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Neue Z}rcer Zeitung
AUSLAND
Donnerstag, 19.04.2001 Nr.90
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Im Spektrum der Meinungen
Die kleinen Revolutionen der Frauen Indiens
Der Mangel an Emanzipation kein Phänomen Südasiens
Ende Januar ist an dieser Stelle ein Artikel des früheren Delhi-Korrespondenten der
NZZ, Roger Bernheim, über die Rolle der Frau in Indien erschienen. Der Artikel hat
einigen Unmut ausgelöst; kritisiert wurde unter anderem die Feststellung des Autors, die
noch immer vorhandene Diskriminierung lasse sich mit Traditionen der Hindu-Kultur
erklären. Stellvertretend für andere erhält die indische Schriftstellerin Shashi Deshpande, die in Bangalore lebt, Gelegenheit für eine Replik. Sie weist unter anderem darauf hin, dass Diskriminierung kein Phänomen einer Religion oder Kultur ist.
Roger Bernheims Artikel über die Stellung der
indischen Frauen zeugt von profunden Kenntnissen des Landes. Als eine Inderin, die in Indien
lebt, hat mich dennoch das Gefühl beschlichen,
dass da etwas nicht stimmt. Die meisten der im
Artikel erwähnten Fakten mögen richtig sein, aber
es gibt enorm viele Auslassungen, was die Perspektive verzerrt und ein schiefes Bild zeichnet.
Veränderte soziale Strukturen
Der Autor spricht zum Beispiel über die Rolle
nichtstaatlicher Organisationen im Bereich der
Emanzipation, ignoriert dabei aber die Stellung
der einzelnen Inderin, die kleinen individuellen
Revolutionen, die in der Gesellschaft und in der
Familie stattgefunden haben. Eine grosse Anzahl
Frauen hat sich aus dem traditionellen Rollenverständnis gelöst, nicht als Folge einer Ideologie
oder dank Unterstützung von aussen, sondern
einfach, weil es die Veränderungen in der heutigen Welt verlangen. Die Notwendigkeit eines
zweiten Familieneinkommens, die fehlende Zeit
der Männer, im Haushalt mitzuhelfen – es sind
dies Faktoren, die die Frauen dazu zwingen, das
Haus zu verlassen und mit der Aussenwelt zu
kommunizieren. Das hat ihnen nicht nur ein grösseres Selbstvertrauen gegeben, sondern auch in
traditionellen Familien die Akzeptanz für dieses
veränderte Rollenverständnis verbessert. Selbst
wenn ich Bernheims Behauptung akzeptieren
würde, dass berufstätige und unabhängige Frauen
noch immer eine Minderheit darstellen, muss
daran erinnert werden, dass diese Frauen keine
privilegierte Elite darstellen, sondern sehr oft aus
Mittelschichtfamilien stammen. Sie haben ihre
Stellung durch Eigenleistung erreicht, manchmal
mit der Unterstützung ihrer Familie, manchmal
ohne. Dies wäre nie möglich gewesen ohne die
grossen Veränderungen bei der Fremd- und
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Eigenwahrnehmung der Frauen in Indien.
Ähnlich verhält es sich mit der Kindstötung –
Bernheim erwähnt nicht die grosse Anzahl Eltern,
die ihre Töchter verehren, auch nicht, dass immer
mehr Paare sich eine Tochter wünschen. Er verschweigt auch die sich langsam verändernden
Sozialstrukturen, die es wirtschaftlich unabhängigen Töchtern erlauben, genauso für ihre Eltern zu
sorgen wie ein Sohn. Der Autor vergisst, dass es
traditionelle Riten und Bräuche um Töchter gibt,
die dazu dienen, diese zu ehren. Sicher, es gibt
viele Familien, die eine Tochter als Bürde empfinden, aber dies ist nicht die ganze Wahrheit.
Undifferenzierte Verallgemeinerung
Die Bemerkung, eine Frau sei als Tochter, als
Gattin, als Witwe, zu Hause, in der Gesellschaft,
am Arbeitsplatz, bei religiösen Festen, im Bildungswesen, bei der Gesundheitsvorsorge, in der
Sexualität, bei Erbangelegenheiten – schlicht in
allen Lebenssituationen – benachteiligt, zeichnet
ein düsteres und völlig unangemessenes Bild.
Derartiges liesse sich über viele Länder sagen, da
die Diskriminierung der Frau ein Teil der
menschlichen Geschichte ist. Aber Benachteiligung ist nie die ganze Wahrheit, in keinem Land.
Es muss differenziert werden.
Ich zum Beispiel schreibe diesen Text aus Bangalore, der Hauptstadt des Unionsstaates Karnataka. Der höchste Repräsentant des Staates ist
eine Frau, der Bürgermeister der Stadt ist eine
Frau, der Chefminister ist eine Frau. Dies sind
sicher aussergewöhnliche Beispiele. Jedoch haben
sich diese Frauen durch eigene Leistung dorthin
gebracht, wo sie sind. Und noch wichtiger: Es
wird als völlig normal angesehen, dass Frauen in
solchen Positionen sind. Sie stellen somit ein Vorbild für die Jüngeren dar, die merken, dass ihnen
nichts verbaut ist. Auch Familien freuen sich dar-
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über und sind stolz, wenn ihre Töchter ausgebildet sind und alle Berufe ergreifen können. Diese
Haltung setzt sich langsam überall durch.
Diskriminierung gibt es überall
Das Hauptproblem von Bernheims Artikel aber
steckt im Titel «Diskriminierung als Teil der
Hindu-Kultur». Hinduismus als den Hauptgrund
für die Diskriminierung der indischen Frauen zu
bezeichnen, ist sowohl falsch als auch verletzend.
Unterdrückung ist Bestandteil sozialen Verhaltens, patriarchischen Verständnisses und des
Chauvinismus, beschränkt sich aber nicht auf eine
Religion oder Kultur. In allen Religionen auf der
ganzen Welt kommt es zu Diskriminierungen.
Hindutva oder Hindu-Fanatismus ist eine neue
Bewegung, die vor allem in den westlichen
Medien grosse Aufmerksamkeit findet. Aber es
sei daran erinnert, dass es sich hierbei um eine
politische und nicht um eine soziale Strömung
handelt. Sie mag einen gewissen Einfluss auf die
Politik haben – wenn auch nur einen geringen, da
sie eine Minderheitsmeinung darstellt und Indien
eine Demokratie ist –, in der Gesellschaft und der
Familie spielt sie keine Rolle. Hindu-Fundamentalisten haben, anders als in vielen Ländern die
Islamisten, es nicht geschafft, das Leben der
Frauen zu verändern. Der Hinduismus kennt
keine «heiligen Schriften», die irgendein religiöses Diktat verkünden. Daher war es auch möglich,
den Hindu-Frauen gewisse Rechte zu verleihen,
die Frauen anderer Religionen noch immer nicht
besitzen.
Die Bemerkung, dass Mitglieder der höheren
Kasten und besonders Brahmanen es als ihr von
Gott verliehenes Recht ansehen, Frauen aus niederen Kasten oder Unberührbare zu vergewaltigen, ist unglaublich beleidigend. Keine Religion
dieser Welt toleriert oder ermuntert gar zu Vergewaltigung. Natürlich gab und gibt es Männer, die
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Frauen vergewaltigen – besonders, wenn die
Männer aus einer höheren Kaste stammen. Das
aber heisst nicht, dass ihnen dies die Religion erlaubt. Arme Frauen, schlechter gestellt, werden
weltweit vergewaltigt, aber es gibt dafür überhaupt keine Rechtfertigung. Dies gilt auch für den
Hinduismus.
Die vom Autor erwähnten Baderegeln gelten
für jeglichen – auch sexuellen – Kontakt mit einer
Person von einer anderen Kaste. Zu behaupten,
diese seien für Männer entwickelt worden, die jemanden vergewaltigt hätten, ist lächerlich. In
Indien ist das Problem (der sexuellen Gewalt)
nicht durch religiöse Faktoren bestimmt, sondern
durch den Einfluss des Fernsehens und durch
Filme, die Vergewaltigung und Pornographie
explizit darstellen. Gleichermassen wichtig sind
die sich verändernden sozialen Strukturen. Die
zwischen den Geschlechtern geltenden Verhaltensregeln sind verschwunden; wir haben nichts
Neues gefunden, was sie ersetzen könnte.
Armut und Ignoranz als wahre Feinde
Die indische Gesellschaft verändert sich rasch
und so auch die Stellung der Frau. Dies ist ein
unvermeidlicher Prozess. Die Regierung spielt
(bei der Emanzipation) eine Rolle, wenn auch
eine wenig effiziente und zu wenig ernsthafte.
Aktiv sind auch nichtstaatliche Organisationen.
Wenn Selbstinteresse das Verhalten der indischen
Männer bestimmt, wie es überall sonstwo der Fall
ist, werden viele Männer das veränderte Rollenverständnis der Frau akzeptieren. Es sind die einzelnen Frauen, die die Welt und ihre Möglichkeiten entdecken und die diesen Wandel vorantreiben. Heute sind Armut und Ignoranz die grössten
Feinde der indischen Frauen. Mit den anderen
Hindernissen werden sie fertig.
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