Diagnose Krebs - ernährungs umschau

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special | Interview
Diagnose Krebs –
spezielle Anforderungen
an die Ernährungsberatung
Frau Andrea Willeke ist seit 1989 als Diätassistentin tätig und bildete sich im
Rahmen ihres beruflichen Werdegangs zur Diätküchenleiterin und zur Ernährungsberaterin DGE fort, darüber hinaus schloss sie 2006 ein Fernstudium
„Angewandte Gesundheitswissenschaften“ an der Hochschule Magdeburg
Stendal mit dem Bachelor of Science ab. Mit Aufnahme ihrer beruflichen Laufbahn stand Frau Willeke in engem Kontakt zu onkologischen Patienten, dieser
intensivierte sich ab 1998 durch ihre Tätigkeit in der Klinik für Tumorbiologie,
Freiburg. Heike Recktenwald sprach mit Frau Willeke über Probleme und Besonderheiten in der Ernährungsberatung mit onkologischen Patienten.
EU: Frau Willeke, bitte beschreiben Sie
eine Beratungssituation mit onkologischen
Patienten.
WILLEKE: Die Beratung von Patienten
mit Tumorerkrankungen ist eine besondere Herausforderung für den Therapeuten. So sind Patienten mit der
Diagnose Krebs unvermittelt mit dem
Thema „Sterben und Tod“ konfrontiert
und befinden sich in der Regel in einer
Ausnahmesituation. Die ungeschönte
Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, die quälende Ungewissheit, wie es
nun weitergehen soll, sowie die mit der
Erkrankung oder Therapie assoziierten
Beschwerden bedingen nicht selten Zukunftsängste sowie ein vermindertes
Selbstwertgefühl. Dementsprechend beschränkt sich die Beratungstätigkeit
nicht nur auf fachliche Inhalte, sondern
erfordert auch ein gehöriges Maß an
emotionalem Fingerspitzengefühl und
Einfühlungsvermögen.
Vor diesem Hintergrund ist es mir besonders wichtig, den Patienten und
seine Äußerungen, auch wenn es beispielsweise um extreme Diätformen
(nach Breuß) geht, ernst zu nehmen,
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seine Sorgen aufzufangen sowie umfassende und vor allem verständliche Aufklärungsarbeit zu leisten.
Allzu oft kommen Patienten verunsichert durch Halbwissen oder Laieninterpretationen von Ernährungsstudien
aus Internet oder Funk und Fernsehen
zur Beratung. In dieser Situation gilt es,
Unsicherheiten aufzufangen, Vertrauen
zu schaffen und gemeinsam mit dem Patienten ein individuelles Ernährungskonzept zu erstellen.
Für mich ist neben fachlicher Kompetenz vor allem das Vertrauen zwischen
Patient und Therapeut der Schlüssel zu
einer erfolgreichen Beratung.
EU: Wie sind Sie als Team aufgestellt?
WILLEKE: In der Klinik betreuen wir sowohl Akutpatienten (80 Betten) als auch
Rehapatienten (120 Betten). Unser
Team besteht aus einem Ernährungsmediziner, mehreren Diätassistentinnen
und Oecotrophologinnen. Wir arbeiten
sehr eng mit den behandelnden Ärzten,
dem Pflegepersonal, dem Sozialdienst,
den Psychologen und der Küchenleitung zusammen. Damit sind wir in der
Andrea Willeke,
Diätassistentin, Klinik
für Tumorbiologie,
Ernährungsberatung,
Freiburg,
willeke@tumorbio.
uni-freiburg.de
Lage, den Patienten eine individuelle, interdisziplinäre ernährungstherapeutische Betreuung anzubieten.
EU: Was sind die häufigsten Probleme
Ihrer Patienten?
WILLEKE: Im Mittelpunkt stehen meist
krankheits- und/oder therapieassoziierte Beschwerden. Hierzu gehören
häufig Kau- und Schluckbeschwerden, Diarrhö, Schmerzen und damit
assoziierte Übelkeit und Erbrechen,
Appetitlosigkeit und vor allem der
Gewichtsverlust. Viele Patienten sind
infolge der Erkrankung psychisch
stark belastet. Sie äußern dann meist
Sätze wie:„Ich habe einen Kloß im
Hals“ oder „mir ist der Hals wie zugeschnürt“. Diese Blockade muss erst
gelöst werden, bevor eine Ernährungsberatung erfolgreich sein kann.
Hinzu kommt bei vielen Patienten
eine ausgeprägte Mundtrockenheit
oder Mundschleimhautentzündung
welche die Nahrungsaufnahme zusätzlich erschwert.
EU: Welche Maßnahmen können Sie
in der Ernährungsberatung umsetzen?
WILLEKE: Jeder von uns beratene Patient erhält eine individuelle Kostform, die auf seine Bedürfnisse
zugeschnitten wird. Nach einer Operation, z. B. einer Gastrektomie, starten wir mit einem Kostaufbau
(Brühe, Tee, Zwieback), gefolgt von
einer leichten Vollkost. Hierbei wird
entsprechend der individuellen Verträglichkeit die Lebensmittelauswahl
allmählich gesteigert.
So fördert beispielsweise eine fettreichere Kost oft Schmerzen, Diarrhö
und Unwohlsein des Patienten. Bei
Mundtrockenheit oder einer Mundschleimhautentzündung empfehlen
wir den Verzehr von „feuchten Lebensmitteln“ wie Honigmelone, gekochtes Obst oder Joghurtspeisen.
Letztere sind besonders wertvoll, da
sie gut verträglich sind und aufgrund
des hohen Gehaltes an Milchsäurebakterien die Regeneration der
Darmschleimhaut zusätzlich unterstützen. Brot hingegen kann bestehende Beschwerden verstärken, da
viele Patienten keinen ausreichenden
Speichelfluss aufweisen. Um derartige Probleme zu vermeiden, gleichzeitig aber eine optimale Ernährung
zu ermöglichen, wird von unserem
Ernährungsteam eine engmaschige
Betreuung angestrebt.
Bei größeren Gewichtsverlusten (ca.
3 kg/Woche) arbeiten wir zusätzlich
mit Trinksupplementen. Je nach Verdauungsleistung und Verträglichkeit
starten wir meist mit Maltodextrinen
oder eiweißreichen und isokalorischen Drinks. Diese können bei Bedarf durch hochkalorische Nährsupplemente (1,5 kcal/ml) ersetzt
werden. Durch die allmähliche Intensivierung der Kalorienzufuhr können wir in den meisten Fällen typischen Begleiterscheinungen einer
hochkalorischen Kost wie Blähungen
oder Diarrhö entgegenwirken.
EU: Welche Bedürfnisse haben die
Patienten, die sich bei Ihnen vorstellen?
WILLEKE: Für die Patienten steht das
Thema Essen in der Regel an erster
Stelle. Um körperlich bei Kräften zu
bleiben, streben sie eine Gewichtszu-
nahme an oder versuchen, zumindest
ihr Gewicht zu halten. Nicht selten
bringen sie eine unkontrollierte Gewichtsabnahme in direkten Zusammenhang mit dem Fortschreiten
ihrer Erkrankung. Dies erklärt,
warum Patienten mit Krebserkrankungen einerseits einen außerordentlich hohen Informationsbedarf
artikulieren, andererseits aber auch
während der Beratungsgespräche
teilweise enormen psychischen Belastungen ausgesetzt sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass die
meisten Patienten ihr Vertrauen in
die Fähigkeit ihres Körpers verloren
haben. So führen das Fortschreiten
der Krankheit und/oder aggressive
Therapien nicht selten dazu, dass das
Gefühl für „Essen“ verloren geht.
Viele Patienten haben beispielsweise
immer wieder Heißhungerattacken
auf bestimmte Gerichte oder Lebensmittel und sind dann nicht in der
Lage, die entsprechende Mahlzeit zu
verzehren, oder sie bekommen nach
dem Essen der entsprechenden Mahlzeiten ausgeprägt gastrointestinale
Beschwerden.
Nur selten schildern die Betroffenen
diese „nebensächlichen“ Beschwerden dem behandelnden Arzt von sich
aus. Eine umfassende ernährungstherapeutische Beratung schließt deshalb immer auch eine gezielte
Erfassung gastrointestinaler Beschwerden mit ein
EU: Welche Parameter sind für Sie
zur Beurteilung des Gesundheitszustandes wichtig?
WILLEKE: Wichtig sind für mich Angaben zum Gewichtsverlauf, ein Blick
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auf das aktuelle Gewicht im Vergleich
zum Gewicht vor der Diagnosestellung und vor vier Wochen, Größe, Informationen zu den Grund- und
Nebenerkrankungen (Diabetes, Allergien, Operationen), zur aktuellen
Medikation, zu Schmerzmitteln, Ein-
satz der Chemo-/Bestrahlungstherapie und Verdauungsaktivität. Auf
Grund dieser Hintergrundinformation erhalte ich schon vor der Beratung viele Anhaltspunkte für eine
mögliche Kostform.
Fallbeispiel: Kostaufbau nach Gastrektomie
Eine Patientin, 66 Jahre alt, wurde aufgrund eines Magenkarzinoms gastrektomiert. Zwölf Tage nach der Operation wurde die Patientin ohne ernährungstherapeutische Begleitung mit den Worten „Essen Sie, worauf
Sie Appetit haben. Wenn Ihnen etwas nicht bekommt, werden Sie es
schon merken.“ aus dem Krankenhaus entlassen. Sechs Tage später trat
sie eine 4-wöchige Rehabilitation in der Klinik für Tumorbiologie an. Die
Patientin kam in einem deutlich reduzierten Allgemeinzustand, wirkte
sehr unsicher und hatte Angst vor dem Essen.
Vor der Erkrankung war die Patientin sehr aktiv und hatte gerne viel gearbeitet. Im Alter von 30 Jahren erkrankte sie an einer Pankreatitis und
litt seitdem gehäuft an Kreislaufschwäche. Seit dieser Zeit achtete sie
auf eine fettarme Speisenzubereitung und regelmäßige Mahlzeiten mit
viel Obst und Gemüse.
Neben einer großen Unsicherheit in der Lebensmittelauswahl, haderte
die Patientin mit ihrer bisherigen Lebensweise und vertraute ihrem Körpergefühl bzw. -empfinden nicht mehr. „Ihre Welt stand Kopf“.
Die Patientin berichtete, dass sie Appetit hat, allerdings nur wenig trinken kann (ca. 1,0 Liter/Tag). Sie verspürte eine Mundtrockenheit. Der
Stuhlgang war regelmäßig und normal.
Gewichtsverlauf
Gewicht vor Diagnosestellung
Gewicht 2 Wochen vor der Gastrektomie
Gewicht zu Beginn der Rehabilitation (2 Wochen nach OP)
Gewicht nach 4 Wochen Rehabilitation
68kg (BMI 27)
65kg (BMI 25)
60kg (BMI 23)
60kg (BMI 23)
Gemeinsam erklärtes Ziel der Ernährungstherapie war es, das Gewicht
zu stabilisieren. Dazu wurde zunächst ein Kostaufbau vereinbart. In der
Folge wurde die Lebensmittelauswahl im Einvernehmen mit der Patientin allmählich gesteigert. Wöchentlich wurden etwa 3 Ernährungsberatungseinheiten durchgeführt. Während der Rehabilitation konnte die
Patientin die Lebensmittelauswahl der leichten Vollkost gut vertragen,
die Trinkmenge steigerte sie auf 1,5–2,0 Liter am Tag. Außerdem gewann
sie zunehmend an Sicherheit bei der Lebensmittelauswahl und -zubereitung.
Zusätzlich zur Ernährungstherapie wurde die Patientin während des Rehabilitationsaufenthaltes auch psychoonkologisch und physiotherapeutisch betreut.
Gegen Ende der Rehabilitation zeigte sich der Allgemeinzustand der Patientin deutlich gebessert. Das Gewicht stabilisierte sich während der
vierwöchigen Rehabilitation (60 kg/BMI 23). Sie berichtete von einem
enormen „äußeren und inneren“ Kräftezuwachs, einhergehend mit
einem gestärkten Selbstbewusstsein, mit dem sie sich gut vorstellen
konnte, ihren Alltag zu Hause wieder zu bewältigen. Die umfassende ernährungstherapeutische Begleitung leistete aus ihrer Sicht hierzu einen
entscheidenden Beitrag.
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EU: Welche Mangelzustände sind am
häufigsten?
WILLEKE: Ausgeprägte Mangelzustände sind in erster Linie mit einer
deutlichen Gewichtsabnahme assoziiert. Sie finden sich vor allem bei
Patienten mit fortgeschrittenen
Krebserkrankungen oder bei Patienten mit gastrointestinalen Tumoren.
In der Regel sind sie bedingt durch
Störungen der Nahrungsaufnahme
oder Nahrungsverwertung. In ausgeprägter Form gehen sie mit einer
deutlichen Schwächung des Allgemeinzustandes einher, man spricht
dann auch von Auszehrung oder
Kachexie.
Ausgeprägte Mangelzustände weisen
vermehrt auch Patienten nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation auf. Dies betrifft Patienten mit
hämatologischen Grunderkrankungen, die nach hoch dosierter Chemotherapie und/oder Ganzkörperbestrahlung ihr eigenes oder fremdes
Knochenmark
(zurück-)erhalten.
Hier gilt es, ernährungstherapeutische Maßnahmen mit den behandelnden Ärzten individuell so abzustimmen, dass zusätzliche Infektionsrisiken durch eine keimreduzierte
Kost vermieden werden, gleichzeitig
aber auch ein optimierter Kostaufbau
mit dem Ziel, ernährungsbedingte
Mangelzustände zu kompensieren,
durchführbar ist.
EU: Welche Motivation können Sie
Patienten bieten?
WILLEKE: Viele Patienten haben das
Bedürfnis, selbst etwas gegen ihre Erkrankung zu unternehmen und aktiv
ihre Gesundheit zu stärken. Ernährungstherapeutische Maßnahmen
bieten hierfür die besten Voraussetzungen, da sie in erster Linie auf die
Stärkung körpereigener Ressourcen
abzielen. Für viele ist bewusstes Essen
und Trinken damit nicht nur ein
Stück wiedergewonnene Lebensqualität, sondern vor allem auch Orientierung und Motivation zugleich –
eine Brücke zurück in den Alltag, den
es in der Zukunft zu bewältigen gilt.
EU: Frau Willecke, herzlichen Dank
für das Gespräch!
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