1 Niko Strobach Ringvorlesung, 18.12.01 Philosophie in der Antike

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1
Niko Strobach
Ringvorlesung, 18.12.01
Philosophie in der Antike
1. Einleitung
Ich begrüße Sie heute zur ersten Sitzung der Ringvorlesung, in der Sie in einem allerersten
groben Überblick einen Eindruck über die wichtigsten Epochen der Philosophiegeschichte
bekommen sollen. Ich habe die Sitzung zur Philosophie in der Antike übernommen. Im neuen
Jahr setzt sich die Reihe fort mit einer Sitzung zur Philosophie im Mittelalter, zwei Sitzungen
zur Philosophie im 17. bis 19. Jahrhundert und einer Sitzung zur Philosophie im immer noch
zu unserer weit ausgedehnten Gegenwart zu rechnenden 20. Jahrhundert.
Wenn ich etwas zur Philosophie in der Antike sagen soll, stellt sich natürlich als erstes die
Frage, was überhaupt mit Antike gemeint ist. Antike heißt wörtlich bloß Altertum, und es war
lange üblich, die Leute, die es bevölkerten, einfach die Alten zu nennen.1 So können natürlich
nur solche reden, die sich selbst als Zeitgenossen einer späteren und anderen Zeit ansehen. In
diesem Sinne heißt „Antike“ den größten Teil der Nachantike hindurch für diejenigen, die den
Ausdruck benutzt haben, zuerst:
Die Zeit, als die meisten Menschen noch nicht, wie wir, Christen waren.
Aber selbstverständlich ist das nicht alles, was die Alten zu den Alten machte. Es
berücksichtigt nämlich noch nicht, dass man ihre frühere Existenz nicht bloß einfach als
Faktum registriert hat (wie etwa beim Neandertaler), sondern dass man sich selbst auf die
Alten bezogen hat. Das aber ist die ganze Nachantike hindurch in verschiedenster Art und
Weise geschehen:
- Texte der Alten wurden nicht nur übersetzt und kommentiert, sondern auch immer wieder in
der Originalsprache abgeschrieben: mit Ausnahmen kleiner Schnipsel stammen z.B. sämtliche
ältesten hardcopies der aus der Antike überlieferten philosophischen Texte aus dem
Mittelalter, sind also oft mehr als eineinhalb tausend Jahre jünger als die Texte selbst.2
- Spätestens seit der bewussten Wiedergeburt der Antike, der Renaissance, verfügte jeder
lesekundige Europäer ebenso über die Antike als Anspielungshorizont wie über den
Anspielungshorizont3 des Alten und Neuen Testamentes. Die empirische Basis der
1
Noch heute teilt sich z.B. das Fach Geschichte an der Universität Oxford in die Kategorien Ancient History
(Antike) und Modern History (alles danach) (vgl. http://www.ox.ac.uk). Zum Sprachgebrauch vgl. neben vielen
anderen Beispielen den Titel der kleinen Schrift „Wie die Alten den Tod gebildet“ (1769) von Gotthold Ephraim
Lessing (1729 – 1781).
2
Die älteste uns erhaltene Abschrift muss dabei nicht unbedingt der beste sein, da eine jüngere Abschrift aus
einer zuverlässigeren Überlieferungslinie stammen kann. Z.T. ist die Etablierung der richtigen Textvariante
überaus spannende und faszinierende Detektivarbeit. Allerdings hat sie heute weniger mit Spurensicherung in
alten Handschriften selbst zu tun als mit kombinierenden Rückschlüssen aus der Sammlung der
Handschriftenvarianten, die in einer wissenschaftlichen Ausgabe unter dem Originaltext abgedruckt ist.
Besonders aufschlussreich sind dabei Schreibfehler von Kopisten.
3
Der Begriff des Anspielungshorizontes könnte es erleichtern, so etwas wie kulturellen Einfluss präziser zu
fassen. Ein Pessimist könnte sagen, dass so etwas wie der einheitliche Anspielungshorizont des lesekundigen
Europäers seit ca. 1968 nicht mehr existiert, so dass durch den Wegfall allgemein verständlicher Symbole,
Vergleiche, Beispiele und Anspielungsmöglichkeiten die Verständigung schwerer geworden ist. Ein Optimist
2
psychologisierenden Essays eines Michel de Montaigne etwa sind durchweg Anekdoten aus
antiken Texten.4 Die höfischen Opern des Barock5 wimmeln – wie übrigens auch schon die
Festgelage der Renaissance-Päpste in Rom6 – von unter großem Brimborium auftretenden
griechischen Göttern: sie hatten kulturelle Realität,7 ohne dass man deshalb an ihre Existenz
geglaubt hätte. Und von den meisten Gedichten eines der beeindruckendsten
deutschsprachigen Lyriker, nämlich Friedrich Hölderlin (1770 – 1843), kann man noch nicht
einmal die Titel verstehen, wenn man nicht ein Lexikon der griechischen Mythologie daneben
liegen hat.8
Aus diesen und vielen anderen möglichen Beobachtungen ergibt sich, dass die Antike nicht
irgendeine Vergangenheit, sondern das Altertum des nachantiken Europa ist. Sie könnte, so
lange sie her ist, also schon allein deshalb wichtig sein, weil sich jemand ohne Rückbezug
kaum selbst verstehen könnte, falls er sich als Europäer selbst verstehen will.
Jetzt soll es also darum gehen, wie die seltsame Denkaktivität Philosophie in der Antike
stattgefunden hat. Die Gliederung meines Vortrags folgt dazu einem einfachen Schema,
indem sie die antike Philosophie wie üblich in drei Akten behandelt:
1. Der Ursprung der Philosophie
(Vorsokratiker, Sophisten: 6. und 5. Jh. v. Chr.)
2. Die klassische Periode
(Platon, Aristoteles: ca. 400 - 322 v. Chr.)
3.Die nachklassische Antike
(Epikur, Skepsis, Stoa, Neuplatoniker: 3.Jh.v. – ca.6.Jh.n.Chr.).
Dazu gleich ein paar Anmerkungen vorweg:
könnte sagen, dass sich – ganz im Gegenteil – der Anspielungshorizont erweitert und globalisiert hat.
Wahrscheinlich stimmt beides: Die Möglichkeiten der Verständigung sind dadurch größer geworden, dass das
kulturelle Gedächtnis vieler Gesprächspartner dieselben klassischen Filme und Comics, denselben
Vulgärbuddhismus und dieselbe Pop-Musik enthält. Sie ist schwieriger geworden, da das kulturelle Gedächtnis
nicht mehr einheitlich ist, und daher von dem kulturellen Gedächtnis einer ganzen Gesellschaft nicht mehr zu
sprechen ist. Die Höflichkeit gebietet also heute viel stärker, dass man sich aktiv in das Gegenüber hineinversetzt
und rät, mit wem welche Anspielung glückt. Das mag nicht die schlechteste Entwicklung sein. Gute Schulen
sollten versuchen, die Schnittmenge der möglichen Anspielungen unter allen Medienkundigen so groß zu halten,
dass man dabei noch auf Verständigung hoffen kann. Dies wäre Bildung ohne starren Kanon. Auch für das
Studium der Geschichte der Philosophie im Rahmen des Philosophiestudiums lässt sich vorbringen, dass es vor
allem einen gemeinsamen Anspielungshorizont schaffen soll, der es ermöglicht, sich bei aller gebotenen
Präzision schnell und andeutungsweise über systematische Probleme zu verständigen.
4
Ein schönes Beispiel ist der – auch inhaltlich in vielem auf die Stoa zurückverweisende – Essay über die
Wechselhaftigkeit unseres Handelns (Buch II, Essay 1).
5
Ein besonders hübsches Beispiel ist m.E. die Oper „Semele“ von Georg Friedrich Händel (1685 – 1759).
6
Vgl. z.B. Jacob Burkhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 5. Abschnitt, Unterabschnitt „Bei Kardinal
Riario“, S. 464 in der Ausgabe Stuttgart: Reclam 1960 u.ö.; Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom
im Mittelalter, Bd. III 2 der Ausg. München: dtb 1978 u.ö., S. 488 (14. Buch, Abschnitt 4.1); Heinz Dieter
Schmid (Hg.), Fragen an die Geschichte, Frankfurt / M.: Hirschgraben, 1978 u.ö., Bd.2, S. 181 Q2 nach: H.
Kühner, Neues Papst-Lexikon, Fischer-Bücherei 682, S. 110.
7
Vgl. Fußnote 3.
8
Empfehlenswert für solche Fälle, auch wegen der präzisen Quellenangaben: Robert Ranke Graves, The Greek
Myths, London: Penguin 1955 u.ö.
3
(1) Sie sehen: die philosophiehistorische Antike umfasst etwa 1200 Jahre - vom 6.
vorchristlichen bis zum 6. nachchristlichen Jahrhundert. Ich habe das 6. nachchristliche
Jahrhundert als Endphase angegeben, weil in diesem Jahrhundert die letzten großen von
Heiden auf Griechisch verfassten Kommentarwerke zur Philosophie des Aristoteles
entstanden.9 Übrigens mag im 5. und 6. nachchristlichen Jahrhundert das Mittelalter schon
angefangen haben, obwohl die Antike noch nicht vorbei war. Denn in dieser Zeit schrieben
auch schon bedeutende christliche Philosophen auf Latein (ich komme darauf am Schluss
zurück).10
(2) Die Ordnung sieht chronologischer aus, als sie ist: ich werde, besonders für den Ursprung
weit ausholen müssen und dabei einiges sagen, was für antike Philosophie im allgemeinen
gilt. Außerdem möchte ich den ersten Abschnitt im wesentlichen aus der Außenperspektive
mit Blick auf einen Text eines Nichtphilosophen behandeln, nämlich anhand eines kleinen
Ausschnits aus einem über 2400 Jahre alten Theaterstück.
(3) Sie sehen sofort, dass die antike Philosophie sehr ungleich periodisiert ist: zwei
Jahrhunderten Vorspann schließen sich zwei einzelne Autoren zweier aufeinanderfolgender
Generationen als Höhepunkt an, und dann folgen 900 Jahre Nachklassik. Und tatsächlich
beschäftigt sich auch immer noch der größte Teil der Forschungsliteratur allein mit den zwei
Autoren der klassischen Periode. Dafür gibt es zwei Gründe:
a) Von Platon und Aristoteles besitzen wir viele vollständige Werke, von Platon sogar die
komplette Werkausgabe (acht dicke zweisprachige Bände in der dt./gr. Ausgabe), 11 von
Aristoteles ein riesiges Konvolut von Vorlesungsskripten (23 Bände in der englisch/gr.
Ausg.) 12 .
9
Diese etwa 20.000 Druckseiten umfassenden griechischen Kommentare sind im 19. Jahrhundert in 60 Bänden
als Commentaria in Aristotelem Graeca (CAG) gesammelt worden (Berlin: Reimer, ab 1881) und werden zur
Zeit unter der Leitung von Richard Sorabji erstmals in eine moderne Sprache, das Englische, übersetzt. Die
wichtigsten antiken Kommentatoren sind Alexander von Aphrodisias (um 200), Proklos (410-485) und
Ammonios (ca.445-526). Die Kommentartradition zu den Werken des Aristoteles setzt sich in Europa auf Latein
(z.B. Boethius im 6. Jh. und Thomas von Aquin im 13. Jh.), im islamischen Kulturraum auf Arabisch fort
(Avicenna und Averroes im 11. bzw. 12. Jh.).
10
Vgl. zu den wichtigsten dieser Autoren, Augustinus (354 – 430) und Boethius (480 – 525), die Vorlesung
„Philosophie des Mittelalters“.
11
Unter den deutschsprachigen Platon-Gesamtausgaben bieten die Übersetzungen von Rudolf Rufener (Artemis,
Zürich) und Otto Apelt (Meiner, Hamburg) einen zuverlässigen und besonders schön lesbaren Text. Wer sich in
das Deutsch des frühen 19. Jh. hineinlesen mag, bekommt aber auch durch die klassische Übersetzung Friedrich
Schleiermachers viel vom Tonfall des Originals mit. Hier ist besonders die Parallelausgabe der
Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt zu empfehlen, da sie nicht nur zusätzlich den griechischen Text
mit Varianten bietet, sondern auch in Fußnoten zum deutschen Text Schleiermacher behutsam korrigiert, wenn
er ausnahmsweise falsch übersetzt. Aus diesem Grund sind diese Ausgaben den einsprachigen gelben ReclamBänden vorzuziehen, die Schleiermacher unbesehen nachdrucken. Die orangefarbigen zweisprachigen ReclamBände sind, ebenso wie die neueren zweisprachigen grünen Bände aus dem Meiner-Verlag, in der Regel gute
Neuübersetzungen mit brauchbaren Einführungen.
12
Diese im Loeb-Verlag erschienene Ausgabe ist als zweisprachige Ausgabe die benutzerfreundlichste, wenn
auch die Übersetzungen manchmal älter und recht frei sind. Im Zweifelsfall empfiehlt sich ein Vergleich mit
dem englischen Text der zweibändigen Dünndruckausgabe der revidierten Version der „Complete Works of
Aristotle“, hg. v. Jonathan Barnes, Princeton: Princeton University Press 1984, und, soweit bereits erschienen,
der deutschen Aristoteles-Ausgabe im Akademie-Verlag, Berlin (auch wegen der oft ausgezeichneten
4
Von den Vorsokratikern dagegen besitzen wir nur Fragmente, das heißt: nicht unbedingt
sehr lange wörtliche Zitate in der spätantiken Sekundärliteratur oder gar nur Referate ihrer
Meinungen.13 Dasselbe gilt für die Autoren der „Stoa“ aus der frühen nachklassischen Zeit.
Diese Fragmente summieren sich zwar zu mehrbändigen Sammlungen,14 aber sie erschließen
sich einfach nicht so leicht wie die Ganzschriften der klassischen Zeit. Von einem Sophisten
aus der Frühphase hat man mal die eine oder andere Rede,15 von Epikur nichts als drei Briefe
und eine Art Thesenpapier.16 Erst aus der späteren Phase der nachklassischen Zeit, etwa ab
dem 1. vorchristlichen Jahrhundert, hat man dann wieder ganze Bücher und auch
mehrbändige Werke. Doch auch Texte aus der Skepsis, der jüngeren Stoa oder dem
Neuplatonismus, die ich für echte Perlen halte, haben auf den ersten Blick oft etwas Skurriles
an sich. Gegenüber der frischen, kreativen und gründlichen Art und Weise, auf die Platon und
Aristoteles schon so viele Fragen attackieren, die auch noch heute das Feld der Philosophie
ausmachen, haben sie es damit schwer.
b) Schon in der nachklassischen Periode, und zwar immer stärker gegen deren Ende hin,
wurden Platon und Aristoteles als klassische Autoren gewertet. Sie waren eine Art Antike der
Antike. So kam es ab etwa 200 n. Chr. zu einem regelrechten Platon-Revival, dem
Neuplatonismus, der zugleich ein Aristoteles-Revival war, denn man versuchte dabei, die
Auffassungen beider Autoren zu vereinbaren – übrigens, wie Sie sehen werden, keine ganz
leichte Übung!
Kommentierung). Spezielle Empfehlungen: für die Metaphysik: Seidl / Bonitz (Meiner); für Nikomachische
Ethik und Politikvorlesung: Gigon (dtv). Für die logischen Schriften ist von der Übersetzung von Zekl (Meiner)
dringend abzuraten.
13
Vgl. dazu den Schluss dieser Vorlesung.
14
Die Fragmente der Vorsokratiker sind zusammengestellt in der klassischen dreibändigen Fragmentsammlung
von Diels und Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, hg. v. H. Diels, Berlin 1903, 5.
Aufl. mit Nachträgen versehen von W. Kranz, Berlin 1934, 6. verbesserte Aufl. 1951f, seitdem unveränderte
Nachdrucke. Vorsokratiker-Fragmente werden immer nach der Nummer dieser Sammlung zitiert, die man mit
DK abkürzt. Alle wichtigen Texte für den Einstieg mit hervorragendem Kommentar finden sich mit englischer
Übersetzung in G.Kirk / J.E.Raven / M.Schofield, The Presocratic Philosophers, Cambridge: Cambridge
University Press, 2. Aufl. 1983, bzw. in der von Karlheinz Hülser bearbeiteten deutschen Fassung „Die
vorsokratischen Philosophen“, Stuttgart / Weimar: Metzler 2001. Auch Belege nach Fragmentnummerierung
dieser Ausgabe (i.f.: KRS) sind akzeptabel. Die von Jaap Mansfeld herausgegebenen zweisprachigen ReclamHefte „Vorsokratiker“ I und II (Stuttgart 1983) bieten einen brauchbaren ersten Eindruck. Die älteren Stoiker
sind ediert in der klassischen Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) von H.v.Arnim (4
Bände, Stuttgart 1903 – 1924). Hier findet sich aber nur der Text in der Originalsprache (es existiert lediglich
eine italienisch-griechische Parallelausgabe). Daneben etablieren sich immer stärker die von Karlheinz Hülser
herausgegebenen, inzwischen auf vier Bände angewachsenen dt./gr. „Fragmente zur Dialektik der Stoiker“
(FDS), Stuttgart, 4 Bde, 1987f. Neben der Stoa sind auch die anderen nachklassischen Strömungen (Epikur,
Skepsis) mit den wichtigsten Texten in Originalsprache und englischer Übersetzung sowie ausgezeichneten
Kommentar wiedergegeben im zweibändigen Sammelwerk „The Hellenistic Philosophers“ von A.A.Long und
D.Sedley, Cambridge, Cambridge University Press 1987 u.ö. Auch Belege nach Textnummerierung dieser
Ausgabe (i.f.:LS) sind akzeptabel.
15
Vgl. z.B. die Leseausgabe der Fragmente des Gorgias von Leontini im Meiner-Verlag, Hamburg 1989.
16
Fast alles Wesentliche von Epikur Überlieferte findet sich im von H.W. Krautz herausgegebenen
zweisprachigen Reclam-Bändchen „Briefe, Sprüche, Werkfragmente“ (Stuttgart 1980). Wissenschaftliche
Ausgabe: G. Arrighetti, Epicuro: Opere, 2. Aufl. Turin 1973; zitiert wird oft nach der klassischen FragmenteSammlung von H. Usener, Leipzig 1887.
5
2. Der Ursprung der Philosophie in der Antike
2.1. Randbedingungen
Um den Beginn der Philosophiegeschichte innerhalb der Antike genannten historischen
Epoche zu markieren, bietet es sich zunächst an, eine Banalität auszusprechen:
Die Philosophie in der Antike beginnt mit den ersten Leuten, die als Philosophen auftreten
und von ihren Mitmenschen als Philosophen wahrgenommen werden.
Das ist an sich klar, aber es hilft uns, die Frage nach der Geburtsstunde und dem Geburtsort
der Philosophie innerhalb der Antike zu präzisieren und ihre Herkunft sowie ihr soziales
Umfeld genauer zu charakterisieren. Wann und wo sind also in der Antike zuerst Leute als
Philosophen aufgetreten und von ihren Mitmenschen als Philosophen wahrgenommen
worden? Die Antwort ist wieder fast eine Banalität, aber auch wieder eine, die es zu
kommentieren gilt:
In den griechischsprachigen Städten des Mittelmeerraums während des 6. bis 4.
Jahrhunderts vor Christi Geburt.
Die Antwort wirft eine Reihe von Fragen auf:
1. Frage: Warum nur im griechischsprachigen Raum?
2. Frage: Warum überhaupt gerade im griechischsprachigen Raum?
3. Frage: Warum in Städten? Warum gerade zu jener Zeit?
Zur 1. Frage: Warum nur im griechischsprachigen Raum?
Was ist mit Indien, was mit China? Nun, ganz zweifellos gibt es in Indien und China schon
sehr lange Traditionen, sich tiefe Gedanken zu machen. Es kann aber dahingestellt bleiben, ob
diese Traditionen der traditionell in Europa als „Philosophie“ bezeichneten Aktivität so sehr
ähneln, dass man sie auch „Philosophie“ nennen sollte.17 Denn es geht mir um Philosophie
um in der Antike, und wie Sie schon gesehen haben, macht der Begriff der Antike überhaupt
nur mit Bezug auf Europa Sinn. Und innerhalb Europas wird man, um den Ursprung der
Philosophie zu kennzeichnen, schon allein deswegen schon auf das antike Griechenland
zeigen, weil dort mit der Philosophie auch das Wort „philosophia“ – Weisheitsliebe –
17
In verschiedenen Philosophiegeschichten findet man zunächst zusammenfassende Kapitel zu Indien oder
China, die aber so weit von den Originaltexten entfernt sind, dass sie kaum mehr als Namen und
Sammelbezeichnungen ergeben. Das Standardwerk zur Geschichte der Logik, „Formale Logik“ von
I.M.Bochenski (München / Freiburg, 4. Aufl. 1978) bietet in Bezug auf Indien übersetzte Quellen für dieses
Spezialgebiet – und zeigt deren enorme Interpretationsbedürftigkeit. Wie schwer Übersetzungsleistungen
zwischen gänzlich verschiedenen Sprachen und Kulturen wie der europäischen und chinesischen sind, zeigt
schon ein Blick ins Reclamheftchen mit einer Übersetzung des Tao-Te-King. Auch aus berühmtem Munde wie
dem Schopenhauers (vgl. z.B. „Die Welt als Wille und Vorstellung I“, Vorrede zur 1. Aufl.) als tiefste
Philosophie hochgelobte Texte wie die altindischen Upanischaden (ebenfalls in Auswahl als Reclamheft
erhältlich) sind – trotz der relativen Nähe des Altindischen zu europäischen Sprachen - zunächst einmal nur
eines: fremdartig. Auf keinen Fall sollte man sich von Sekundärliteratur dazu verleiten lassen, hemmunglos von
Yin und Yang, Atman und Brahman, der Spiritualität der Hopi-Indianer oder dem Zen-Buddhismus
daherzureden. Lieber gehe man erst einmal 30 Jahre in das entsprechende Land und versuche dann zu berichten!
6
erfunden wurde und deswegen dort Leute zuerst mit dem Bewusstsein auftreten konnten,
„philosophoi“ – Weisheitsfreunde – zu sein und als solche angesehen werden konnten. 18
2. Frage: Warum überhaupt gerade im griechischsprachigen Raum?
Von vielen denkbaren Gründen möchte ich zwei hervorheben:
a) Wegen gewisser Charakteristika der griechischen Sprache
b) Wegen gewisser Charakteristika des griechischen Götterhimmels
Zu a) Ich muss also zunächst etwas zur griechischen Sprache sagen. Das lohnt sich schon
deshalb, weil man immer in einer Sprache philosophiert und sich Philosophiegeschichte gut
nach den Sprachen gliedern lässt, in denen hauptsächlich philosophiert wurde.19 Griechisch ist
nun nicht nur die Sprache, in der die Philosophie ihren Anfang nahm, es ist die ganze Antike
hindurch die Sprache der Philosophie geblieben.20
Griechisch wurde in der Antike nicht nur in einem kleinen, malerisch zerklüfteten
Südzipfel des Balkans und auf den Ägäis-Inseln gesprochen wie heute. Vielmehr war die
Westküste der heutigen Türkei ebenso griechischsprachiges Kernland wie auch ganz
Süditalien und Sizilien. Ab dem 4. Jahrhundert vor Chr. wurde Griechisch zur allgemeinen
Sprache des östlichen Mittelmeerraumes, 21 und die größte griechischsprachige Stadt dieser
Zeit war das ägyptische Alexandria. In Rom versuchten zwar im Jahrhundert um Christi
Geburt zwei philosophierende Schriftsteller in hohen politischen Ämtern, Cicero (100 – 43 v.
Chr.) und Seneca (9 v. – 64 n. Chr.?) Latein als Sprache zum Philosophieren zu etablieren,
und sie haben mit der Übersetzung des philosophischen Grundvokabulars gute Arbeit
geleistet.22 Trotzdem: Wer in Rom etwas auf sich hielt, studierte in Griechenland und sprach
18
Das Wort sophia hat auch einen praktischen Klang: wer Weisheit besitzt, ist ein Weiser mit tiefem Wissen um
das richtige Leben, nicht einfach nur einer, der viel Wissenschaft betrieben hat. philo-sophia, Streben nach
Weisheit ist dabei nicht mit sophia, Weisheit, selbst gleichzusetzen (vgl. dazu Sokrates Rede in Platons
„Gastmahl“, Symp.198a-212c, bes. 204b). Im Umkehrschluss mag man die Auffassung vertreten, dass, wer
weise ist, keine Philosophie mehr not hat.
19
So gehörte die Philosophie der Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert verschiedenen regionalen Kultursprachen:
Französisch, Italienisch, Englisch, Deutsch. Im 21. Jahrhundert hat sie wieder eine gemeinsame Sprache: das
Englische. Im Mittelalter philosophierte man in den Sprachen der tonangebenden Religion, also im Bereich des
Chistentums zufällig in der altertümlichen Verwaltungssprache des längst untergegangenen römischen Reiches:
Latein.
20
Sämtliche auf Altgriechisch geschriebenen überlieferten Texte passen übrigens auf eine einzige (für Experten
wegen ihrer Suchfunktion unentbehrliche) CD-Rom, die elektronische Ausgabe des Thesaurus Linguae Graecae
(TLG), die auch im Internet über die homepage der Tufts University, Boston, erreichbar ist.
21
Aus diesem Grund sind auch die im Neuen Testament zusammengefassten frühchristlichen Texte allesamt in
einem – recht einfachen und späten – Altgriechisch abgefasst. Übrigens sprachen schon so viele Juden in den
Jahrhunderten vor Christi Geburt vor allem Griechisch und nur noch wenig Hebräisch, dass das Alte Testament
bereits im 3. vorchristlichen Jh. ins Griechische übersetzt wurde (sog. Septuaginta, „Werk von 70 Übersetzern“)
22
Die Werke beider Autoren sind in recht großem Umfang überliefert und als Quellen wichtig (z.B. Ciceros de
fato, „Über das Schicksal“, als Quelle für die Debatte um Willensfreiheit und Determinismus), aber von
begrenzter Originalität und oft ziemlich weitschweifig. Für intensive Cicero-Lektüre sind die zweisprachigen
Bände der Tusculum-Reihe zu empfehlen, für Seneca die zweisprachige Ausgabe im Meiner-Verlag. Für einen
Eindruck sind aber auch die zweisprachigen Reclam-Ausgaben, etwa von Ciceros De officiis, „Von den
Pflichten“ oder einiger Briefe Senecas völlig ausreichend.
7
unter seinesgleichen Griechisch, garnierte Texte mit griechischen Zitaten,23 besuchte
griechische Vorlesungen24 und führte auf Griechisch Tagebuch25.
Ich glaube nun tatsächlich, dass – neben der enormen Flexibilität der Grammatik –
besonders zwei Eigenheiten des Griechischen die Entstehung der seltsamen Aktivität namens
Philosophie befördert haben:
- Griechisch ist eine indoeuropäische Sprache und trennt daher schon grammatisch deutlich
den Träger einer Eigenschaft von der Eigenschaft bzw. den Täter von der Tätigkeit;
- das Griechische enthält bestimmte Artikel sowie das Neutrum als grammatisches
Geschlecht, und damit enthält es auch einen bestimmten Artikel im Neutrum, to, entsprechend
dem deutschen „das“.
Zunächst ist der bestimmte Artikel Neutrum natürlich nur Teil der ganz normalen Rede
über unumstritten vorhandene Gegenstände wie das Haus oder das Pferd. Aber man kann ihn,
davon ausgehend, wie ein kleines Zauberwort verwenden. Man kann ihn nämlich (im
Deutschen wie im Griechischen) einfach vor ein Eigenschaftswort oder eine Form eines
Tätigkeitswortes stellen und dieses dadurch benutzen, als bezeichne es ein Ding, das man auf
alle Seiten drehen und wenden kann, um seine Eigenart zu erkennen: das Gute (t’agathon),
das Schöne (to kalon), das Gerechte (to dikaion), das Sein (to einai), das Seiende (to on). Und
auch die Artikel anderer grammatischer Geschlechter ermöglichen ein ähnliches Verfahren:
ho kosmos = das Geordnete, später „die Welt“; hê physis = der Wuchs, später „das Wesen“
u.v.m.
Zu b) So gut wie alle Leute, die in den Jahrhunderten der Entstehung der Philosophie
Griechisch sprachen, glaubten an eine Vielzahl von Göttern (der Kernbestand an Personal ist
dabei ungefähr derselbe). Aufschlussreiche Texte über diesen Glauben sind die homerischen
Versepen Ilias und Odyssee. 26 Jeder wusste aus ihnen, dass es an Meinungsverschiedenheiten
unter den Göttern darüber lag, was gerecht sei, wenn Odysseus zehn Jahre für seine
Durchquerung der Ägäis brauchte: Dumm gelaufen, wenn etwa der Meeresgott Poseidon
gegen einen ist und einen noch kurz vor der rettenden Küste aufs Meer zurückwerfen will,27
obwohl es damals ganz klar Selbstverteidigung gewesen war, Poseidons riesenhaftem Sohn
einen Holzpfahl in sein einziges Auge zu rammen.28 Gut dagegen, wenn Athene, die Göttin
23
So etwa sehr deutlich zu sehen in der Anekdotensammlung Noctes Atticae von Aulus Gellius (2. Jh.).
Etwa die stoisch geprägten Vorlesungen des Freigelassenen Epiktet (ca.50 - 138), von dem u.a. ein sehr
interessantes „Handbüchlein der Moral“ überliefert ist, oder des Neuplatonikers Plotin (205-270), von dem
umfangreiche und beeindruckende sog. Enneaden („Vorlesungen in neun Abteilungen“) überliefert sind.
25
Überliefert ist z.B. das stoisch-depressive Tagebuch des Kaisers Marc Aurel (gest.169); sehr lesbar, wenn
auch evtl. zuweilen übermodernisiert übersetzt von Rainer Nickel für eine zweisprachige Taschenbuchausgabe
im Artemis-Verlag (Zürich 1998).
26
Die homerischen Versepen wurden aufgeschrieben, sobald man überhaupt gelernt hatte, Griechisch in
Buchstaben zu notieren, d.h. ungefähr in der Mitte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts. Diese Epen waren das
kulturelle Gedächtnis aller Griechischsprechenden: Viele von ihnen müssen große Portionen der 28.000 Verse
auswendig gekonnt haben; wer lesen und schreiben konnte – und das waren in den Städten gar nicht wenige –
der konnte nachschlagen und lesend rezitieren; die darin erzählten Geschichten kannten alle. Zu den
homerischen Epen und ihre Verbindung zum historischen Troja ist sehr lesenswert: Joachim Latacz, Troia und
Homer, München/Berlin: Koehler & Amelang 2001 (vgl. insbes. S. 309 – 314 für die ungemein raffinierte
Datierung einiger Verse der Ilias ins 15. vorchristliche Jh.!).
27
Odyssee, 5. Gesang, Verse 279-493.
28
Vgl. z.B. Odysssee I 20 in Verbindung mit IX 215-534.
24
8
der Weisheit, im richtigen Moment auf den olympischen Konferenzen bei ihrem Vater Zeus
ein gutes Wort für einen einlegt, am besten natürlich dann, wenn Poseidon gerade verhindert
ist.29 Obwohl man zugeben muss, dass Zeus als oberster Schiedsrichter auch so eine Sache ist:
mit der ehelichen Treue nimmt er es selbst nicht allzu genau, und seine Machtstellung ist das
Ergebnis einer unfreundlichen Übernahme nach langem Kampf gegen den eigenen Vater
Kronos, der allerdings verzeihlich sein mag, da Kronos aus Angst vor einem solchen Angriff
vorsorglich seine Kinder aufzuessen pflegte.30
Kurz: Der griechische Götterhimmel liefert so wenig einen Standard des Guten, dass man
sich fast zwangsläufig fragen musste „Was ist eigentlich das Gute?“, und keine Chance hatte,
sich für eine Antwort darauf zu den Göttern zu flüchten.
Auch die klassische griechische Tragödie zeigt uns Hauptpersonen, die von den Göttern
allein gelassen oder gar so schlecht informiert werden, dass sie, ohne es zu wissen, die
schrecklichsten Dinge tun, z.B. Ödipus. Und so legen auch Texte dieser Gattung 31 schon
ständig Fragen nahe wie: Was habe ich eigentlich in der Hand - und wann reagiere ich nur auf
mein Schicksal? Wann ist mir eigentlich etwas vorzuwerfen, wann habe ich Schuld?
Aber das ist nicht das einzige: die griechischen Götter waren auch einfach so wenig
abstrakt, dass sie für theoretische Erklärungsversuche eines anspruchsvollen Geistes – ganz
anders als der bildlose, eine Gott des Alten Testaments – keinen wirklichen Reiz haben
konnten.
3. Frage: Warum in Städten? Warum gerade zu jener Zeit?
Die Antwort lautet: weil das Zentrum griechischsprachiger Städte zu jener Zeit der Marktplatz
war – eine agora. Das ist weit weniger banal, als es klingt. Die agora, das heißt zur Zeit der
Entstehung der Philosophie: ein Platz, auf dem selbstbewusste Bewohner eines Stadtstaates
ihren Geschäften nachgehen. Ist es eine Hafenstadt, so zeigen die weitgereisten Schiffe ihrer
Stadt ihre Unternehmungslust. Man ist sich stolz seiner eleutheria bewusst, der Tatsache, dass
man kein Sklave ist. Als Bürger muss man sich nicht alles bieten lassen wie die Leute weiter
im Osten, die noch nicht einmal Griechisch sprechen sondern immer nur „barbar“ machen
und die vor einem König in die Knie gehen, ja ihn sogar als Gott verehren. Dieser Bürgerstolz
führt in der zeitweise mächtigsten und am stärksten vom Lesen und Schreiben geprägten
griechischen Stadt, in Athen, zu einem geradezu basisdemokratischen Verwaltungssystem in
Bezug auf die männlichen Vollbürger: auch hohe Ämter wurden z.T. verlost (wer wollte
bezweifeln, dass ein Vollbürger dem Amt gewachsen war...!), Gesetze wurden von der
Volksversammlung verabschiedet, und Recht gesprochen wurde von Volksgerichten mit
mehreren hundert Geschworenen (wer wollte bezweifeln, dass so viele Vollbürger zusammen
zu einem kompetenten Urteil kommen würden...!).32
29
Vgl. z.B. Odyssee I 20-62.
Vgl. Ranke-Graves Bd. I, Kap.7.
31
Für einen Eindruck empfehlen sich die berühmten Tragödien des Sophokles (496– 406 v. Chr.), z.B. „Ödipus“
oder „Antigone“, aber auch die noch weit archaischer wirkende dreiteilige „Orestie“ des Aischylos (525-456 v.
Chr.)
32
Zur griechischen Geschichte allgemein als kurze Darstellung und ausgezeichneter Literaturverteiler: Wolfgang
Schuller, Griechische Geschichte, München: Oldenbourg 1991, ersch. in der Oldenbourg-Reihe „Grundriss der
Geschichte“; zur politischen und sozialen Struktur sehr lesenswert ist: Moses I. Finley, Politics in the Ancient
30
9
Eine Stadt mit solchem Marktplatz war – wir gleich sehen werden - sicher ein günstiger
Platz für den Auftritt der Leute, die die Anfangsphase der Philosophie prägten. Dass sie an
einem Königshof hätte entstehen sollen, kann ich mir nicht vorstellen.
2.2. Aristophanes „Wolken“ als Dokument der Sozialgeschichte der Philosophie
Das heißt aber nicht etwa, dass das Verhältnis zwischen den ersten Philosophen und den
Stadtbewohnern immer ein Verhältnis schönster Harmonie war. Eher im Gegenteil! Man sieht
das an einem einzigartigen Text: der 423 v. Chr. in Athen uraufgeführten satirischen Komödie
„Die Wolken“ des Dichters Aristophanes.33
Beginnen wir mit einer kurzen Zusammenfassung des Plots: Strepsiades, ein Großbauer,
der kriegsbedingt nach Athen ziehen musste, ist in Schwierigkeiten: Der Termin, an dem er
seine Schulden zurückzahlen muß, rückt bedrohlich näher. Aufnehmen mußte er die Kredite,
weil sein Sohn das Geld zum Fenster hinauswirft, z.B. für einen teuren Wagen. Strepsiades
will nun seinen Sohn im "Denkhaus" (phrontisterion) eines gewissen Sokrates ausbilden
lassen. Sein Plan ist ergebnisorientiert: Er hat gehört, man könne dort zwei Arten des
Argumentierens (logoi) lernen - eine bessere, gerechte, und eine schlechtere, ungerechte. Der
Sohn soll nun das ungerechte Argumentieren lernen, um damit die einkalkulierten Prozesse
gegen die Gläubiger gewinnen zu können (Vers 110- 117). Als der Sohn sich weigert, geht
Strepsiades selbst zu Sokrates. Der Empfang ist denkwürdig: Ein Schüler des Sokrates beklagt
sich sofort, Strepsiades' lautes Klopfen habe eine Fehlgeburt seiner Gedanken ausgelöst.34
Sokrates macht gerade Experimente, in heißem Wachs, um die Fußabdrücke von Flöhen
festzuhalten (Vers 148ff). Das Essen für seine – offenbar zahlenden – Schüler in der
schäbigen Klause ist knapp (Vers 173ff). Das Haus zu verlassen, ist ihnen verboten (Verse
198f). Sie stieren, mit der Erforschung irgendwelcher tiefer Geheimnisse beschäftigt,
gedankenversunken auf den Boden; den Bauern Strepsiades erinnern sie an im Schlamm
wühlende Schweine (Verse 187ff). Sokrates begrüßt Strepsiades von einer Art Hängematte
aus – er behält gedanklich gerne den Überblick (Verse 225, 228). In einer bizarren
Einweihungszeremonie für Strepsiades beschwört er die Wolken, die nun als Chor auftreten
(Verse 363-395). Dies ist eine der feinsinnigen Schlüsselszenen des Stückes, die wir uns
genauer ansehen sollen (ich schwöre, dass jedes Wort im Griechischen seine Entsprechung
hat):
World, Cambridge: Cambridge University Press 1983, übersetzt als „Das politische Leben in der antiken Welt“,
München: Beck 1986.
33
Biographische Informationen z.B. im Vorwort der englisch / gr. Ausgabe bei Loeb oder der Ausgabe und
Übersetzung von W.S. Teuffel, Leipzig: Teubner 1867. Einen vergnüglichen Leseeindruck des Gesamttextes
vermittelt die Übersetzung von Otto Seel bei Reclam (Stuttgart 1963). Allerdings wirkt bei ihm doch oft als
bemühte Synthese, was bei Aristophanes selbst eine elegante und witzige Einheit bildet: strenges Versmaß und
gröbste Schweinereien (die folgende Stelle ist sehr harmlos im Vergleich mit dem Schluss der
Auseinandersetzung zwischen gerechter und ungerechter Rede, Vers 1082 - 1104!). Die folgende Übersetzung
folgt dem Text bei Teuffel.
34
Die berühmte Charakterisierung seiner eigenen Tätigkeit als Hebammenkunst im Falle von Platons Sokrates
(Theätet 148e – 151d) könnte also tatsächlich etwas mit dem historischen Sokrates zu tun haben. Man sollte bei
diesem Bild übrigens nicht übersehen, dass eine der Hauptaufgaben der griechischen Hebamme der Rat in der
Fage war, ob es sich lohnte, das Kind aufzuziehen, oder ob man es lieber aussetzen sollte. Wenn Platons
Sokrates also eine Definitionshypothese nach der anderen verwirft – und damit die Gesprächspartner bis zur
verzweifelten aporia (vgl. z.B. Menon 80a-b) frustriert – so ist ihm klar, dass er geistige Kindstötung begeht.
10
STREPSIADES: Hímmel! Wie klíngt das féierlich / und heilig und ungeheuer...
SOKRATES: Na klár, allein sie sind Göttinnen / alles andere íst dummes Zeug.
STR: Und Dein Zéus? Lieber Hímmel! Ist dér denn nícht / ein Gótt oben auf dem Olymp?
SOK: Wie jetzt: Zéus? Hör mit dém Quatsch doch endlich mal auf! / Zeus existiert nicht!
STR:
Wíe bitte?
Áber wer mácht denn dánn den Régen? / Das erklär mir mal érstmal!
SOK: Die da natürlich (zeigt auf die Wolken). Das wérd ich dir / hochwissenschaftlich35 beweisen.
Ság mir: hast dú schon jémals geséhn / dass es ohne Wolken regnet? 36
Wárum kann Zéus keinen Régen, wenn / die Wolken grad’ Ferien machen?37
STR: (...) Ùnd wer mácht dann den Dónner, erzähl! / denn da hab ich immer so Angst vor.
SOK: Sie wälzen sích, das macht Ríesenlärm
STR:
Wow - kühne These!38 Wie geht das?
SOK: Wénn sie, mit Wássermássen voll / zwangsläufig hín und her tréiben
únd dabei dúrchhängen, plátzen síe / zwangsläufig. Dás ist der Dónner.
STR: Áh? Und wer zwíngt39 sie dénn dazú? / Das ist dann doch Zeus – oder?
SOK: Wéit gefehlt – és ist der Äther-Spin.40
STR:
Äther-Spin? Níe was gehört von!
Also... Zéus gibt’s gár nicht – aber dafür / hérrscht jetzt der Äther-Spin? Mh...
Wás hat das jétzt mit dem Kráchen zu tún? / Das hast du nóch nicht gesagt!
SOK: Dú hast nicht áufgepasst. Wíe schon erwähnt, / sínd die Wolken voll Wasser,
só dass sie beim Aufeinánderpráll, aufgrúnd von Verdíchtung 41 – krachen.
STR: Ság mal, ist das denn zu gláuben?
SOK:
Já. Von dir sélber áusgehend zéig ich’s dir
Hást du dir schónmal beim Vólksfest Gríllgut42 / réingescháufelt bis dáss dein
Báuch dir bís zum Plátzen fast vóll war / únd dann ganz schrécklich rumórt hat?
STR: Já, beim Apóll, ganz entsétzlich ist dás / álles ist dánn durcheinánder.
Wíe so ein kléines Grílltellerchen43 / Dónnergróllen gleich áuslöst!
Érst noch ganz léise papáx ... papáx / áber dann: pápapapáx
und dann ráus mit Kráchen papápapapáx44 / (stutzt) das ist ja genau wie bei denen!
Man ahnt schon, dass Strepsiades nicht gerade ein Abstraktionstalent ist. Er will nur endlich
ungerechtes Argumentieren lernen, aber Sokrates nervt ihn mit grammatischen
Grundsatzunterscheidungen: In einer ersten Unterweisung bringt er ihm völlig absurde
feminine Formen griechischer Wörter bei, um der Wirklichkeit sprachlich besser gerecht zu
werden (Verse 657ff). Als Strepsiades' Vorschläge, wie er seine Schulden loswerden könnte,
immer bizarrer werden, wirft Sokrates ihn hinaus, erklärt sich aber bereit, dessen Sohn zu
35
Wörtlich: „mit großen Zeichen (=Beweisen) lehren“ (megalois sêmeiois didaxô).
Aristophanes’ Sokrates unterscheidet also notwendige und hinreichende Bedingung und verlangt vom wahren
Produzenten des Regens, dass dieser zumindest alles Notwendige dafür mitbringt. Auch
Sparsamkeitsgesichtspunkte spielen bei der Erklärung eine Rolle: Wozu Zeus, wenn die Wolken hinreichen?
Man kann das als frühen Gebrauch des Prinzips ansehen, dass später als Ockhams Rasiermesser bekannt
geworden ist: Unnütz macht man mit mehr, was man mit weniger machen kann (frustra fit per plura quod potest
fieri per pauciora), Summa Logice I 12, vgl. dazu die Vorlesung „Philosophie im Mittelalter“.
37
„Ferien machen“ = apodêmein.
38
Wörtlich: „O du alles Wagender“ (ô panta sy tolmôn).
39
“Zwangsläufig” / zwingt” in den Versen 376 – 379: anagkasthôsi, di’ anagkên, anagkazôn.
40
aitherios dinos. Vgl. dazu unten.
41
pyknotês, vgl. unten.
42
Erwähnt ist ein sômos bei den Panathenäen. Das Wort sômos ist sonst wenig überliefert, offenbar aber „ein
Bestandteil eines leckeren Mahls“ (Teuffel 1867, S.82). Das Fest darf man sich natürlich nicht als Kirmes mit
Wurstbuden vorstellen. Vielmehr ist wohl an ein Festmahl an langen Tischen zu denken, das als Tradition der
Stadt bei aller Fröhlichkeit identitätsstiftende Bedeutung hat, ähnlich dem in Fellinis schönem Film „Luna Luna“
vorkommenden traditionellen Gnocchi-Essen einer italienischen Kleinstadt.
43
Hier steht sômidion, die Verkleinerungsform von sômos.
44
Diese Silben sind direkt aus dem Original übernommen.
36
11
unterrichten. Der staunt nicht schlecht, daß sein Vater über Nacht Atheist geworden ist,
seltsame feminine Substantivformen gebraucht und von Wolken und Flöhen faselt. Er
überlegt zunächst, ihn entmündigen zu lassen (Vers 844), gibt dann aber nach und geht zu
Sokrates.
In einem Zwischenspiel (Verse 889- 1104) treten nun die zwei Argumentationsweisen
selbst auf. Die "bessere Rede" predigt die guten alten Werte, die man unter dem Titel
"Selbstdisziplin" zusammenfassen mag. Die "niedere Rede" macht die bessere in einer Art
Kasperletheater so lange nieder, bis diese zur gegnerischen Seite überläuft. Im wesentlichen
argumentiert sie dabei – natürlich – mit dem schlechten Beispiel von undisziplinierten Göttern
und Helden. Nach ihrer Ausbildung gefragt, nimmt die niedere Rede kein Blatt vor den Mund
(Verse 1038 – 1040):
Die niedere Rede wurde ich deshalb
Bei jenen Denkkünstlern getauft, da ich
als Allererster überhaupt kapiert hab,
dass ich ja diesen Paragraphen, diesem Recht
einfach das Gegenteil entgegensetzen kann.45
Strepsiades' Sohn lernt bei Sokrates die niedere Rede. Nun ist Strepsiades gegen die
Gläubiger gerüstet. Denn sein Sohn beweist rein sprachanalytisch, daß es den Zahltag gar
nicht geben könne, da das Wort dafür, „Alt- und Neutag“ (vgl. henê kai nea, Vers 1178)
selbstwidersprüchlich sei. Strepsiades übernimmt das Argument und tritt noch nach: Da die
Gläubiger, wie ihre Flüche zeigten, an Götter glaubten, sie ohne Ahnung der neuen femininen
Wortformen noch nicht einmal philosophisch korrektes Griechisch könnten und offensichtlich
keine Ahnung von der wahren Bedeutung der Wolken hätten, sei ihre Behauptung, sie hätten
Geld verliehen, ohnehin nicht ernstzunehmen (Verse 1269-1302). Wütend ziehen die
Gläubiger ab. Doch bald streiten sich Strepsiades und sein Sohn. Der Sohn verprügelt den
Vater und rechtfertigt sich dabei mit niederer Rede: Wie die Eltern zur Erziehung die
unvernünftigen Kinder schlagen dürften, so dürften auch die erwachsenen Söhne die wieder
zu Kinder gewordenen senilen Väter schlagen (Verse 1415ff); daran sei nichts unnatürlich:
auch Streithähne verschiedener Generationen kämpften gegeneinander (Verse 1425f); Zeus,
an den Strepsiades inzwischen wieder glaubt, gebe es bekanntlich nicht (Verse 1465ff) usw.
Strepsiades rächt sich an Sokrates, indem er ihm und seinen Schülern das Denkhaus über dem
Kopf anzündet (Verse 1508 f):
für vieles, doch am allermeisten / für ihre Gotteslästerung.
Die Wolken, die, wie sich herausstellt, alles bloß eingefädelt haben, um Strepsiades einen
Denkzettel zu verpassen (vgl. Vers 1458), tanzen amüsiert und zufrieden mit ihrer Rolle von
der Bühne.
45
egô gar hêtton men logos di auto tout’ eklêthên / en toisi phrontistaisin, hoti prôtistos epenoêsa / toisin nomois
kai tais dikais tananti’ antilexai.
12
2.3. Naturphilosophen und Sophisten
Sie werden sich fragen, warum ich Sie mit diesem seltsamen Text behellige. Nun, ich halte
ihn einfach für ein höchst spannendes Dokument der Sozialgeschichte der Philosophie. Wir
lernen hier das Philosophenbild der Einwohner Athens im 5. vorchristlichen Jahrhundert
kennen. Tatsächlich kann man in den „Wolken“ sehr schön beide Hauptströmungen der
frühen griechischen Philosophie wiederfinden:
1. In der Auftrittsszene der Wolken haben wir mit der Sokrates genannten Klischeefigur
hauptsächlich einen typischen frühgriechischen Naturphilosophen vor uns.
2. Die Figur der niederen Rede und damit indirekt auch ihr Ausbilder „Sokrates“ kann als
Repräsentant der sogenannten Sophistik angesehen werden.
Beide Strömungen lernen wir als Karikatur kennen, aber gerade die Karikatur lässt ja typische
Züge besonders deutlich erkennen.
zu 1) Man kann bei allem Geblödel ruhig einmal ernstnehmen, was den Naturphilosophen
Sokrates in den „Wolken“ charakterisiert: die traditionellen griechischen Götter nützen ihm
nichts für die Art der Welterklärung, die ihm angemessen erscheint, und so hat er für sie keine
Verwendung. Er bevorzugt eine nicht-theologische, wissenschaftliche Erklärung der
Naturphänomene, eine Himmelsmechanik, die im speziellen Fall, wie wir gesehen haben, am
Modell der menschlichen Verdauung orientiert ist. Dabei spielt ein besonders elementarer
Stoff, das Wasser, eine Rolle. Und alles Naturgeschehen wird in kühner Abstraktion auf ein
Prinzip zurückgeführt: den Äther-Spin (dinos). Bei den einzelnen Erklärungen hält es der
Sokrates der „Wolken“ für informativ, darauf hinzuweisen, das Geschehen laufe zwangsläufig
ab, was soviel heißt wie: „es könnte nicht anders sein, nicht weil Götter, sondern weil eine
Naturgesetzlichkeit es erzwingt“.
Die Ähnlichkeiten sind nicht zu verkennen: auch ein gewisser Thales (625 – 547 v. Chr.)
aus der kleinasiatischen Stadt Milet lässt alles aus Wasser hervorgehen,46 bei einem gewissen
Anaximenes (ca. 585 – 525 v.Chr.) aus derselben Stadt besteht letztlich alles aus Luft – und
die Begründung dafür, wie denn aus Luft Steine entstehen können, ist aus den „Wolken“
schon gut bekannt: durch Verdichtung (pyknotes).47 Grundstoff bei einem gewissen
Anaxagoras (500 – 524 v. Chr.) ist das Feuer (Anaxagoras wurde übrigens aus Athen verjagt,
weil die Vorgänge auf der Sonne nach dem Modell eines Schmelzofens erklären wollte, was
den Athenern mindestens so absurd vorkam wie die Himmelsperistaltik der „Wolken“)48.
Derselbe Anaxagoras erklärt statt des Äther-Spins etwas zum Prinzip allen Geschehens, das er
den nous nennt – wieder so eine substantivierte Verbform, die man mit „Geist“ oder
„Denken“ übersetzen mag. Für Empedokles (ca. 492 – 432 v.Chr.) spielt die Rolle des
Prinzips allen Geschehens ein elementarer Widerstreit zwischen Liebe und Hass, deren
Zusammentreffen interessanterweise zuweilen „Strudel“ bildet, wobei das Wort für „Strudel“
46
KRS 85.
KRS 141.
48
KRS 459, DK 59A1.
47
13
fast dasselbe ist (dinê) wie das Wort, das ich mit Äther-Spin übersetzt habe (dinos).49 Für
Heraklit (ca 550 – 480 v. Chr.) ist der Streit (polemos) allein der Vater aller Dinge.50 (Die
Existenz stabiler Dinge erklärt er übrigens zur Illusion: alles ist im Fluss.51 Sein großer
Gegenspieler Parmenides (540 – 470 v. Chr.) aus dem süditalienischen Elea, macht es –
unterstützt von seinem Meisterschüler Zenon (490 – 430 v.Chr.)52 – gerade andersherum: alle
Bewegung ist Illusion, und es gibt nur das große statische Eine.53)
Die vielleicht am stärksten zukunftsweisende Lehre, auf die in den „Wolken“ angespielt
sein mag, ist der antike Atomismus der Autoren Demokrit und Leukipp 54. Nach ihrer Lehre
sind alle sichtbaren Dinge eigentlich Zusammenklumpungen von unsichtbaren,
unzerstörbaren Elementarteilchen (atomos heißt „unteilbar“) im großen Leeren. Von diesen
Elementarteilchen gibt es nur eine Handvoll Sorten von einfacher geometrischer Form.55 Im
Detail treffen wir wieder auf eine Menge Strudelmechanik, 56 und wenn es zur Frage kommt,
warum sich die Teilchen so bewegen, dass sie gerade hier und dort zusammenklumpen, so
lautet die Antwort, dies sei zwangsläufig so (ka t’ anagkên).57
Blenden Sie das alles mit der Einstellung zusammen, dass es sowieso Schwachsinn ist,
dann bekommen Sie gerade den Sokrates aus der Auftrittsszene der „Wolken“. Ich finde: Man
sieht gerade in der Karikatur, wie radikal, revolutionär und beunruhigend diese Denkansätze
gewesen sind. Und das Geld? Ja, natürlich werden diese Philosophen auf Vortragsreisen von
Stadt zu Stadt Eintrittsgeld kassiert haben.58 Immerhin hatten sie die Welt zu erklären.
zu 2) Zur Entstehungszeit der „Wolken“ gibt es aber noch eine zweite Gruppe von bezahlten
Kopfarbeitern, die durch die greichischen Städte auf Tournee gehen. Man nennt sie Sophisten,
und sie sind nach heutiger Berufsbezeichnung zunächst einmal ganz einfach Rhetoriktrainer.
Dass es in griechischen Städten für Rhetoriktrainer einen lukrativen Arbeitsmarkt gab, dürfte
Sie nach meiner Beschreibung einer solchen Stadt nicht besonders wundern. Wenn es einem
gelang, in der Volksversammlung seine Meinung durchzubringen, oder einen wichtigen
Prozess vor dem Volksgericht zu gewinnen, dann durfte die professionelle Schulung dafür
schon ein bisschen was kosten. Klar auch, dass eine solche Schulung ergebnisorientiert war:
49
KRS 360, DK 31B35.
KRS 212, DK 22B53.
51
Belege, allerdings distanziert kommentiert, bei KRS S. 213ff. Das berühmteste Heraklit-Zitat in diesem Sinne
ist das bei Plutarch überlieferte Fragment DK 22B49A (Mansfeld Nr.96): „Es ist unmöglich, zweimal in
denselben Fluß zu steigen“ (potamôi gar ouk estin embênai dis tôi autôi).
52
Der Erfinder des Paradoxons von Achilles und der Schildkröte, nicht identisch mit dem gleichnamigen Zenon
von Kition (ca. 336 – 264 v.Chr.), einem der Begründer der Stoa.
53
KRS Kap.VIII und IX passim.
54
KRS Kap.XV. Zur systematischen Würdigung sehr aufschlussreich: M. Capek, The Philosophical Impact of
Contemporary Physics, Princeton: Nostrand 1961, Kapitel 1 - 6.
55
KRS 583.
56
Atemberaubend die Nebularkosmogonie in KRS 563 / DK 67A1. Man mag fast an einen frühen Vorläufer der
Nebularhypothese denken, die zuerst im 1. Kapitel des 2. Teils des Frühwerks „Allgemeine Naturgeschichte und
Theorie des Himmels“ von (1755) von Immanuel Kant (1724 – 1804) erscheint, der sich denn auch in der
Vorrede (A XXVI) explizit auf Demokrit und Leukipp bezieht.
57
KRS 566.
58
Einen sehr schönen Eindruck von einer Station einer solchen Vortragsreise bietet die Eingangsszene von
Platons Spätdialog „Parmenides“.
50
14
vor dem zu erwartenden Publikum kam es nicht nur auf die guten Gründe an, sondern auch
auf die Präsentation – vor allem, wenn man keine guten Gründe hatte.
Zumindest die berühmtesten Vertreter der Sophistik, Protagoras (480 – 410 v. Chr.) aus
Abdera und Gorgias von Leontini (483 - 375), bieten aber nicht nur eine Ausbildung an, sie
liefern auch eine Hintergrundtheorie dazu, und die ist es, die sie philosophisch interessant
macht. In kurzen – eigentlich zu kurzen – Worten kann man diese Theorie so
zusammenfassen:
Wenn du mit deiner Rede Erfolg hast, dann hattest du die besseren Gründe als dein
Gegner. Denn gut und richtig ist, worauf man sich als gut und richtig einigt. Jede
Definition davon, was gut und richtig ist, die das Gute und Richtige nicht sozial verankert,
ist hoffnungslos: falls es Götter gibt, wissen wir ja doch nicht, was sie wollen. Der Mensch
ist das Maß aller Dinge (so Protagoras59 ). Wenn du mit deiner Rede Erfolg hast, dann hast
du die anderen dazu überredet, sich auf das als gut und richtig zu einigen, was du dafür
gehalten hast – und daran siehst du, dass du die richtige Meinung hattest.
Man kann diese Hintergrundtheorie der Sophisten als große aufklärerische Leistung und
geniale säkulare Demokratietheorie bejahen. Man kann sie auch als einen unvertretbaren
Relativismus ablehnen, der letztendlich zynisch das Recht des Stärkeren predigt.
Gehören Sie zur bejahenden Fraktion, so könnte es sein, dass Sie heute einer
diskursorientierten Demokratietheorie etwas abgewinnen können; gehören Sie zur
ablehnenden Fraktion, so ist Ihnen vielleicht eine Demokratietheorie lieber, die mit
Menschenrechten als nicht mehr verhandelbares Fundament argumentiert. Sie ahnen
vielleicht: die Sophisten sind, trotz ihres Alters, alles andere als von gestern.
Sind Sie der Meinung, dass der Ansatz der Sophisten nicht nur falsch, sondern auch aus
religiösen Gründen geradezu verwerflich und für die Jugend gefährlich ist, so treffen Sie
ziemlich genau die anfängliche Position der höheren Rede aus den Wolken und sehen die
niedere Rede als genau das an, was die Sophisten lehren.
3. Die klassische Periode
3.1. Sokrates?
Wir haben von der Klischee-Figur Sokrates in den „Wolken“ den typischen Naturphilosophen
und den typischen Sophisten herausgefiltert. Und doch bleibt noch etwas übrig – etwas, das
noch nicht ins Bild passt. Es ist die freiwillige Bedürfnislosigkeit: Die dort Sokrates genannte
Figur lebt – bei aller Arroganz – freiwillig in derselben Armut wie die Schüler, die er
ausnimmt. Woran liegt das? Nun, die Gestalt Sokrates der „Wolken“ ist natürlich nicht nur
einfach ein Klischee, sondern Sokrates hat wirklich gelebt – offenbar ein in einfachen
Verhältnissen lebendes Original der Stadt, in den Augen der anderen Bürger ein Spinner, um
den sich so viele Legenden rankten, dass man ihn in der Komödie sofort erkannte. Man hat
ihn fast ein Vierteljahrhundert lang danach einigermaßen in Ruhe gelassen, doch im Jahre 399
v. Chr. kommt es zu dem Ereignis, das für einen jungen Herrn aus reichem Haus mit dem
59
Überliefert z.B. in Platons Theätet, 152a.
15
Namen Platon zum Wendepunkt seiner Biographie wird: dem mittlerweile 70-jährigen
Sokrates wird offiziell vorgeworfen, die Jugend Athens verdorben und sie vom Glauben an
die traditionellen Götter abgebracht zu haben. Er wird von einem Volksgericht zum Tode
verurteilt und zum Selbstmord durch einen Gifttrank gezwungen.60
Der Autor der ersten Philosophiegeschichte, ein gewisser Diogenes Laertios (3. Jh.),
berichtet ungefähr 600 Jahre nach den Ereignissen, Platon habe sich zuvor selbst als
Stückeschreiber fürs Theater versucht.61 Auch wenn Diogenes’ Anekdoten nicht immer auf
die Goldwaage zu legen sind, so finde ich diese ziemlich plausibel. Denn von diesem
Zeitpunkt an scheint Platon nur noch ein Ziel gehabt haben: sein unglaubliches Talent als
Verfasser von Dialogen in den Dienst der Verherrlichung seines verehrten philosophischen
Lehrers zu stellen.
Ich habe die Sokrates-Figur der „Wolken“ unter anderem deshalb so ausführlich zu Wort
kommen lassen, damit Platons Sokrates nicht automatisch als der Sokrates erscheint, den es
wirklich gab. Über den wissen wir so gut wie nichts, und er hat keine Zeile Text
hinterlassen.62
Übrigens stellt Platon Aristophanes, den Verfasser der “Wolken“, als guten Freund von
Sokrates dar und legt ausgerechnet ihm einen seiner schönsten Texte in den Mund: das
Märchen von den Liebespaaren als entzweiten Kugelmenschen63 in seinem Dialog „Das
Gastmahl“ (Symposion, wörtlicher: Das Trinkgelage). Er könnte also die „Wolken“ nicht als
Kritik an Sokrates verstanden haben, sondern als warnende Darstellung des durch Hass und
Dummheit verzerrten Blicks der Athener auf Sokrates – ich bin ziemlich überzeugt, dass das
Stück auch so gemeint war und dass Aristophanes wollte, dass die Athener über sich selbst als
Strepsiades lachend, zur Besinnung kommen sollten. Die Athener haben es gemerkt und
waren nicht amüsiert: das Stück war nämlich ein Misserfolg.64
Das einzige, was an Platons Sokrates mit dem Sokrates der „Wolken“ übereinstimmt, ist
der bescheidene Lebensstil.65 Allerdings lässt es sich Platon nicht nehmen, diesen Lebensstil
zum Idealverhalten eines Mannes zu veredeln, der aus philosophischer Einsicht vollkommen
über seinen körperlichen Bedürfnissen – auch über dem Bedürfnis zur Selbsterhaltung – steht.
Deshalb kann Sokrates ungeheure Mengen Wein trinken und nach durchgemachter Nacht
nach einem kurzen Bad sofort wieder in die Stadt gehen;66 deshalb lassen ihn die eindeutigen
Avancen eines überaus attraktiven jungen Mannes völlig kalt; 67 und in Platons – ungemein
60
Ein genaueres Eingehen auf Platons Darstellung der Ereignisse ist hier unmöglich. Sie findet sich in der
Apologie (Verteidigungsrede) des Sokrates, dem Dialog Kriton und dem die letzten Stunden des Sokrates
schildernden Dialog „Phaidon“.
61
Diogenes Laertios, Leben und Lehren berühmter Philosophen (dt. Übersetzung bei Meiner, Hamburg) Buch
III, Abschnitt 5.
62
In der dritten wichtigen Quelle, der Erinnerungen des Geschichtsschreibers Xenophon (450 – 354 v.Chr.) an
Sokrates, erscheint dieser zwar nicht verzerrt wie in den „Wolken“, dafür aber umso mehr altväterlich und dröge.
63
Symp[osion] 189a – 193d. Platon-Stellen werden übrigens nie nach der Seitenzahl einer modernen Ausgabe
zitiert, sondern immer nach der Seitenzahl und dem Seitenabschnitt (a bis e) einer der ersten gedruckten
Ausgaben der sog. Stephanus-Ausgabe von 1578. Diese Seitenzahlen stehen in jeder brauchbaren modernen
Ausgabe am Rand.
64
Vgl. z.B. Teuffel S.7.
65
Explizit Apol[ogie] 23c.
66
Symp. 223 b–d.
67
Symp. 217b–219d. Umfassend zum kulturellen Hintergrund: K. Dover, Greek Homosexuality, Cambridge
1976; dt. als „Homosexualität in der griechischen Antike“, München 1983.
16
suggestiver – Schilderung des fatalen Prozesses kann er deshalb furchtlos um der Wahrheit
willen alles falsch machen, was nur möglich ist: er versucht, mit den Anklägern ernsthaft zu
diskutieren68, erzählt von einer Art intellektuellem Schutzengel (seinem daimonion)69, plädiert
statt der Todesstrafe nicht auf Verbannung (was geklappt hätte),70 sondern auf lebenslange
Ehrenrente wegen großer Verdienste um die Stadt, 71 und er verzichtet bewusst auf den zum
Standardprogramm des Schlusswortes gehörenden Auftritt der weinenden Familie;72
schließlich stirbt er völlig gefasst, nachdem er eine Fluchtmöglichkeit ausgeschlagen73 und
mit seinen Schülern noch ein langes Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele geführt
hat.74
3.2. Platon
Doch Platon ist nicht einfach ausschmückender Biograph des Sokrates. Vielmehr geht mit der
Darstellung der Körperferne seines Sokrates bald immer stärker eine philosophische Lehre der
Körperferne einher. Diese Lehre scheint die Figur des Sokrates irgendwann nur noch als
Vehikel zu benutzen und wirft diese Figur schließlich im Spätwerk irgendwann ganz ab. Man
mag zu dieser z.T. extremen Lehre stehen, wie man will: Es ist eine Lehre von großer
Konsequenz, die alle heutigen Gebiete der Philosophie berührt.
Man kann sagen, dass sich diese Lehre zunächst in Form einer radikalen Antisophistik
herausschält: die beiden längsten frühen Dialoge sind fulminante Auseinandersetzungen mit
ihren Titelhelden Gorgias und Protagoras. Protagoras kommt dabei eindeutig besser weg, aber
die Grundtendenz ist, negativ formuliert, in beiden Fällen klar:
Wenn du mit deiner Rede Erfolg hast, dann hattest du nicht unbedingt die besseren Gründe
als dein Gegner. Denn gut und richtig ist nicht unbedingt, worauf man sich als gut und
richtig einigt.
Kein Wunder, sonst wäre ja das Fehlurteil gegen Sokrates gar kein Fehlurteil gewesen. Die
antisophistische Tendenz lässt sich aber auch positiv formulieren. Wie, das, zeichnet sich
schon in den Fragen ab, mit denen Sokrates seine Gesprächspartner manchmal fast
Verzweiflung treibt. Es sind Definitionsfragen der Form:
68
Apol. 24c – 28a, 35c.
Apol. 31d u.ö.
70
Apol. 37c-38a.
71
Apol. 36d-37a.
72
Apol. 34c.
73
mit Begründung im Dialog „Kriton“
74
Der bereits erwähnte Dialog „Phaidon“.
69
17
Was ist eigentlich ... ? ... das Tapfere, die Tugend (Laches, Menon)
... das Fromme (Euthyphron)
... das Schickliche, das Schöne (Phaidros)
... die Liebe (Gastmahl)
... das Gerechte, das Gute (Staat)
... die Erkenntnis75 (Theätet)
Ich hatte ja schon ganz am Anfang erwähnt, dass man im Griechischen mit dem bestimmten
Artikel zaubern kann. Hier sieht man: schon die Art der Fragestellung legt nahe, dass es da
etwas gibt, wonach sich fragen lässt und was sich zu suchen lohnt:
Es gibt das Gute selbst
Es gibt das Schöne selbst
Es gibt das Gerechte selbst etc.
...und zwar, wenn es wirklich ein objektiver Standard sein soll, dann unbeeinflusst und
unabhängig von irgendeiner Meinung darüber, schon immer und unzerstörbar, weil völlig
unkörperlich!
Das ist sie in kürzester Form, die platonische Ideenlehre.76 Sie sehen übrigens sofort:
Platonische Ideeen (das Gute, das Schöne etc.) sind nicht, was man im Kopf hat, sondern
etwas, das es gibt. Man fragt sich zunächst, was eine solche Theorie bringen soll. Tatsächlich
macht Platon mit dieser Theorie im Hintergrund Vorschläge für die verschiedensten Bereiche
philosophischer Probleme:
Sprachtheorie: in einem Satz wie „Phaidros ist schön“ bezieht sich das Wort „Phaidros“ auf
Phaidros, das Wort „schön“ auf das Schöne selbst und das Wort „ist“ auf die Beziehung der
unvollkommenen Teilhabe des veränderlichen, körperlichen Phaidros an der ewigen,
unkörperlichen Idee. (vgl. z.B. Parmenides 128a)
Handlungstheorie: niemand tut freiwillig das Schlechte, sondern jeder das, was ihm als das
Gute erscheint. Aber das vermeintlich Gute ist nicht unbedingt das Gute selbst. Wer etwas
Schlechtes tut, irrt sich also darüber, was das Gute selbst ist und bedarf der Therapie (vgl.
Gorgias 466d, Protagoras 323c-324d, 345d, Nomoi 862c-863a).77
75
Man mag das Wort epistêmê auch mit „Wissen“ übersetzen. Die darin erarbeitete klassisch gewordene
Charakterisierung „Wissen ist wahre Meinung (alethes doxa) mit Begründung (meta logou)“ wird übrigens am
Ende des Dialogs ausdrücklich wieder verworfen (210b).
76
Die wichtigsten Formulierungen lassen sich an den folgenden Stellen nachschlagen: Phaidon 78a-80b, 99e102a (Unterscheidung der Bereiche im Zusammenhang mit einem Unsterblichkeitsargument), Symp. 210a-212a
(Unterweisung der Diotima), Phaidros 246a-249d (Wagenlenker-Mythos), Parmenides 128e-135c („analytische“
Darstellung mit Kritik), Pol[iteia] V 476c-480a (Ideen und Wissen vs. Meinung), VI 504a- VII 519b (die drei
großen Gleichnisse).
77
Diese Denkfigur ist traditionell unter ihrer lateinischen Kurzfassung nemo sua sponte peccat bekannt, die
Unterscheidung zwischen wirklich Gutem und vermeintlich Gutem als die Unterscheidung zwischen bonum und
bonum apparens. Ihre Auswirkungen reichen bis zu Jean-Jaques Rousseau (1712 – 1778), der sie konsequent
kollektiviert: die volonté génerale entspricht dem wirklich Guten für eine als Organismus aufgefasste
18
Erkenntnistheorie und Pädagogik: Zur Erkenntnis der Ideen muss man einen langen
Bildungsweg zurücklegen, auf dem man lernt, von den vielen veränderlichen
Erscheinungsformen der Ideen zu abstrahieren, um sie schließlich selbst vorzufinden
(Symposion 210a-212a [Diotima], Staat VII 514a-519b [Höhlengleichnis]). Dieser Weg lässt
sich auch als schrittweise immer bessere Rückerinnerung (anamnêsis) an einen
vorgeburtlichen Zustand der Seele auffassen. Eine kultivierte Liebesbeziehung ist
Rückgewinnung des Zugangs zur Idee des Schönen. (Phaidon 72e-78b, Phaidros 246a-256e
[Seelenwagen], Menon 80d-86c – [Geometriestunde])
Psychologie: Was einen Menschen eigentlich ausmacht, ist die Seele, mit deren höchstem Teil
er die Ideen erkennen kann, weil sie ihnen ähnlich ist: auch sie ist immateriell und unsterblich,
und eigentlich ist der Körper bloß ihr Gefängnis.78 (Phaidon, v.a. 78b-82c, 99e-107a) Sich um
sie zu kümmern, lohnt sich, um nicht mit einer schlechten Wiedergeburt bestraft zu werden,
aber auch schon allein deshalb, weil man ja wohl nicht verkrüppeln will, was man eigentlich
ist.79 (Politeia – „Der Staat“ – IX 590d, X 613e-621d [Êr-Mythos])
Ethik / politische Philosophie: eine Seele ist gerecht, wenn ihre drei Teile harmonisch
hierarchisch geordnet sind und der zur Erkenntnis der Ideen – v.a. der zur Erkenntnis des
Guten selbst - fähige Teil, nous, in ihr herrscht. Ebenso ist ein Staat gerecht, wenn seine drei
Stände harmonisch hierarchisch geordnet sind (Politeia IV 433a–444a) und der zur Erkenntnis
der Ideen – v.a. der zur Erkenntnis des Guten selbst - fähige Stand, die Philosophen, in ihm
herrschen (Pol. V 473c-d).80 Ein solcher Staat ist ein Gegenmodell zur Demokratie Athens, in
der anstelle des Guten praktisch immer das bloß vermeintlich Gute gewinnt (vgl. z.B. Pol. VI
488a-489b [Schiffsgleichnis]).
Ästhetik / Literaturtheorie: Bildende Kunst und nichtphilosophische Literatur sind von Übel
und gehören wenigstens streng zensiert, eigentlich aber verboten. Denn sie bilden die schon
unvollkommenen Abbilder der Ideen noch einmal ab. Damit machen sie uns etwas als schön
vor, was vom wirklich Schönen weit entfernt ist (Pol. II 376c - III 398b, X 595a-608b). Aber
auch philosophische Bücher sind ein Problem: eigentlich lässt sich Ideenerkenntnis nicht
mehr in Worte fassen, sondern jeder, der es kann, muss sie selbst erleben. (Pol VII 518b-519b
[Selbstinterpretation des Höhlengleichnisses], Phaidros 274b – 277a [Theuth-Mythos], 7.Brief
341a – 344d)
Gemeinschaft, die volonté de tous dem vermeintlich Guten. Beides fällt im Idealfall zusammen, aber oft genug
fällt beides auseinander. Vgl. Du contrat social II 3.
78
Vgl. Phaidon 63d-69e und explizit 82e (der Körper als eirgmos).
79
Vgl. hierzu meinen Vortrag „Was soll der Mythos von Êr am Ende von Platons Politeia?“, http://www.unirostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/politeia/Er.doc.
80
Kritisch hierzu der „Zusatzartikel“ in Kants Spätschrift „Zum ewigen Frieden“ und v.a. Popper, The Open
Society and its Enemies, vol. I, The spell of Plato; dt. als: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Bd. I, Der
Zauber Platons.
19
Ontologie / Metaphysik: Letztlich ordnet das Gute selbst, die höchste aller Ideen, die anderen
Ideen und damit indirekt die ganze Welt und ist damit eine Art unpersönliche Gottheit. (vgl.
v.a. Pol. VI 509b [Sonnengleichnis])
Fast alle diese Theoriestücke fließen zusammen in einer berühmten Serie von drei
Gleichnissen am Ende des VI. und Beginn des VII. Buches von Platons längstem Dialog, dem
„Staat“.81 Der Höhepunkt dieser Serie ist eine Geschichte von Menschen, die in einer Höhle
wohnen und dort Schatten für die Wirklichkeit halten, während das eigentlich Wirkliche
draußen ist (514a – 517b).82 Um einen kleinen Eindruck vom Tonfall eines Platon-Textes zu
vermitteln, ist dieses Höhlengleichnis viel zu lang und komplex. Aber zum Glück gibt es eine
Art Taschenversion davon (man kann darin sogar eine Überblendung von Elementen des
Höhlengleichnisses und des Wagenlenker-Mythos im „Phaidros“ sehen). Sie scheint, obwohl
sie an zentraler Stelle steht, nicht besonders bekannt zu sein, und ich nenne sie das
Delphingleichnis. Wenige Minuten bevor Sokrates den Gifttrank zu sich nimmt, erzählt er es
seinen Freunden noch als eine Art Traum (Phaidon 109b- 110b, Ü: Rufener):
Wir ... glauben, uns an der Oberfläche der Erde zu befinden, wie wenn jemand auf dem
Meeresgrunde wohnte und dabei die Überzeugung hätte, er wohne auf dem Meere, und, wenn er
durch das Wasser hindurch die Sonne und die anderen Gestirne sieht, er das Meer für den Himmel
hielte ... Gerade so ergeht es auch uns: wir wohnen in einer der Vertiefungen der Erde ... und die
Luft nennen wir Himmel ... wegen unserer Schwerfälligkeit und Schwäche snd wir nicht imstande,
bis an den äußersten Rand der Luft vorzudringen. Denn wenn jemand auf [die Luft-]Oberfläche
gelangte oder wenn er Flügel bekäme und hinauffliegen könnte, dann würde dort auftauchen und
hinabblicken, und so wie hier die Fische, die aus dem Meer emportauchen, unsere Welt sehen, so
würde er jene andere Welt erblicken. Und wenn seine Natur stark genug wäre, dann würde er
erkennen, dass dort der wahre Himmel ist und das wahrhafte Licht und die wahre Erde.
Das ist ganz schön starker Tobak, und Platon wusste das auch. Doch ich habe noch nicht
erwähnt, was sich nur schwer berichten lässt, sondern was man sich selbst über viel längere
Textstrecken sozusagen erlesen muss:83 Es ist kein Zufall, dass Platon kein Lehrbuch seiner
Philosophie geschrieben hat und dass, was wir heute als Kern seiner Lehre anzusehen
gewohnt sind, an entscheidender Stelle von Platons Sokrates immer nur in der Einkleidung
von Märchen, Traum und Gleichnis – kurz: als Mythos – präsentiert wird.84 Platons Sokrates
behauptet nie sein Wissen um die Wahrheit der Ideenlehre. Das hat zu dem Schlagwort „Ich
weiß, dass ich nichts weiß“ als Zusammenfassung seiner Haltung geführt. Platon lässt ihn das
81
Sonnengleichnis (VI 506b – 509b), Liniengleichnis (VI 509c – 511e), Höhlengleichnis (VII 514a – 517a).
Vgl. zu näherem z.B. meinen Vortrag „Platons Höhlengleichnis“,
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/hannover/hannover.html.
83
Eine Sammlung wichtiger Stellen findet sich unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/platon/ablauf.html; mit dem Euthyphron als
Frühdialog anzufangen lohnt sich. Ich danke Gottfried Heinemann (Kassel) für diese Anregung.
84
Platons Skepsis gegenüber philosophischen Lehrbüchern hat zu einer – m.E. den Kern des Problems
verfehlenden – Debatte um eine indirekt überlieferte Lehre Platons geführt (Anspielung darauf bei Aristoteles,
Physik IV 209b15). Kritische und gute Darstellung: Rafael Ferber, Warum hat Platon die ungeschriebene Lehre
nicht geschrieben?, St. Augustin: Akademia 1991.
82
20
zwar nie wörtlich so sagen, 85 und das, wie wir gleich noch sehen werden, aus gutem Grund.86
Aber der Slogan weist doch als Kurzbeschreibung in die richtige Richtung: Platons Sokrates
lehrt nicht, er philosophiert im Dialog, jeder Argumentationsschritt muss vom
Gesprächspartner bewilligt werden; und wenn dieser Sokrates auch an die Ideenlehre glaubt,
so ist ihm zumindest intuitiv klar, dass er zwar im Gespräch ihre Konsequenzen entfalten, sie
aber letztlich nicht im Gespräch begründen kann. Ich bin überzeugt, dass das nicht nur ein der
biographischen Kostümierung geschuldetes Überbleibsel des historischen Sokrates ist.87 Denn
das würde nicht erklären, mit welcher schonungslosen Haltung Platon in seinem Spätwerk
„Parmenides“ Kritikpunkte an der Ideenlehre diskutieren lässt.88
3.3. Aristoteles
Einer der Teilnehmer an diesem späten Dialog Platons hat einen kuriosen Namen: Aristoteles.
Man kann das kaum anders sehen, denn als Anspielung auf einen Schüler Platons, der kurz
nach 370 v. Chr. in dessen Privat-College auf dem Grundstück eines gewissen Akademos, die
„Akademie“ eingetreten ist.89 Es ist statistisch unwahrscheinlich, dass ein solcher Lehrer
gleich noch einen solchen Schüler hat, aber es ist passiert. Aristoteles war, nach
glaubwürdiger Überlieferung,90 Sohn des Leibarztes des Königs des nordgriechischen
Kleinstaates Mazedonien. Ebenso glaubwürdig ist, dass er später für eine Weile der
Hauslehrer des Sohns dieses Königs wurde, 91 der den Kleinstaat unter dem Namen Alexander
der Große für kurze Zeit beträchtlich ausweiten sollte. Vielleicht ist schon in der Herkunft aus
dem Haus des um den königlichen Körper besorgten Arztes die Spannung angelegt, die dazu
führt, dass Aristoteles in fast jedem Punkt die Gegenthese zu seinem Lehrer vertritt.92 Raffael
hat um 1510 diese Spannung zwischen Lehrer und Schüler in genialer
Informationsverknappung ins Zentrum seines Bildes „Die Schule von Athen“ gerückt:93
Platon zeigt Richtung Himmel, Aristoteles Richtung Erde (aber mit flacher Hand, als wolle er
zugleich seinem Lehrer andeuten „Nun man immer schön sachte...“).
Es ist völlig unmöglich, in einer Einführungsvorlesung das Werk von Aristoteles auch nur
zu umreißen. Seine Fachterminologie ist im Detail ebenso ergiebig wie gnadenlos abstrakt
und schwer zu verstehen.94 Machen Sie sich keine Illusionen: Wenn ich intensiv Aristoteles
85
Vielmehr sagt er „daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen“ (hoti ha mê oida oude oiomai
eidenai) Apol. 21d, ähnlich 29a.
86
Vgl. Abschnitt 4.3. dieser Vorlesung.
87
Vgl. dazu meinen Artikel „Plato – Mystic and / or Sceptic“, erscheint demnächst in Ruch philosophiczy,
Torun (PL).
88
Parm. 128a – 135c. Besonders viel diskutiert ist der sog. Einwand des „Dritten Menschen“ (132a-b).
89
Zu Aristoteles einführend: J.L. Ackrill, Aristotle the Philosopher, Oxford 1981; J.Barnes, Aristotle, Oxford:
Oxf. Univ. Press 1982 u.ö.; C.Rapp, Aristoteles, Hamburg: Junius 2001; O.Höffe, Aristoteles, München 1999.
90
Diogenes Laertios op. cit. Buch V, Abschnitt 1
91
A.a.O. Buch V, Abschnitt 4.
92
Diogenes Laertios berichtet (a.a.O. V1), Platon habe Aristoteles ein ständig gegen ihn ausschlagendes Pferd
genannt. Zu Aristoteles’ – auf den zweiten Blick fast durchgängiger – Platonkritik vgl. für die theoretische
Philosophie besonders konzentriert Metaphysik Buch I, Kap. 9. Ferner lohnt sich z.B. die Gegenüberstellung von
Platon, Pol. X und dem Beginn der Poetik oder von Platon, Pol. IV/V und Politik II 4+5.
93
Abbildung auf ungefähr jeder zweiten homepage eines Institutes für Philosophie irgendwo auf der Welt.
94
Zum Glück hat Aristoteles selbst ein kleines Wörterbuch dazu verfasst, das heute das fünfte Buch (∆) der
„Metaphysik“ bildet. Aber auch dessen Einträge sind alles andere als einfach zu verstehen.
21
mache, so brauche ich noch heute pro Seite eines schweren Textes ungefähr einen Tag. Aber
es lohnt sich.
Aristoteles’ überlieferten Vorlesungsskripte umfassen so ziemlich jeden Bereich von der
Literaturwissenschaft über die Politikwissenschaft bis zur Astronomie, und er kann als
Mitbegründer fast aller heutiger wissenschaftlicher Disziplinen gelten. Das hat aber nicht nur
mit den Inhalten zu tun, die natürlich, je konkreter es wird, um so hoffnungsloser veraltet
sind. Vielmehr hat Aristoteles als erster vorgeführt und analysiert, wie das Spiel auszusehen
hat, das wir heute wissenschaftlichen Diskurs nennen. Die trotz ihrer Beschränkungen immer
noch beeindruckende erste Logik, die er erfunden hat, die Syllogistik, 95 steht nämlich im
Kontext der ersten Wissenschaftstheorie der Schriften, die man später einfach Organon, das
Werkzeug genannt hat.96
Doch so interessant Aristoteles’ Logik ist – vielleicht noch viel spannender ist seine
Biologie. Dabei rechne ich allerdings zur aristotelischen Biologie nicht nur die bändelangen
veralteten Beschreibungen von Meeresschnecken und anderem Getier. Vielmehr ist
Aristoteles Seelenlehre ebenso ein Teil seines biologischen Ansatzes wie seine
Politikvorlesung,97 die sogenannte Nikomachische Ethik 98 und – meiner Ansicht nach – in
höchster Abstraktion die Sammlung von Vorlesungen, die man erst nach dem Studium der
Physik, meta ta physika, lesen sollte und die man heute die Metaphysik nennt.99 Aristoteles
schaut sich Menschen, Tiere, Pflanzen und fragt sich:
Was ist eigentlich verantwortlich 100 dafür, dass dieses Lebewesen hier so ist, wie es ist –
dass es eben das ist, was es ist?
Dafür auf eine platonische Idee zu verweisen, bringt nach Aristoteles Ansicht gar nichts.
Denn die ist woanders. Man kann die Frage mit einer Geschichte beantworten, die berichtet,
zu diesem Zustand geführt hat (traditionell: causa ef f iciens). Man kann auf die Materiepartikel
eingehen, aus denen das Lebewesen besteht (causa materialis). Das ist alles nicht falsch. Aber
es kann nicht alles sein. Denn die Form eines Lebewesens hält sich durch, obwohl es nach
95
Kernstück: Die assertorische Syllogistik in Analytica Priora I 1-7. Vgl. dazu auch mein „Neuere
Interpretationen der aristotelischen Syllogistik“,
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/homburg.doc sowie sehr knapp
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/logik.doc.
96
Das Organon besteht aus den umfangreichen Schriften „Topik“ und Erster und Zweiter Analytik sowie den
besonders einflussreichen Kleinschriften „De interpretatione“ (logisches Quadrat: Kap. 7, Problem der
zukünftigen Seeschlacht: Kap. 9) und „Kategorienschrift“ (Substanz: Kap. 5).
97
Besonders zentral: Pol. I, 1 + 2. Text unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/politika.htm.
Zum Überblick vgl. meine „Four Lectures on Aristotle’s Politics“,
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/pol/polverteil.htm
98
Besonders zentral: Nikomachische Ethik (NE od. EN) I 6. Text unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/niketh.htm.
99
Sammlung besonders wichtiger Ausschnitte wie Vierursachenlehre (Buch I), Wissenschaft vom Seienden als
Seienden (IV(Γ) 1+2), Rechtfertigung von Nichtwiderspruchssatz und Satz vom ausgeschlossenen Dritten (IV
(Γ) 4, 7), Substanzlehre (v.a. Buch VII (Z)), Potentialität und Aktualität (Buch IX (Θ), Erster Beweger (Buch XII
(Λ), v.a. 7 + 9) unter http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/arist/ariverteil.html.
Einführend für das besonders schwierige Buch VII: C.Rapp (Hg.), Aristoteles Metaphysik - Die Substanzbücher,
Berlin: Akademie-Verlag 1996 (Klassiker Auslegen Bd.4).
100
Das griechische Wort für „ursächlich“ (aition) bedeutet ursprünglich eher „schuld an“.
22
einer Weile aus ganz anderer Materie besteht. Somit ist sie es, die eigentlich das Lebewesen
ausmacht (causa f ormalis). Und diese Form ist nicht nur ein Endprodukt, sondern sie hat auch
zielsetzende Kraft (causa finalis).101 Jedes Gänseblümchen strebt danach, ein optimales
Gänseblümchen zu werden; das sieht man auch den Exemplaren an, die es wegen widriger
Umstände nicht dahin bringen, denn sie haben genau das mit dem optimalen Gänseblümchen
zu tun, dass sie im Vergleich zu ihm ein defizitäres Gänseblümchen sind. Daran, dass die
biologische Form auch Ziel ist, sieht man, dass sie nicht einfach nur äußere Form sein
kann. 102 Denn die äußere Form des Gänseblümchens ist auch noch da, wenn man es
abgerissen hat.
Im Prinzip ist es mit dem Menschen alles Menschen nicht anders. So richtig zeigen, was
ein Mensch kann, wird er natürlich nur im Wachzustand. Das würde Aristoteles die „zweite
Vollendung“ nennen; aber auch wenn er schläft, ist etwas dafür verantwortlich, dass er in
menschlicher Gestalt organisierte lebende Materie ist, und das ist das, was Aristoteles denn
auch als Seele bezeichnet:
Die Seele ist die erste Vollendung desjenigen natürlichen Körpers,
der die Fähigkeit hat zu leben. (De anima II 1 411a27)103
Sie raten im Umkehrschluss schon richtig: auch das Gänseblümchen hat bei Aristoteles eine
Seele. Woran Sie auch sehen: was er als Seele bezeichnet ist etwas ziemlich anderes als das,
was Platon Seele nennt.104
Und doch, auch Aristoteles kennt eine zielsetzende Form, die nicht daran gebunden ist,
materiell realisiert zu sein. Sie ist verantwortlich für die Bewegung der Himmelsspären und so
indirekt auch für Bewegungen auf der Erde, indem sie
... so in Bewegung versetzt, wie etwas Geliebtes [den Liebenden] in Bewegung versetzt
(Metaphysik Buch XII (L), Kap. 7, 1072b2)
Sie ist ständig in zweiter Vollendung, denn sie ist völlig unabhängig von allem anderen
ständig mit dem Denken des eigenen Denkens als reiner Schau beschäftigt (Met. XII Kap. 9).
101
Die Unterscheidung der vier Ursachenarten findet sich besonders in Metaphysik I 3 (ausgeführt in der ersten
Skizze einer Philosophiegeschichte in I 3-9) und Physik II 3.
102
Äußerst schwer zu sagen ist, ob Aristoteles eine individuelle Form jedes Individuums angenommen hat oder
ob die Unterschiede zwischen Individuen einer Art nur von äußeren Einflüssen herrühren (sollte jedes
Gänseblümchen unter Optimalbedingungen gleich aussehen, so wäre der Unterschied zwischen individueller
Form und Artform nicht dramatisch; aber wollen wir dasselbe beim Menschen sagen?). Vgl. dazu Rapp (Hg.)
sowie den Kommentarteil von M. Frede / G. Patzig, Aristoteles Metaphysik Z, Text, Übersetzung, Kommentar, 2
Bde., München 1988.
103
Zentral für Aristoteles’ Seelenlehre ist das erste Kapitel des zweiten Buches von De anima (Über die Seele),
aus dem diese Stelle stammt (Leseausgabe: Aristoteles Über die Seele gr./dt., übers. (nach W.Theiler) und
kommentiert v. Horst Seidl, Hamburg: Meiner 1995). Auch Aristoteles-Stellen werden übrigens nie nach der
Seitenzahl einer modernen Ausgabe zitiert, sondern immer nach der Seitenzahl, der Spalte und der Zeile der
Ausgabe von Bekker, Berlin 1831. Diese Seitenzahlen stehen in jeder brauchbaren modernen Ausgabe am Rand.
104
Man überlese aber nicht das Ende von De anima II 1 (413a7), wo zumindest für Menschen mit der
Bemerkung, vielleicht sei ja die Seele in dem Sinne Verwirklichung des Körper wie der Schiffer Verwirklichung
des Schiffes sei, die Option offen gehalten wird, dass diese Definition der Seele mit einer Form des Leib/SeeleDualismus kompatibel ist – eine Bemerkung, die immerhin von Descartes implizit als zu dualistisch kritisiert
wird (Mediationes VI 13 (AT VII 81)).
23
Es liegt nahe, dass Aristoteles angesichts dieser für alle Welt zielsetzenden Form zum Schluss
kommt:
Dies aber ist der Gott (ebd. b30).
Und dieser Gott ist dann letztendlich doch von Platons Gutem selbst gar nicht so verschieden.
4. Die nachklassische Periode
4.1. Allgemeines
Wie immer bleibt nach dem Gipfelsturm zu wenig Zeit für die Nachklassik! Das ist schade.
Denn Platon und Aristoteles sind von den folgenden Generationen zunächst gar nicht als
unübertreffliche Giganten angesehen worden, sondern als zwei Philosophen unter vielen
anderen, und zum Glück hat man sich nicht von ihren Werken beim Philosophieren
einschüchtern lassen. Zum Glück ist auch die Auswahl der recht langlebigen
Philosophenschulen, denen man sich anschließen konnte, recht gut überschaubar. Grob gesagt
konnte man Epikureer werden, Skeptiker oder Stoiker.105 Und schließlich ist in der gesamten
Nachklassik eine einheitliche Tendenz zu erkennen, was Philosophie soll: Philosophie wird
weniger als Streben nach theoretischer Erkenntnis angesehen, denn als Psychotherapie.106
Nicht dass Platon und Aristoteles etwas dagegen gehabt hätten, dass man sich um seine Seele
kümmert – ganz im Gegenteil. Aber es ist doch deutlich zu sehen, wie in der Nachklassik
Philosophie immer weniger auf Welterklärung und immer stärker auf die Kunst der
Bewältigung des individuellen Lebens ausgerichtet ist. Gerade deshalb könnte sie besonders
aktuell sein. Schauen wir uns also noch ein wenig im Therapie-Supermarkt der
nachklassischen Antike um, soweit die Zeit reicht.
4.2. Epikur (342-270 v.Chr.) 107
Die kleine Menge an Texten, die uns von Epikur erhalten sind, reicht, um eine Philosophie
von großer Geschlossenheit zu rekonstruieren. Was die theoretische Philosophie angeht, so
hält er sich an eine Spielart des Atomismus, allerdings mit der nicht uninteressanten
Neuerung, dass Atome, anstatt zwangsläufigen Bahnen zu folgen, auch mal ohne jeden Grund
von der erwarteten Bahn abweichen können.108 Doch die Naturphilosophie bietet im Grunde
nur das abstützende „don’t worry“ zum „be happy“ als praktischer Botschaft: Alles Gute und
105
Für einen Überblick: LS sowie M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und
Skepsis (Geschichte der Philosophie, hg. v. W.Röd Bd. III), München 1985.
106
Vgl. zum psychotherapetischen Ansatz im Hellenismus insgesamt Martha Nussbaum, The Therapy of Desire,
Princeton: Princeton Univ. Press 1994.
107
Die drei Lehrbriefe sind zum Glück als Komplett-Zitate überliefert im 10. Buch der Philosophiegeschichte
des Diogenes Laertios. Leseausgabe: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/Deutsch, übersetzt
und hrsg. von Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart 1980 (Reclam 9984). Sekundärliteratur: Nachwort von Krautz
sowie Malte Hossenfelder, Epikur, Reihe Klassiker der Philosophie (Beck) hrsg. von O.Höffe, München: Beck
1988. Text des Menoikeus-Brief auch unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/therapy/epikur.html.
108
Evtl. ist man seit ca. 1926 wieder soweit. Vgl. R. Feynman, QED, München: Piper 1988. Den Unterschied
zwischen dem klassischen Atomismus Demokrits und dem Epikurs betont übrigens Karl Marx in seiner lebhaft
argumentierten und hübsch zu lesenden Dissertation „Differenz der demokritischen und epikureischen
Naturphilosophie“ von 1841 (MEGA Bd.1 S.5-92).
24
Schlechte ist nur in der sinnlichen Empfindung (aisthesis) - Platon hätte sich die Haare
gerauft! Deshalb ist der Tod nichts für uns (Menoikeos-Brief, §124): wenn wir noch etwas
merken, ist er ja noch nicht da, und wenn er da ist, merken wir nichts mehr davon. (§125).
Man will deshalb auch nicht um jeden Preis möglichst lang leben, sondern möglichst
angenehm (hediston) (§126). Das Ziel des Gelungen-Lebens ist Gesundheit des Körpers und
Unzerissenheit (ataraxia) der Seele (§128). Ursprung und Ziel des Gelungen-Lebens ist die
Lust (hedone) (§128). Sie ist als erstes und angeborenes Gut, Richtschnur des Wählens und
Meidens (§129). Man sollte aber abwägen: Wahl- und hemmungsloser Genuß rächt sich
erfahrungsgemäß in umso größerer Unlust. Das zufriedene Leben beschert daher ein
nüchterner Verstand, der der Einsicht Rechnung trägt, daß kleine Bedürfnisse leichter erfüllen
sind als große, und deshalb die Bedürfnisse nicht zu groß macht. (§132).
4.3. Skepsis
Ein Skeptiker 109 wird aus prinzipiellen Gründen schon gar keine Hintergrundtheorie mehr
investieren, denn sonst wäre er keiner. Denn skepsis kommt von skopein, sich umschauen. Ein
Skeptiker ist also einer, der noch auf der Suche ist. So handelt es sich bei seinen Äußerungen
nicht um eine Theorie, sondern um die Beschreibung des gegenwärtigen Standes der Suche
(§1; G I,4) 110, wie uns der spätantike „Grundriss der pyrrhonischen Skepsis“ eines gewissen
Sextus Empiricus aus dem 3. nachchristlichen Jahrhundert in aller Klarheit berichtet. 111 Ein
vernünftiger Skeptiker sagt also ebensowenig wie Sokrates „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ –
und das ist auch gut so. Denn dann würde er ja behaupten, doch etwas zu wissen, und seine
Position wäre selbstwidersprüchlich. 112
Dem Skeptiker scheint also nur folgendes (und daß einem etwas so-und-so zu sein scheint,
kann man nicht anzweifeln; nur, daß es so ist (§10; G I,19/20)): Für jede beliebige Aussage
ergibt sich bei genauem Hinsehen ein Gleichstand (Isosthenie) an Glaubwürdigkeit der
Argumente pro und contra (§4; G I,10) - oder er könnte sich zumindest einmal ergeben (§13;
G I,34):
So wie sich vor der Geburt des Stifters der Lehrmeinung, der du anhängst, das entsprechende
Argument noch nicht als richtig offenbart hatte, jedoch der Natur nach schon existierte, so ist es
ebenso möglich, dass auch das Argument, das dem von der jetzt vorgelegten entgegensteht, der
Natur nach zwar schon existiert, sich aber uns noch nicht offenbart... (G I 13, 34).
109
Gemeint ist hier immer ein Skeptiker der Antike. Das Etikett hängt oft auch neuzeitlichen Philosophen an,
z.B. Montaigne und Hume oder in neuester Zeit Richard Rorty und Odo Marquard, meint aber nicht unbedingt
die hier referierte Position. Gerade bei Montaigne (stoischer Einfluss!) und bei Hume (jede Menge starke eigene
Thesen, vgl. die Vorlesung „Philosophie in der Neuzeit“) bin ich mir gar nicht sicher, ob die Einordnung als
Skeptiker irgendwie informativ ist.
110
G heißt i.f. „Grundriss der pyrrhonischen Skepsis“, Abschnittzählung nach der Paperback-Ausgabe der
Übersetzung von Malte Hossenfelder („Sextus Empiricus – Grundriß der pyrrhonischen Skepsis“, Frankfurt / M.:
Suhrkamp 1985), römische Zahl: Buch; arabische Zahl: antike Kleinabschnittsnummer.
111
Ausschnitte auch unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/therapy/sextus.html.
112
Vgl. dazu sehr klar Hossenfelders Einleitung zu seiner Übersetzung. Das Problem wird bereits, mit dem
Vorwurf des Selbstwiderspruchs gegen Protagoras, diskutiert in Platons Theätet 171a-d.
25
Skepsis ist Lehre nur im Sinne eines way of life (§8; G I,16/17). Das Ziel ist dassselbe wie bei
Epikur: Seelenruhe (ataraxia). Doch wie kann der Skeptiker erklären, wie man jemand
Skeptiker wird? Er kann nicht behaupten: dadurch, dass man ihm die Wahrheit des
Skeptizismus beweist. Das würde zu einem ähnlichen Selbstwiderspruch führen wie das „Ich
weiß, dass ich nichts weiß“. Stattdessen erzählt Sextus eine hübsche Geschichte:
Dem Skeptiker geschah dasselbe, was von dem Maler Apelles erzählt wird. Dieser wollte, so heißt
es, beim Malen eines Pferdes dessen Schaum auf dem Gemälde nachahmen. Das sei ihm so
mißlungen, daß er aufgab und den Schwamm, in dem er die Farben vom Pinsel abzuwischen
pflegte, gegen das Bild schleuderte. Als dieser auftraf, habe er eine Nachahmung des
Pferdeschaumes hervorgebracht. [29] Auch die Skeptiker hofften, die Seelenruhe dadurch zu
erlangen, daß sie über die Ungleichförmigkeit der erscheinenden und gedachten Dinge entschieden.
Da sie das nicht zu tun vermochten, hielten sie inne. Als sie aber innehielten, folgte ihnen wie
zufällig die Seelenruhe wie der Schatten dem Körper. (G I 12 28f)
4.4. Stoa
Einem Stoiker musste das alles als der Gipfel der Haltlosigkeit erscheinen. Zumindest in der
Frühphase dieser im 3. vorchristlichen Jahrhundert in der großen Säulenhalle, stoa, in Athen
gegründeten Philosophenschule, sind die Investititionen an Hintergrundtheorie ziemlich groß,
wenn auch nicht immer leicht zu sehen ist, wie alles zusammenpasst: der Materialismus 113 mit
dem Glauben, dass alles von einer göttlichen Vernunft (dem logos) durchsetzt ist, 114 der
Glaube an unausweichliche Naturgesetzlichkeit 115 mit der Auffassung, man habe doch die
Zustimmung zu einem Urteil 116 und seine Haltung gänzlich selbst in der Hand.117 Aber Sie
ahnen vielleicht auch schon: das sind keine Probleme, die sich die Stoiker aus
Unvorsichtigkeit eingehandelt haben, sondern echte Probleme in der Sache, wenn man
gewisse Voraussetzungen macht. Spätestens wenn Sie Kant 118 lesen, haben Sie diese ganzen
Probleme wieder auf dem Tisch, einschließlich des folgenden Lösungsansatzes:
Die richtige Haltung besteht darin, das zu tun, was man als das Einem-Zu-tunZukommende (to kathêkon), also als seine Pflicht, erkannt hat, eben weil das, was man als
das Einem-Zu-tun-Zukommende erkennen kann, das Vernünftige ist.
Da der Teufel im Detail steckt und die Probleme nicht verschwunden sind, lohnt es sich auf
jeden Fall, die Argumente der Stoiker auch einmal im Detail zu verfolgen. Argumentieren
113
Vgl. z.B. LS 45C,D.
Vgl. z.B. LS 47O, 45H.
115
Berühmteste Stelle ist das Referat bei Cicero, De divinatione 1.127 (LS 55O), wo der Lauf der Zeit mit dem
Abrollen eines Seils verglichen wird.
116
Vgl. LS 40, 41A, 53S, 69G-K. Für eine interessante Transformation dieser Lehre von der Zustimmung zu
einem Urteil (synkatathesis) vgl. Descartes’ Meditationes, 4. Med.
117
Die beste Einführung in die stoische Philosophie sind m.E. die entsprechenden Abschnitte in LS. Recht gut
auch der entsprechende Band in: Giovanni Reale, History of Ancient Philosophy. Abzuraten ist vom leider
immer noch recht verbreiteten zweibändigen Werk von Pohlenz (für Gründe dagegen vgl. meinen Aufsatz
„Philosophie im Blut?“, in: LOGOS, Neue Folge Bd. 6, Heft 4 2000, 341-367. Knappe Textausschnitte zu den
allerwichtigsten Lehrstücken unter
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/therapy/stoa.html.
118
Und zwar die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) oder die Kritik der praktischen Vernunft (1788).
114
26
konnten die Stoiker der Frühphase jedenfalls mit bewundernswerter Klarheit. 119 Ihr großes
Vertrauen in die Macht der Vernunft hat sie die neben der aristotelischen Logik die zweite
große Logiktradition der Antike begründen lassen, die Sie in mathematischem Gewand aber
mit fast unverändertem Inhalt noch im Logikkurs als klassische Aussagenlogik kennenlernen
werden.120
Der meiner Meinung nach spannendste Text zum Einsteigen in die Gedanken der Stoiker
ist das kleine "Handbüchlein" (Encheiridion) des Freigelassenen Epiktet aus dem frühen 2.
Jahrhundert nach Chr., 121 denn hier kann man, nunmehr praktisch frei von jeder
Hintergrundtheorie im einzelnen sehen, wie stoische Philosophie als einzuübende kognitive
Psychotherapie 122 funktioniert hat:
Wenn ... der Diener eines anderen das Trinkglas zerbricht, dann sagt man sogleich: «Das kann
schon einmal passieren. » Also sei dir darüber im klaren: Wenn dein eigenes Trinkglas zerbricht,
dann mußt du dich konsequenterweise genauso verhalten wie damals, als das Glas des anderen
zerbrach. Übertrage dies nun auch auf wichtigere Dinge. (§26)
Bei allem, was dir Freude macht, was dir nützlich ist oder was du gern hast, denke daran, dir immer
wieder zu sagen, was es eigentlich ist. Fang bei den unbedeutendsten Dingen an. Wenn du zum
Beispiel an einem Topf hängst, dann sage dir: «Es ist ein einfacher Topf, an dem ich hänge.» Dann
wirst du dich nämlich nicht aufregen, wenn er zerbricht. Wenn du dein Kind ... küßt, dann sage dir:
«Es ist ein Mensch, den du küßt. » Dann wirst du deine Fassung nicht verlieren, wenn er stirbt. (§3)
Glücklich - im Sinne der Seelenruhe, versteht sich - ist, wer sich dem Geschehen fügt 123 (§8)
und sich nur von dem berühren läßt, was sein eigentlichen Eigentum ist. Durch die Übungen
lernt man, dass Besitz, soziale Stellung und der eigene Körper nicht zum eigentlichen
Eigentum, zum dem gehören, was einen eigentlich ausmacht – wohl aber die eigenen
Meinungen, Wertungen und Emotionen. Sie gilt es in der richtigen Weise zu bewahren, denn
sie sind wahrsten Sinne des Wortes unantastbar. Das ist eine harte Lehre, über die Aristoteles
sicher entsetzt gewesen wäre, für den eine Selbstausbildung immer einen erträglichen sozialen
Kontext und ein Minimum an finanzieller Sicherheit vorausgesetzt hat.124 Es ist eine Lehre für
119
Kostprobe: „Er (Cleanthes) sagt außerdem: Weder leidet Unkörperliches mit einem Körper mit (sympascei),
noch ein Körper mit Unkörperlichem. Die Seele leidet aber mit dem kranken oder zerschnittenen Körper mit,
ebenso der Körper mit der Seele: wenn sie sich schämt, wird er rot; wenn sie sich fürchtet, blaß. Ein Körper also
ist die Seele.“ (Nemesius 78,7-79,2; SVF 1.518, teilw.; LS 45C)
120
Zur stoischen Logik einführend Bochenski, Formale Logik, 4.Aufl. München 1978 und LS, ausführlicher B.
Mates, Stoic Logic. Knapp auch: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/logik.doc.
121
Leseausgabe: Epiktet, Handbüchlein der Moral, gr./dt., übers. und hg. v. Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam
1992.
122
Die Ähnlichkeiten sind verblüffend. Zum modernen Ansatz (der natürlich die Härten der stoischen Lehre
vermeidet und ganz unabhängig davon entstanden ist) vgl. z.B. Aaron T. Beck, Cognitive therapy and emotional
disorders, The International Universities Press, New York 1979.
123
Vgl. auch Hippolytus, Haer. 1.21; (SVF 2.975); LS 62A: “Sie (Zenon von Kition und Chrysipp) vertraten die
durchgängige Bestimmtheit von allem (to kath' heimarménê einai panta) und erläuterten dies an folgendem
Beispiel: Wenn man einen Hund an einem Karren festbindet, dann wird er, wenn er folgen will, mitgezogen und
folgt, seine Eigenhandlung (to autexoúsion) mit dem Zwang (anagkê) zusammenbringend. Wenn er aber nicht
folgen will, so ist er einfach dazu gezwungen. Dasselbe haben wir auch bei den Menschen: auch wenn sie nicht
folgen wollen, werden sie einfach dazu gezwungen mit dem Vorbestimmten (peproménon) einherzugehen.“
124
Einen krassen Ausdruck findet diese in der Auffassung, ein Weiser sei auch auf die Folter gespannt glücklich.
Seltsamerweise überliefern die Hauptquellen dies als eine Ansicht Epikurs (Cicero, Tusculanen 5 (XXVI) 73,
27
harte Zeiten, ebenso für den von seinem Herrn zum Krüppel geschlagenen ehemaligen
Sklaven Epiktet 125 wie für den im Heerlager irgendwo auf dem nördlichen Balkan die
Grenzen des römischen Reiches langsam zurücksteckenden Kaiser Marc Aurel. 126
4.5. Philosophie und Christentum
Den Abschluss des kleinen Panoramas der Philosophie in der Antike muss zwangsläufig ein
Blick auf das Verhältnis von antiker Philosophie und Christentum bilden. Man kann die
Geschichte einfach erzählen als Geschichte eines Konkurrenzkampfs, den das Christentum
gewonnen hat. Schließlich ist es der christliche oströmische Kaiser Justinian, der sehr spät,
529, die letzte der universitätsartig organisierten heidnischen Philosophenschulen schließen
lässt (und zwar die neuplatonische). 127 War die Frontstellung nicht schon klar, als Paulus
nach dem Bericht der Apostelgeschichte (Apg 17, 18) von „einigen stoischen und
epikureeischen Philosophen“ in den 50er Jahren des ersten Jahrhunderts in Athen mit den
freundlichen Worten begrüßt wurde?:
Was will dieser Schwätzer (spermologos) sagen?
Aber - diese Geschichte wäre viel zu einfach. Selbst wer das Johannesevangelium nicht zum
Kernbestand des Neuen Testaments zählt, muss stutzen, wenn ein so früher christlicher Text
so sehr auf einer philosophisch aufgeladenen Vokabel beruht, dass jeder Stoiker hätte
aufhorchen müssen (Johannes 1,1):
Am Anfang war der logos.
Und der logos war bei Gott
Und Gott war der logos...
Bei allen Unterschieden konvergieren auch die Selbstbescheidung der späten Stoiker und die
der frühen Christen merklich. Sie können sich sicher auch schon leicht vorstellen, warum
Platon und vor allem Aristoteles im Mittelalter wieder gelesen wurden. Nachdem er 387
konvertiert ist, 128 berichtet Augustinus, der erste große christliche Philosoph, der die
Gedankenwelt des Mittelalters so sehr prägt, dass man ihn lieber im Zusammenhang damit
vorstellt, seine Bekehrungsgeschichte als Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie, die
er intensiv studiert hat; 129 die Nähe zum (Neu)platonismus gibt er dabei bereitwillig zu.130
Und schon vor ihm haben viele christliche Schriftsteller versucht, die Hauptlehren der
philosophischen Klassiker als etwas zu erweisen, dem das Christentum nicht diametral
Diogenes Laertios (X 118)) und nennen die Stoa nicht direkt. Das Beispiel passt aber sehr gut als Illustration zu
eindeutig die Stoiker referierenden Stellen im Kontext von Ciceros Tusculanen (V 40f und V 81f = LS 63L und
M). Aristoteles hätte ähnliches sicher nicht behauptet, vgl. z.B. Nikomachische Ethik Buch X Kap. 8.
125
Vgl. das Nachwort von K.Steinmann zur Reclam-Ausg. S.96.
126
Ausschnitte unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/therapy/marcaur.html.
127
M. Canto-Sperber (Hg.), Philosophie grecque, Paris: PUF 1997, sixième partie (Luc Brisson), S.643, 746-8.
128
Zur Biographie: Flasch, Augustin, Stuttgart: Reclam, 2. Aufl. 1994.
129
Vgl. die Vorlesung zur Philosophie im Mittelalter,
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/mittel.htm.
130
Confessiones VII 9 (vgl. auch 20f); einige weitere knappe Informationen zum Neuplatonismus finden sich als
Rückblende in der Vorlesung „Philosophie im Mittelalter“.
28
gegenübersteht, sondern das von ihm vollendet wird. Sie waren – oft nach dem Studium
bekehrt – in der Regel ganz gut informiert, und sie waren zunächst noch in der Defensive, so
dass sie sich Arroganz gegen die Philosophie schon werbestrategisch gar nicht leisten konnten
(die Sammelbezeichnung „Apologeten“ lässt dies recht deutlich werden).
Doch ist das jetzt nicht wieder zu harmonisch beschrieben? Ja. Manche frühen christlichen
Schriftsteller haben auch kräftig und ungerecht gegen manche antike Philosophie
polemisiert.131 Doch auch das hat sein Gutes. Und das will ich ganz zum Schluss noch zeigen,
und zwar an einer Textstelle aus einem Buch eines Mannes, von dem Sie wahrscheinlich nie
wieder etwas hören werden, dem um 300 schreibenden Kirchenvater Lactantius. Das Buch
trägt den einladenden Titel de ira Dei, „Vom Zorn Gottes“, und die Stelle lautet (de ira dei 13,
19, Usener-Fragment 374), und Lactantius berichtet, es gebe da...
dieses Argument Epikurs:
Gott, sagt er,
will entweder die Übel beseitigen und kann es nicht,
oder kann und will nicht
oder will weder noch kann er
oder er will und kann.
Wenn er will und nicht kann, ist er machtlos, was Gott nicht zukommt.
Wenn er kann und nicht will, ist er bösartig, was Gott ebenfalls f remd ist.
Wenn er weder will noch kann, ist er sowohl bösartig als auch machtlos, also nicht Gott.
Wenn er will und kann, was allein zu Gott passt, woher dann die Übel?
Oder warum beseitigt er sie nicht?
Aber folgendes hat Epikur und auch sonst niemand gesehen:
wenn die Übel beseitigt würden, so würde auch die Weisheit beseitigt
und würde auch im Menschen nicht die Zier der Tugend verbleiben,
deren Grund im Ertragen und überwinden der Bitterkeit der Übel besteht.
Die kursiv gesetzten Zeilen sind natürlich ein Epikur-Fragment, und deshalb hat die Stelle
Eingang in die Standard-Sammlung der Epikur-Fragmente gefunden. Die normal gesetzten
Zeilen sind der – zwar verärgerte, aber auch nicht gänzlich unsachliche – Kommentar von
Lactantius dazu. Er hat sich also so sehr über Epikur geärgert, dass er das wunderschöne
Argument abgeschrieben hat. Nur deswegen konnte es, gleichsam im Text des Kirchenvaters
eingekapselt, 132 die Zeiten überstehen. Und dafür bin ich Lactantius und vielen anderen, die
sich in ähnlichen Fällen geärgert haben, dankbar.
Und Ihnen danke ich für Ihre Geduld.
131
Für eine Gegenüberstellung der denkbaren christlichen Positionen „rejet“ und „conciliation“ mit Beispielen
für Vertreter vgl. Brisson op. cit. S.712-735. Für ein hübsches spätes Beispiel an Polemik vgl., wie die Dame
Philosophie bei Boethius ihr angebliches Kidnapping durch Epikureer und Stoiker beschreibt (Consolatio
Philosophiae Buch I, 3. Prosa).
132
Sehr anschaulich für ein ähnliches Beispiel der Aufbewahrung Flaschs Interpretation des Lothar-Kreuzes aus
dem Domschatz in Aachen, K. Flasch, Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt: WBG 1987,
S.2f und Abb.3.
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