Was Konvertiten mit (religiösem) Fanatismus zu tun haben

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Walter Leonhardt, Veröffentlichungsdatum: 15.11.2015
Was Konvertiten mit (religiösem) Fanatismus zu tun haben
Im Rahmen der Debatte über Terrorismus, Islam und den Islamischen Staat fällt auf, dass immer wieder Religionskonvertiten eine unheilvoll gewalttätige Rolle in diesen Konflikten spielen. Ein Beispiel dafür ist Englands bekannter Islamist, Jihadi-John, der sich als begeisterter
Henker und Köpfer von Ungläubigen international einen Namen gemacht hat (vgl. Mekhennet
et al. 2015).
Doch was sind Konvertiten und was ist der Grund dafür, dass diese von Natur aus besonders empfänglich für antiquiert erscheinenden Fanatismus sind?
Ich habe dieses Essay in fünf Abschnitte aufgeteilt. Abschnitt 1 erklärt, was Konversion ist
und wie Konversion Schritt für Schritt abläuft. In Abschnitt 2 erkläre ich anhand eines praktischen Beispiels, wie man sich das Verhältnis einiger Konvertiten zu ihrem neuen Glauben
bildlich vorstellen kann. Abschnitt 3 soll Aufschluss darüber geben, woran man diese bestimmte Form fanatischer Konvertiten am besten erkennt. In Abschnitt 4 erzähle ich etwas
über islamische Geschichte um zu erklären, was Buchdruck und Internet in Verbindung mit
Konvertiten mit dem aktuellen Terrorchaos im Nahen Osten zu tun haben. In Abschnitt 5
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gehe ich noch kurz darauf ein, warum Konvertiten dazu tendieren, sich die bescheuertsten
aller Gläubigen - die sogenannten Frustradikalen - als Vorbild zu nehmen.
Als letztes noch eine Sache, die der Leser bitte niemals vergessen möge: Glauben ebenso wie
Glaubenskonversion an sich ist keine schlechte Sache; sie kann Menschen dabei helfen, ein
besseres, ja zufriedeneres Selbst zu finden. “Es sind immer nur einige wenige, die sich so verhärten, dass sie Töten und Morden als legitimes Mittel ihres [Glaubens-] Kampfes anzusehen
beginnen” (Conzen 2007: 100). Das Schlimme an sich ist noch nicht das Extreme, sondern
die (von allen guten Geistern verlassene) Steigerung weit über den Extremismus hinaus.
Viel Spaß
Abschnitt 1: Was ist Konversion?
Der Psychologe Lewis Rambo definiert Konversion als einen Wechselprozess, der in einem
dynamischen Kraftfeld stattfindet. Dieser kann in Form einer plötzlichen Transformation oder
als langwieriger Prozess auftreten. Seiner Meinung nach kann zwar kein wissenschaftliches
Modell den Wechselprozess in seiner Gesamtheit erfassen, allerdings hat er vier Bereiche als
Mindestkomponenten stattfindenden Wandels bestimmt, die bei jeder Konversion in unterschiedlichem Mischungsverhältnis und Stärke betroffen sind: Kulturell, Sozial, Persönlichkeit
und religiöses System. Dabei ist die religiöse Sphäre die dominante Kraft, die die anderen
„überwältigt“ (vgl. Rambo 1989: 49). Konversion muss zeit-, orts- und kontextabhängig verstanden sowie eingeordnet werden (vgl. Carl/Schaser 2013: 3-4).
Eine Konversion setzt als Grundlage „das Wissen über mindestens zwei unterschiedliche
Glaubenssysteme beziehungsweise die Erfahrung konfessioneller Pluralität voraus“ (vgl.
Carl/Schaser 2013: 3-4). Religionskonversion kann hierbei einfach oder schwierig sein.
Während Konversion zum Judentum einen
„langjährigen intellektuellen Prozess darstellt, der Thorastudien, Erlernen der hebräischen
Sprache und Abgabe einer fundierten Begründung des Zugehörigkeitswunsches in Form einer
Prüfung vor einem Rabbinat erfordert, laden Christentum und Islam Menschen zur Teilnahme
an der Glaubensgemeinschaft ein” (vgl. Abernathy 2000).
Das Christentum verlangt ein Glaubensbekenntnis in Form von Taufe, zum Übertritt zum Islam genügt es bereits, auch ohne Zeugen alleine das islamische Glaubensbekenntnis Schahada
mit Überzeugung auszusprechen (vgl. Rambo 1989: 55).
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Rambo hat zur Konversionsbestimmung ein 7-Stufen-Modell entwickelt:
1. Kontext: In welcher Situation, aus welchem Gesellschaftsmilieu heraus begann die
„spirituelle Reise“? Gab es ein auslösendes (Glücks- oder Krisen-) Moment? Hierbei
geht Rambo von einer Interaktion zwischen Makro-, Mikro- und Mesoebene aus (vgl.
Rambo 1989: 52). Zur strukturellen Erfassung kann laut Harrow Maslows Annahme
von Wachstums- und Defizitbedürfnissen („Maslow'sche Bedürfnispyramide") Hilfestellung leisten (vgl. Harrow 2002: 113-114).
2. Krise: Meist die Folge eines auslösendes Ereignis, das jemanden desillusioniert, verletzt, zumindest aber das Gefühl von Verletzlichkeit auslöst. Harrow geht davon aus,
dass bei Leuten auf der höchsten Maslow-Stufe auch Unzufriedenheit als Auslöser
denkbar ist, wenn man nach eigener Auffassung alles im Leben Erreichbare erreicht
hat (vgl. Harrow 2002: 113-114). Hierbei fragt Rambo, ob die Krise aus inneren oder
äußeren Gründen resultiert und ob sowohl die Person als auch ihre bisherige Weltanschauung ausreichend flexibel, elastisch und kreativ genug sind, um selbst mit der Krise fertig zu werden (vgl. Rambo 1989: 52-53).
3. Herausforderung: Der Betroffene sucht (aktiv) oder findet (passiv) Hilfe bei einer für
ihn nicht-traditionalen („alternativen“) religiösen Institution. Diese wird von ihm als
Lehrer, Guru, Inspiration oder ähnliches bezeichnet (vgl. Abernethy 2000). Rambo
spricht hier von einer „Freundschaft zu einem Missionar“, der diesem hilft, inneren
und/oder äußeren Widerstand („Entropie“) zu überwinden, der der Konversion entgegensteht (vgl. Rambo 1989 53-54). Harrow bezeichnet es als „die Brücke, die von Wut
zu Hoffnung führt“, sagt weiter, dass die Person hierfür überzeugt sein muss, hin zu etwas Gutem und nicht weg von etwas Schlechtem zu gehen (vgl. Harrow 2002: 116).
4. Begegnung: Diese Phase beschreibt die Kontaktart zwischen Konvertit und Bekehrer,
wobei Rambo den Schwerpunkt auf letzteren liegt. Je nachdem, wie sich eine Religionsgruppe definiert – inklusiv (Christentum, Islam) oder exklusiv (Judentum, Syrisch-Orthodoxe Kirche) -, hängt es davon ab, auf welche Art oder ob überhaupt dessen Vertreter an Neubekehrungen interessiert sind. Ebenso stellt sich die Frage, was
die neue Glaubensgruppe dem Suchenden an Benefit anbieten kann. Hierbei stellt
Rambo die Frage nach dem „kognitiven Rahmen“, der Art von Gemeinschafts- und
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Elitenbewusstsein, das die Gruppe dem Suchenden vermittelt. Weitere Faktoren sind
für ihn die „techniques of living“, also die Frage, wie stark strukturgebende
Alltagshandlungen in den Glaubenskontext eingebettet sind, sowie das Charisma des
Glaubensführers (vgl. Rambo 1989: 54-56). Harrow, selber Vertreterin einer
exklusiven Glaubensgemeinschaft, verweist diesbezüglich auf die Vorbildfunktion des
Bekehrers (vgl. Harrow 2002: 117). Das erinnert an Thomas Hobbes Aussage, dass
Religionen aufgrund fehlender sichtbarer Wundertätigkeit von der Art nach außen
kommunizierter Lebensführung ihrer Priester abhängig sind (vgl. Hobbes 2011: 9091). Peter Conzen schreibt hierzu:
“Die Begegnung mit der rettenden Idee oder scheinbar charismatischen
Gestalt bringt mit einem Schlag wieder Hoffnung und Sinn in die zerrissene Identität, wird nicht selten als „Erleuchtung“, als „zweite Geburt“ geschildert” (Conzen 2007: 110).
5. Interaktion: In dieser Phase trifft der Suchende die Entscheidung, ob er sich der neuen Glaubensgemeinschaft anschließt. Dabei spielt die aktive oder passive Rolle des
Suchenden insofern eine Rolle, ob er es mit einer inklusiven, ihm „Steine in den Weg
legenden“ oder einer exklusiven Religion zu tun hat. Oftmals geht Konversion zur
Verringerung der Entropiekräfte mit der Entfremdung vom bisherigen Umfeld einher,
was entweder vom Suchenden selbst oder von seiner Konversionsgemeinde aktiv eingeleitet wird. Sekten isolieren beispielsweise in dieser Phase potenzielle Mitglieder
vor Fremdeinflüssen, um für diese alternative Lösungsfindung auszuschließen (vgl.
Rambo 1989: 56-58).
6. Verpflichtung: Hier wird nach ein nach außen kommuniziertes Bekenntnis gegenüber
den alten und der neuen (Glaubens-) Gemeinschaft abgelegt. Das Bekenntnis stellt
eine Art von Beweiszwang dar, drückt aus, dass der Konvertit bereit ist, alle neu einhergehenden Verpflichtungen zu übernehmen. Carl erklärt aus historischer Sicht die
Notwendigkeit des sich der neuen Gemeinde gegenüber erklären zu müssen damit,
dass eine Konversion oftmals (gezwungenermaßen) berufliche Veränderungen mit
sich brachte, die Unterstützung durch die neue Gemeinschaft notwendig machte. Sie
verweist auf Pfarrer, die aufgrund Konfessionswechsel automatisch arbeitslos wurden
(vgl. Carl/Schaser 2013: 15-16).
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Laut Rambo kann die Verpflichtung - abhängig vom gesellschaftlichen Ansehen der
neuen Konversion innerhalb des alten Lebensumfeld des Konvertiten – den harmonischen Übergang zu einer neuen Rollenidentität bis hin zum radikalen Bruch mit der
Vergangenheit (“that burn that bridges to the past“) zur Folge haben (vgl. Abernethy
2000). Harrow spricht diesbezüglich von einem „nach Hause kommen“, verweist desweiteren auf die Homosexuellenbewegung und benutzt den Begriff des „religiösen Coming Out“ (vgl. Harrow 2002: 117).
7. Konsequenz / Ergebnis: Nach dem Wechsel fügt sich der Konvertit in die neue Glaubensgemeinschaft und stellt hierbei im Laufe der Zeit fest, ob seine Erwartungen an
den neuen Glauben erfüllt oder enttäuscht werden. Hierbei spielt eine Rolle, inwiefern
die ursprüngliche Krisenursache aufgelöst, durch die Konversion neu entstehenden
Probleme gelöst werden. Harrow betrachtet die Konsequenz aus ihrer gemachten Erfahrung als Mitglied einer gesellschaftlich unpopulären religiösen Bewegung
(“Wicca”) spricht von Anfeindungen, Vorurteile und Diskriminierungen, die dem Konvertiten von außen zusetzen können (vgl. Harrow 2002: 118).
Abschnitt 2: Wie kann ich mir Glaubenskonvertiten und deren Verhältnis zum neuen Glauben anhand eines Beispiels am besten
vorstellen?
Konvertiten identifizieren sich oftmals stärker mit ihrer neuen Glaubenslehre als viele Altmitglieder, verfolgen eher einen dogmatischen als pragmatischen Umgang mit der neuen Religion. Man kann das mit Fahranfängern oder gerade fertig gewordenen Hochschulabsolventen
vergleichen, die neu im Straßenverkehr oder einer Firma sind. Während hierbei allerdings mit
steigender Erfahrung eine Lockerung in der Regelauslegung einhergeht, behalten Konvertiten
den dogmatischen, weil identitätsstiftenden Ansatz oftmals bei, neigen stattdessen dazu, Altgläubigen die Abkehr von der reinen Lehre vorzuwerfen. Was im Straßenverkehr nur Kopfschütteln und im Unternehmen das vorzeitige Karriereende bedingt, kann in einer Glaubensgemeinschaft katastrophale Folgen verursachen. Die meisten abrahamitischen Religionen kennen keine negative Glaubensfreiheit, garantieren zwar freien Eintritt, verbieten aber den individuellen Austritt aus der Religionsgemeinschaft (vgl. Ceylan et al. 2013: 29). Der „Apostasie“ genannte Kirchenaustritt gilt im Islam als „Hochverrat an der Religion“ und legitimiert
Moslems, die vom Glauben abgefallene Muslime („Takfiri“) zu töten (vgl. ebd. 37-38).
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Ein Konflikt zwischen Dogmatiker und Pragmatiker würde in jeder anderen Konstellation als
einer religiös-politischen als lächerlich abgetan. Eduard Pestel erklärt diese Katastrophentendenz mit dem „einzigartige[n] Wissen des Menschen um die Unweigerlichkeit seines eigenen
Todes und das aus Angst entspringende Verlangen nach einer Bindung an eine höhere, außerirdische Macht, welche die Zeit – seine Zeit auf Erden – überdauert“ als tiefste Quelle seiner
Wertvorstellungen (vgl. Pestel 1986: Kapitel 3).
Gerda Bohmann verwendet zur Unterscheidung von Dogmatiker und Pragmatikern die Begriffe der „Politisch Religiösen“ und „Fundamental Religiösen“. Während Fundamental
Religiöse sich mit der Moderne arrangieren versuchen Politisch Religiöse „die zentralen Errungenschaften bzw. Fundamente der […] Moderne“ mit „genuin modernen politischen Mitteln“ zu bekämpfen (vgl. Bohmann 2009: 5).
Die Gruppe Politisch Religiöser, auf die ich mich explizit beziehe, sind die sogenannten induzierten Fanatiker bzw. die Zwangsfanatiker. Dabei beinhaltet für mich der Begriff des
Konvertiten sowohl klassische Konversion gemäß Lewis Rambo’s Definition als auch Menschen, die nominell bereits Teil der Glaubensgemeinschaft waren, aber erst aufgrund einer
persönlichen strukturellen Krise ihren Glauben für sich “neu entdeckt” haben. Peter Conzen
schreibt über induzierte Fanatiker:
“Hier wird das leidenschaftlich Begeisternde gleichsam von außen in den Kern
ihrer Identität gelegt. Der Fanatismusdurchbruch erfolgt durch den Kontakt mit
einer extremen Bewegung bzw. scheinbar charismatischen Gestalt und gewinnt
dann eine Eigendynamik. Oft von narzisstischer Leere bedroht oder von einem
sadistischen Über-Ich gequält, handelt es sich um Menschen mit einem tiefen,
wenngleich meist ressentimentbehafteten Anschluss- und Glaubensbedürfnis. Gerade in Zeiten der Krise und Verzweiflung taucht der messianisch erlebte originäre Fanatiker [z.B. eine Führer-Person, Anm. d. Verf.] wie ein Lichtstrahl auf,
bringt mit einem Schlag wieder Sinn und Richtung in die zersplitterte Existenz. In
einer Art zunehmendem „Kleinheitswahn“ machen sich solche Personen zum bedingungslosen Werkzeug einer vergotteten Instanz, für deren Schutz und Anerkennung alle Anstrengungen und Widerwärtigkeiten in Kauf genommen werden”
(Conzen 2007: 102).
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Zwangsfanatiker dagegen sind von der Idee beseelt, eine Sache oder Glauben zu verteidigen
und auszuweiten, wobei für diese alles alles bis ins kleinste Detail genau authentisch und detailgetreu ablaufen muss, damit sich deren Idee in ihrer ganzen Vollkommenheit entfalten
kann (vgl. Conzen 2007: 102).
Abschnitt 3: Woran erkennt man diese unheilvolle Form fanatischer
Konvertiten?
Peter Conzen schreibt hierzu:
“Von einer echten fanatischen Persönlichkeitsveränderung sollte man erst dann
sprechen, wenn eine unerschütterliche Überzeugung dauerhaft den Kern des
Selbst besetzt, alle psychische Energie auf sich zieht und die Identität einer Persönlichkeit in einer Art chronischen apokalyptischen Welterlebens radikal verändert. Etwas total Gutes – der Wille Gottes, der völkische Zusammenhalt, das Prinzip der Gerechtigkeit – ist durch etwas total Böses bedroht. Es kann kein Zögern,
kein Abwarten und keine Kompromisse mehr geben. Das Übel muss mit allen Mitteln bekämpft, dem Guten zum Sieg verholfen werden, erst dann ist ein Leben in
Würde, Freiheit und Anstand wieder denkbar. Mit einem unheimlichen Sendungsbewusstsein und zugleich unheimlichen Ressentiment verfolgt der Fanatiker sein
Ziel, mauert sich, unbelehrbar, unkorrigierbar in einem Weltbild ein, in dem es
keine Grautöne, keine Ambivalenz mehr gibt”(Conzen 2007: 107).
Abschnitt 4: Was hat das aktuelle Chaos in der islamischen Welt
mit Buchdruck, Internet und Glaubenskonvertiten zu tun?
In der sunnitisch-muslimischen Welt entschieden im 13. Jahrhundert 1 die Mujtahids2 vier
Rechtsschulen, die alleine das Recht zur Ijtihad3 besaßen, dass alles Wissenswerte bezüglich
der Welt bereits bekannt ist und zukünftig zur Rechtsfindung ‘Taqlid’ – die Rechtsfindung auf
Basis Vorhandenen – ausreichen würde (vgl. Grutzpalk 2008: 20). Dieser Konsens wurde mit
Aufkommen des Buchdrucks erstmals in Frage gestellt, hatte trotzdem aber bis Mitte des 18.
Jahrhunderts Bestand, als Mohammed Ibn Al-Wahhab begann, die Ijtihad eigenmächtig auszulegen. Da er in Scheich Mohammed Ibn Saud so wie einst Martin Luther bei Kurfürst
Friedrich von Sachsen einen mächtigen Schutzpatron fand, konnte er von den Juristen der
1 Ceylan gibt abweichend das 14./15. Jahrhundert an (vgl. Ceylan et al. 2013: 44).
2 Der Mujtahid ist ein religiöser Rechtsgelehrter (vgl. Al-Qadri 1950: 1).
3 Ijtihad heißt wortwörtlich übersetzt „streben mit voller Anstrengung“ und ist die deuktiv-methodische
Auslegung eines Sachverhaltes, sofern weder der Koran noch Hadithen, die Tradition oder andere
Sekundärliteratur ausreichend Anhaltspunkte zum Fällen eines eindeutigen Urteils liefern. Die darin
ausgebildeten Rechtsgelehrten werden „Mujtahid“ genannt (vgl. Al-Qadri 1950: 1
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Rechtsschulen nicht zur Rechenschaft gezogen werden und gründete stattdessen eine fünfte
Rechtsschule, die als Saudi-Arabiens Staatsreligion („Wahhabismus”) Legitimation fand.
Die eigenmächtige Rechtsauslegung Ibn-Wahhabs führte dazu, dass andere qualifizierte Laien
ebenfalls Anspruch auf Rechtsauslegung erhoben. Rapide sinkende Druckkosten ließ bis dahin schwer produzierbare Schriften zur Massenware werden, sodass bald jedermann, der lesen
und schreiben konnte sowie einigermaßen Charisma besaß, damit begann, selber Koran und
Ijtihad auszulegen.
Abweichende Urteile wurden als ketzerisch gebrandmarkt und deren Gläubige zu „Takfiri“ erklärt. Dabei deuteten Laien damals wie heute die Widersprüchlichkeit mancher Rechtsgutachten bezüglich desselben Sachverhalts als Beweis dafür, dass die alten Rechtsschulen korrumpiert und vom wahren Glauben abgefallen wären. Die rein logisch gedacht naheliegendere Erklärung - dass Juristen der vier Rechtsschulen zur Hochzeit der Islamischen Expansion über
den gesamten islamischen Herrschaftsraum – von Kabul bis nach Lissabon verteilt - ihrer
Aufgabe nachgingen und Mobilität wie Kommunikation sowohl im Vergleich zum 18. Jahrhundert als auch zu heute weniger hoch entwickelt war, wurde (und wird anscheinend) nicht
in Betracht gezogen.
Die einzigen Institutionen, die dazu befähigt wären, das islamische Ijtihad-Chaos zu beenden
– die vier ursprünglichen Rechtsschulen – sind nicht dazu in der Lage, da sie selber das Angriffsziel der Laien dieser islamischen Reformation sind (vgl. Grutzpalk 2008: 20-30).
Mit Aufkommen des Internets hat sich diese damals begonnene Entwicklung inzwischen bis
ins Absurde hinein verstärkt, was erklärt, warum sunnitische und schiitische Sekten miteinander, gegeneinander und übereinander herfallen und das meiste Blut des Dschihads zwischen
Muslimen untereinander fließt (vgl. Lobah 2015: 34f) Sowohl die Angriffe des Islamischen
Staates gegen Schiiten als auch Al-Qaidas Kriegserklärung an das saudische Königshaus 2004
geben Zeugnis davon (vgl. Steinberg et al. 2014: 18; Fürtner 2014: 9).
Abschnitt 5: Warum Konvertiten dazu tendieren, sich Frustradikale
als Vorbild zu suchen?
Menschen suchen naturgemäß Gemeinschaft mit anderen Menschen, die dieselbe oder eine
ähnliche Erfahrung wie sie selbst durchgemacht haben und auch eine ähnliche Sichtweise mit
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ihnen teilen. Bei Konvertiten kommt neben anderen Konvertiten eine bestimmte Gruppe „Altgläubiger“ infrage, die gemäß Peter Conzens Fanatiker-Definition als “originäre Fanatiker”
gelten (vgl. Conzen 2007: 101-102). Meiner Meinung nach kann man diese besser als „Frustfanatiker" bzw. “Frustradikale“ bezeichnen.
Unter „Frustradikalen“ verstehe ich charismatische Gläubige, die ihre dogmatische Sicht auf
den Glauben dadurch rein halten konnten, dass sie niemals Führungsverantwortung für eine
größere (heterogene) Gruppe von Gläubigen tragen mussten. Was Frustradikale in meinen Augen kennzeichnet, ist die Tatsache, dass diese sich für die Führung von Gruppen als berechtigt
ansehen, von anderen, aus ihrer Perspektive korrumpierten und vom Glauben Abgefallenen
aber am Aufstieg gehindert, manchmal auch verfolgt und eingesperrt wurden.
Ein Beispiel für den Typus „Frustradikaler“ stellt der ideologische Vater der Neo-Salafisten,
Sayyid Qutb, dar, der die radikalsten seiner Thesen, die heute quasi das Glaubensbekenntnis
seiner neo-salafistischen Jünger sind, in den Jahren kurz vor seiner Hinrichtung im ägyptischen Gefängnis in Kairo zu Papier brachte (vg. Conzen 2007: 116-117).
Wie der Leser jetzt wahrscheinlich nachvollziehen kann, kann eine Verbindung zwischen
Konvertiten und Frustradikalen ein hochexplosives Gemisch von Aggression und Gewalt zur
Folge haben. Peter Conzen schreibt dazu:
“Diese [fanatischen Konvertiten] stützen ihn [den Frustradikalen] in seinen Größenfantasien und paranoischen Realitätsverkennungen, federn seine Ängste und
seine Schwächen ab, überbieten sich bei der Ausführung seines Willens in vorauseilendem Gehorsam. Dafür werden sie vom Führer gestützt, bestätigt und können sich im Glanz seiner destruktiven Glorie künstlich narzisstisch aufwerten. Da
das Ziel vollkommener Gerechtigkeit nie ganz zu erreichen ist, wird das Ankämpfen gegen das Feindbild zunehmend gewaltsamer, der Verlust des Wirklichkeitsbezuges immer eklatanter” (Conzen 2007: 103).
Peter Conzen spricht hierbei von der Ausweglosigkeit und Verzweiflung dieser Gruppe, die
am Ende explodiert und in einen amokläuferisch zerstörerisches Schlussfanal führt (ebd.).
Beide Typen – sowohl die konvertierte Gefolgschaft als auch die originären Führer - kämpfen
meiner Meinung nach gegen dieselben drei Feinde: Der erste Feind ist deren eigene Frustration, zu spät konvertiert oder zu früh vom Weg zur einem zustehenden Macht abgekommen
bzw. abgeschnitten worden zu sein.
Der zweite Feind ergibt sich zwangsläufig aus dem ersten, es ist die Zeit, die unbarmherzig
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voranschreitet und die Frustrierten von dem Zeitpunkt, an dem alles besser war, immer weiter
entfernen lässt.
Der dritte Feind sind logischerweise all jene Menschen, die mit der Zeit gehen, in ihrem
Denken nicht im Gestern sondern im heute verhaftet sind und dadurch automatisch Gegner
sein müssen. Deren Angepasstheit an die Gegenwart lässt Glaubenskonvertiten wie Frustradikalen die Schande über die eigene Unangepasstheit in der Vergangenheit, als noch Möglichkeit zum Besseren bestand, jedes Mal aufs Neue spüren, was als Ergebnis Wut und Hass entstehen lässt, die sich leichter gegenüber einem anderen als gegenüber sich selbst ausleben
lässt. Conzen sagt dazu: “Geradezu zwanghaft müssen religiöse Fanatiker das Böse in der eigenen Brust, eigene Zweifel, Triebregungen und rebellische Impulse auf andere projizieren
und dort stellvertretend bekämpfen” (Conzen 2007: 105), was Reza Aslan für die Konflikte
innerhalb der muslimischen Welt bestätigt, wenn er schreibt:
“From the Islamic perspective, however, the attacks [auf New York, Washington,
Paris, Madrid etc.] were part of an ongoing clash between those Muslims who
strive to reconcile their religious values with the realities of the modern world,
and those who react to modernism and reform by reverting—sometimes fanatically—to the ‘fundamentals’ of their faith” (vgl. Aslan 2006: Kapitel 1).
Fazit
Während das Gegenteil von “groß” “klein” ist und von “lieb” “böse”, ist das Gegenteil von
Extremismus wieder Extremismus, nur zur anderen Seite hin geneigt. Wir müssen uns bewusst machen, wie schnell jeder Mensch aufgrund innerer Angst und Unsicherheit darüber,
die richtigen Entscheidungen zu treffen bzw. im Leben getroffen zu haben, um es in Zukunft
mindestens genauso gut als in Gegenwart oder Vergangenheit zu haben, in (übersteigerten)
Extremismus verfallen kann. Dieser muss nicht religiöser Natur, er kann auch ethnischer, nationalistischer oder in Form von übersteigertem Fetischismus sein.
Jeder von uns kann wie ein Fanatiker handeln. Fanatiker sein ist einfach. Man redet sich selbst
(und allen anderen) zwanghaft ein, dass man wirklich vor der richtigen Türe steht ohne darauf
zu warten, dass irgendwo das Licht angeht.
Stattdessen verbarrikadiert und vermint man alle anderen Tore und bedroht jeden, der sich für
ein anderes Tor entscheiden will. Denn sollte man selber letzten Endes falsch gelegen haben,
soll auch kein anderer die Möglichkeit haben, richtiger als man selber gewesen zu sein.
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Die Alternative zu Extremismus ist schwierig, es bedeutet nämlich Ungewissheit zu ertragen;
zu akzeptieren, dass alles was wir denken und tun, nichts weiter als ein Entwurf ist, der richtig
aber auch falsch sein kann und darüber hinaus auch zu verstehen, dass ein Entwurf für mich
richtig aber für den anderen falsch sein kann. “Da wir nicht wissen können, ob unsere Entwürfe richtig sind, kommt es darauf an, den Streit der Entwürfe zu pflegen. Versuch und Irrtum sind Quellen des Fortschritts in Erkenntnis und Gesellschaft.” (vgl. Dahrendorf 1986: II).
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