Turnfestakademie Siegen 2015 Skript WS 219 WS „Faszientraining für den Rücken -Neue Perspektiven, Chancen und Aspekte für die Rückenschule“ Referent/in: Antje Hammes 1 2 Fakten aus der Wissenschaft • Sportliche Höchstleistungen ohne Faszien nicht erklärbar! • Mehr Faszienaktivität = Gesündere Alltagsbewegungen (Ergonomie, Ökonomie, Koordination) 3 Fakten aus der Wissenschaft • Die meisten Verletzungen sind Faszienverletzungen! • Es sind mehr als 6 x so viele Nervenendungen in den Faszien als in den Muskeln! 4 Fascial Trains or Lines (Tom Myers Anatomy Trains) The 5 major fascia trains: •Superficial Front Line (SFL) •Superficial Back Line (SBL) •Lateral Line •Spiral Line •Deep Front Line 5 Klassisches kinesiologisches Modell • Skelett ist der Rahmen und wird von Muskeln bewegt • Muskel zieht mit gleicher Kraft an Ansatz und Ursprung • Die Kräfte können durch einfache Hebel- und Winkelgesetze genauestens berechnet werden 6 Neues kinesiologisches Modell • Ca. 30 % der Muskelfasern enden nicht in der Sehne, sondern verlaufen sich in den umliegenden faszialen Schichten • 30 % der von der Muskulatur entwickelten Kraft geht in die umliegenden Faszien • Diese Kraft beeinflusst die umliegenden Muskeln und Gelenke Huijing & Baan 2003 7 Überraschende Unterschiede von Spannungsübertragungen der Faszien Spannungsübertragung während eines Beinhebetests (Ausgangspunkt: Die Spannung der Oberschenkelrückseite) Franklyn-Miller, FRC2009 -Tractus Illiotibialis -Ipsilateral lumbar fascia -Lateral cruaral compartment -Achilies tendon -Contralateral lumbar fascia -Plantar fascia 240 % 145 % 103 % 100 % 45 % 26 % 8 Scherengitteranordnung Ein Zeichen von gesunden Faszien • Erlaubt maximale Dehnung ohne Ruptur • Verlust der hohen Elastizität durch Überbeanspruchung, Entzündung und NichtBeanspruchung 9 Myofasziale Ketten • Die meisten Muskeln übertragen einen signifikanten Teil ihrer entwickelten Kraft (bzw. Spannung) auf weite Faszienflächen • Diese Spannungen beeinflussen die Dynamik des Gelenkes weit jenseits von Ansatz und Ursprung Benjamin 2009 Kaplan 1958 1 Myofibroblasten-Kontraktibilität: •Faserbündel mit alpha-Glattmuskel-Actin •ausgeprägte Adhäsionsstellen verbinden Membran mit Matrix 1 Neuentdeckung der Faszien • • • • Früher: Faszien sind nur Verpackungsmaterial Faszien haben keinerlei weitere Funktion Heute: Faszien sind lebendig Faszien haben enormen Einfluss auf: - Muskulatur - Bewegung - Haltung - Schmerzempfinden - und ... Faszien sind trainierbar !!! 1 Ein gut trainiertes Fasziensystem führt zu: • Erhöhter Leistungsfähigkeit des Körpers (bessere Bewegungsabläufe und bessere Muskelfunktionalität) • Schnelleren Heilungsprozessen • Optimalem präventiven Schutz vor Verletzungen 1 Faszien Fitness - Die Basis • Die Faszien • „Tensegrity“ - Neues Modell vom menschlichen Körper 1 Was sind Faszien? Faszien sind alle faserigen und kollagenhaltigen Bindegewebsstrukturen. Dazu zählen u.a. Sehnen, Bänder, Gelenkkapseln, Organkapseln, Muskelbindegewebe ... Binde - Gewebe (Faszien) = Verbinden 1 Fakten • Das Fasziennetz geht durch den ganzen Körper - Alles ist mit allem verbunden • Jede einzelne Zelle ist mit dem Fasziennetz verbunden und reagiert damit auf die unterschiedlichen Spannungsverhältnisse der Faszien (Ingber 1998) • Verändert man die Spannungsverhältnisse, so kann man die Funktion der Zellen ändern (Horwitz 1997) 1 Aus was besteht Fasziengewebe? • Fasern: Kollagen, Elastin, Reticulin • Klebstoff: Heparin, Fibronectin und Hyaluron • Wasser • Fibroblasten = Extrazelluläre Matrix (ECM) Tom Myers 1 Die unterschiedliche Konsistenz von Faszien 1 Die kollagene Architektur von Faszien reagiert auf sportliche Belastung Junge Menschen: Scherengitterausrichtung + Wellung (= Crimp) der einzelnen Fasern (Staubesand 1996) Geeignete sportliche Belastung (Tierversuche) führt langfristig zur besseren Wellenstruktur (Wood 1998) Bewegungsmangel bewirkt eine multi-direktionale (Filzähnliche) Architektur des Fasernetzwerkes bei gleichzeitiger verminderter Wellung der Einzelfasern (Jarvinen 2002) 1 4 Teilbereiche des Faszientrainings 1.Fascial Release 2.Fascial Stretch 3.Rebound Elasticity 4.Sensory Refinement 2 Faszien Training Fascial Release 2 Gebundenes Wasser - Dr. Pollack •Reines Wasser: •Mit paralleler Anordnung der Moleküle •Verfügt über gute Oberflächenspannung •Gute Gewebeelastizität 2 Gebundenes Wasser - Dr. Pollack •Verschmutztes Wasser: •Verlust der parallelen Anordnung der Moleküle •Herabgesetzte Oberflächenspannung •Gewebeelastizität nimmt ab! 2 Derzeit nur Vermutungen ... •Abfälle in den Faszien (z.B. freie Radikale) behindern die Bindung des Wassers an das Gewebe (Kollagen) ☞ Abnahme der Gewebeelastizität ☝Abbau der freien Radikale durch Bewegung und Ernährung 2 Derzeit nur Vermutungen ... •Ungebundenes Wassers ist wie ein Ödem Erwartung: Rausquetschen von Schlacken (Verschmutzungen) durch Fascial Release (z.B. mit Blackroll) ☞ frisches Wasser rein ☞ verbesserte parallele Anordnung ☞ Zunahme der Gewebeelastizität 2 Derzeit nur Vermutungen ... Untersuchungen von Antonio Stecco •Gesunder Körper stellt Hyaluron selber her •Stecco: Druck auf Faszien steigert die Hyaluronproduktion ☞ mehr gebundenes Wasser ☞ Zunahme der Gewebeelastizität 2 - Fascial Release - Übungsdurchführung •Im Sportbereich sowohl als Vorbereitung auf Training/Wettkampf, als auch danach •Langsam schmelzend (Regeneration) •Zügig anregend (vor Wettkampf/Training •In den Schmerz hinein „Wohl-Weh“ •Bei Schmerzpunkten länger bleiben •Pro Region mehrere Minuten spielerisch verweilen 2 - Fascial Release - Ziele •Zurückerobern einer flexiblen, elastischen Faserstruktur •Aufbau von starken und widerstandsfähigen Faszien •Verringern überflüssiger Spannungsverhältnisse •Unterstützend in der Regenerationsphase 2 Viskoelastizität 2 Grundsubstanz 3 Viskosität der Gelenkflächen Materialdeformation Kollagen wird gedehnt 3 Faszien Training Fascial Stretch 3 Faszien Ein „alles mit allem“ verbindendes Spannungsnetzwerk im menschlichen Körper => Tensegrity 3 Tensegrity - ein körperweites Spannungsnetzwerk 3 Fasziale Muskel-Elemente 3 Dehnbelastung der unterschiedlichen faszialen Muskelanteile der unterschiedlichen faszialen Muskelanteile 3 Verschiedene Dehnungen Melting Stretch (schmelzende Dehnung) z.B.: Jogaübungen oder vorbereitende Dehnungsübungen ABER: Zusätzlich mit vielen Vektorenwechseln => erreicht alles, außer die sehnigen Strukturen Active Resistant Stretches (aktive Dehnung) - Power Stretches (Bsp. Katzen) - Minibounces (Minifederungen) => erreicht die Bänder und Sehnen 3 3. Rebound Elasticity 3 350 kg heben? Rein muskulär nicht erklärbar! 3 4 Flexion Relaxation Phänomen Bei gesunden Menschen: Je mehr man sich nach vorne beugt, desto weniger arbeiten die Muskeln (entspannen) und desto mehr arbeiten die Faszien (anspannen) Bei Menschen mit Rückenproblemen: Muskeln immer aktiv - Faszien nicht aktiv Courtesy S. Gracovetsky 4 Courtesy S. Gracovetsky 4 Schlussfolgerungen •Faszien sind die Hauptverteiler für Kraft über mehrere Segmente •Der Beitrag der Faszien: - ökonomisiert die Arbeit der Rückenmuskeln - stabilisiert die Wirbelsäule - verringert den Druck auf die Bandscheiben •Ohne gesundes Fasziensystem: - keine optimale Rehabilitation möglich - kein Präventives Verhalten/Training möglich 4 Revolution der Rückenschule •Zur Sicherung der Wirbelsäule spielt die Lumbarfaszie eine tragende Rolle •Eine Vorspannung kommt durch ein leichtes Beugen (rund machen) des Rückens zustande •Wichtig: Langsames Herabführen an die neue Bewegung unbedingt notwendig 4 Katapulteffekt •Sehnen und Faszien werden wie Gummibänder vorgespannt •Gezieltes Loslassen der darin gespeicherten, kinetischen Energie ermöglicht diese Sprünge •Menschen haben die gleichen Voraussetzungen, um kinetische Energie in den Faszien zu speichern. 4 Energiespeicherfunktion der Faszien Durch moderne Messmöglichkeiten stellte sich heraus, dass die kinetische Speicherenergie der menschlichen Beinfaszien denen von der Gazelle in Nichts nachsteht. 4 ACHTUNG ! •Dies gilt nur bei elastisch federnden Bewegungen wie Gehen, Laufen, Hüpfen, ... •Nicht bei langsamen, gleichförmigen Bewegungen wie z.B. Fahrradfahren 4 Elastic Recoil Phänomen 4 Faszien als elastische Speicherelemente Kawakami 2002 Übliche Muskelarbeit Muskelfasern verkürzen Sehnen bleiben gleich lang Federnd oszillierende Bewegungen Muskelfasern kontrahieren eher isometrisch Deutliche Längenänderung der faszialen Elemente 4 Trainingsplanung/-steuerung von Faszientraining 5 Kollagen-Erneuerung nach sportlicher Belastung 5 Kollagensynthese - Magnusson 2010 5 Trainingseffekte auf kollagene Gewebe Abbildung modifiziert nach Reeves 2006 •Zunahme an elastischer Speicherkapazität (Abnahme der Hysterese) als Resultat nach Technogym-Training mit hohen Widerständen (ab ca. 60% der Max. Kraft) (Reeves 2006) •Jedoch: Eine kontrollierte Studie mit Kräftigungsübungen bei geringeren bis mittleren Wider-ständen führte zu deutlicher Zunahme an Muskelvolumen und Muskelkraft. Hingegen wurde keine Zunahme der elastischen Speicherkapazität der kollagenen Elemente festgestellt (Kubo 2003) 5 Studie Foure´ 2011 Plyometrisches Training Bei Trainierten: •Abnahme der beteiligten muskulären Elemente! •Zunahme der beteiligten faszialen Elemente! = Katapulteffekt ! 5 4. Sensory Refinement •Fühlen •Wahrnehmen •In sich hineinspüren 5 Faszien - unser 6.ter Sinn In den Faszien befinden sich die meisten Bewegungsmelder unseres Körpers (Propriozeption/Körpereigenwahrnehmung) In den Faszien: Mehr als 6 x so viele Rezeptoren, wie in den Muskeln 5 Faszien - unser 6.ter Sinn • Die Informationen über die Lage unseres Körpers im Raum sind für eine optimale Bewegungsausführung (Koordination) sehr wichtig ➡Gut funktionierendes Fasziengewebe mit seinen Bewegungsmeldern ist sehr wichtig! ➡Mehr Aufmerksamkeit, Pflege und Training der Faszien ist berechtigt 5 Propriozeption vermindert myofasziale Schmerzen Schmerzen im unteren Rücken sind verknüpft mit einer verminderten Propriozeption Leinonen V. (2003) Spine 28: 842-48 5 Prinzipien des Faszientrainings 1. Ausnutzung von langen myofaszialen Ketten Dehnen oder zu kräftigen einzelner Muskeln OUT bzw. Muskelgruppen IN Körperweite Spannungsketten ausnutzen 5 Prinzipien des Faszientrainings 2. Dehnen mit unterschiedlichen Richtungsvektoren Endgradige, wippende Bewegungen mit unterschiedlich moderaten Kraftamplituden und –richtungen werden bevorzugt OUT Den exakt gleichen Dehnreiz mehrfach wiederholen IN Dehnen sowohl mit aktiver als auch mit passiver Muskelaktivität und in viele unterschiedliche Richtungen 6 Prinzipien des Faszientrainings 3. Ausnutzung des „Elastic Rebound“ Effektes Die in den Faszien gespeicherte Energie mehr nutzen. Mehr „Katapultartige Bewegungen“ und weniger die Muskelkraft verwenden. (Elegante Bewegungen - Rhythmus - Leichtigkeit) OUT Abrupte, kantige, eckige Richtungswechsel Richtungswechsel mit elastischen, weichen IN Anspannungs- und Entspannungswechseln 6 Prinzipien des Faszientrainings 4. Vorbereitende Gegenbewegung Den Unterschied bringt die Feinabstimmung der Bewegung Die eigentliche Bewegung wird in Gegenbewegung als aktive Vordehnung vorbereitet, begleitet durch eine Bewegung eines proximalen Körperteils in die Bewegungsrichtung und abschliessend folgt das distale Körperteil wie ein elastisches Pendel 6 Prinzipien des Faszientrainings 5. Schwerpunkt „Propriozeption“ Körperbewusstsein bilden und verfeinern Achtsamkeit/Aufmerksamkeit verbessern OUT IN „Alles was weh tut - tut gut!“ Schwerpunkt auf sinnliche, erspürende, fliessende Bewegung setzen. Das bewusste Wahrnehmen der Bewegung steht im Vordergrund 6 Prinzipien des Faszientrainings 6. Die Matrix Hydration respektieren Pausen sind für die Wiederherstellung der Viskoelastizität und die ausreichende Bewässerung des Gewebes notwendig! OUT IN Mehr als 30 Minuten mit der gleichen Geschwindigkeit laufen Laufen mit ständigen Geschwindigkeitswechseln und kurze Gehpausen 6 Prinzipien des Faszientrainings 7. Konstitutionelle Unterschiede berücksichtigen Auch bei Faszien gibt es genetische Voraussetzungen. Z.B. Der „WikingerTyp“: Er ist stabil und für arktisches Klima gedacht. Oder der „Indische Tempeltänzer“: Er ist sehr beweglich und für tropisches Klima geeignet. OUT Hypermobile füllen die Yoga- und Stretchingkurse. Die „Obelix-Typen“ machen viel Krafttraining IN Die „Obelix-Typen“ nehmen Leg Swings/-kicks und die Hypermobilen Frauen Rebound Elastisity mit ins Trainingsprogramm auf. 6 Prinzipien des Faszientrainings 8. Faszientraining mit Respekt durchführen Durch die Hinzunahme von der Faszienelastizität und von langen myofaszialen Ketten bekommt das Training einen neuen Anreiz. Macht mehr Spaß und es wird mehr mit Bewegung experimentiert. ABER ... Achtung! Verletzungsgefahr! Mit weniger Gewicht anfangen! Weniger Übungen durchführen! Steigere der Gewichte nur, wenn die Bewegungsausführung und der Bewegungsrhythmus gut funktionieren und harmonieren. OUT IN Kantige, eckige Bewegungen bzw. abrupte Richtungswechsel Mit Gewichten trainieren, die eine weiche Bewegung und gut zu kontrollierende Richtungswechsel zulassen 6 Prinzipien des Faszientrainings 9. Angenehme und geduldige Vorgehensweise: Bei regelmäßigem Training ungefähre Anpassungszeit 6 - 24 Monate (Haltbarkeitszeit von Kollagen ca. 1 Jahr) OUT IN Keine harten Trainingseinheiten (mit Muskelkater, Entzündungen, etc.) Langzeitorientiert denken. Angenehme Trainingseinheiten (wie teilweise in Kampfsportarten und Yoga) 6 Prinzipien des Faszientrainings 10. Das physiologische und chemische Milieu Hormonhaushalt, Übersäuerung, Entzündungen, etc. Zustand des Lymph- und Blutkreislaufes, etc. OUT IN Schlechtes Essen, Stress, etc. Gesunder, aktiver Lebensstil in Verbindung mit gesundem Essen 6 Prinzipien des Faszientrainings • Ausnutzung von langen myofaszialen Ketten • Dehnen mit unterschiedlichen Richtungsvektoren • Ausnutzung des „Elastic Rebound“ Effektes • Vorbereitende Gegenbewegung • Schwerpunkt „Propriozeption“ • Die Matrix Hydration respektieren! • Die konstitutionellen Unterschiede berücksichtigen • Faszientraining - Mit Respekt durchführen • Angenehme und geduldige Vorgehensweise • Das physiologische und chemische Milieu 6