„Erklärende Soziologie“?

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Prof. Dr. Bernhard Nauck
Vorlesung
Erklärende Soziologie
2. Vorlesung
Die Logik soziologischer Erklärung
http://www.tu-chemnitz.de/hsw/soziologie/institut/
Erklaerende_Soziologie-75-DetailsLV-487.html
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Was ist denn dann
„Erklärende Soziologie“?
2
1
Theorie in der Soziologie
Empirische Wissenschaft beruht auf der Vorstellung, dass
Zusammenhänge im jeweils untersuchten Bereich
auftreten, die erkannt und begründet werden können.
Forscher nehmen an, dass verstehbar ist, warum etwas
passiert. Ihre Antworten auf diese Fragen sind
Erklärungen.
Erklärungen lassen sich verallgemeinern und schlagen sich
in Theorien nieder… In allen empirischen
Wissenschaften müssten die Erstellung, Prüfung und
Verbesserung von solchen erklärenden Theorien als
zentrale Aktivitäten gelten.
Norman Braun, Theorie in der Soziologie
3
Was ist das Besondere
an der „Erklärenden Soziologie“?
• Es geht um bislang ungelöste Rätsel in der
(sozialen) Realität
• Für diese Rätsel sollen Erklärungen geliefert
werden
• Jede Erklärung beginnt mit einer „Warum?“Frage
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2
Typische „Warum?“-Fragen in der Soziologie
• Warum sind in der Bundesrepublik die Scheidungen nach
1960 stark angestiegen?
• Warum reduzieren Ölsteuern den Benzinverbrauch stärker
als umweltmoralische Appelle?
• Warum fertigen ostasiatische Firmen höhere Qualität zu
günstigeren Preisen als europäische Firmen?
• Warum bekommen europäische Frauen weitaus weniger
Kinder als Frauen in Südamerika?
• Warum sind Studierende der Soziologie überwiegend
weiblich und die des Maschinenbaus überwiegend
männlich?
• Warum steigert ein autoritärer elterlicher Erziehungsstil in
ostasiatischen Familien den Bildungserfolg und warum senkt
er ihn in europäischen Familien?
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Rätsel und Erklärungen
• Die Erklärung ist die Antwort auf eine „Warum?“-Frage
• Erklärungen können (empirisch) wahr oder falsch sein
• Empirische Sozialforschung ist die (mühselige)
Unternehmung, den Wahrheitsgehalt von soziologischen
Erklärungen zu überprüfen
• Erklärungen höheren Allgemeinheitsgrades sind
nützlicher, weil sie die Beantwortung vieler konkreter
„Warum?“-Fragen ermöglichen
• Sie haben aber auch ein höheres Risiko, falsch zu sein
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3
Was „Erklärende Soziologie“ (allein) nicht ist…
• typologische Beschreibung von sozialen Zuständen (In
welcher Gesellschaft leben wir?)
• Aufstellen und Interpretieren von Trendhypothesen (Wird
die Gesellschaft immer individualisierter?)
• Interpretieren und Kommentieren von Tagesaktualitäten
• Bewerten von Sachverhalten (Ist die Elternschaft von
Geschwistern unmoralisch?)
• Lösen von normativen Problemen (Sollte das
Rauchverbot in Bayern auf Bierzelte ausgeweitet
werden/bleiben?)
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Wer den programmatischen Hintergrund
dieser Vorlesung kurz gefasst in einem Aufsatz
rezipieren möchte, der lese
Norman Braun (2008), Theorie in der
Soziologie, Soziale Welt 59, S. 373 – 395.
(steht als Material zur Vorlesung im Netz)
8
4
Norman Braun (2008), Theorie in der Soziologie, Soziale Welt 59 (4), 373 – 395.
Zusammenfassung:
Die soziologische Theorie wird u.a. aufgrund ihrer oftmals bestehenden
Unklarheit, ihrer häufigen Beschränktheit auf Beschreibungen und
Kategorisierungen, der Unvereinbarkeit ihrer vielfältigen Perspektiven und ihrer
überwiegend praktizierten Vernachlässigung der Empirie nicht nur von anderen
Fächern, sondern auch von der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit
weitgehend ignoriert. Ihre Rehabilitation erfordert, dass sich Theorieauffassung
und Theoriebildung in der Soziologie an den einschlägigen Vorstellungen
erfolgreicher empirischer Wissenschaften orientieren. Damit ist eine
Theoriekonzeption zu übernehmen, die in der quantitativ orientierten empirischen
Sozialforschung verbreitet ist. Eine Theorie ist danach eine Menge von
Aussagen, die durch deduktive Argumentationsketten verknüpft sind und sich
zumindest teilweise empirisch überprüfen lassen. Diese Theorieauffassung und
ihre Hintergründe werden dargestellt.
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Max Weber: Soziologie
Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr
vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen:
Eine Wissenschaft, welche soziales Handeln
deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf
und in seinem Wirkungen ursächlich erklären will.
aus: Wirtschaft und Gesellschaft
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Die drei Analyseschritte der verstehenderklärenden Soziologie nach Max Weber
Situation
Akteur
„subjektiver Sinn“
soziales
Handeln
„Ablauf“
deutendes Verstehen
externe
Effekte
„Wirkungen“
ursächliches Erklären
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Verstehendes Erklären 1
Deutendes Verstehen des Handelns
• Rekonstruktion des subjektiven Sinns
(Beispiele: Grußrituale, Trauerfarben,
Partnerwahl)
• Rekonstruktion, wie Akteure
(typischerweise) die Handlungssituation
sehen und welche Absichten und
Überzeugungen mit dem Handeln
verbunden werden
(Beispiel: Studienmotive, Berufswahl)
12
6
Verstehendes Erklären 2
Erklärung des Ablaufs subjektiv sinnhaften
Handelns
Handlungsselektion
Entscheidung zwischen knappen Alternativen
(Beispiel: Aktivitäten während des Studiums)
Benötigt wird: Eine Handlungstheorie zur Erklärung
der Gesetzmäßigkeiten von Wahlen zwischen
Alternativen
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Verstehendes Erklären 3
Erklärung der Wirkungen
externe Effekte
unintendierte Effekte
Rückkoppelung auf das deutende Verstehen des
Handelns
Beispiel: Langzeiteffekte des Geburtenrückgangs
von 1989/90
14
7
Hartmut Esser, Soziologie
Alle sozialen Prozesse sind das indirekte, meist
unbeabsichtigte Ergebnis des problemlösenden,
situationsorientierten, mit guten subjektiven
Gründen, mit Sinn also, versehenen, aber auch
immer von Knappheiten begrenzten Handelns der
menschlichen Akteure, die ihrerseits von den Folgen
ihres Tuns geprägt und so in ihren Erwartungen und
Bewertungen immer wieder neu konstituiert werden.
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Soziologie als Wissenschaft
• An Wahrheit und Informationsgehalt interessiert,
nicht an moralischen Urteilen und leeren
Wortspielen: Beantwortung von „Warum“-Fragen
• Erklärungsinteresse richtet sich auf kollektive
Phänomene (gesellschaftliche Prozesse,
Institutionen, soziale Strukturen, Kultur, soziale
Ordnung und Ungleichheit, soziale
Differenzierung, sozialen Wandel), nicht auf das
einmalige Handeln einzelner Individuen
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8
Methodologischer Individualismus
• Das analytische Primat der Soziologie liegt auf der
kollektiven Ebene (Ziel der Erklärung)
• Das theoretische Primat liegt auf der individuellen
Ebene (Art der Erklärung)
• Max Weber: Die soziologische Analyse muss sich
letztlich auf das soziale Handeln der individuellen
Akteure beziehen lassen
• Soziologie kann also bei der Erklärung ihrer
(kollektiven) Sachverhalte nicht auf individuelle
Tatbestände verzichten
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James Coleman
Society has no engine!
(entsprechend sind Konzepte wie „gesellschaftliche
Kräfte“ u.ä. allenfalls tolerable Metaphern für noch
zu erklärende Sachverhalte: aus „Sozialem“ folgt
direkt nichts „Soziales“, sondern nur vermittelt über
das – ggf. veränderte -Verhalten der individuellen
Akteure)
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9
Frage-Pause
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Das Spezifische an sozialwissenschaftlichen
Erklärungen
• Grundsätzlich teilt die Soziologie mit den
Naturwissenschaften die nomologischdeduktive Vorgehensweise des Erklärens
• Bei den Sozialwissenschaften kommt jedoch
eine interpretative Dimension hinzu: das
Verstehen des subjektiven Sinns sozialen
Handelns als Voraussetzung ursächlicher
Erklärung sozialer Prozesse
• Soziologie unterscheidet sich von
Historiographie (und Geographie) durch ihr
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Erklärungsinteresse
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Grundschema der analytisch-nomologischen
Erklärung
Gesetz
B
Randbedingung
B (i)
E
Explanans
____________________________________________
Explanandum
E (i)
(auch bekannt als: Hempel-Oppenheim-Schema)
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Explanandum
• das „zu Erklärende“
• Erklärung bedeutet: das „zu Erklärende“
als Folge bestimmter (kausaler) Ursachen
zu verstehen
• und damit: Die Beantwortung einer
„Warum“-Frage!
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Explanans
• Erklärung ist der Nachweis, das die
Aussage über das Explanandum in einer
Klasse von anderen Aussagen, dem
Explanans, logisch enthalten ist
• Explanans besteht aus zwei Bestandteilen
- Allgemeine Gesetze
- Randbedingungen
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Randbedingungen
• sind Beschreibungen darüber, ob die in
der „Wenn“-Komponente der Gesetze
genannten Bedingungen tatsächlich
vorliegen
• Sie beziehen sich – anders als die
Gesetze – auf singuläre Ereignisse
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Allgemeine Gesetze
•
•
•
•
•
•
bestehen aus zwei Bestandteilen:
Ursachen
Folgen
verbinden die Ursachen mit den Folgen, indem sie
die Folgen als Funktion der Ursachen benennen
Haben keinen raum-zeitlichen Bezug
lassen sich als „Wenn…, dann…“ oder „Je…,
desto…“ –Aussagen formulieren
Beispiel: „Je jünger das Heiratsalter, desto höher ist
die Scheidungswahrscheinlichkeit“
„Je höher das Bruttosozialprodukt einer
Gesellschaft, desto geringer ist die Rate der
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Verkehrsunfalltoten“ (???)
Gütekriterien von Gesetzen
• Allgemeinheit (ist um so höher, je geringer
der die Extension der „Wenn“-Komponente,
und je größer die Extension der „Dann“Komponente)
• Präzisionsgrad (ist die Genauigkeit der
Verknüpfung zwischen den beiden
Komponenten)
• Explizitheit
• Wahrheitsähnlichkeit (ist um so höher, je
größer die Menge der gescheiterten
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Falsifikationen)
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Keine Erklärungen sind…
• Definitionen
• Begriffssysteme, Klassifikationen und
Typologien
• Analytische Aussagen
• Tautologien und Analogien
• Beschreibungen und Erzählungen
• Orientierungshypothesen
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Definitionen
• legen fest, wie ein bestimmter Begriff (zukünftig,
im folgenden Kontext) gebraucht werden soll
• sind Sprachregelungen, Verständigungen über
den Sprachgebrauch: “Was ist...”
• regeln die Fachsprache (letztendlich) mit der
Alltagssprache (möglichst klar und eindeutig!)
• sind als Sprachregelungen normativ, und somit
empirisch weder falsch noch wahr
• Beispiel: “Säuglingssterblichkeit” ist der Anteil der
innerhalb der ersten 12 Monate Gestorbenen
aller Lebendgeborenen einer Periode
• Was ist ... “Arbeitslosigkeit”, “Armut”, “Jugend”?
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Begriffssysteme, Klassifikationen,
Typologien
• Systeme von aufeinander bezogenen
Begriffen (und insofern weder wahr noch
falsch, sondern nur nützlich oder nicht)
• Beispiel: Sozialschichten werden in OS,
OMS, MMS, UMS, OUS, UUS und SD
unterteilt.
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Schichtung
der westdeutschen
Bevölkerung
(60er Jahre)
nach Bolte
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Types of (social) integration of immigrants
Social integration into
receiving society
yes
no
yes
(multiple-)
integration
segmentation
no
assimilation
marginality
Social integration into
society of origin/
ethnic community
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Analytische Aussagen
• ordnen einen Gegenstandsbereich logisch
• führen Begriffssysteme und Typologien ein
• z.B. “Empirische Aussagen lassen sich von
analytischen Aussagen dadurch unterscheiden,
dass...”
• oder “Bei der nachfolgenden Analyse sozialer
Ungleichheit wird auf Einkommen, Berufsprestige
und Bildung Bezug genommen”
• Analytische Aussagen sind ebenfalls empirisch
weder wahr noch falsch
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Tautologien und Analogien
• Tautologische Aussagen sind solche, in denen
Explananda “mit sich selbst” erklärt werden, d.h.
die “Wenn”-Komponente denselben Inhalt hat
wie die “Dann”-Komponente
• Beispiel: “Wenn Menschen arm sind, dann
haben sie geringe materielle Ressourcen”
• Tautologien verstecken sich häufig hinter
unklaren (ggf. Partiellen) Definitionen oder
langen Argumentationsketten
• Analogien vergleichen bildhaft: “Kollektive
soziale Mobilität = Fahrstuhleffekt” “ethnic
business = Mobilitätsfalle”
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Beschreibungen und Erzählungen
•
•
•
•
•
•
berichten darüber, “was ist”
Beschreibungen: a und b und c und ... z
Erzählungen: a und dann b und dann c... z
haben einen räumlichen und zeitlichen Bezug
können empirisch wahr oder falsch sein
unterscheiden sich von Erklärungen dadurch,
dass sie die Kausalität unbestimmt lassen
• viele B. und E. enthalten implizite
Erklärungen
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Orientierungshypothesen
• enthalten Annahmen darüber, wo (in etwa)
mögliche Ursachen für ein zu erklärendes
Phänomen liegen könnten
• sind (bestenfalls) Anweisungen, wo Soziologen
nach Ursachen suchen sollten: Suchhypothesen
• sind aber zumeist sozialwissenschaftliches DummDeutsch!
• z.B. “Der steigende Alkoholkonsum von
Jugendlichen hat vielfältige gesellschaftliche
Ursachen”
• oder “abc hängt mit xyz zusammen”
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Begleitlektüre:
H. Esser: Soziologie,
Kap. 3 – 5
36
18
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