Nr.4 Oktober/November 2014 Hamburger Institut für Sozialforschung Literatur Beilage zum Mittelweg 36 Andreas Pettenkofer Sakralisierung und Abweichung Das Collège de Sociologie, Marcel Mauss und die Aktualität der Durkheim-Schule 1 2 Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt am Main 1981. (Französische Originalausgabe: Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912.) 95 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 1 Zu: Marcel Mauss, Schriften zur Religionssoziologie, übers. von Eva Moldenhauer und Henning Ritter, hg. von Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud, Berlin 2012; Denis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie 1937–1939, übers. von Horst Brühmann, editorisch bearbeitet von Irene Albers und Stephan Moebius, Berlin 2012. In den Sozialwissenschaften dominieren heute Perspektiven, die sich jenem ökonomischen Rationalismus annähern, der die derzeit politisch gültige Beschreibung des Sozialen liefert. Dank ihrer Grundbegriffe können zwar diverse Einzelbeobachtungen hinterfragt werden, aber die tieferliegende Vorstellung, soziale Ordnung werde von rationalen Individuen produziert, die unter gegebenen ›strukturellen‹ Bedingungen reflektierte Entscheidungen treffen, bleibt davon unbeeinträchtigt. Der nachhaltige Irritationseffekt der Durkheim-Schule rührt daher, dass sie unter allen soziologischen Positionen wohl am weitesten von dieser Art Individualismus abweicht. Ihr Grundgedanke lautet, dass die handlungsleitenden Norm- und Wertüberzeugungen der Beteiligten ihre Entstehung und ihre Stabilität erst einer sozialen Eigendynamik verdanken, die vermittelt ist über jeweils lokale Riten und die in ihnen entstehenden Gemeinsamkeitswahrnehmungen. Als tragende Elemente sozialer Ordnung – und nicht nur als Störungen – begreift sie auch die starken Affekte, die in solchen Situationen entstehen. Durkheims Religionssoziologie von 1912 spitzt das zu, indem sie sich von jener evolutionistischen Sicht, der die zeitgenössischen Sozialwissenschaften ansonsten folgen, endgültig abwendet: Ausgehend von einer Analyse religiöser Praktiken australischer Wüstenbewohner will Durkheim zeigen, warum auch die Ordnung moderner, säkular erscheinender Gesellschaften auf Sakralisierungen aufruht.2 Eine Theorie, die die Rolle von Gemeinsamkeitswahrnehmungen derart betont, muss allerdings den Beweis antreten, wie gut sie Konflikte, individuelle Abweichungen und überhaupt Individualitätsphänomene berücksichtigen kann und ob sie sich insgesamt für die Beobachtung moderner Gesell- schaften eignet. Zwar versucht Durkheim schon in Der Selbstmord (1897) zu zeigen, wie ein Handeln, das fast immer allein vollzogen wird und meist als schwere Normverletzung gilt, mit dieser soziologischen Perspektive zu erfassen ist.3 Allerdings erscheint auch dieses Handeln hier nur als Produkt einer buchstäblich erdrückenden Macht des Sozialen (ein naheliegendes Ergebnis, wenn das Verhältnis von Abweichung und Sozialität am Fall des Suizids untersucht wird); das widerstrebende Individuelle kommt kaum in den Blick. Die hier ansetzenden Zweifel haben, gerade in der deutschen Rezeption, immer wieder Anlässe für Fundamentaleinwände geliefert: Sein Ansatz gilt teils als methodologisch irregeleitet, teils als sachlich verkürzt und scheint bestenfalls zur Beschreibung sozialer Kontexte geeignet, in denen alle Individualität unterdrückt wird.4 Der Suhrkamp-Verlag hat nun zwei Textsammlungen in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht, die – einmal auf eher exaltierte, einmal auf entschieden nüchterne Weise – die Durkheim’sche Perspektive erweitern. Zwar bringen sie die bekannten Probleme nicht einfach zur Auflösung, doch machen beide Neuerscheinungen deutlich, was sich mit Durkheims Religionstheorie immer noch anfangen lässt. I. Bataille, Caillois, Leiris: Die Riten des unreinen Heiligen Mittelweg 36 5/2014 Ende 1934 sieht Henri Troppmann vor dem Frankfurter Hauptbahnhof ein Orchester in Uniform, »Nazikinder (einige waren blond und hatten ein Puppengesicht), die in der Nacht vor dem unendlich weiten Platz im strömenden Regen für ein paar spärliche Passanten spielten«. Das evoziert für ihn eine andere Situation: »[I]n der Ferne sah ich eine Kinderarmee in Schlachtordnung […], von dem Verlangen besessen, in den Tod zu rennen. Verzaubert von grenzenlosen Gefilden, auf denen sie eines Tages lachend im Sonnenschein vorwärtsstürmen würde; hinter sich würde sie die Sterbenden und die Toten zurücklassen. Es wäre unmöglich, dieser steigenden Flut des Mordens […] etwas anderes entgegenzustellen als Nichtigkeiten und das Klagen alter Weiber.« Mit dieser Szene endet Georges Batailles 1935 fertiggestellter Roman Das Blau des Himmels.5 In ihr zeigen sich zwei zentrale Themen des Collège de Sociologie, dessen Produktion der erste zu besprechende Band versammelt: die Anziehungskraft der NS-Bewegung und die Frage, was sich ihr entgegensetzen lässt, das heißt auch: wie Intellektuelle eine Zuschauerhaltung verlas3 Durkheim, Der Selbstmord, übers. von Hanne Herkommer, Frankfurt am Main 1983. (Französische Originalausgabe: Le suicide. Étude de sociologie, Paris 1897.) 4 Selbst gemäßigte Anhänger dieser Lesart akzeptieren Durkheims Religionssoziologie nur als Spezialtheorie über Situationen einer Auflösung von Individualität, etwa über Zustände einer »geradezu orgiastischen Verschmelzung« (so z.B. Axel Honneth, »Das Ich im Wir«, in: ders., Das Ich im Wir, Berlin 2010, S. 261–279, hier S. 274). – Zu einigen dieser gängigen Einwände vgl. die Einleitung der Herausgeberinnen in: Tanja Bogusz/Heike Delitz (Hg.), Émile Durkheim: Soziologie – Ethnologie – Philosophie, Frankfurt am Main 2013. 5 Georges Bataille, Das Blau des Himmels, übers. von Sigrid von Massenbach und Hans Naumann, München 1990, S. 176f. (Französische Originalausgabe: Le bleu du ciel, Paris 1957.) 96 Literaturbeilage © Editions Gallimard Verstand das Collège auch als intellektuellen Beitrag zum Antifaschismus: der Schriftsteller und Philosoph Georges Bataille (1897–1962), in einem nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Portrait. 6 Bataille, »Die psychologische Struktur des Faschismus« (zuerst 1933), in: ders., Die psychologische Struktur des Faschismus / Die Souveränität, übers. von Rita Bischof, hg. von Elisabeth Lenk, München 1978, S. 21ff. Ähnliche Motive finden sich in Ernst Blochs ebenfalls größtenteils in den dreißiger Jahren verfasstem Buch Erbschaft dieser Zeit (Frankfurt am Main 1962). Dennoch hat die Aufmerksamkeit für die Anziehungskraft faschistischer Bewegungen bei manchen Lesern den Eindruck geweckt, Bataille sei selbst ein faschistoider Gewaltapologet. Vgl. z.B. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, S. 257f. 7 Zu diesen Programmen vgl. am deutschen Fall Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994. 8 Zu diesem Gesprächszusammenhang aus intellektuellensoziologischer Sicht: Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937–1939), Konstanz 2006. 9 Holliers Buch wird in diesem Abschnitt nur mit Seitenzahlen im Text zitiert. 97 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 sen können, die letztlich auf eine ästhetische Perspektive beschränkt bleibt (und, so die selbstkritische Befürchtung, durch die Arbeit an der ästhetischen Produktion befördert wird). In seinem Aufsatz »Die psychologische Struktur des Faschismus« hatte Bataille vermutet, dass der faschistische »Führer« seine Attraktivität auch dadurch gewinne, dass er als eine der homogenisierten Arbeitsgesellschaft gegenüber »heterogene Existenz« auftrete, die ein utopisches Potenzial vortäusche.6 Vor diesem Hintergrund fragt Bataille nach der Möglichkeit einer »heterogenen« Ordnung, auch in einem praktischen Sinne: Wie sähe ein Ritual aus, das nicht doch wieder die Unterordnung unter eine höhere Autorität vollzieht? Diese Fragerichtung – die von den typischen zeitgenössischen Disziplinierungsprogrammen7 abweicht und Bataille zum (wenn auch randständigen) Klassiker gemacht hat – motivierte auch die Gründung des Collège de Sociologie, eines von 1937 bis 1939 bestehenden Gesprächskreises, an dem sich auch Roger Caillois, Michel Leiris sowie diverse Gastredner beteiligten, fast alle Grenzgänger zwischen Literaturszene und Religionsethnologie.8 Die Ergebnisse dieser durchaus unwahrscheinlichen Diskussionsrunde finden sich in dem von Denis Hollier herausgegebenen Sammelband,9 der die am Collège gehaltenen Vorträge (bzw. entsprechende Mittelweg 36 5/2014 Aufsatzveröffentlichungen), Briefe und zeitgenössische Berichte enthält. Die deutschen Herausgeber, die auch ein ausführliches Nachwort beisteuern, haben die Sammlung mit eingehenden Erläuterungen des Kontexts auf sehr hilfreiche Weise ergänzt. Das theoretische Instrumentarium, das bei der Beantwortung dieser Frage helfen soll, entnehmen die Beteiligten zu weiten Teilen der Durkheim’schen Religionstheorie. Es geht ihnen darum, sakralisierte Muster in der Gegenwartsgesellschaft zu finden (durchaus zeittypisch: mit einer nostalgischen Evokation imaginierter archaischer Feste, wie sie etwa in der zeitgenössischen französischen Musik immer wieder auftritt). Die Problemstellung des Collège führt hier zu einer eigenwilligen Aneignung: Gesucht wird auch nach oppositionellen Sakralisierungen – Durkheims Religionstheorie soll helfen, die Anziehungskraft faschistischer Bewegungen zu erklären, aber auch die Potenziale zu erfassen, die sich ihr entgegensetzen. Entsprechend rückt mit der Ambiguität des Sakralen ein Motiv ins Zentrum der Aufmerksamkeit, das Durkheim nur knapp mit der These einführt, auch negative Erfahrungen eines ›unreinen Sakralen‹ könnten geteilte positive Affekte auslösen. Zugleich versucht das Collège, um auch latente Sakralisierungen erfassen zu können, bereits, Durkheims religionssoziologisches Programm mit phänomenologischen Mitteln zu verwirklichen (134).10 Das geschieht allerdings noch mit einer gewissen Naivität – Bataille etwa, erklärtermaßen nicht militärbegeistert, will per Reflexion auf das eigene Vorverständnis erfassen, woher die zeitgenössische Faszination fürs Militärische rührt. Umgesetzt wird dieser Plan freilich nur zum Teil. Der interessanteste Beitrag, der einen religionssoziologischen Blick auf faschistische Bewegungen wirft, stammt von Hans Mayer, der sich weniger an Durkheim als an Max Webers Modell einer Kirche/Sekte-Dynamik orientiert und mit diesen Mitteln eine Art Untergrundgeschichte des deutschen Nationalismus erzählt – als Prozess einander überbietender Bewegungsabspaltungen, aus denen sich schließlich faschistische Handlungsprogramme ergäben (523ff.). Ansonsten führt gerade die Suche nach den Bedingungen einer in sich heterogenen Ordnung nicht weit. Caillois – das ist ein Grund für das rasche Auseinanderbrechen des Collège – sucht von vornherein nur nach hierarchischen Mustern. So versteht er auch die Ambiguität des Sakralen, weshalb er in L’homme et le sacré,11 einer der prominenten Veröffentlichungen des Collège, nicht nur Durkheims Religionstheorie, der es um die Rolle einer horizontalen Gemeinsamkeitswahrnehmung ging, insgesamt hierarchiefreudig umdeutet, sondern auch die Äquivalenz der Typen des Sakralen von ihrem Hierarchisierungseffekt ableitet: »Der Pakt mit der Hölle ist keine geringere Weihe als die göttliche Gnade«, die Betroffenen seien jeweils »dem gemeinen Los jedenfalls für 10 Hier ist, wie Hollier betont, erklärtermaßen auch Husserls Phänomenologie gemeint, nicht nur die – über Kojève eigenwillig rezipierte – Hegel’sche Phänomenologie (vgl. schon Bataille, »Die psychologische Struktur des Faschismus«, S. 9). 11 Roger Caillois, Der Mensch und das Heilige. Durch drei Anhänge über den Sexus, das Spiel und den Krieg in ihren Beziehungen zum Heiligen erweiterte Ausgabe, übers. von Brigitte Weidmann, München 1988. (Französische Originalausgabe: L’homme et le sacré, Paris 1939.) 98 Literaturbeilage © picture alliance/akg-images/Marion Kalter immer entrückt« (350). Darauf konzentrieren sich auch seine Zeitdiagnosen: In seiner »Soziologie des Henkers« (469ff.), in der er Zeitungsberichte zum Tod des französischen Henkers Anatole Deibler 1939 auswertet, verfolgt er das Fortwirken einer hierarchischen Tradition in der kollektiven Fantasie. Indem er an den katholischen Reaktionär Joseph de Maistre anknüpft, betont er die latente Äquivalenz der Positionen von Staatsoberhaupt und Henker: »Die geheime Nähe zwischen der würdigsten und der verrufensten Persönlichkeit des Staates zeigt sich nicht zuletzt in den Phantasien, die beide auf gleiche Weise behandeln« (478). Bataille wiederum kommt, was die Idee einer in sich heterogenen Ordnung angeht, kaum über einen knappen Verweis auf den Karneval hinaus. Zwar begreift er die Ambiguität des Sakralen anders als Caillois: Das, was als schmutzig verstanden wird, hat laut Bataille eine Anziehungskraft, die der des ›positiven‹ Heiligen ähnele und sich also nicht einfach der Profanierung –, einem rein negativen Verhalten – verdanke, sondern auch dem Bruch mit dem Alltäglichen. Seine Texte zeigen jedoch, wie schwer es ist, das näher zu fassen: Als Modelle für die zeitgenössische Wirkung des Sakralen dienen ihm zunächst das Dorf, das sich um eine Kirche anordnet (139) – Bataille berichtet irritiert, wie stark ihn, den Nichtgläubigen, diese Riten beeindrucken –, und die Krönungsmesse (141), wobei er als Beispiel die Krönung des englischen Königs George VI. im Februar 1938 anführt. Insofern könnten die Beiträge den Eindruck stützen, dass Durkheims Konzepte eben doch nur vergangene und/oder hochproblematische Ordnungsformen erfassen können. Allerdings ergibt sich diese Verengung hier auch durch die historische Konstellation, die das Motiv liefert, nach dem zeitgenössischen Sakralen zu suchen: Alles steht unter der Leitfrage, was faschistischen Bewegungen entgegengesetzt werden kann. In einer der letzten Sitzungen nimmt Bataille das Schlussmotiv von Das Blau des Himmels auf, das Problem der »Freude angesichts des Todes« (623ff.): In derartigen Situationen zeige sich, dass »einzig die Armee und die Religion die konsequen99 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 Sah in der Hierarchisierung die vielleicht wichtigste Pointe der Sakralität: Roger Caillois (1913–1978), hier zur Rechten von Jorge Luis Borges im Jahr 1978. Mittelweg 36 5/2014 testen Hoffnungen des Menschen erfüllen können«; hier werde »eine Haltung, die weder militärisch noch religiös ist, prinzipiell unerträglich« (634f). – Befördert werden diese Verengungen zudem durch den parawissenschaftlichen Rahmen der Debatte. Gerade Caillois bemüht sich gegen die Fragerichtung der Durkheim-Schule, sie rasch auf unterstellte anthropologische Konstanten zurückzuführen: Gesucht werden sollen »die Punkte […], an denen die beharrlich wirkenden Grundtendenzen der individuellen Psychologie mit den leitenden Strukturen zusammenfallen, die die soziale Organisation lenken« (267). Seine mit Verve vorgetragenen anthropologischen Verallgemeinerungen können ihre Nähe zu feuilletonistischen Floskeln oft nicht verbergen. Eine Ausnahme, und einer der faszinierendsten Texte des Bandes, ist Leiris’ Aufsatz »Das Sakrale im Alltag«. Den Zugang zu diesem Sakralen sucht er über die Frage: »Worin besteht mein Sakrales? Welche Gegenstände wecken in mir jene Mischung aus Furcht und Hingabe […], jene Mischung aus Respekt, Begierde und Schrecken, die als das psychische Anzeichen des Sakralen gelten kann?« (98) Er betrachtet also nun – nach einem ethnografischen Afrikaaufenthalt 12 – die eigene Vergangenheit wie ein fremdes Land und wirft auf die Praktiken seiner Jugend einen ethnologischen Blick.13 Bataille erkennt bereits die Nähe dieses ethnografischen Verfahrens zum phänomenologischen Programm (143). Die deutschen Herausgeber betonen hier den Kontrast zu Durkheim, da Leiris »bei sich […] statt bei den ›sozialen Tatsachen‹« beginne (816). Die Pointe des Textes könnte aber darin liegen, dass er diese Unterscheidung konsequent aushebelt: Durkheims Konzept sozialer Tatsachen verweist ja auf »gefestigte Arten des Handelns«,14 deren Stetigkeit daher rührt, dass sie für die Beteiligten den Status des normativ Gültigen erlangen, und zwar vermittelt über eine conscience commune, also: durch sozial erzeugte geteilte Vorverständnisse – die sich dann auch bei den einzelnen Beteiligten finden lassen müssten.15 Zudem schließt der Begriff Gesellschaft bei Durkheim auch Ordnungen ein, die ganz lokalen Charakter haben können.16 12 Vgl. dazu Michel Leiris, Phantom Afrika. Tagebuch einer Expedition von Dakar nach Djibouti 1931–1933, übers. von Rolf Wintermeyer, 2 Bde., Frankfurt am Main 1980–1984. (Französische Originalausgabe: L’Afrique fantôme, Paris 1934.) 13 Leiris knüpft hier an seinen 1935 fertiggestellten, aber erst 1939 publizierten autobiografischen Essay L’age d’homme an (deutsche Ausgabe: Das Mannesalter, übers. von Kurt Leonhard, Frankfurt am Main 1975). 14 Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, übers. und hg. von René König, Frankfurt am Main 1984, S. 113. 15 Zu Durkheims Konzept eines Sozialen im Individuum vgl. auch Bruno Karsenti, La société en personnes. Études durkheimiennes, Paris 2006; zu seiner entsprechenden Aneignung der neuen – wesentlich von seinem früheren Kommilitonen Pierre Janet vorangetriebenen – Psychologie des Unbewussten vgl. ders., »La spécificité psychologique de la sociologie«, in: Massimo Borlandi/Laurent Mucchielli (Hg.), La sociologie et sa méthode. Les Règles de Durkheim un siècle après, Paris 1995, S. 297–320. 16 Durkheim spricht auch von société familiale und société conjugale, also: familialer bzw. ehelicher Gesellschaft mit gerade zwei Beteiligten (Le suicide, S. 197). Insgesamt hemmt eine anachronistische Lesart, die den heute üblichen Begriff von Gesellschaft – etwa: das umfassendste soziale Gebilde überhaupt – auf Durkheims Texte projiziert, das Verständnis seines Werks erheblich. 100 Literaturbeilage © picture alliance/akg-images/Marion Kalter Wagte den ethnologischen Blick auf das eigene Sakrale: Michel Leiris (1901–1990) im Jahr 1979. Leiris’ sakrale Objekte – die Symbole väterlicher Autorität, insbesondere der Revolver; das elterliche Schlafzimmer; das WC als Ort des Rückzugs mit dem Bruder; Jockeys und ihre Pferde (99ff.) – erweisen sich ebenfalls als Produkte solcher ›kleinen Gesellschaften‹. Insofern scheint Leiris’ Autoethnografie hier gerade als ein Vorgehen interessant, das Durkheims Programm konsequent weiterdenkt, weil es eine alternative Strategie verfolgt, um die Sinngehalte einer conscience commune zu identifizieren. II. Mauss: Die Riten des abweichenden Individuums 17 Maurice Merleau-Ponty, »Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss« (zuerst 1959), in: ders., Zeichen, auf der Grundlage der Übersetzungen von Barbara Schmitz, Hans Werner Arndt und Bernhard Waldenfels, hg. von Christian Bermes, Hamburg 2006, S. 163–179. Nicht mehr plausibel ist allerdings seine einflussreiche These, Lévi-Strauss sei der eigentliche Vollender der Durkheim’schen Tradition. Dagegen hat besonders klar Vincent Descombes argumentiert: LéviStrauss kann – weil er die Affekte ausblendet und das Sakrale abwertet – Mauss’ Argument nicht kohärent rekonstruieren und kein solides eigenes Argument darauf gründen (Descombes, »L’équivoque du symbolisme«, in: Modern Language Notes 94 (1979), 4, S. 655–675), und auch seine eigenen Analysen leiden unter der hier getroffenen Theorieentscheidung (ders., La denrée mentale, Paris 1995, S. 143ff.). 18 Mauss, »Die Gabe« (zuerst 1924), in: ders., Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person, Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, übers. von Eva Moldenhauer, München 1975, S. 9–144. 101 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 Marcel Mauss rückt Individualitätsphänomene ins Zentrum der Theorieentwicklung, darauf hat schon Merleau-Ponty hingewiesen.17 Dieser Perspektivwechsel zeigt sich auch darin, wie sich die Analyse integrierender Rituale in Mauss’ »Die Gabe« von Durkheims Religionsbuch unterscheidet: 18 Als Modell dient nun ein Fest, das auch die Heterogenität der Beteiligten hervorhebt, da es auf Konkurrenz- und Schenkbeziehungen aufbaut. Bei alledem Mittelweg 36 5/2014 geht es Mauss aber nicht um eine Aufweichung der Durkheim’schen Argumentation, sondern darum, das Soziale selbst im isolierten und/oder abweichenden individuellen Handeln zu erfassen, denn für Mauss, so MerleauPonty, findet sich die »soziale Tatsache […] eingesenkt in die tiefsten Tiefen des Individuellen«.19 Mauss’ Weg zu dieser Erkenntnis lässt sich im zweiten hier zu besprechenden Buch verfolgen, das seine frühen religionssoziologischen Schriften versammelt (mit informativen Einführungen der Herausgeber und einem ausführlichen Nachwort von Stephan Moebius, wieder in einer brauchbaren Übersetzung20) und dadurch eine Gelegenheit bietet, ihn nicht immer nur vom Gabentext her zu lesen.21 Mit Ausnahme von Mauss’ Studie über Gebetspraktiken sind die wichtigsten Beiträge des Bandes in Zusammenarbeit mit Henri Hubert entstanden.22 Die Aufmerksamkeit für das individuelle Handeln zeigt sich zunächst in dem mit Hubert verfassten »Essay über die Natur und die Funktion des Opfers« (1899). Auch wenn sich das, was hier als allgemeines Modell der Opferpraxis vorgestellt wird, als Beschreibung nur eines von mehreren Typen erwiesen hat, bleibt die allgemeine Perspektive wegweisend: ›Sakral‹/›profan‹ scheint zwar zunächst als binäre Unterscheidung zu funktionieren, Hubert und Mauss zeigen aber anhand des vedischen Tieropfers, welche Arbeit die einzelnen Beteiligten leisten müssen, bis der Eindruck einer klar gezogenen Grenze entsteht. Nur durch diesen aufwendigen Prozess, in dem sakrale Objekte sozial hergestellt werden, etwa mit »Operationen […], in deren Verlauf das Opfertier nach und nach vergöttlicht wird« (135), und asketischen Praktiken, mit denen der Opfernde »die Mängel der Weltlichkeit aus seinem Körper tilg[t]« (122), wird die binäre Unterscheidung anwendbar. Noch die Vernichtung des Opfers erklärt sich dann aus der Schwierigkeit, die Abgrenzung vom Profanen zu vollenden: Erst der Tod des Opfertiers kann »die Heiligung endgültig und unwiderruflich machen« (139f.). Dass klare ›kognitive‹ Kategorien sozial voraussetzungsvoll sind und nicht durch je individuelle ›geistige‹ Leistungen entstehen, bleibt ein zentrales Thema der Durkheim-Schule.23 Der (wiederum mit Hubert verfasste) »Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie« (1904) – der die Entwicklung von Mauss’ Werk entscheidend beeinflusste – verhandelt dann auch die abweichende Individualität. Hubert und Mauss konzentrieren sich auf illegitime, also heimlich und isoliert be19 Merleau-Ponty, »Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss«, S. 165. 20 Auch wenn hier, wie so oft, manchmal erst die Übersetzung jenen Jargon produziert, der gerne dem Fach und/oder der französischen Tradition zugeschrieben wird. So könnte man für antériorité statt »Anteriorität« (103) auch einfach »Vorgängigkeit« schreiben. 21 Mauss’ religionssoziologische Schriften werden in diesem Abschnitt nur mit Seitenzahlen zitiert. 22 Zu dieser erstaunlichen Zusammenarbeit vgl. Jean-François Bert, Marcel Mauss, Henri Hubert et la sociologie des religions. Penser à deux, Paris 2012. 23 Zuerst in: Durkheim/Mauss, »Über einige primitive Formen der Klassifikation« (zuerst 1903), in: Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, übers. von Michael Bischoff, hg. von Hans Joas, Frankfurt am Main 1993, S. 169–256; wobei Klassifikationsordnungen hier noch schlicht als Abbilder jeweils vorgängiger sozialer Strukturen behandelt werden. Mauss’ Aufmerksamkeit für die Rolle situativer Handlungsmuster übernimmt Durkheim erst später. 102 Literaturbeilage 24 Zu Mauss und Simmel vgl. Christian Papilloud, Le don de relation. Georg Simmel – Marcel Mauss, Paris 2002. 103 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 triebene magische Handlungen, indem sie die Fragestellung von Durkheims Selbstmordbuch, an dem Mauss eng mitgearbeitet hat, weiterdenken: Inwiefern lässt sich ein solches Handeln, das gegen geltende soziale Normen und je vereinzelt geschieht, dennoch soziologisch erklären? Die Antwort verweist zunächst auf ein kulturelles Muster, das diese magischen Handlungen – auch das Vertrauen des Publikums zum Magier – erst ermöglicht, dabei aber nicht den Charakter einer Norm hat: Alle Beteiligten scheinen spezifische Vorstellungen zu teilen, die Hubert und Mauss mit dem melanesischen Begriff ›mana‹ benennen, der später im Gabentext eine zentrale Rolle spielt: Gemeint ist die Vorstellung von Kräften, die alle alltäglich für wirksam gehaltenen Grenzen durchdringen, von Objekten, die durch diese Kräfte aufgeladen werden, und vom Magier als einer Person, die zu diesen Kräften Zugang hat (356ff.). Dieses Deutungsmuster erleichtert es, Zufallsereignisse als Anzeichen für Gesetzmäßigkeiten zu deuten (338) und darum auf den Erfolg magischer Handlungen zu vertrauen. (Interessant ist diese Analyse zunächst, weil solche Deutungsmuster auch heute wirksam bleiben; nicht nur in der blühenden Esoterikbranche, sondern auch im Gesundheitswesen – wo eine von wohlhabenden Alten dominierte Sozialstruktur neue Marktnischen für Anbieter magischer Techniken öffnet – und, ebenfalls mit starken Verteilungseffekten, im Finanzwesen. Ein Anlageberater kann in seinen Kunden enorme Hoffnungen wecken, weil er einen direkten Zugang zu den Strömen des Finanzmarkts zu haben scheint.) Insofern wirkt hier, selbst wenn die normative Integration an Kraft verliert, eine ›kognitive‹ Integration weiter. Rückblickend nehmen Hubert und Mauss die Untersuchung magischer Praktiken zum Anlass, ein Konzept aufzugeben, das soziale Ordnung nur aus geteilten Normen erklärt (443f.) – und stattdessen der Frage, wie den Beteiligten die Welt zu funktionieren scheint, mehr Gewicht zu geben. In einem nächsten Schritt verallgemeinern Hubert und Mauss Durkheims Konzept integrierender Riten, das ursprünglich nur erklären sollte, wie sich Normüberzeugungen erhalten. Denn auch solche ›kognitiven‹ Vorverständnisse verdanken ihre Evidenz sozialen Situationen – sei es, dass die Abnehmer magischer Dienste sich wechselseitig ihres Glaubens versichern, sei es, dass Magier und Kunden interagieren: »Immer sind es mindestens zwei Individuen, die das [magische] Urteil fällen: Der Magier, der den Ritus aufführt, und der Teilnehmer, der daran glaubt […]. Dieses irreduzible theoretische Paar ist durchaus schon eine Gesellschaft.« (375) Hier denkt Mauss wie Georg Simmel – mit der Dyade beginnt die Gesellschaft.24 Darum verortet er spezifisch soziale Effekte tiefer, als es ein streng ›kollektivistisches‹ Konzept des Sozialen könnte: Der Kunde signalisiert dem Magier, dass er ihn für kompetent hält – der »Magier erfährt […] von außen ständig Ermutigung« (391) und ist »ernst, weil er ernstgenommen wird« (342) – weshalb der Magier (wie der Finanzberater) noch in der Situation, in der er seinen Kunden betrügt, jedenfalls an die Möglichkeit magischen Handelns glaubt. Mittelweg 36 5/2014 Damit bieten Hubert und Mauss eine Alternative zu Max Webers (im gleichen Jahr veröffentlichtem) Konzept einer Legitimität, die auf unterstellten außergewöhnlichen Eigenschaften – auf ›Charisma‹ – gründet: Weber sieht Charisma zwar ebenfalls als Zurechnungskategorie, richtet aber, seiner individualistischen Prämissen wegen, seine Aufmerksamkeit nicht auf die Wechselwirkungen von Zurechnung, Selbstverständnis und Selbstdarstellung, durch die solche Überzeugungen erst erklärbar werden. – Zugleich entwickeln Hubert und Mauss ein allgemeines Argument, das die vermeintliche ›Selbst‹-Täuschung als soziales, mindestens dyadisches Geschehen begreift und so die problematische Vorstellung umgeht, ein Individuum könne buchstäblich sich selbst betrügen. Auch hier lässt sich ein scheinbar interner mentaler Prozess besser erklären, sobald er als sozialer Kommunikationsprozess erkannt ist. Dabei belegen Hubert und Mauss, dass es einseitig wäre, hier nur von der Täuschung eines Individuums zu sprechen. Der Täuschungszirkel, auf den es hier ankommt, wird von der sozialen Konstellation als Ganzer in Gang gesetzt und wirkt auf die gesamte Konstellation zurück: »Letztlich ist es immer die Gesellschaft, die sich selbst mit dem Falschgeld ihres Traums bezahlt.« (376) Dass Mauss’ Aufmerksamkeit für handelnde Individuen nicht mit einer individualistischen Perspektive einhergeht, macht seine 1904 verfasste Rezension von William James’ Buch The Varieties of Religious Experience (1902) besonders deutlich. James verbindet dort sein Interesse an der Erfahrungsdimension von Religion mit einem Plädoyer für einen Zugang, der das individuelle Gebet als ›Kern der Religion‹ 25 sieht und Kirchen, wie andere Sozialformen, als der eigentlichen religiösen Aktivität bloß äußerlich begreift; was Mauss dazu veranlasst, James’ Buch mit einigermaßen groben Argumenten rundheraus abzulehnen.26 Während Durkheim später James’ Religionsbuch für seine Arbeit fruchtbar macht, scheint Mauss hier das dirty work der Schulenabgrenzung zu übernehmen. Eine alternative Beschreibung desjenigen praktischen Vollzugs von Religion, den individualistische Religionstheorien ins Zentrum rücken, setzte sich Mauss in seiner nie fertiggestellten Dissertation Das Gebet zum Ziel, deren Torso von 1909 hier abgedruckt ist. Mauss begreift das Gebet als individuelles Ritual, das nach sozialen Regeln mit sozial bereitgestellten Materialien vollzogen wird, und betont bereits die Materialität der Texte, die dem individuellen Sprechen der Betenden vorausgehen und es anleiten (489). Dabei unterscheidet sich Mauss’ Ansatz grundlegend von jenem (auch heute noch gängigen) Typ protestantischer Religionssoziologie, der in alledem nur problematische Überformungen einer vorgängigen Innerlichkeit sieht, »etwas Äußerliches und Künstliches«, das bestenfalls nachträglich »durch die persönlichen Gefühle Sinn erhält, die darin zum Ausdruck kommen« (486). Mauss’ doppelte Aufmerksamkeit für die individuelle Abweichung einerseits, die soziale Formung des Individuellen andererseits prägt auch den letz25 William James, The Varieties of Religious Experience, Harmondsworth 1982, S. 47. 26 Zu den Verkürzungen in Mauss’ Kritik vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1997, S. 101ff. 104 Literaturbeilage Fand im abweichenden individuellen Handeln des Magiers und seines Kunden das darin immer schon eingeschlossene Soziale: Marcel Mauss (1872–1950), in einer der wenigen überlieferten Fotografien. 27 Vgl. die mit Henri Beuchat verfasste Studie über Eskimogesellschaften, deren Beschreibung religiöser Feste ansonsten einen Kerngedanken von Durkheims Religionstheorie vorbereitet: Nachdem die Verfasser zunächst schreiben, man könne sich »das ganze Leben im Winter als eine Art großes Fest vorstellen«, folgt gleich der Hinweis, dabei seien »die religiösen Verstöße Gegenstand einer außergewöhnlich strengen Überwachung«, jeder solche Verstoß erfordere eine öffentliche Beichte (Mauss, »Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften« [zuerst 1905], in: ders., Theorie der Magie, Soziale Morphologie, Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, übers. von Henning Ritter, München 1974, S. 183–278, hier S. 243f.). 28 Einflussreich: Arlie Russell Hochschild, Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, übers. von Ernst von Kardorff, Frankfurt am Main 2006. (Englische Originalausgabe: The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling, Berkeley 1983.) 105 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 ten hier abgedruckten Aufsatz »Der obligatorische Ausdruck von Gefühlen« (1921). Während Durkheims Religionstheorie beschreibt, wie Ritualteilnehmer von kollektiven Affekten ergriffen werden, konzentriert sich Mauss auf das individuelleNichtergriffenwerden von scheinbar allgemein geteilten religiösen Gefühlen. Er ergänzt Durkheims Ansatz durch ein Konzept von Emotionsnormen, das hervorhebt, wie sehr das scheinbar einer individuellen Spontaneität Gehorchende auf sozialen Druck zurückgehen kann. (Mauss betont die Präsenz kollektiver Kontrolle sogar dort, wo er den religiösen Ausnahmezustand beschreibt.27 Insgesamt entsteht aus Mauss’ Texten das Bild eines Autors, der das Moment des angestrengten Arbeitens und der ständigen Kontrolle in den Mittelpunkt rückt.) Dabei behält Mauss aber – anders als in der heutigen Diskussion über Emotionsnormen 28 üblich – dieVerbindung zu einer Analyse starker kollektiver Affekte bei. Er beschränkt sich weder auf ein Modell kalkulierenden Darstellungshandelns noch begreift er die soziale Formung der Affekte allein als Entfremdung von unterstellten primären Gefühlen. Diese Texte sind bis heute auch deshalb interessant, weil sich an ihnen verfolgen lässt, wie sich – gerade entlang der Frage, wie mit Individualitätsphänomenen umzugehen ist – durch eine ›wilde‹ Nutzung zeitgenössisch verfügbarer philosophischer und linguistischer Konzepte wesentliche Teile des heute üblichen kulturwissenschaftlichen Instrumentariums herausbilden. Ausgangspunkt ist die Magiestudie: Das Material widerspricht hier der Erwartung, kulturelle Muster müssten, um Handlungen anleiten zu können, kohärent und den Handelnden bewusst sein; stattdessen bilden die beobachtbaren Muster jeweils ein eher »inkohärentes Ganzes« (331). Das erklärt Mauss durch den spezifischen Kontext illegitimer (heimlicher, isolierter) Handlungen, in dem diese magischen Überzeugungen stehen: »Was die Vorstellungen angeht, so sind sie nicht außerhalb der Riten lebendig. Meistens haben sie für den Magier keinerlei theoretisches Interesse, und nur selten formuliert er sie ausdrücklich. Die Magier haben ein bloß praktisches Interesse, und sie drücken sich in der Magie nur in ihren Handlungen aus. Es sind Philosophen und nicht Magier gewesen, die die Magie zuerst systematisiert haben.« (332)29 Darum richtet Mauss seine Aufmerksamkeit stärker auf die Rolle nicht reflektierten Handelns und unthematischer Deutungsmuster, also auf das, was sich in den Äußerungen der Beteiligten implizit zeigt – die entsprechenden Muster seien »ständig in der Sprache vorhanden, ohne dass sie notwendigerweise explizit sind« – und auf die Rolle von »leitenden Gewohnheiten des Bewusstseins, die selbst unbewusst sind« (448). In der Gebetsstudie unterstreicht er dabei – eine theologische Sicht ablehnend, die im religiösen Handeln immer schon ein »mehr oder weniger geordnetes System« vermutet (482) –, dass auch legitimen Handlungsmustern kein hohes Maß an Kohärenz unterstellt werden sollte. Das Problem für Hubert und Mauss lautet: Wie sind Beschaffenheit und Stabilität solcher Muster dann zu fassen? Der erste Lösungsansatz vollzieht eine empirische Wendung des zeitgenössischen französischen Neukantianismus, indem er diejenigen Muster, denen dort der Status eines Apriori zugewiesen wird, ihrerseits als kulturell variabel betrachtet, mit dem Konzept eines historischen Apriori (das später auch in Foucaults Diskursbegriff eingeht). ›Mana‹ erscheint nun als »unbewusste Kategorie des Verstandes« (368), die kognitiv auch jeder individuellen Abweichung zugrunde liegt: Mittelweg 36 5/2014 »Tatsächlich ist dieser Begriff […] a priori, vor jeder Erfahrung gegeben. […] Er hat die Funktion einer Kategorie und ermöglicht die magischen Ideen […]. Wir haben gesehen, wie selten dieser Begriff […] im Bewußtsein seinen Ausdruck fand. Dies hat seinen Grund darin, daß er der Magie inhärent ist wie die Postulate Euklids unserer Auffassung vom Raum. Es versteht sich jedoch, daß diese Kategorie nicht im individuellen Verstand gegeben ist […]; Beweis dafür ist, daß […] sie in ihrem Inhalt nach in den verschiedenen Gesellschaften und in den verschiedenen Phasen des Lebens einer einzigen Gesellschaft variiert. Im Bewußtsein der Individuen existiert diese Kategorie nur aufgrund der Existenz der Gesellschaft, so wie die Ideen der Gerechtigkeit und des Wertes […].« (367f.) 29 Durkheim zeigt dann im Religionsbuch: ›Intellektuelle‹ Kohärenz entsteht erst durch raumzeitlich ausgedehnte soziale Koordination, die zur Systematisierung handlungsleitender Muster nötigt – ein Gedanke, der für die neuere französische Soziologie zentral bleibt. 106 Literaturbeilage 30 Roger M. Keesing, »Conventional Metaphors and Anthropological Metaphysics: The Problematic of Cultural Translation«, in: Journal of Anthropological Research 41 (1985), 2, S. 201–217, hier S. 202. 107 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 Nun bleibt die Frage: Wie gut passt der Verweis auf solche notwendigen apriorischen Prämissen zu dem Projekt, auch das Konfuse zu begreifen? Hält die Regel »Wenn die Beteiligten so handeln, müssen sie die Überzeugungen, die zur Rechtfertigung dieses Handelns nötig wären, wenigstens latent haben« nicht am Rationalismus fest, da sie die unterstellten elaborierten Überzeugungen nun im Nichtbewussten verortet? In diesem Sinne wird die These vom ›mana‹-Apriori in der ethnologischen Debatte kritisiert: Hubert, Mauss und ihre Referenzautoren würden hier das einheitliche Muster, das sie vorzufinden glaubten, konstruieren und damit faktisch als ›Kulturtheologen‹ agieren; das Ergebnis sei »a spuriously coherent cosmology«.30 Tatsächlich zweifeln Hubert und Mauss selbst, ob die ›mana‹-Vorstellung in dieser Beschreibung nicht »noch zu sehr etwas Verstandesmäßiges« darstellt (372). Ein anderer Vorschlag, den Hubert und Mauss unmittelbar danebenstellen (und der auch in der heutigen pragmatischen Soziologie in Frankreich weiterwirkt), lautet, handlungsleitende ›unbewusste Ideen‹ nach dem Modell grammatikalischer Regeln zu begreifen. Sie wären somit nicht mehr implizite Annahmen, die mit einer Handlung notwendig verbunden sind, sondern praktische Regeln, die mehr oder weniger konsequent befolgt werden können. Über die ›mana‹-Vorstellung heißt es: »Das Bedürfnis eines Volkes« – richtiger übersetzt wäre: Die für ein Volk bestehende Notwendigkeit (Mauss spricht hier über Funktionsanforderungen einer Kommunikationsgemeinschaft, nicht über verspürte Bedürfnisse) –, »eine derartige Idee ausdrücklich zu formulieren, ist nicht größer als das, die Regeln seiner Grammatik auszusprechen. In der Magie wie in der Religion wie in der Linguistik sind es die unbewußten Ideen, die wirksam sind.« (365, ähnlich 487) – Die Gebetsstudie formuliert dann schließlich, als weiteren Lösungsvorschlag, erstmals das heute prominente Konzept sozialer Praktiken, das hervorhebt, wie ein Ineinander von Deutungsmuster und physischem Verhalten dem Deutungsmuster einen anderen Realitätsstatus verleiht – es »hat der Mythos kaum Realität, wenn er nicht an einen bestimmten Gebrauch des Kults anknüpft […]. Ein religiöser Begriff, der losgelöst ist von den Praktiken, innerhalb deren er eine Rolle spielt, ist etwas Vages und Verschwommenes […].« (470) Diese Beobachtung hilft, sich von der Vorstellung, Handlungsmuster könnten ihre Stabilität nur einer (sei es unbewussten) Sinnkohärenz verdanken, tatsächlich zu lösen. Weil Mauss seinen soziologischen Zugang zum individuellen Handeln ausgehend vom Fall des Magieglaubens entwickelt, kehrt er allerdings zugleich zu einem stärker rationalistischen Ansatz zurück; auch das lässt sich in diesem Buch verfolgen. Seine religionssoziologische Aufmerksamkeit für die Rolle ›kognitiver‹ Muster dient vor allem der Entwicklung einer ideologiekritischen Perspektive. Was am Handeln nicht den Erwartungen eines rationalistischen Individualismus entspricht, nimmt er vor allem als Ursachen einer Nichtrevision irrationaler Erwartungen in den Blick. Entsprechend schränkt Mittelweg 36 5/2014 er später den Geltungsbereich dieser soziologischen Perspektive ein, die sich auch auf die Affekte und den Körper (also, in Mauss’ Worten, auf den homme total) richtet. »[J]e mehr wir auf die weniger entwickelten Formen des sozialen Lebens zurückgehen […], um so mehr haben wir es mit instinkthaften Menschen zu tun […]: mit totalen Menschen. Ebenso treffen wir diese ›totalen‹ Menschen in den umfänglichsten Schichten unserer Bevölkerung an und vor allem in den rückständigsten«, nicht hingegen bei den Eliten.31 Abweichungen vom Rationalitätsideal sind für Mauss empirisch möglich, er versteht sie aber als Folgen einer nicht hinreichend fortgeschrittenen ›Entwicklung‹. Damit führt er auch den Evolutionismus wieder ein, den Durkheim aufgegeben hat. So bereitet Mauss jene selektive, konflikttheoretisch geöffnete und aufs Ideologiekritische verengte Aneignung der Theorie Durkheims vor, die heute durch Bourdieus Werk prominent geworden ist. Für Letzteren bildet Mauss den wichtigsten Anknüpfungspunkt in der Durkheim-Schule: Insbesondere der »Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie« (französisch: »Esquisse d’une théorie générale de la magie«) – dem Bourdieu mit dem Titel seines ersten Theoriebuchs Esquisse d’une théorie de la pratique 32 die Ehre erweist – ist für ihn ein Schlüsseltext. Nicht nur von seiner Aufwertung des nicht reflektierten Handelns und seiner allgemeinen Strategie, den Vergleich mit ›nicht modernen‹ Gesellschaften zur Erfassung problematischer Elemente der eigenen Sozialordnung zu nutzen, hat Bourdieu profitiert. Mauss’ Beschreibung der Magie hat Bourdieu auch ein Modell für die Analyse moderner Ideologiephänomene geliefert;33 noch sein Feld-Konzept baut auf Mauss’ Beschreibung der sozialen Stabilisierung ›magischer‹ Überzeugungen auf:34 Das Feld ist ein Täuschungszirkel, der seine Stabilität dem Umstand verdankt, dass die wechselseitige Bestätigung dieser Überzeugungen nicht innerhalb einer überschaubaren Interaktionssituation geschieht, sondern über eine komplexere Struktur der Arbeitsteilung vermittelt ist, die für die notwendige Intransparenz sorgt. Hier ist Durkheim der radikalere Theoretiker; gerade die Mauss-Lektüre macht dies erneut sichtbar. Das gilt erstens für die Frage, wie soziale Prozesse ›kognitive‹ Überzeugungen formen. Hubert und Mauss hätten ihr Argument auch anders fortschreiben können; schließlich begreifen sie Magie als »System 31 Mauss, »Wirkliche und praktische Beziehungen zwischen Soziologie und Psychologie« (zuerst 1924), in: ders., Gabentausch, Soziologie und Psychologie, S. 145–173, hier S. 168f. 32 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übers. von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 1976. (Französische Originalausgabe: Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de trois études d’ethnologie kabyle, Genf 1972.) 33 Im Rahmen einer kritischen Theorie der Gegenwartsgesellschaft wird die Magiestudie übrigens schon von Horkheimer und Adorno genutzt: Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, »Dialektik der Aufklärung« (zuerst 1944), in: Max Horkheimer, »Dialektik der Aufklärung« und Schriften 1940 –1950, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 37f. Hier wird Durkheims Perspektive auch schon herrschaftstheoretisch umgedeutet (ebd., S. 44). 34 Ein früher Text, der diese Anknüpfung noch offenlegt: Bourdieu, »Haute Couture und Haute Culture« (zuerst 1974), in: ders., Soziologische Fragen, übers. von Hella Beister und Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 1993, S. 187–196. 108 Literaturbeilage © Wikimedia Commons Erblickte in der Sakralisierung und den damit verbundenen starken Affekten eine Grundlage kultureller Muster, die Individualisierung erst ermöglichen: Émile Durkheim (1858–1917). 35 Das Problem der Pluralität der Generalisierungen, die lokale Beobachtungen jeweils erlauben, ist zentral für Bruno Latour, Luc Boltanski und Laurent Thévenot; vgl. auch die erst zaghaft begonnene sozialwissenschaftliche Rezeption der Arbeiten von Nelson Goodman: Mary Douglas/David Hull (Hg.), How Classification Works, Edinburgh 1992; darin vor allem Ian Hacking über die Kategorie ›Kindesmissbrauch‹ (»World-Making by Kind-Making: The Example of Child Abuse«, ebd., S. 180–238). 109 Literaturbeilage Literaturbeilage Mittelweg 36 5/2014 apriorischer Induktionen« (377) und den von ›magischen‹ Deutungsangeboten Überzeugten als typischen Fall desjenigen, der versucht, aus beobachteten Abläufen allgemeinere Erwartungen zu entwickeln (und sich dann mit der Frage konfrontiert sieht, was jeweils als Zufall und was als Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit zu verstehen ist). Sie vermuten, dass solche Schlussfolgerungen immer nur sozial gestützt möglich sind, und betonen, »daß es uns nicht den Anschein hat, als könne der isolierte Einzelne […] wirklich induktiv schließen« (377). – An diesem Punkt hätte sich ein weiterer Horizont eröffnet, sodass die Verengung auf Aspekte, die sich sofort einer ideologiekritischen Deutung anbieten, hinfällig geworden wäre.35 Hubert und Mauss gehen dem aber nicht weiter nach; sie konzentrieren sich auf Deutungsangebote, die geeignet sind, »die individuellen Illusionen zu generalisieren« (374). Erst Durkheim zieht aus Mauss’ Ergebnissen systematische Konsequenzen. Er nimmt das Ungewissheitsproblem der Handelnden viel ernster (wohl auch beeindruckt von William James, den er anderswo im Religionsbuch explizit heranzieht) und betont, dass – schon aufgrund der Zeitlichkeit von Handlungssituationen – die entsprechenden Deutungen selten nach dem Modell wissenschaftlicher Entscheidungsverfahren entwickelt werden können: »Die Wissenschaft ist Stückwerk […]; sie geht nur langsam weiter und ist niemals vollendet. Das Leben kann nicht warten. Theorien, die die Aufgabe haben, den Menschen leben und handeln zu lassen, müssen also der Wissenschaft voraneilen und sie vor der Zeit vervollständigen.«36 Darum kann er die allgemeine Bedeutung einer sozial erzeugten ›kognitiven Integration‹ erkennen (statt hier nur erkennbar pathologische Fälle in den Blick zu nehmen) und auch eine andere Sicht auf wahrnehmungsleitende Affekte gewinnen, etwa auf die Rolle eines sozial gestifteten grundlosen Vertrauens.37 – Zweitens findet Durkheim auch für die Frage, wie die soziale Bedeutung sakralisierender Muster einzuschätzen ist, eine innovativere Antwort, indem er die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass Sakralisierungen (und die entsprechenden starken Affekte) auch spezifisch moderne, Individualität erst ermöglichende kulturelle Muster tragen können. In diesem Sinne knüpft Hans Joas in seinem Buch über die Idee der Menschenrechte an das an, was bei Durkheim heute noch radikal ist; seine These lautet, der politische Erfolg der Vorstellung, dass es Menschenrechte gebe, sei als Ergebnis eines solchen Sakralisierungsprozesses zu begreifen.38 Insofern legen die beiden Neuerscheinungen nahe, auch Durkheims eigene Texte wieder zu lesen. Mittelweg 36 5/2014 36 Durkheim, Die elementaren Formen, S. 576. 37 Erst spät – zu spät, um das noch ausarbeiten zu können, und auch ohne Revision seiner Sicht auf die Affekte – sieht Mauss eine allgemeinere Bedeutung sozial ermöglichter Induktionen. In einer Debatte über die Realität des Geldes betont er »die Wichtigkeit des Begriffs der Erwartung« und sagt: »Wir sind untereinander, in Gesellschaft, und erwarten gemeinsam ein bestimmtes Ergebnis; das ist die wesentliche Form der Gemeinschaft.« Womit er – an die Ergebnisse des Magietextes anknüpfend – nach einem allgemeineren Konzept sucht, das ›normative‹ ebenso wie ›kognitive‹ Integrationsmuster erfasst: »Früher haben wir die Begriffe ›Zwang‹, ›Macht‹, ›Autorität‹ verwendet, und sie haben ihren Wert, aber dieser Begriff der kollektiven Erwartung ist meines Erachtens einer der grundlegenden Begriffe, an denen wir arbeiten müssen.« Vgl. Mauss et al., »Débat sur les fonctions sociales de la monnaie« (zuerst 1934), in: ders., Œuvres, Bd. 2, Paris 1968, S. 116–120, hier S. 117. Auf die Bedeutung dieses Textes weist René König hin (»Marcel Mauss [1872–1950]«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 24 [1972], S. 633–657, hier S. 646. Königs weiterhin höchst lesenswerte Aufsätze zur Durkheim-Schule sind nun gesammelt in: ders., Emile Durkheim. Zur Bestimmung der französischen Soziologie in Deutschland [Werke, Bd. 8], hg. und mit einem Nachwort versehen von Clemens Albrecht, Wiesbaden 2013.) 38 Joas, Die Sakralität der Person, Frankfurt am Main 2011. Redaktion: Martin Bauer, Stefan Mörchen, Christina Müller Mittelweg 36, 20148 Hamburg, Tel. 040/41 40 97-84, Fax 040/41 40 97-11, www.mittelweg36.de Gestaltung: Hans Andree, Max Andree, Wilfried Gandras 110 Literaturbeilage