Stellenwert der Radiojodtherapie in den aktuellen Guidelines

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SCHILDDRÜSENKARZINOM
KONGRESS
Differenziertes Schilddrüsenkarzinom
Stellenwert der Radiojodtherapie
in den aktuellen Guidelines
Die Inzidenz differenzierter Schilddrüsenkarzinome nimmt seit einigen Jahren in Österreich und weltweit deutlich zu, die Mortalität ist (in Österreich)
gleichzeitig geringgradig rückläufig. Die aktualisierten Leitlinien der amerikanischen Schilddrüsengesellschaft ATA versuchen diesem Umstand Rechnung zu tragen, um Nutzen und Risiko der therapeutischen Optionen im
Gleichgewicht zu halten. Die nuklearmedizinische Gesellschaft in Europa und
Österreich (EANM, OGNMB) sieht das Ergebnis v.a. in Bezug auf die Radiojodtherapie teilweise kritisch.
Ob es sich hier um eine „echte“ Inzidenzzunahme oder eher um eine Zunahme der Diagnosestellung handelt,
wird derzeit intensiv diskutiert. Die
Ursachen der steigenden Inzidenz liegen im zunehmenden Einsatz diagnostischer Verfahren (Schilddrüsensonografie, Feinnadelzytologie) sowie in der
verbesserten histologischen Aufarbeitung von Schilddrüsenpräparaten nach
Thyreoidektomie. Der Einsatz der
(subtotalen) Thyreoidektomie bei benignen Schilddrüsenerkrankungen (Immunhyperthyreose, Struma nodosa)
hat ebenfalls zu einer vermehrten Erfassung von klinisch stummen Schilddrüsenkarzinomen als Zufallsbefund
geführt. Allerdings zählt das Schilddrüsenkarzinom auch in den USA, wo
deutlich weniger schilddrüsenchirurgische Eingriffe erfolgen, zu den Kar-
zinomen mit der größten Inzidenzzunahme. Nichtsdestotrotz ist die absolute Häufigkeit in Österreich mit einer
Zahl von ca. 900 Fällen/Jahr nach wie
vor sehr gering, mit einem großen Anteil an lokal beschränkten, gut differenzierten Karzinomen mit ausgezeichneter Prognose (Abb. 1).
2015 American Thyroid Association
Management Guidelines
Im Jänner 2016 erschien nun die vorweg heiß diskutierte Aktualisierung
der Leitlinie der American Thyroid
Association (ATA), die „2015 American Thyroid Association Management Guidelines for Adult Patients
with Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer“.1 Diese wurden
von allen mit der Diagnose und The-
KeyPoints
• Die ATA-Leitlinie 2015 hebt die Wichtigkeit der interdisziplinären Entscheidung
im Verlauf der Behandlung von Schilddrüsenknoten und Schilddrüsenkrebs hervor, besonders schon vor der Schilddrüsenoperation.
• Die Empfehlung zur reduzierten Anwendung von Radiojod sowie die fehlende
Empfehlung für rhTSH werden von der EANM und der OGNMB nicht uneingeschränkt befürwortet.
3/16 Hämatologie & Onkologie
M. Hoffmann, Wien
rapie des Schilddrüsenkarzinoms betrauten Fachgesellschaften und Fachärzten lange erwartet; einerseits, da
die Publikation schon seit etwa 2 Jahren angekündigt war, und andererseits,
da große Änderungen erhofft wurden. Das Ergebnis sind 133 Seiten
mit 101 Empfehlungen, basierend auf
1.078 Referenzpublikationen. Besonders das Kapitel über Radiojodbehandlung nach Thyreoidektomie wurde von
den europäischen (EANM) und auch
österreichischen Nuklearmedizinern
(OGNMB) neugierig herbeigesehnt.
Zum einen aufgrund der Ergebnisse
zweier randomisierter, multizentrischer
Studien, die unterschiedliche Aktivitäten ebenso wie unterschiedliche Stimulationsmethoden bei Patienten mit
differenziertem Schilddrüsenkarzinom
und niedrigem Rekurrenzrisiko untersuchten.2, 3 Zu Recht wurden die Ergebnisse dieser Studien in die Leitlinie
inkludiert. Zum anderen war die Spannung aufgrund der Tatsache groß, dass
kein Nuklearmediziner in der Autorenliste der Leitlinien zu finden ist.
Sehr erfreulich ist die in den neuen
Leitlinien dargestellte Differenzierung
der erwarteten Wirkung der postoperativen Radiojodtherapie. Erstmals
wird je nach postoperativ eingeschätzSeite 79 I JATROS
SCHILDDRÜSENKARZINOM
Personalisierter Therapiepfad
Die interdisziplinäre Entscheidung
hat im Verlauf des Schilddrüsenkarzinoms großen Stellenwert erhalten
und v.a. soll sie deutlich früher stattfinden. Denn die totale Thyreoidektomie ist keinesfalls mehr die naturgegebene Operationsempfehlung bei
zytologisch verifiziertem oder suspiziertem differenzierten Schilddrüsenkarzinom (siehe Interview mit Assoz.Prof. PD Dr. Reza Asari in Ausgabe 1 der
JATROS Hämatologie & Onkologie
2016). Sobald der therapeutische Weg
in Richtung Lobektomie geht, ist naturgemäß aber auch die Entscheidung
gefallen, auf Radiojod zu verzichten.
Dass diese Entscheidung eine interdisziplinäre sein sollte, ist augenscheinlich. Da allerdings in unseren Breiten (Österreich, Deutschland, Schweiz,
Italien) nach wie vor die Diagnose
Schilddrüsenkrebs oft erst im Verlauf
der Operation einer multinodulären
Struma gestellt wird, ist die Interdisziplinarität zur Auswahl des operativen
Vorgehens oft nicht gegeben. In den
erfahrenen Händen eines endokrinologisch spezialisierten Chirurgen kann
aber jedenfalls erwartet werden, dass
das optimale operative Vorgehen gewählt wird und die Entscheidung über
das weitere therapeutische Vorgehen
dann interdisziplinär postoperativ getroffen werden kann.
Das Ziel dieser Personalisierung in der
Behandlung ist wie bei allen modernen
Krebstherapien die Ausgewogenheit
zwischen dem Nutzen einer Behandlung und dem Risiko, und zwar einerseits dem Risiko eines Fortschreitens/
Wiederauftretens der Erkrankung, andererseits aber auch der GesundheitsriJATROS I Seite 80
© UNIVERSIMED ®
100
Inzidenz nach Stadium (%)
tem Rezidivrisiko des Patienten („very
low“, „low“, „intermediate“, „high“)
unterschieden, ob Radiojod zum
Zweck der Ablation von Restschilddrüsengewebe, zur adjuvanten Therapie (Zerstörung von nicht strukturell
nachweisbaren Mikrometastasen/Mikroresiduen) oder zur effektiven Therapie (Zerstörung, Stabilisierung von
bekannten Tumorresten bzw. Metastasen) verabreicht wird. Dementsprechend finden sich auch unterschiedliche Aktivitätsempfehlungen.
KONGRESS
■ Frauen
■ Männer
80
60
40
20
0
Lokalisiert
Regionalisiert
Disseminiert
Unbekannt
Quelle: Statistik Austria. Österreichisches Krebsregister (Stand: 2. 10. 2015). Erstellt am 20. 1. 2016
Abb. 1: Schilddrüsenkrebs – Inzidenz nach Stadien
siken, die sich aus der Behandlung ergeben könnten.
Bei Patienten mit sehr niedrigem Rezidivrisiko – das sind Patienten mit unioder multifokalen, papillären Mikrokarzinomen bzw. Patienten mit minimal invasiv wachsenden follikulären
Karzinomen (ohne Gefäßinvasion) –
wird deshalb die Lobektomie/Hemithyreoidektomie als ausreichend empfohlen, eine Radiojodtherapie wird bei
diesen Patienten nicht durchgeführt.
Als Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko werden solche mit Tumorgrößen >1cm bis 4cm zusammengefasst,
ohne extrathyreoidale Ausdehnung
und ohne signifikante Lymphknotenbeteiligung. Für diese wird in der ATALeitlinie nun die Empfehlung ausgesprochen, Radiojod nicht routinemäßig anzuwenden.
Dies ist bei genauerer Betrachtung als
das Ende des Ablationskonzepts zu
sehen. Die Leitlinie bezieht sich mit
dieser Empfehlung, auf die Radiojodablation zu verzichten, auf Registerbeobachtungen bzw. Kohortenstudien sowie auf die zwei oben erwähnten internationalen, multizentrischen,
randomisierten Studien, die zwei unterschiedliche Aktivitäten von Radiojod zur Behandlung von Niedrigrisikopatienten verglichen und keinen
signifikanten Unterschied im Ablationserfolg erbrachten. Die Langzeitergebnisse hinsichtlich des echten Ansprechens bzw. der Progression fehlen
naturgemäß noch. Folgestudien zum
Vergleich – kein Radiojod versus 1,1
bzw. 3,7GBq – laufen überhaupt gerade erst an. Die Zuversicht über das
erwartete Ergebnis dieser Studie findet
sich also bereits in Empfehlung Nr. 51,
die für diese Niedrigrisikopatienten –
und dazu zählen auch Patienten mit
Tumorgrößen bis 4cm – eine routinemäßige postoperative Radiojodtherapie nicht mehr empfiehlt. Die Evidenz
wird mit niedrig angegeben, die Empfehlung als schwach bezeichnet.
Beim Patienten mit mittlerem („intermediate“) Rezidivrisiko ist es dem
Fachspezialisten, genauer gesagt wohl
dem Tumorboard, überlassen, ob Radiojod verabreicht wird: Hier wird ein
„consider“ als Empfehlung ausgegeben. Als Entscheidungsgrundlage dient
der postoperative Status, d.h. postoperatives Thyreoglobulin, histopathologische Charakteristika und vieles
mehr. Auch hier basiert die „schwache“ Empfehlung auf nur geringer Evidenzlage.
Die Radiojodtherapie bleibt bei Patienten mit hohem Rezidivrisiko wie in
der ATA-Leitlinie aus dem Jahr 2009
uneingeschränkt empfohlen.4 Unverändert im Vergleich zu dieser Leitlinie
wird weiterhin keine routinemäßige
Dosimetrie zur Bestimmung der zu gebenden Aktivität angeraten.5
Kritik an Leitlinien
Die europäische nuklearmedizinische
Gesellschaft (EANM), deren Leitlinie zur Radiojodtherapie aus dem
Jahr 2008 stammt, hat sich entschlossen, den aktualisierten Leitlinien der
ATA nicht uneingeschränkt zuzustimmen.5, 6 Die oben erwähnten Reduzierungen in der Empfehlung zur DurchHämatologie & Onkologie 3/16
SCHILDDRÜSENKARZINOM
KONGRESS
führung einer Radiojodtherapie bei Patienten mit niedrigem und mittlerem
Rezidivrisiko auf der Basis einer nur
sehr eingeschränkten Evidenzlage waren Gründe für die Entscheidung, die
amerikanischen Leitlinien nicht uneingeschränkt im europäischen Raum –
teilweise in historischen Jodmangelgebieten – eins zu eins zu empfehlen.
Ein weiterer Kritikpunkt für die Mitglieder des Thyroid Committee der
EANM ist die fehlende Empfehlung zur exogenen TSH-Stimulation.
Dass Lebensqualität bei Patienten
mit Schilddrüsenkarzinom ein stiefmütterlich behandeltes Thema darstellt, wurde im Rahmen der 32. Jahrestagung der ACO-ASSO 2015 berichtet.7, 8 Die TSH-Stimulation mit
rhTSH hat, so steht es auch in den
ATA-Guidelines, in Bezug auf therapieassoziierte Lebensqualität im Vergleich
zur endogenen Stimulation, die eine
hypothyreote Stoffwechsellage mit vielen unangenehmen Symptomen hervorruft, eindeutig die Nase vorn. Trotz-
dem wird die Stimulation mit rhTSH
lediglich als Alternative zur Hypothyreose in Betracht gezogen.
Die aktualisierte amerikanische Leitlinie ist ausgezeichnet recherchiert,
gut strukturiert und wird Fachärzte
verschiedenster Disziplinen (Endokrinologen, Schilddrüsenchirurgen, Pathologen, Nuklearmediziner, Hämatoonkologen) bei der Betreuung von
Schilddrüsenkarzinompatienten unterstützen. Wie sehr den amerikanischen
Empfehlungen auch in Österreich bzw.
in Europa gefolgt wird und ob dies im
Endeffekt zum Vor- oder Nachteil des
Patienten geschieht, wird sich zeigen. ■
3
Schlumberger M et al: Strategies of radioiodine ablation in patients with low-risk thyroid cancer. N Engl J
Med 2012; 366: 1663-73
4 Cooper DS et al: Revised American Thyroid Association management guidelines for patients with thyroid nodules and differentiated thyroid cancer. Thyroid
2009; 19: 1167-214
5 Luster M et al: Guidelines for radioiodine therapy of
differentiated thyroid cancer. Eur J Nucl Med Mol Imaging 2008; 35: 1941-59
6 Verburg FA et al: Why the European Association of
Nuclear Medicine has declined to endorse the 2015
American Thyroid Association management guidelines
for adult patients with thyroid nodules and differentiated thyroid cancer. Eur J Nucl Med Mol Imaging.
2016 Feb [Epub ahead of print]
7 Singer S et al: Quality of life in patients with thyroid
cancer compared with the general population. Thyroid 2012; 22(2): 117-124
8 Gamper E: JATROS Hämatologie & Onkologie 1/2016;
170-172
Literatur:
1 Haugen BR et al: 2015 American Thyroid Association
Management Guidelines for Adult Patients with Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer. The
American Thyroid Association Guidelines Task Force
on Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer.
Thyroid 2016; 26(1): 1-133
2 Mallick U et al: Ablation with low-dose radioiodine
and thyrotropin alfa in thyroid cancer. N Engl J Med
2012; 366: 1674-85
Autorin:
Assoz.-Prof. Dr. Martha Hoffmann
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06-17-ONCO-1179532-0000. Erstellt: Juni 2016
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