Neue Z}rcer Zeitung AUSLAND Mittwoch, 02.05.2001 Nr.100 9 Im Spektrum der Meinungen Indiens Frauen und der Hinduismus Zur Kontroverse über die Frage der Diskriminierung In der NZZ vom 19. 4. 01 ist die Replik der in Bangalore lebenden Schriftstellerin Shashi Deshpande auf einen Ende Januar erschienenen Artikel des früheren Delhi-Korrespondenten der NZZ, Roger Bernheim, publiziert worden. Bernheim hatte die nur zögerliche Emanzipation der Inderinnen unter anderem mit der Hindu-Kultur in Verbindung gesetzt. Deshpande behauptete ihrerseits, dass Diskriminierung kein Phänomen einer Religion oder Kultur sei. In der nachstehenden Duplik führt Bernheim Quellen an, welche die von ihm gemachten Aussagen belegen sollen. Damit beenden wir vorläufig die Diskussion des Themas im redaktionellen Teil der Zeitung. In ihrer Kritik an meinem Artikel über die Emanzipation der Inderin bemängelt Shashi Deshpande zweierlei. Erstens hätte ich nicht berücksichtigt, dass die Benachteiligung der Frau ein weltweites Phänomen sei, und zweitens, dass es «falsch und verletzend» sei, die Diskriminierung der Hindu-Frau mit dem Hinduismus in Zusammenhang zu bringen. Unbestritten ein weltweites Phänomen Was das Erste betrifft, so hielt ich es nicht für nötig, eine europäische Leserschaft, erst recht eine schweizerische, daran erinnern zu müssen, dass Diskriminierung auch anderswo vorkommt. Schliesslich hatte zu einer Zeit, als in der Schweiz jeder Mann ungeachtet seiner geistigen Verfassung, aber noch keine Frau stimmen und gewählt werden konnte, Indien mit Indira Gandhi bereits eine Frau an der Regierungsspitze (1966). In der Bibel ermahnt der Apostel Paulus die Korinther: «Lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen sich unterordnen» (1/14:34). Den Ephesern schrieb er: «Die Frauen seien untertan ihren Männern als dem Herrn. Denn der Mann ist des Weibes Haupt» (5:22f). Im Judentum ist die Frau in rituellen Belangen unter anderem dadurch entmündigt, als für einen Gottesdienst die Anwesenheit von zehn Männern erforderlich ist, aber neun Männer und eine Synagoge voll Frauen nicht dazu ausreichen. Nietzsche empfahl für den Umgang mit Frauen die Peitsche, Napoleon war der Meinung, die Frau sei von der Natur dazu bestimmt, dem Mann Sklavin zu sein, und von einem kalifornischen Senator stammt aus den sechziger Jahren die Frage: «Wenn ich nicht einmal meine Frau vergewaltigen darf, wen darf ich © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG dann vergewaltigen?» Mir ging es in meinem Artikel nicht um das weltweite Phänomen, das im Westen bekannt und unbestritten ist, sondern um seine Erscheinungsform in Indien und um die allmähliche Emanzipation der dortigen Frauen. Was den Zusammenhang zwischen dem Hinduismus und der Benachteiligung der Frau betrifft, will ich einige wenige der zahllosen Quellen nennen, auf denen meine diesbezügliche Aussage basiert. Tatsächlich kennt der Hinduismus keine alleinige grundlegende Schrift wie die Bibel oder den Koran, wohl aber eine Vielfalt von Schriften, die von den Hindus als fundamental und heilig verehrt werden. Über sie schrieb die prominente Sozialreformerin Pandita Ramabai (1858–1922), eine Tochter aus Brahmanen-Familie: «Sie enthalten widersprüchliche Postulate über alles und jedes, aber alle – die Dharmashastras, die heiligen Epen, die Puranas und die modernen Dichter und Prediger und orthodoxen Männer der obersten Kaste – sind sich darin einig, dass die Frauen, sowohl die der hohen als auch die der unteren Kasten, allesamt schlecht sind, sehr schlecht, schlechter als Dämonen, so übel wie die Lüge» (Pandita Ramabai: A Testimony of Our Inexhaustible Treasure, hrsg. von Pandita Ramabai Mukti Mission, Pune, 1992, Seiten 18–20). Ein wichtiger Quellentext Eine der wichtigsten dieser Schriften ist das autoritative Gesetzbuch Manus, als Manusmriti oder Manava-Dharmashastra bezeichnet. Es entstand zwischen 200 vor und 200 nach Christi Geburt, wurde dem Stammvater Manu zugeschrieben und bildet eine vor allem für die oberen Kasten verbindliche Sammlung von Geboten zu allen religiösen, ethischen und sozialen Belangen. Die Frau wird darin folgendermassen charakterisiert: Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung AUSLAND «Es liegt in der Natur der Frau, dass sie die Männer verdirbt (. . .) Das Bett und der Sessel sowie Lust, Zorn, Unehrlichkeit, Böswilligkeit und schlechtes Benehmen – das ist die Natur der Frau» (Kapitel 2 Vers 213 und 9:17). Manu dekretiert, eine Frau dürfe nicht selbständig handeln und entscheiden, auch nicht im eigenen Haus, sie sei gar nicht fähig dazu. Sie soll als Kind unter der Kontrolle des Vaters, als Gattin unter der Kontrolle des Gatten und nach dessen Tod unter der Kontrolle ihrer Söhne leben (5:147ff und 9:2f). Weiter: «Sie soll ihren Gatten ständig verehren wie einen Gott, und zwar auch dann, wenn er keine guten Eigenschaften besitzt, sich mit andern Frauen vergnügt und bar jeglicher Tugenden ist (. . .) Nur wenn sie ihm unerschütterlich gehorcht, wird sie ihr Seelenheil finden. Niemals soll sie etwas tun, das ihm missfällt, nicht bloss während er lebt, auch nach seinem Tode (. . .) Nach seinem Tod soll sie fortwährend Trauer tragen und es unterlassen, den Namen eines andern Mannes auch nur zu nennen. (. . .) Wenn sie ihren Gatten betrügt, wird sie im nächsten Leben im Leibe eines Schakals wiedergeboren werden und viele Krankheiten erdulden müssen» (5:154ff). Vor Gericht dürfe eine Frau nicht als Zeugin auftreten, denn ihr Verstand sei unzuverlässig (8:77). Manu stellt die Frau in der Kastenhierarchie in allen religiösen Belangen auf die Stufe der Sudras, also der Diener und Knechte, die die vierte, unterste Kaste bilden. Dementsprechend darf sie, genau wie die Sudras, die heiligen Schriften, namentlich die Veden, nicht lesen, darf keine rituellen Opfer darbringen, ausser gemeinsam mit ihrem Gatten (5:155). Sie hat kein Recht auf die Initiationszeremonie, die sogenannten Upanayana, kraft deren die Knaben der drei oberen Kasten, der Zweimalgeborenen, in die Religions- und Kastengemeinschaft aufgenommen werden. Sie wurde im vorhinduistischen vedischen Zeitalter auch an den Mädchen vorgenommen, aber ein oder zwei Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung wurde dies verboten. Das 1938 erstmals veröffentlichte Werk des damaligen Professors an der Hindu-Universität von Benares A. S. Altekar, «The Position of Women © 2001 Neue Zürcher Zeitung AG Mittwoch, 02.05.2001 Nr.100 9 in Hindu Civilization», gilt wegen seiner Gründlichkeit und sorgfältigen Nuancierung immer noch als massgebend. Es wird ständig neu aufgelegt (letztmals Delhi 1999). In ihm schreibt der Verfasser auf den Seiten 204 und 211: «Das Verbot der Upanayana für Mädchen bedeutete die religiöse Entmündigung der Frau und hatte eine verheerende Wirkung auf ihre Stellung in der Gesellschaft. Es erniedrigte sie auf die Stufe der niedrigsten Kaste, der Kaste der Diener und Knechte. (. . .) Seither haben es sich die Männer angewöhnt, die Frauen in allen Bereichen des Lebens als minderwertig und ihnen untergeordnet zu betrachten.» Sühnemöglichkeiten für die Männer Als «unglaublich beleidigend» bezeichnet Deshpande meine Bemerkung, dass Männer der höheren Kaste es vielfach für ihr gottgegebenes Recht halten, niedrig geborene Frauen zu vergewaltigen, und sich durch ein diesbezügliches Sühneritual dazu ermutigt fühlen. Der betreffende Passus bei Manu lautet: «Wenn ein zweimal geborener Mann mit einer Sudra Geschlechtsverkehr hatte, kann er dies dadurch sühnen, dass er während drei Jahren erbettelte Speisen isst und Mantras aus den Veden rezitiert» (11:179). Der Frau steht bei gleichem «Vergehen» und überhaupt bei vor- oder ausserehelichem Geschlechtsverkehr keinerlei rituelle Sühnemöglichkeit zur Verfügung. Alle diese Gebote finden sich nicht nur bei Manu, sondern auch in andern als heilig betrachteten Schriften. So nennt zum Beispiel auch die Bhagavad-Gita, sicherlich eine der heiligsten Schriften der Hindus, die Frauen zusammen mit den Sudras (Gita 9:32). Anderswo in der Mahabharata, zu der ja die Gita gehört, gebietet die als Göttin verehrte Uma den Frauen, ihren Gatten als «ihren einzigen Gott über alles zu verehren» und fraglos jeglichen seiner Befehle auszuführen, sogar wenn es «etwas Schlechtes oder Unredliches ist oder gar Leben zerstört» (Mahabharata, englische Übersetzung von K. M. Ganguli, Delhi 1981, Band XI, Seiten 316–318). Blatt 2