familie auch in Oswald gehören alle zum sog. Typus der Felsspal- Heers Werk nicht vorkommt. 51 Drei europäischen Gessneriaceen, die im Jardin botanique de Genève kultivierten werden Haberlea rhodopensis Friv. Die Gattung Haberlea wurde 1835 dem deut- des Balkangebirge, sowie in den Rhodopen schen Naturforscher Karl Konstantin Haberle (Bulgarien und Griechenland) – dem Gebirge, (1764-1832) von seinem Schüler Imre Friáld- welches der Art den Namen gab (H. rhodopen- szky von Friváld (1799-1870) gewidmet. Die sis) – und auf einigen Bergen im Nordosten einzige Art der Gattung gedeiht im Zentrum Griechenlands (z.B. auf dem Pangaion). Ramonda myconi (L.) Rchb. Die Gattung Ramonda ist dem französischen haben: oreja de oso, «Bärenohr» (was auf die Politiker, Geologen und Botaniker Louis Gestalt und Behaarung der Blätter weist). Eine Ramond de Carbonnières (1755-1827) gewid- erste Erwähnung der Art findet sich in der met, der auch ein Pionier der Erforschung der Historia generalis plantarum von Daléchamps, Pyrenäen war. der sie Auricula Ursi Myconi nennt, «Micós Die Art R. myconi ist dem katalanischen Apothe- Bärenohr». 1753 übernimmt Linné das Epithe- ker und Botaniker Francisco Micó (1528-1592, ton (= Zusatz) myconi und ordnet die Art der latinisiert Franciscus Myconus) gewidmet, der Gattung Verbascum zu (Verbascum myconi). die Pflanze auf dem Montserrat (Katalonien) als Erst 1805 kreiert Louis Claude Marie Richard erster entdeckte. Micó teilte diese Entdeckung den Gattungsnamen Ramonda, und im Jahr und diejenige weiterer neuer Arten dem fran- 1831 stellt Heinrich Gottlieb Ludwig Reichen- zösischen Naturforscher Jacques Daléchamps bach das Epitheton myconi zu Ramonda. (1513-1588) mit und wird ihm sicherlich auch Die Art gedeiht in den zentralen und östlichen den einheimischen spanischen Namen genannt Pyrenäen und in Katalonien. Ramonda nathaliae Pancic & Petrovic Natalija Obrenović oder Nathalie von Serbien Die Pflanze gedeiht im zentralen Balkan. Die (1859-1941) hiess die serbische Königin, der meisten Populationen findet man in der Repu- Ramonda nathaliae gewidmet ist. Im Jahr blik Mazedonien (ehemals Jugoslawien), sie 1882, ihrem ersten Regierungsjahr, wurde kommt aber auch im Westen der griechischen diese neue Art von den beiden serbischen Region Makedonien (insb. westlich-südwest- Botanikern Joseph Pančić (1814-1888) und lich von Naousa) und im Südosten von Serbien Sava Petrović (1839-1889) beschrieben. (südöstlich von Niš) vor. 53 Wie lassen sich die Gattungen Haberlea und Ramonda unterscheiden? Wie lassen sich Ramonda myconi und R. nathaliae unterscheiden? Haberlea Ramonda Ramonda myconi Ramonda nathaliae Zweilippige Krone, die obere Lippe mit zwei, die untere mit drei Kronblättern. Schlund mit langen Haaren, orange und violett gefleckt (Wegmarkierung für bestäubende Insekten). Kronblätter radial (radförmig) angeordnet. Schlund orangefarben, mit sehr kurzen Haaren. Blüte meist mit fünf Kronblättern. Blüte meist mit vier Kronblättern. Röhre der Krone länger als ihre Lappen. Röhre der Krone kaum vorhanden oder viel kürzer als ihre Lappen (Rückansicht). Blätter stark runzelig und gezähnt, dicht behaart. Die Art trägt deshalb auf Spanisch den passenden Namen oreja de oso, «Bärenohr». Blätter wenig runzelig, ganzrandig oder schwach gezähnt, nur spärlich behaart. Vier miteinander verwachsene Staubbeutel, vielkürzer als die Staubfäden (das bestäubende Insekt reibt seinen Rücken an den Staubbeuteln, die dann ihren Pollen freigeben). Fünf nicht miteinander verwachsene Staubbeutel, mindestens so lang wie die Staubfäden. Blätter lang zungenförmig. Blätter breit-oval. 5.Eine dem Schweizer Gelehrten Conrad Gesner gewidmete Pflanzenfamilie Wer war Conrad Gessner? 2016 feiern wir den 500-jährigen Geburts- tete, begründete er eine neue botanische tag dieses Naturforschers und Gelehrten, Methode der Pflanzenbeschreibung. Die der 1516 in Zürich geboren wurde und hier Publikation seiner «Historia Plantarum», im Jahre 1565 der an welcher er bis zu Pest Gess- seinem Tod mit Hin- ner, ein Zeitgenosse gabe gearbeitet hatte, Calvins und Schüler erlebte er nicht mehr, und Patenkind des sie erfolgte erst 200 Reformators Zwingli, Jahre nach seinem Tod. hat das damals in Gessner ist auch der verschiedenen Fach- Erste, der erkennt, wie gebieten verfügbare die alpinen Vegetations- erlag. Wissen zusammen- stufen durch Höhenlage geführt. Gessner, ein universaler Geist, hat und Temperatur charakterisiert sind. Die zahlreiche wichtige Werke verfasst und Familie der Gesneriaceen ehrt in Gessner innovative Konzepte entwickelt, welche einen international anerkannten Schweizer die modere Bibliographie, Zoologie und Gelehrten und ist durch ihre bemerkens- Botanik mitbegründet haben. Indem er die werte biologische Vielfalt besonders dazu spezifischen Merkmale der Pflanzen und geeignet, auf sein universales Wissen zu ihrer Blüten, Früchte und Wurzeln beobach- verweisen. 55 Heute in der Schweiz verwendete Höhenstufen Nival Ewiger Schnee «Region mit langem Winter und sehr kurzem Frühling» «Region mit Winter, Frühling und etwas Herbst» «Region mit Winter, Frühling, kurzem Sommer und Herbst» Höhenlimite und entsprechende jährliche Durchschnittstemperatur (Näherungswerte für die Schweiz, Ende 20. Jh.) «Regionen» nach Gessner, 1555 «Region mit beständigem Winter» è 2700 bis 3100 m – 5 °C è 1800 bis 2400 m – 2 à + 1 °C è 1300 bis 1600 m + 4 °C è 700 bis 900 m + 8 °C Alpin Alpine Rasen Subalpin Koniferen: Fichte, Lärche und Arve Montan Buche und Tanne Kollin Eiche und Buche Conrad Gessner und die Höhenstufen der Vegetation Als Bewunderer der Berge und Vorreiter des 19. Jahrhunderts zu demjenigen Höhenstu- Alpinismus besteigt der Naturforscher Con- fenmodell weiterentwickelt wird, das auch rad Gessner (1516-1565) im Jahre 1555 den heute noch in Werken der Biogeographie südwestlich von Luzern gelegenen Pilatus und Botanik Verwendung findet. Nachdem (*). Sein im selben Jahr publizierter Bericht inzwischen die Klimaveränderungen eine Descriptio Montis Fracti sive Montis Pilati für die gesamte Menschheit dermassen ut vulgo nominant, juxta Lucernam in Hel- grosse Bedeutung erlangt haben, erweist vetia ist zugleich die erste einem Schweizer sich die vor fünf Jahrhunderten von Gess- Berg gewidmete Monographie. Während ner gemachte Entdeckung als Grundstein er den Pilatus besteigt, erkennt er die kli- jeder heute geführten Klimadiskussion. matische Bedeutung der Höhenlage und Jede Höhenstufe ist durch ein spezifisches beschreibt anhand der Jahreszeitendauer thermisches Niveau und bestimmte Vege- vier « Regionen». Hellsichtig und seiner Zeit tationstypen charakterisiert. Daraus ergibt weit voraus schlägt Gessner damit ein Kon- sich, dass längerfristige Temperaturände- zept vor, welches später von Autoren des rungen tiefgreifende Auswirkungen haben. (*) Der Pilatus wurde im Mittelalter Mons fractus (zersplitterter, gebrochener Berg) oder Frakmont genannt, was auf den zerklüfteten Umriss dieses Zentralschweizer Gipfels weist. Zwei Alpen auf Pilatus-Ausläufern heissen heute noch Fräkmünt. Der Name Mons pileatus war weniger gebräuchlich und wird etymologisch unterschiedlich interpretiert. Eine Herleitung bezieht sich auf Filzkappe (lat. pileus) bzw. pileatus «der mit einer Kappe Versehene», was auf den häufig wolkenverhangenen Gipfel weist; die andere auf Pfeiler/Strebe (lat. pila), «mit Felspfeilern durchsetzter Berg». Eine zusätzliche Komplikation erfährt die Etymologie des Pilatus durch die Sage des Pilatussees, in welchem Körper und Geist des Pontius Pilatus hausen sollen. Gessner selbst hat diese Sage abgelehnt. Frontispiz des Reiseberichts der Pilatusbesteigung durch Conrad Gessner im Jahre 1555, erschienen im selben Jahr in Zürich. © Bibliothèque des CJBG 57 Ein kurzer geschichtliche Abriss 1516 Vor 500 Jahren wird in Zürich Conrad Gessner geboren. 1693-1695 Der von König Ludwig XIV mit der Erforschung der Antillen beauftragte französische Botaniker Charles Plumier entdeckt dort die erste tropische Gesnerie. Plumier nennt diese Pflanze Gesnera. Er ehrt damit den Gelehrten Conrad Gessner, der als « Vater der Naturkunde » gilt. Vor genau 200 Jahren führt Augustin Pyramus de Candolle, berühmter Genfer Botaniker und Gründer des Botanischen Gartens von Genf, die Bezeichnung « Gesneriaceae » als wissenschaftlichen Namen der Familie ein. Eine neue Systematik der Familie schliesst mehr als 3000 Arten ein. 1703 1816 2016 Nova Plantarum Americanarum Genera, Plumier (1703) © Bibliothèque des CJBG