Philosophische Anthropologie - Uni

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Philosophische Anthropologie
Anthropologie: die Lehre vom Menschen
Grundfrage: „Was ist der Mensch?“
Philosophische Anthropologie:
Kein Fach, sondern eine Denkrichtung (Paradigma) seit Beginn des 20. Jahrhunderts
Einflussreiche Wissenschaften:
• Phänomenologie, Hermeneutik (besonders: Edmund Husserl)
• Lebensphilosophie (besonders: Henri Bergson)
• Biologie, Verhaltensforschung, Evolutionstheorie
(besonders: Konrad Lorenz, Charles Darwin)
Zentrale Vertreter der Philosophischen Anthropologie:
• Max Scheler (Philosoph und Soziologe)
• Helmuth Plessner (Biologe, Philosoph, später Soziologe)
• Arnold Gehlen (Philosoph, später Soziologe)
Einflussreiche Wegbereiter:
• Frederik Buytendijk (Physiologe, Tierverhaltensforscher)
• Arnold Portmann (Zoologe)
Portmann: Bestimmung des Menschen durch das „extrauterine Frühjahr“
Der Mensch ist ohne die soziale Gemeinschaft nicht überlebensfähig.
Er braucht Pflege und Beziehungen, um überleben zu können.
Helmuth Plessner (1892 – 1985)
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Sohn eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter;
der Vater leitet ein Privatsanatorium in Wiesbaden
Studium der Biologie
Studium der Philosophie
Lehr- und Forschungstätigkeit als Philosoph (Privatdozent) an der Universität zu Köln bei Max
Scheler
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1933 Entzug der Venia legendi, dann Entlasssung aus der Universität zu Köln
Emigration nach Holland, Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Groningen bei Frederik
Buytendijk, abermals Verlust der Stelle durch das Nazi-Regime
1943 Flucht nach Utrecht
1944 Flucht nach Amsterdam
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1946 Rückkehr nach Deutschland an die Universität Göttingen
1951 Übernahme des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Göttingen
Zentrale Publikationen:
 Grenzen der Gemeinschaft. [1924]
 Die Stufen des Organischen und der Mensch. [1928]
 Lachen und Weinen. [1941]
 Soziologie des Sports. [1952]
 Die Frage nach der Conditio humana. [1961]
Exkurs: Funktionen des Sports nach Plessner
In seinem Aufsatz
„Soziologie des Sports.
Stellung und Bedeutung des Sports in der modernen Gesellschaft“ (1952)
arbeitet Plessner drei (immer noch zentrale) soziale Funktionen des Sports heraus:
1. Ausgleichsfunktion
- die Etablierung eines neuartigen funktionalen Teilsystems „Freizeit“ gibt dem Sport Raum
- Sport kann der Kompensation von Arbeitsbelastungen dienen
- Gewinnung einer ganzheitlichen Leiblichkeit entgegen beruflicher Spezialisierungen
2. Abbildfunktion
- Repräsentation des Leistungsprinzips (als einem zentralen modernen Leitprinzip)
Vergleiche dazu auch Rudolf Stichweh (1995, S. 26):
Im Sport scheint die Gesellschaft eine Möglichkeit gefunden zu haben „eines ihrer Leitprinzipien in reiner,
unkontaminierter Form zur Anschauung zu bringen und sich darin gewissermaßen selbst zu feiern“.
3. Präsentationsfunktion
- sich zeigen und gesehen werden, wirken und etwas gelten (entgegen der Anonymisierung)
- Anschaulichkeit herstellen (Bildhaftigkeit, Konkretion des Sports entgegen der Abstraktion)
Das Erkenntnisinteresse Plessners
in: „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928)
Den Menschen in seiner spezifischen Existenzweise so umfassend wie möglich
beschreiben.
Prämissen:
 Der gedankliche Anfang der Überlegungen muss im Keim bereits die Regeln
enthalten, die das System nach Abschluss der Überlegungen vollgültig
kennzeichnen. (Kant)
 Es muss nach einem Prinzip gesucht werden, dass vor dem Geist, vor der Kultur
und vor der Historie liegt (nicht so wie bei Husserl in der Intentionalität, bei Kant in
der Intellektualität und Vernunft oder bei Dilthey in der Geschichtlichkeit).
 Es muss nach universalen Gesetzmäßigkeiten gesucht werden.
 Die „Kulturhaftigkeit“ des Menschen (seine Geistigkeit und seine Fähigkeit zum
Erschaffen von Kultur) darf dem Entwurf nicht als eine Sonderbedingung ‚angehängt‘
werden, sondern muss aus ihm zwingend hervor gehen (siehe erste Prämisse).
Konsequenz:
 Die Beschreibung des Menschen muss im „Vitalen“ (Organischen) beginnen.
Bestimmungsmerkmale des Menschen (nach Plessner):
• „Exzentrische Positionalität“
Kerngedanke: der Mensch ist fähig zur Reflexion auf sich selbst.
Der Mensch ist seine Mitte (als organisches Wesen lebend)
er hat seine Mitte (den Organismus beherrschend) und
er ist über sie hinaus (reflexive Distanz zum Sein und Tun habend).
• „Natürliche Künstlichkeit“
Kerngedanke: die Kulturhaftigkeit des Menschen ist konstitutiver Teil
seiner Natur – der Mensch ist auf Kultur existenziell angewiesen.
Die „exzentrische Positionalität“ des Menschen
•
Organische Körper unterscheiden sich von anorganischen Körpern durch ihre
Positionalität; d.h. durch die Art des Verhältnisses, in dem „Innen“ und „Außen“ des
Körpers zueinander stehen:
Anorganische Körper haben ihren Übergang vom „Innen“ zum „Außen“ nicht selbst (sie
„brechen ab“) und sie sind nicht in diesem Doppelaspekt.
Organische Körper haben ihre Grenze selbst (sie ist Teil ihres Seins) und sie sind zum
„Übergehen“ (zum Wechsel zwischen „Innen“ und „Außen“) bestimmt.
Die Grenze kann als ein bewegtes „Zwischen“ verstanden werden.
•
Anorganische Körper sind raumerfüllend und statisch, organische Körper sind raumbehauptend und dynamisch.
•
Das Tier lebt in „zentrischer“ Organisationsform: es agiert aus der eigenen Mitte
heraus in ein Umfeld hinein, es ‚merkt‘ das Umfeld und das Agieren, aber es kann das
‚Merken‘ nicht erfassen.
•
Der Mensch lebt in „exzentrischer“ Organisationsform: er agiert aus der eigenen Mitte
heraus in ein Umfeld hinein, er gewahrt dieses Agieren und er kann das Gewahren
erfassen.
Dies gibt ihm die Möglichkeit, sich als Zentrum des Handelns zu erleben und ein ‚Ich‘
auszubilden.
•
In der „exzentrischen Positionalität“ – dem Herausgeworfensein aus der eigenen Mitte
– kann der Mensch Distanz zu sich selber (und zu seinem Körper) gewinnen.
Bezogen auf den Körper steht der Mensch damit in einer dreifachen
Position:
Er ist ein Körper (‚Körperding‘ neben anderen).
Er ist im Körper (Innenwelt, Empfinden – Leib).
Er ist außerhalb des Körpers (Reflexion – den Körper haben und ihn
beherrschen).
Die „natürliche Künstlichkeit“ des Menschen
•
Der Mensch ist von Natur aus nicht mit solchen Mitteln ausgestattet, die sein Überleben
garantieren (Instinktarmut, physische Unspezialisiertheit, „extrauterines Frühjahr“).
•
Diese biologischen Nachteile werden ihm zum Vorteil: Er kann sein Leben auf viele verschiedene
Arten führen (große Plastizität des Verhaltens).
•
Sie werden ihm aber auch zur Aufgabe und Herausforderung: Er muss tätig werden, er muss
Sorge tragen, er muss gestalten, um überleben zu können.
•
Das „Nichtfestsitzen“ des Menschen eröffnet ihm große Freiheiten, aber bürdet ihm auch ständig
Entscheidungen und Leistungen auf.
„Kultur“ ist die Antwort des Menschen auf dieses „Hinausgeschleudertsein“ in die Freiheit:
Kultur entlastet von Handlungsdruck (Ausbildung von Gewohnheiten, Routinen, Sitten, Traditionen).
Kultur verschafft „Halt“ (Gewissheiten, Verlässlichkeiten, Zugehörigkeiten).
Kultur sorgt für die Verstetigung von Lebensgrundlagen (wie Ernährung, Behausung, Frieden, Wissen).
„Kultur“ ist mithin kein ‚Anhängsel‘ des Menschseins,
sondern Bestimmungsmerkmal der Organisationsform des Menschen.
Plessner im Original
Textauszug aus:
„Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1975) [1928].
Siebtes Kapitel, Punkt 3: Die anthropologischen Grundgesetze:
I. Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit, S. 309 und S. 316
„Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen,
welches er lebt, d.h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht –
braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von
Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich. Als exzentrisches Wesen nicht im
Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muss er „etwas
werden“ und sich das Gleichgewicht schaffen. Und er schafft es nur mit Hülfe der
außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse
dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen.“
„Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg
zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet.“
Der Mensch als „naturhaftes“ und „kulturhaftes“ Wesen (Plessner)
Der Mensch ist bestimmt durch seine organische Mitgift.
Diese Mitgift reicht jedoch nicht hin, um überlebensfähig zu sein.
Der Mensch ist somit zwingend auf Kultur angewiesen.
Gerade dieses Angewiesensein auf Kultur
• auf den sozialen Austausch
• auf Kommunikation
• auf soziales Handeln
• auf die Gestaltung der Lebensumwelt, der Beziehungen, der eigenen
Person
macht den Menschen zum Menschen.
„Kultur“ ist somit Teil seiner „Natur“.
Der Mensch als „naturhaftes“ und „kulturhaftes Wesen“
Beispiel: Ernährung und Esskultur
•
Nahrung ist überlebenswichtig.
•
Der Mensch muss sich seine Nahrung aktiv
beschaffen und auswählen.
•
Es gibt Substanzen, die für den Menschen
unverdaulich, gesundheitsgefährdend oder
tödlich sind.
•
Die Auswahl, was „essbar“ erscheint, erfolgt
kulturell sehr unterschiedlich.
•
Der Mensch braucht eine vielseitige
Ernährung (bei einseitiger Kost würde er
sterben).
•
Die kulturelle Auswahl ist wesentlich enger
als es die physiologischen Bedingungen
erlauben würden (kulturelle Spezialisierung).
•
Der Mensch ist ein „Allesesser“ (sein
Organismus verfügt über eine große
Spannbreite bzgl. der Verträglichkeit von
Nahrungsmitteln).
•
Esskulturen variieren in hohem Maße
hinsichtlich der Zubereitung von Nahrungsmitteln („Küche“) sowie hinsichtlich der
Gestaltung von Mahlzeiten und deren
sozialer Funktionen.
•
Was gegessen wird, wie gegessen wird,
wann gegessen wird, mit wem gegessen wird
erfüllt ganz spezifische soziale Funktionen.
(Integration, Differenzierung, Abgrenzung).
Nach Berger/Luckmann stehen „Körper“ („Organismus“) und „Gesellschaft“
in einer spezifischen Spannung zu einander:
•
Der Organismus ermöglicht soziales Handeln.
•
Der Organismus begrenzt soziales Handeln.
•
Der Organismus wird durch das Soziale begrenzt.
Die „Soziologie des Körpers“ fragt:
Wie nimmt die Gesellschaft Einfluss auf den Körper?
Wie ist die Rede, der Körper sei „sozial konstruiert“, zu verstehen?
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a.
b.
„Körpertechniken“ (Marcel Mauss)
„Zivilisierung“ des Körpers (Norbert Elias
„Disziplinierung“ des Körpers (Michel Foucault)
Der Körper als Träger von sozialen „Zeichen“ (Pierre Bourdieu)
im Sinne der bewussten Inszenierung
im Sinne einer vorreflexiven „Einverleibung“ und „Darstellung“ von
Sozialem.
Literaturempfehlung:
•
Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Weinheim (Juventa) 1999.
•
Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit.
Frankfurt/M. (Fischer) 1996 [1966].
•
Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz in
der deutschen Soziologie nach 1945. In: Zeitschrift für Soziologie, 35 (2006) 5, S. 322
– 347.
•
Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin-New York
(des Gruyter) 1975 [1928].
•
Helmuth Plessner: Soziologie des Sports. Stellung und Bedeutung des Sports in der
modernen Gesellschaft. In: Deutsche Universitätszeitung 7 (1952) Nr. 22, S. 9 – 11,
Nr. 23/24, S. 12 – 14.
Sowie im Überblick:
• Abraham, Anke: Der Körper im biographischen Kontext. Opladen (WDV) 2002.
Darin zu Plessner: S. 87 – 98.
Darin zu Berger/Luckmann: S. 106 – 120.
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