Das Nahuatl-Schriftsystem: Aztekische Geschichtsschreibung im Codex Telleriano-Remensis Thomas Vonk In den Annalen des dritten Abschnitts des Codex Telleriano-Remensis (die ersten beiden Abschnitte behandeln die beiden von den Azteken benutzten Kalender) wird die Geschichte der Mexica von der Zeit der Wanderung im 12. Jahrhundert bis hin zur frühen Kolonialzeit nacherzählt, wobei das Ende der Aufzeichnung 1562 auch als Zeit der Kompilation und Fertigstellung des Manuskriptes gilt. Der von mehreren Kommentatoren in spanischer Sprache glossierte aztekische (nicht-alphabetische) Text konstituiert sich dabei aus einem Nebeneinander von drei interagierenden Zeichensystemen – einem Notationssystem zur Zählung der Jahre, einem ikonographischen Zeichensystem zur Schreibung von Ereignissen, sowie einem Schriftsystem zur Schreibung von Orts- und Personennamen. Dieses in vielerlei Hinsicht besondere Nahuatl-Schriftsystem (auch „aztekisches Schriftsystem“ genannt) ist ein gemischt logographisch-phonographisches System, kennt also sowohl Logo- bzw. Morphogramme, als auch Lautzeichen – in diesem Falle Syllabogramme der Struktur (K)V, (K)VK und mitunter gar KVKV(K). Es ist lohnenswert, die sogenannten „aztekischen Bilderhandschriften“ hinsichtlich dieses aufgrund der Vielzahl an bilingualen (oder besser: biscripturalen) Dokumenten als vermeintlich entziffert geltende Schriftsystems zu untersuchen, da bisherige Untersuchungen häufig hauptsächlich auf den spanischen Glossen basieren und von dort aus der (nichtalphabetische) Nahuatl-Text interpretiert wird – statt umgekehrt. Die dem zu Grunde liegende Annahme, der Kommentator hätte auch in der Mitte des 16. Jahrhunderts dieses Schriftsystem vollständig beherrscht, kann nicht uneingeschränkt vorausgesetzt werden, was im Vortrag anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden soll. Während das Ziel der Masterarbeit sein wird, Orts- und Personennamen zu entziffern und daraus einen für den Codex Telleriano-Remensis gültigen Zeichenkatalog aufzustellen, sowie bestimmte Thesen bezüglich des Nahuatl-Schriftsystems anhand dieses Manuskripts zu prüfen, wird es in meinem Vortrag vor allem um die oben angesprochenen Themen gehen: dem Verhältnis von Ikonographie zu Schriftsystem und dem Verhältnis von Nahuatl-Text und Glosse. Von den bisher vorliegenden Ergebnissen werden zwei besonders eindrucksvolle Beispiele vorgestellt, die den Nutzen einer solchen Untersuchung deutlich machen sollen.