Immanenz Ausgerechnet der allerletzte von Gilles Deleuze veröffentlichte Text hat die Immanenz zum Thema. Deleuze schreibt in dem kurzen Aufsatz »Die Immanenz, ein Leben«, der im September 1995 publiziert wird: »Die Immanenz bezieht sich nicht auf ein Etwas als höhere Einheit gegenüber allem anderen und nicht auf ein Subjekt als Akt, der die Synthese der Dinge vollzieht: Nur wenn die Immanenz sich selbst immanent ist, kann man von einer Immanenzebene sprechen. So wenig sich das transzendentale Feld durch das Bewusstsein definiert, so wenig definiert sich die Immanenzebene durch ein Subjekt oder Objekt, die sie enthalten könnten. Man möchte sagen, die reine Immanenz sei EIN LEBEN und nichts anderes. Sie ist nicht Immanenz im Leben, vielmehr ist sie als Immanentes, das in nichts ist, selbst ein Leben. Ein Leben ist die Immanenz der Immanenz, die absolute Immanenz: Es ist vollkommenes Vermögen, vollkommene Glückseligkeit.«1 Vielleicht werden wir zu Deleuze’ Anmerkungen zurückkehren müssen. Wahrscheinlich wird diese Rückkehr notwendig, um die Tragweite des Themas wirklich zu begreifen. Wir wollen aber von einem anderen Punkt anfangen, um einige Fragen zu erörtern, die im Mittelpunkt der Debatte zur Immanenz stehen. In der Tradition des deutschen Idealismus wurde das Subjekt seit Kant als ein universelles Bewusstsein erfasst. Das Subjekt konnte mit der Vernunft der Menschheit identifiziert werden, weil es über allen einzelnen Individuen und zugleich als jedem Individuum innewohnend vorgestellt wurde. Dieses Bewusstsein, dieses transzendentale Subjekt begründet die Welt, macht sie durch seine Kategorie oder Repräsentationsform verständlich. Die Repräsentationsformen beziehen sich auf keinen empirischen Bereich. Kant postuliert ein Reich der Zwecke, das auf gegenseitiger Rücksicht zwischen den Menschen beruht und das mit seiner Idee einer reinen praktischen Vernunft korreliert. Die bedingungslose moralische Freiheit ist das Reich, das den Zwängen der Natur und der Erfahrung entgeht. Foucault zeigt das gesamte Netz der Missverständnisse und falschen Vorstellungen, in dem das Denken seit Kant sich gefangen fand, 1 Deleuze, Gilles: »Die Immanenz, ein Leben…«, in: Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze –Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 29–33, hier S. 30. 118 Imm a nen z vor allem wegen seiner Unfähigkeit, die Bedeutung der transzendentalen Illusion zu begreifen. Das Denken hatte die empirische, die geschichtliche, die soziale Natur der menschlichen Endlichkeit vergessen; es hatte die Endlichkeit und die empirischen Bedingungen der Endlichkeit universalisiert und sie mit einer reinen transzendentalen Form verwechselt. Daher die Geburt aller theoretischen Humanismen, aller philosophischen Anthropologien – all dessen, was Foucault in Die Ordnung der Dinge die empirisch-transzendentale Doublette nennt. Anders gesagt: Was hier in Frage steht, ist wieder einmal die Beziehung zwischen dem Gemeinsamen und dem Singulären, wobei das Gemeinsame auf keinen Fall durch das Universale ersetzt werden kann. Das Gemeinsame widersetzt sich dem Universalen und eröffnet die Frage nach der historischen Konstitution eines transzendentalen Feldes – eines transzendentalen Feldes, das auf den geschichtlichen Bedingungen der wirklichen Erfahrung beruht, und nicht (wie bei Kant) auf den reinen Bedingungen der möglichen Erfahrung. Hier setzt die Potenzialität des Begriffes ›Immanenz‹ an. Bei Marx ergibt sich eine Theorie der Konstitution der Welt, die die Frage nach dem Transzendentalen umkehrt. Hier begründet das transzendentale Subjekt oder das universelle Bewusstsein keine Welt. Marx’ Analyse zerstört die transzendentale Dimension, weil sie die Frage nach dem Subjekt ganz anders stellt: Anstelle einer transzendentalen Verortung setzt Marx die Subjektivität an die Stelle des Ergebnisses, des Effekts eines sozialen Prozesses. Das Subjekt, von dem allein Marx spricht, ist praktisch, vielfältig, anonym und unbewusst. Mit Marx können wir sagen, dass der diesbezügliche Fehler der PhilosophInnen ein zweifacher war: Erstens haben sie die Essenz als eine Idee oder eine Abstraktion gedacht, das heißt als einen universellen Begriff, unter dem die (individuellen) Differenzen angeordnet werden können; zweitens haben sie gedacht, dass diese allgemeine Abstraktion den Individuen derselben Gattung (als Qualität, die sie besitzen) innewohnt. Marx lehnt beide Positionen ab. Marx lehnt die Position ab, die darin besteht, zu behaupten, dass die Gattung oder die Essenz der Existenz der Individuen vorausgeht; aber er lehnt auch die philosophische Behauptung ab, die sagt, dass Individuen primäre (erste, grundlegende) Realitäten sind, das heißt Realitäten, von denen Universalien abstrahiert werden können. Nach Marx sind beide Positionen unfähig, die vielfältigen und aktiven Beziehungen zu begreifen, in die sich Individuen (durch Sprache, Arbeit, Kämpfe usw.) zueinander setzen. Das Gemeinsame entsteht nur durch diese Beziehungen 119 Imm a nen z als eine immanente Dimension. Was Individuen gemeinsam haben, ist das Ergebnis dieser Beziehungen. Durch die Betonung der Konstitutivität von Beziehungen eröffnet Marx einen Weg, der wichtig für die Philosophie des 20. Jahrhunderts sein wird – von Kojève und Simondon über Lacan bis zu Foucault und Deleuze: Es geht um einen Begriff von ›Transindividualität‹ und von ›transindividueller Realität‹. Transindividualität ist nicht, was idealerweise (als Form oder Substanz) jedem Individuum innewohnt oder was dazu dienen würde, Individuen von außen einzuordnen, sondern was zwischen den Individuen existiert als ihre vielfältigen Interaktionen. Ziehen wir noch ein weiteres Beispiel in Betracht. Kurz vor dem Wahnsinn schrieb Nietzsche in einem Moment großer literarischer Inspiration einige Seiten, die als Leitfaden für das Verständnis seines philosophischen Weges gelesen werden können. Es handelt sich um die Urfassung der Götzen-Dämmerung, in der der Sinn seines Kampfes gegen die Metaphysik fassbar wird. Im Kapitel Wie die ›Wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde beschreibt er die Geschichte der Metaphysik als Geschichte der Gegenüberstellung zwischen einer wahren und einer scheinbaren Welt, aber er beschreibt auch das Ende dieser Gegenüberstellung, damit das Ende der Metaphysik. Nietzsche erklärt die Geschichte der Metaphysik, der »wahren Welt«, in sechs Stufen. Erstens Platos Zeit, die Zeit, in der die wahre Welt allein erreichbar ist für den Weisen: »ich, Plato, bin die Wahrheit«. Zweitens das Christentum: »Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen […] für den Sünder, der Buße tut«. Drittens Kants Zeit: »Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.« Viertens der Hahnenschrei des Positivismus: »Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht«. Fünftens der Teufelslärm aller freien Geister: »Die ›wahre Welt‹ – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend […]: Schaffen wir sie ab!« Schließlich sechstens Mittag, das Hier und Jetzt, die reißende Mitte: »Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht? … Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! […] Incipit Zarathustra.«2 2 Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, München 1956, S. 963. 120 Imm a nen z Nietzsches Rede will die Wiederholung der zeitlichen Struktur der Erwartung erkennen lassen. Sowohl die platonische Idee als auch das himmlische Reich oder die Idee des Fortschritts und diejenige der Revolution sind von einer dialektischen Struktur der Erwartung gekennzeichnet. Gegen das Versprechen des Außen, eines anderen Reichs, eines anderen Systems, einer anderen Welt, behauptet Dionysos die Kraft des Augenblicks. Im Augenblick kommen alle Möglichkeiten des Daseins zum Vorschein: Zarathustras Kind wirft die Würfel der Existenz, und in jedem Wurf erhält es verschiedene Daseinsmöglichkeiten. Das Bild will sagen, dass es nichts gibt, dem sich anzuvertrauen wäre. Es gibt nichts, was jenseits von Gut und Böse die Fäden unseres Geschicks spinnt: Unschuld des Werdens und blinder Zufall, Affirmation des Augenblicks als eine der vielfachen Möglichkeiten der Komposition des Chaos: Chaosmos. Nietzsche legt dar, dass nur die Immanenz des Lebens gilt, nichts anderes. Ein Leben, die Immanenz … Roberto Nigro Gerald Raunig 121 Imm a nen z