Neue Hoffnung für wirksame Therapien Forschungspreis der Schweizerischen Hirnliga für Anthony Holtmaat, Professor am Institut für Neurowissenschaften der Universität Genf Die Schweizerische Hirnliga prämiert seit 2008 alle zwei Jahre eine ausserordentliche Leistung im Bereich der Hirnforschung. 2016 ging ihr Forschungspreis in der Höhe von 20’000 Franken an Anthony Holtmaat und sein Team der Universität Genf. Erstmals konnten die Forscher in ihrer Studie zeigen, wie sogenannte «stumme» Nervenzellen im Gehirn an Lernprozessen teilhaben. Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für neue Therapien nach Hirnschädigungen. Wie das funktionieren soll, erklärt Anthony Holtmaat gegenüber «das Gehirn» im folgenden Text. Wenn wir eine Bewegung oder ein Verhalten neu lernen, bündelt das Gehirn Informationen aus verschiedensten Kanälen. Das Gelernte wird in einem dichten Netzwerk aus Neuronen gespeichert, die miteinander kommunizieren. Das geschieht durch elektrische Impulse, die über die Synapsen (Schnittstellen) von einem Neuron zum nächsten springen. Je stärker eine Synapse ist, desto besser funktioniert die Kommunikation. Gerade die Synapsen, die an der Verbindung der Informationsströme arbeiten, werden beim Lernen gestärkt. So festigen wir das neu erworbene Wissen. Ein altes Rätsel Ein einzelnes Neuron weist aber Tausende von Synapsen auf. Das stellte Hirnforscher bis heute vor das Rätsel, wie ein Neuron «entscheidet», welche seiner Synapsen es stärkt und welche nicht. Laut einer weit verbreiteten Theorie sind es nur diejenigen Synapsen, die unmittelbar elektrische Impulse weiterleiten. Doch das führt zu einem neuen Dilemma: Wie stärkt ein Neuron seine Synapsen, wenn es eine Aufgabe neu übernehmen soll – mit anderen Worten, wenn noch keine seiner Synapsen stark genug ist, um elektrische Impulse auszulösen? Wir stecken in der Zwickmühle: Ohne elektrische Impulse können laut Theorie keine Synapsen gestärkt werden, aber ohne starke Synapsen kommt es zu keinen elektrischen Impulsen. Anthony Holtmaats Forschungserkenntnisse bilden die Grundlage für neue Therapien nach Hirnschädigungen: Durch wiederholtes Training könnten gesunde Nervenzellen die Funktionen von geschädigten übernehmen. Quelle: Christian Lüscher Es geht auch ohne! In unserer Studie wollten wir herausfinden, ob und wie Synapsen anderweitig gestärkt werden können. Es lohnte sich ein Blick ins Tierreich: Die Maus nutzt ihre Schnurrhaare zum Ertasten 4 Das Gehirn 2/2016 von Objekten. Was das Sehen für den Menschen ist, sind Berührungen der Tasthaare für Mäuse. Sie navigieren damit durch Tunnel und enge Räume und können herausfinden, ob sie über einen Spalt springen können. Sie verwenden ihre Tasthaare auch, um mit anderen Mäusen in Kontakt zu treten. Und sie lernen dazu: Je häufiger die Maus ihre Schnurrhaare nutzt, desto besser «sieht» sie. In unserer Studie massen wir die Aktivität der Synapsen eines Neurons, wenn es Informationen aus der Berührung eines einzelnen Tasthaars empfängt. Diese Berührung reicht nicht aus, um die Neuronen zu elektrischen Impulsen zu bewegen – sie bleiben «stumm». Doch jedes Mal, wenn die Maus etwas ertastet, werden dieselben Synapsen der Nervenzelle aktiviert. Und tatsächlich: Die Synapsen wurden durch die wiederholte Aktivierung stärker, ganz ohne Zutun von elektrischen Impulsen! Gezieltes Training ist möglich Diese Erkenntnis hat grosse Auswirkungen auf unser Wissen über Lernprozesse. Unsere Experimente deuten darauf hin, dass schon sehr schwache Reize aus der Umwelt ausreichen, um die Kommunikation zwischen Neuronen zu verstärken. Das heisst: Wird Die Maus macht es vor: Wenn ihre Schnurrhaare etwas ertasten, werden die dadurch aktivierten Synapsen stärker, auch wenn die Nervenzelle selbst «stumm» bleibt. Die stärkeren Synapsen ermöglichen es der Nervenzelle unter Umständen, neue Aufgaben zu wahrzunehmen und mit anderen Neuronen in Kontakt zu treten. Alle zwei Jahre vergibt die Schweizerische Hirnliga ihren Forschungspreis in der Höhe von 20’000 Franken. Hier übergibt Vorstandsmitglied Prof. JeanPierre Hornung den diesjährigen Preis an Anthony Holtmaat für dessen Verdienste in der Hirnforschung. das Gehirn wiederholt mit einer Information konfrontiert, werden die entsprechenden Synapsen bereits gestärkt – womöglich so sehr, dass die Nervenzelle «erwacht» und anfängt, selbst elektrische Impulse zu senden, zu empfangen und mit anderen Nervenzellen zu kommunizieren. Sie tritt dann in das neuronale Netzwerk ein, kann aktiv am Lernprozess teilnehmen und die gelernten Informationen speichern. Das ist besonders für die Rehabilitation nach Hirntraumen wie einem Schlaganfall von grosser Bedeutung. In solchen Fällen sind neuronale Netzwerke irreversibel geschädigt. Für die Genesung müssen überlebende Nervenzellen die Aufgaben der zerstörten übernehmen. Das müssen sie unter Umständen von Grund auf neu lernen, weil sie zuvor nicht an der Aufgabe beteiligt waren. So werden sie nicht sofort aktiviert, wenn ein Patient beispielsweise versucht, die gelähmte Hand zu bewegen. Unsere Studie deutet darauf hin, dass sie aber am neuronalen Netzwerk beteiligt werden können, wenn ihre Synapsen gestärkt werden. Voraussetzung dafür ist die wiederholte Aktivierung durch gezieltes Training. Quelle: Gabriela Troxler Illustration: Graham Knott Stimulation der Schnurrhaare Schwache Synapsen 4 3 E χ 2 D δ B A α Vorher «Stumme» Neuronen Informationen aus den Schnurrhaaren 5 Das Gehirn 2/2016 Stimulation der Schnurrhaare Nachher Starke Synapsen Der Forschungspreis der Schweizerischen Hirnliga wurde den Neurowissenschaftlern um Anthony Holtmaat am 16. März 2016 anlässlich der Woche des Gehirns in Genf übergeben. An der Arbeit beteiligt waren neben Anthony Holtmaat auch die Hirnforscher Fréderic Gambino, Stéphane Pagès, Vassilis Kehayas, Daniela Baptista, Roberta Tatti und Alan Carleton. Die 20’000 Franken werden die Preisträger einsetzen, um ihre Forschung fortzusetzen. Dadurch könnte es in Zukunft möglich werden, wirksamere Therapien für Hirngeschädigte zu entwickeln.