Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Was Konvertiten mit (religiösem) Fanatismus zu tun haben Im Rahmen der Debatte über Terrorismus, Islam und den Islamischen Staat fällt auf, dass immer wieder Religionskonvertiten eine unheilvoll gewalttätige Rolle in diesen Konflikten spielen. Ein Beispiel dafür ist Englands bekannter Islamist, Jihadi-John, der sich als begeisterter Henker und Köpfer von Ungläubigen international einen Namen gemacht hat (vgl. Mekhennet et al. 2015). Doch was sind Konvertiten und was ist der Grund dafür, dass diese von Natur aus besonders empfänglich für antiquiert erscheinenden Fanatismus sind? Ich habe dieses Essay in fünf Abschnitte aufgeteilt. Abschnitt 1 erklärt, was Konversion ist und wie Konversion Schritt für Schritt abläuft. In Abschnitt 2 erkläre ich anhand eines praktischen Beispiels, wie man sich das Verhältnis einiger Konvertiten zu ihrem neuen Glauben bildlich vorstellen kann. Abschnitt 3 soll Aufschluss darüber geben, woran man diese bestimmte Form fanatischer Konvertiten am besten erkennt. In Abschnitt 4 erzähle ich etwas über islamische Geschichte um zu erklären, was Buchdruck und Internet in Verbindung mit Konvertiten mit dem aktuellen Terrorchaos im Nahen Osten zu tun haben. In Abschnitt 5 1 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 gehe ich noch kurz darauf ein, warum Konvertiten dazu tendieren, sich die bescheuertsten aller Gläubigen - die sogenannten Frustradikalen - als Vorbild zu nehmen. Als letztes noch eine Sache, die der Leser bitte niemals vergessen möge: Glauben ebenso wie Glaubenskonversion an sich ist keine schlechte Sache; sie kann Menschen dabei helfen, ein besseres, ja zufriedeneres Selbst zu finden. “Es sind immer nur einige wenige, die sich so verhärten, dass sie Töten und Morden als legitimes Mittel ihres [Glaubens-] Kampfes anzusehen beginnen” (Conzen 2007: 100). Das Schlimme an sich ist noch nicht das Extreme, sondern die (von allen guten Geistern verlassene) Steigerung weit über den Extremismus hinaus. Viel Spaß Abschnitt 1: Was ist Konversion? Der Psychologe Lewis Rambo definiert Konversion als einen Wechselprozess, der in einem dynamischen Kraftfeld stattfindet. Dieser kann in Form einer plötzlichen Transformation oder als langwieriger Prozess auftreten. Seiner Meinung nach kann zwar kein wissenschaftliches Modell den Wechselprozess in seiner Gesamtheit erfassen, allerdings hat er vier Bereiche als Mindestkomponenten stattfindenden Wandels bestimmt, die bei jeder Konversion in unterschiedlichem Mischungsverhältnis und Stärke betroffen sind: Kulturell, Sozial, Persönlichkeit und religiöses System. Dabei ist die religiöse Sphäre die dominante Kraft, die die anderen „überwältigt“ (vgl. Rambo 1989: 49). Konversion muss zeit-, orts- und kontextabhängig verstanden sowie eingeordnet werden (vgl. Carl/Schaser 2013: 3-4). Eine Konversion setzt als Grundlage „das Wissen über mindestens zwei unterschiedliche Glaubenssysteme beziehungsweise die Erfahrung konfessioneller Pluralität voraus“ (vgl. Carl/Schaser 2013: 3-4). Religionskonversion kann hierbei einfach oder schwierig sein. Während Konversion zum Judentum einen „langjährigen intellektuellen Prozess darstellt, der Thorastudien, Erlernen der hebräischen Sprache und Abgabe einer fundierten Begründung des Zugehörigkeitswunsches in Form einer Prüfung vor einem Rabbinat erfordert, laden Christentum und Islam Menschen zur Teilnahme an der Glaubensgemeinschaft ein” (vgl. Abernathy 2000). Das Christentum verlangt ein Glaubensbekenntnis in Form von Taufe, zum Übertritt zum Islam genügt es bereits, auch ohne Zeugen alleine das islamische Glaubensbekenntnis Schahada mit Überzeugung auszusprechen (vgl. Rambo 1989: 55). 2 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Rambo hat zur Konversionsbestimmung ein 7-Stufen-Modell entwickelt: 1. Kontext: In welcher Situation, aus welchem Gesellschaftsmilieu heraus begann die „spirituelle Reise“? Gab es ein auslösendes (Glücks- oder Krisen-) Moment? Hierbei geht Rambo von einer Interaktion zwischen Makro-, Mikro- und Mesoebene aus (vgl. Rambo 1989: 52). Zur strukturellen Erfassung kann laut Harrow Maslows Annahme von Wachstums- und Defizitbedürfnissen („Maslow'sche Bedürfnispyramide") Hilfestellung leisten (vgl. Harrow 2002: 113-114). 2. Krise: Meist die Folge eines auslösendes Ereignis, das jemanden desillusioniert, verletzt, zumindest aber das Gefühl von Verletzlichkeit auslöst. Harrow geht davon aus, dass bei Leuten auf der höchsten Maslow-Stufe auch Unzufriedenheit als Auslöser denkbar ist, wenn man nach eigener Auffassung alles im Leben Erreichbare erreicht hat (vgl. Harrow 2002: 113-114). Hierbei fragt Rambo, ob die Krise aus inneren oder äußeren Gründen resultiert und ob sowohl die Person als auch ihre bisherige Weltanschauung ausreichend flexibel, elastisch und kreativ genug sind, um selbst mit der Krise fertig zu werden (vgl. Rambo 1989: 52-53). 3. Herausforderung: Der Betroffene sucht (aktiv) oder findet (passiv) Hilfe bei einer für ihn nicht-traditionalen („alternativen“) religiösen Institution. Diese wird von ihm als Lehrer, Guru, Inspiration oder ähnliches bezeichnet (vgl. Abernethy 2000). Rambo spricht hier von einer „Freundschaft zu einem Missionar“, der diesem hilft, inneren und/oder äußeren Widerstand („Entropie“) zu überwinden, der der Konversion entgegensteht (vgl. Rambo 1989 53-54). Harrow bezeichnet es als „die Brücke, die von Wut zu Hoffnung führt“, sagt weiter, dass die Person hierfür überzeugt sein muss, hin zu etwas Gutem und nicht weg von etwas Schlechtem zu gehen (vgl. Harrow 2002: 116). 4. Begegnung: Diese Phase beschreibt die Kontaktart zwischen Konvertit und Bekehrer, wobei Rambo den Schwerpunkt auf letzteren liegt. Je nachdem, wie sich eine Religionsgruppe definiert – inklusiv (Christentum, Islam) oder exklusiv (Judentum, Syrisch-Orthodoxe Kirche) -, hängt es davon ab, auf welche Art oder ob überhaupt dessen Vertreter an Neubekehrungen interessiert sind. Ebenso stellt sich die Frage, was die neue Glaubensgruppe dem Suchenden an Benefit anbieten kann. Hierbei stellt Rambo die Frage nach dem „kognitiven Rahmen“, der Art von Gemeinschafts- und 3 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Elitenbewusstsein, das die Gruppe dem Suchenden vermittelt. Weitere Faktoren sind für ihn die „techniques of living“, also die Frage, wie stark strukturgebende Alltagshandlungen in den Glaubenskontext eingebettet sind, sowie das Charisma des Glaubensführers (vgl. Rambo 1989: 54-56). Harrow, selber Vertreterin einer exklusiven Glaubensgemeinschaft, verweist diesbezüglich auf die Vorbildfunktion des Bekehrers (vgl. Harrow 2002: 117). Das erinnert an Thomas Hobbes Aussage, dass Religionen aufgrund fehlender sichtbarer Wundertätigkeit von der Art nach außen kommunizierter Lebensführung ihrer Priester abhängig sind (vgl. Hobbes 2011: 9091). Peter Conzen schreibt hierzu: “Die Begegnung mit der rettenden Idee oder scheinbar charismatischen Gestalt bringt mit einem Schlag wieder Hoffnung und Sinn in die zerrissene Identität, wird nicht selten als „Erleuchtung“, als „zweite Geburt“ geschildert” (Conzen 2007: 110). 5. Interaktion: In dieser Phase trifft der Suchende die Entscheidung, ob er sich der neuen Glaubensgemeinschaft anschließt. Dabei spielt die aktive oder passive Rolle des Suchenden insofern eine Rolle, ob er es mit einer inklusiven, ihm „Steine in den Weg legenden“ oder einer exklusiven Religion zu tun hat. Oftmals geht Konversion zur Verringerung der Entropiekräfte mit der Entfremdung vom bisherigen Umfeld einher, was entweder vom Suchenden selbst oder von seiner Konversionsgemeinde aktiv eingeleitet wird. Sekten isolieren beispielsweise in dieser Phase potenzielle Mitglieder vor Fremdeinflüssen, um für diese alternative Lösungsfindung auszuschließen (vgl. Rambo 1989: 56-58). 6. Verpflichtung: Hier wird nach ein nach außen kommuniziertes Bekenntnis gegenüber den alten und der neuen (Glaubens-) Gemeinschaft abgelegt. Das Bekenntnis stellt eine Art von Beweiszwang dar, drückt aus, dass der Konvertit bereit ist, alle neu einhergehenden Verpflichtungen zu übernehmen. Carl erklärt aus historischer Sicht die Notwendigkeit des sich der neuen Gemeinde gegenüber erklären zu müssen damit, dass eine Konversion oftmals (gezwungenermaßen) berufliche Veränderungen mit sich brachte, die Unterstützung durch die neue Gemeinschaft notwendig machte. Sie verweist auf Pfarrer, die aufgrund Konfessionswechsel automatisch arbeitslos wurden (vgl. Carl/Schaser 2013: 15-16). 4 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Laut Rambo kann die Verpflichtung - abhängig vom gesellschaftlichen Ansehen der neuen Konversion innerhalb des alten Lebensumfeld des Konvertiten – den harmonischen Übergang zu einer neuen Rollenidentität bis hin zum radikalen Bruch mit der Vergangenheit (“that burn that bridges to the past“) zur Folge haben (vgl. Abernethy 2000). Harrow spricht diesbezüglich von einem „nach Hause kommen“, verweist desweiteren auf die Homosexuellenbewegung und benutzt den Begriff des „religiösen Coming Out“ (vgl. Harrow 2002: 117). 7. Konsequenz / Ergebnis: Nach dem Wechsel fügt sich der Konvertit in die neue Glaubensgemeinschaft und stellt hierbei im Laufe der Zeit fest, ob seine Erwartungen an den neuen Glauben erfüllt oder enttäuscht werden. Hierbei spielt eine Rolle, inwiefern die ursprüngliche Krisenursache aufgelöst, durch die Konversion neu entstehenden Probleme gelöst werden. Harrow betrachtet die Konsequenz aus ihrer gemachten Erfahrung als Mitglied einer gesellschaftlich unpopulären religiösen Bewegung (“Wicca”) spricht von Anfeindungen, Vorurteile und Diskriminierungen, die dem Konvertiten von außen zusetzen können (vgl. Harrow 2002: 118). Abschnitt 2: Wie kann ich mir Glaubenskonvertiten und deren Verhältnis zum neuen Glauben anhand eines Beispiels am besten vorstellen? Konvertiten identifizieren sich oftmals stärker mit ihrer neuen Glaubenslehre als viele Altmitglieder, verfolgen eher einen dogmatischen als pragmatischen Umgang mit der neuen Religion. Man kann das mit Fahranfängern oder gerade fertig gewordenen Hochschulabsolventen vergleichen, die neu im Straßenverkehr oder einer Firma sind. Während hierbei allerdings mit steigender Erfahrung eine Lockerung in der Regelauslegung einhergeht, behalten Konvertiten den dogmatischen, weil identitätsstiftenden Ansatz oftmals bei, neigen stattdessen dazu, Altgläubigen die Abkehr von der reinen Lehre vorzuwerfen. Was im Straßenverkehr nur Kopfschütteln und im Unternehmen das vorzeitige Karriereende bedingt, kann in einer Glaubensgemeinschaft katastrophale Folgen verursachen. Die meisten abrahamitischen Religionen kennen keine negative Glaubensfreiheit, garantieren zwar freien Eintritt, verbieten aber den individuellen Austritt aus der Religionsgemeinschaft (vgl. Ceylan et al. 2013: 29). Der „Apostasie“ genannte Kirchenaustritt gilt im Islam als „Hochverrat an der Religion“ und legitimiert Moslems, die vom Glauben abgefallene Muslime („Takfiri“) zu töten (vgl. ebd. 37-38). 5 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Ein Konflikt zwischen Dogmatiker und Pragmatiker würde in jeder anderen Konstellation als einer religiös-politischen als lächerlich abgetan. Eduard Pestel erklärt diese Katastrophentendenz mit dem „einzigartige[n] Wissen des Menschen um die Unweigerlichkeit seines eigenen Todes und das aus Angst entspringende Verlangen nach einer Bindung an eine höhere, außerirdische Macht, welche die Zeit – seine Zeit auf Erden – überdauert“ als tiefste Quelle seiner Wertvorstellungen (vgl. Pestel 1986: Kapitel 3). Gerda Bohmann verwendet zur Unterscheidung von Dogmatiker und Pragmatikern die Begriffe der „Politisch Religiösen“ und „Fundamental Religiösen“. Während Fundamental Religiöse sich mit der Moderne arrangieren versuchen Politisch Religiöse „die zentralen Errungenschaften bzw. Fundamente der […] Moderne“ mit „genuin modernen politischen Mitteln“ zu bekämpfen (vgl. Bohmann 2009: 5). Die Gruppe Politisch Religiöser, auf die ich mich explizit beziehe, sind die sogenannten induzierten Fanatiker bzw. die Zwangsfanatiker. Dabei beinhaltet für mich der Begriff des Konvertiten sowohl klassische Konversion gemäß Lewis Rambo’s Definition als auch Menschen, die nominell bereits Teil der Glaubensgemeinschaft waren, aber erst aufgrund einer persönlichen strukturellen Krise ihren Glauben für sich “neu entdeckt” haben. Peter Conzen schreibt über induzierte Fanatiker: “Hier wird das leidenschaftlich Begeisternde gleichsam von außen in den Kern ihrer Identität gelegt. Der Fanatismusdurchbruch erfolgt durch den Kontakt mit einer extremen Bewegung bzw. scheinbar charismatischen Gestalt und gewinnt dann eine Eigendynamik. Oft von narzisstischer Leere bedroht oder von einem sadistischen Über-Ich gequält, handelt es sich um Menschen mit einem tiefen, wenngleich meist ressentimentbehafteten Anschluss- und Glaubensbedürfnis. Gerade in Zeiten der Krise und Verzweiflung taucht der messianisch erlebte originäre Fanatiker [z.B. eine Führer-Person, Anm. d. Verf.] wie ein Lichtstrahl auf, bringt mit einem Schlag wieder Sinn und Richtung in die zersplitterte Existenz. In einer Art zunehmendem „Kleinheitswahn“ machen sich solche Personen zum bedingungslosen Werkzeug einer vergotteten Instanz, für deren Schutz und Anerkennung alle Anstrengungen und Widerwärtigkeiten in Kauf genommen werden” (Conzen 2007: 102). 6 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Zwangsfanatiker dagegen sind von der Idee beseelt, eine Sache oder Glauben zu verteidigen und auszuweiten, wobei für diese alles alles bis ins kleinste Detail genau authentisch und detailgetreu ablaufen muss, damit sich deren Idee in ihrer ganzen Vollkommenheit entfalten kann (vgl. Conzen 2007: 102). Abschnitt 3: Woran erkennt man diese unheilvolle Form fanatischer Konvertiten? Peter Conzen schreibt hierzu: “Von einer echten fanatischen Persönlichkeitsveränderung sollte man erst dann sprechen, wenn eine unerschütterliche Überzeugung dauerhaft den Kern des Selbst besetzt, alle psychische Energie auf sich zieht und die Identität einer Persönlichkeit in einer Art chronischen apokalyptischen Welterlebens radikal verändert. Etwas total Gutes – der Wille Gottes, der völkische Zusammenhalt, das Prinzip der Gerechtigkeit – ist durch etwas total Böses bedroht. Es kann kein Zögern, kein Abwarten und keine Kompromisse mehr geben. Das Übel muss mit allen Mitteln bekämpft, dem Guten zum Sieg verholfen werden, erst dann ist ein Leben in Würde, Freiheit und Anstand wieder denkbar. Mit einem unheimlichen Sendungsbewusstsein und zugleich unheimlichen Ressentiment verfolgt der Fanatiker sein Ziel, mauert sich, unbelehrbar, unkorrigierbar in einem Weltbild ein, in dem es keine Grautöne, keine Ambivalenz mehr gibt”(Conzen 2007: 107). Abschnitt 4: Was hat das aktuelle Chaos in der islamischen Welt mit Buchdruck, Internet und Glaubenskonvertiten zu tun? In der sunnitisch-muslimischen Welt entschieden im 13. Jahrhundert 1 die Mujtahids2 vier Rechtsschulen, die alleine das Recht zur Ijtihad3 besaßen, dass alles Wissenswerte bezüglich der Welt bereits bekannt ist und zukünftig zur Rechtsfindung ‘Taqlid’ – die Rechtsfindung auf Basis Vorhandenen – ausreichen würde (vgl. Grutzpalk 2008: 20). Dieser Konsens wurde mit Aufkommen des Buchdrucks erstmals in Frage gestellt, hatte trotzdem aber bis Mitte des 18. Jahrhunderts Bestand, als Mohammed Ibn Al-Wahhab begann, die Ijtihad eigenmächtig auszulegen. Da er in Scheich Mohammed Ibn Saud so wie einst Martin Luther bei Kurfürst Friedrich von Sachsen einen mächtigen Schutzpatron fand, konnte er von den Juristen der 1 Ceylan gibt abweichend das 14./15. Jahrhundert an (vgl. Ceylan et al. 2013: 44). 2 Der Mujtahid ist ein religiöser Rechtsgelehrter (vgl. Al-Qadri 1950: 1). 3 Ijtihad heißt wortwörtlich übersetzt „streben mit voller Anstrengung“ und ist die deuktiv-methodische Auslegung eines Sachverhaltes, sofern weder der Koran noch Hadithen, die Tradition oder andere Sekundärliteratur ausreichend Anhaltspunkte zum Fällen eines eindeutigen Urteils liefern. Die darin ausgebildeten Rechtsgelehrten werden „Mujtahid“ genannt (vgl. Al-Qadri 1950: 1 7 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Rechtsschulen nicht zur Rechenschaft gezogen werden und gründete stattdessen eine fünfte Rechtsschule, die als Saudi-Arabiens Staatsreligion („Wahhabismus”) Legitimation fand. Die eigenmächtige Rechtsauslegung Ibn-Wahhabs führte dazu, dass andere qualifizierte Laien ebenfalls Anspruch auf Rechtsauslegung erhoben. Rapide sinkende Druckkosten ließ bis dahin schwer produzierbare Schriften zur Massenware werden, sodass bald jedermann, der lesen und schreiben konnte sowie einigermaßen Charisma besaß, damit begann, selber Koran und Ijtihad auszulegen. Abweichende Urteile wurden als ketzerisch gebrandmarkt und deren Gläubige zu „Takfiri“ erklärt. Dabei deuteten Laien damals wie heute die Widersprüchlichkeit mancher Rechtsgutachten bezüglich desselben Sachverhalts als Beweis dafür, dass die alten Rechtsschulen korrumpiert und vom wahren Glauben abgefallen wären. Die rein logisch gedacht naheliegendere Erklärung - dass Juristen der vier Rechtsschulen zur Hochzeit der Islamischen Expansion über den gesamten islamischen Herrschaftsraum – von Kabul bis nach Lissabon verteilt - ihrer Aufgabe nachgingen und Mobilität wie Kommunikation sowohl im Vergleich zum 18. Jahrhundert als auch zu heute weniger hoch entwickelt war, wurde (und wird anscheinend) nicht in Betracht gezogen. Die einzigen Institutionen, die dazu befähigt wären, das islamische Ijtihad-Chaos zu beenden – die vier ursprünglichen Rechtsschulen – sind nicht dazu in der Lage, da sie selber das Angriffsziel der Laien dieser islamischen Reformation sind (vgl. Grutzpalk 2008: 20-30). Mit Aufkommen des Internets hat sich diese damals begonnene Entwicklung inzwischen bis ins Absurde hinein verstärkt, was erklärt, warum sunnitische und schiitische Sekten miteinander, gegeneinander und übereinander herfallen und das meiste Blut des Dschihads zwischen Muslimen untereinander fließt (vgl. Lobah 2015: 34f) Sowohl die Angriffe des Islamischen Staates gegen Schiiten als auch Al-Qaidas Kriegserklärung an das saudische Königshaus 2004 geben Zeugnis davon (vgl. Steinberg et al. 2014: 18; Fürtner 2014: 9). Abschnitt 5: Warum Konvertiten dazu tendieren, sich Frustradikale als Vorbild zu suchen? Menschen suchen naturgemäß Gemeinschaft mit anderen Menschen, die dieselbe oder eine ähnliche Erfahrung wie sie selbst durchgemacht haben und auch eine ähnliche Sichtweise mit 8 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 ihnen teilen. Bei Konvertiten kommt neben anderen Konvertiten eine bestimmte Gruppe „Altgläubiger“ infrage, die gemäß Peter Conzens Fanatiker-Definition als “originäre Fanatiker” gelten (vgl. Conzen 2007: 101-102). Meiner Meinung nach kann man diese besser als „Frustfanatiker" bzw. “Frustradikale“ bezeichnen. Unter „Frustradikalen“ verstehe ich charismatische Gläubige, die ihre dogmatische Sicht auf den Glauben dadurch rein halten konnten, dass sie niemals Führungsverantwortung für eine größere (heterogene) Gruppe von Gläubigen tragen mussten. Was Frustradikale in meinen Augen kennzeichnet, ist die Tatsache, dass diese sich für die Führung von Gruppen als berechtigt ansehen, von anderen, aus ihrer Perspektive korrumpierten und vom Glauben Abgefallenen aber am Aufstieg gehindert, manchmal auch verfolgt und eingesperrt wurden. Ein Beispiel für den Typus „Frustradikaler“ stellt der ideologische Vater der Neo-Salafisten, Sayyid Qutb, dar, der die radikalsten seiner Thesen, die heute quasi das Glaubensbekenntnis seiner neo-salafistischen Jünger sind, in den Jahren kurz vor seiner Hinrichtung im ägyptischen Gefängnis in Kairo zu Papier brachte (vg. Conzen 2007: 116-117). Wie der Leser jetzt wahrscheinlich nachvollziehen kann, kann eine Verbindung zwischen Konvertiten und Frustradikalen ein hochexplosives Gemisch von Aggression und Gewalt zur Folge haben. Peter Conzen schreibt dazu: “Diese [fanatischen Konvertiten] stützen ihn [den Frustradikalen] in seinen Größenfantasien und paranoischen Realitätsverkennungen, federn seine Ängste und seine Schwächen ab, überbieten sich bei der Ausführung seines Willens in vorauseilendem Gehorsam. Dafür werden sie vom Führer gestützt, bestätigt und können sich im Glanz seiner destruktiven Glorie künstlich narzisstisch aufwerten. Da das Ziel vollkommener Gerechtigkeit nie ganz zu erreichen ist, wird das Ankämpfen gegen das Feindbild zunehmend gewaltsamer, der Verlust des Wirklichkeitsbezuges immer eklatanter” (Conzen 2007: 103). Peter Conzen spricht hierbei von der Ausweglosigkeit und Verzweiflung dieser Gruppe, die am Ende explodiert und in einen amokläuferisch zerstörerisches Schlussfanal führt (ebd.). Beide Typen – sowohl die konvertierte Gefolgschaft als auch die originären Führer - kämpfen meiner Meinung nach gegen dieselben drei Feinde: Der erste Feind ist deren eigene Frustration, zu spät konvertiert oder zu früh vom Weg zur einem zustehenden Macht abgekommen bzw. abgeschnitten worden zu sein. Der zweite Feind ergibt sich zwangsläufig aus dem ersten, es ist die Zeit, die unbarmherzig 9 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 voranschreitet und die Frustrierten von dem Zeitpunkt, an dem alles besser war, immer weiter entfernen lässt. Der dritte Feind sind logischerweise all jene Menschen, die mit der Zeit gehen, in ihrem Denken nicht im Gestern sondern im heute verhaftet sind und dadurch automatisch Gegner sein müssen. Deren Angepasstheit an die Gegenwart lässt Glaubenskonvertiten wie Frustradikalen die Schande über die eigene Unangepasstheit in der Vergangenheit, als noch Möglichkeit zum Besseren bestand, jedes Mal aufs Neue spüren, was als Ergebnis Wut und Hass entstehen lässt, die sich leichter gegenüber einem anderen als gegenüber sich selbst ausleben lässt. Conzen sagt dazu: “Geradezu zwanghaft müssen religiöse Fanatiker das Böse in der eigenen Brust, eigene Zweifel, Triebregungen und rebellische Impulse auf andere projizieren und dort stellvertretend bekämpfen” (Conzen 2007: 105), was Reza Aslan für die Konflikte innerhalb der muslimischen Welt bestätigt, wenn er schreibt: “From the Islamic perspective, however, the attacks [auf New York, Washington, Paris, Madrid etc.] were part of an ongoing clash between those Muslims who strive to reconcile their religious values with the realities of the modern world, and those who react to modernism and reform by reverting—sometimes fanatically—to the ‘fundamentals’ of their faith” (vgl. Aslan 2006: Kapitel 1). Fazit Während das Gegenteil von “groß” “klein” ist und von “lieb” “böse”, ist das Gegenteil von Extremismus wieder Extremismus, nur zur anderen Seite hin geneigt. Wir müssen uns bewusst machen, wie schnell jeder Mensch aufgrund innerer Angst und Unsicherheit darüber, die richtigen Entscheidungen zu treffen bzw. im Leben getroffen zu haben, um es in Zukunft mindestens genauso gut als in Gegenwart oder Vergangenheit zu haben, in (übersteigerten) Extremismus verfallen kann. Dieser muss nicht religiöser Natur, er kann auch ethnischer, nationalistischer oder in Form von übersteigertem Fetischismus sein. Jeder von uns kann wie ein Fanatiker handeln. Fanatiker sein ist einfach. Man redet sich selbst (und allen anderen) zwanghaft ein, dass man wirklich vor der richtigen Türe steht ohne darauf zu warten, dass irgendwo das Licht angeht. Stattdessen verbarrikadiert und vermint man alle anderen Tore und bedroht jeden, der sich für ein anderes Tor entscheiden will. Denn sollte man selber letzten Endes falsch gelegen haben, soll auch kein anderer die Möglichkeit haben, richtiger als man selber gewesen zu sein. 10 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Die Alternative zu Extremismus ist schwierig, es bedeutet nämlich Ungewissheit zu ertragen; zu akzeptieren, dass alles was wir denken und tun, nichts weiter als ein Entwurf ist, der richtig aber auch falsch sein kann und darüber hinaus auch zu verstehen, dass ein Entwurf für mich richtig aber für den anderen falsch sein kann. “Da wir nicht wissen können, ob unsere Entwürfe richtig sind, kommt es darauf an, den Streit der Entwürfe zu pflegen. Versuch und Irrtum sind Quellen des Fortschritts in Erkenntnis und Gesellschaft.” (vgl. Dahrendorf 1986: II). 11 Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015 Literaturverzeichnis Abernethy, Bob (10.11.2000): Lewis Rambo Extended Interview. Interview mit Lewis Rambo. Washington D.C. Ausdruck einer Abschrift. 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