5. Vorlesung: Personale Identität

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Einführung in die
theoretische Philosophie
Prof. Dr. Martin Kusch
<[email protected]>
1
Philosophie
Theoretische
Praktische
Erkenntnistheorie
Ethik
Wissenschaftsphilosophie
Politische Philosophie
Philosophie des Geistes
Sozialphilosophie
Sprachphilosophie
Rechtsphilosophie
Metaphysik
Handlungstheorie
Logik
Ästhetik
2
Erkenntnistheorie
(1)
(2)
Wissen
Skeptizismus
Wissenschaftsphilosophie
(3)
(4)
Kritik und Dogma
Realismus und seine Gegner
Philosophie des Geistes
(5)
(6)
Personale Identität
Fremdpsychisches
Sprachphilosophie
(7)
(8)
Eigennamen
Beleidigungen
Metaphysik
(9)
(10)
Kausalität
Soziale Arten
3
Derek Parfit (*1942)
Christine M. Korsgaard (*1952)
5. Thema:
Personale Identität
(Korsgaard, Parfit)
4
Christine M. Korsgaard
“Personale Identität und die Einheit des Handelns:
eine Kantianische Antwort auf Parfit”
(1989, dt. 1999)
5
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
6
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
7
Utilitarismus
Jeremy Bentham
(1748-1832)
John Stuart Mill
(1806-1873)

Eine normative Form der teleologischen Ethik

Grundprinzip: Diejenige Handlung bzw. Handlungsregel ist moralisch richtig, die den Nutzen (das Wohlergehen) optimiert.
8
Kantianismus (Ethik)

Ausgangspunkt: Wie sind moralisch verbindliche Sollensaussagen möglich?

Im Mittelpunkt steht die Analyse der Entscheidung aus der Perspektive des Handelnden.

Zentral in der Antwort ist die Annahme der
Freiheit des Willens; diese kann nur durch
praktische Vernunft gerechtfertigt werden.
Immanuel Kant
(1724-1804)
9

Eine Handlung ist gut, wenn sie einer bestimmten Regel gemäß
gewählt wurde: Kein Utilitarismus!

Der „kategorische Imperativ“: z.B.
 „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich
wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
 „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person,
als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als
Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“
10
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
11
Physische und Personale Identität

Ist der Stephansdom 2016 dasselbe Objekt wie im
Jahre 1990, trotz einiger baulicher Maßnahmen?

Oder ist er ein anderes Objekt geworden?
12
Physische und Personale Identität

Vgl. das „Schiff des Theseus“ (Plutarch):
„… eine [bestimmte] Galeere … wurde von den Athenern aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und
ersetzten sie durch neue intakte. … Streitfrage der Philosophen:
… die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe
geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.“
13
Physische und Personale Identität

Vgl. das „Problem der doppelten Identität“ (Jay Rosenberg):
 Die alten Planken von Schiff A werden durch neue ersetzt. So
entsteht allmählich Schiff A*.
 Die ersetzten Planken waren aber noch tauglich und werden
daher aufgehoben.
 Sie werden dann zu einem Schiff A** zusammengesetzt. Ist A
gleich A* oder gleich A**? Oder gleich beiden, oder keinem?
14
Physische und Personale Identität

Bin ich 2016 dieselbe Person wie im Jahre 1990, trotz
vieler physischer und geistiger Veränderungen?

Oder bin ich zu einer anderen Person geworden?
15
„Standardauffassung“ der Identität
„Ein Gegenstand, der unter den Begriff X fällt, ist dasselbe
beharrende X, solange wir durch jeden Punkt, an dem dieser Gegenstand existiert, eine ununterbrochene Linie durch
die Raumzeit ziehen können.“ (204)

Z.B. der Gegenstand, der unter den Begriff „Stephansdom“
fällt …

Z.B. der Gegenstand, der unter den Begriff „der im Endspiel
der Champions League 2016 verwendete Ball“ fällt …
16

Das Kriterium ist vage und es gibt viele Ausnahmen:
(a) das Auto, das total auseinandergenommen wird,
und anschließend wieder zusammengebaut wird;
(b) Raupe/Schmetterling;
(c) die Person, die in ein Koma fällt;
(d) ein Lebewesen, dessen Herz aufhört zu schlagen
(aber dessen Gehirnströme noch fließen).
17

In solchen Fällen gibt es keine metaphysische Tatsache, die
die Frage entscheiden würde.

Die Frage „derselbe Gegenstand oder nicht?“ ist manchmal
eine „leere Frage“.

Hier müssen wir pragmatisch entscheiden; und möglicherweise gibt es hier eine beste pragmatische Antwort.

Aber keine wahre Antwort!
18
Ein physisches Kriterium der personalen Identität

Die Standardauffassung funktioniert recht gut bei
physischen Gegenständen.

Aber uns interessiert hier die personale Identität.

Lässt sich ein physisches Kriterium für personale
Identität angeben?
19
 Eine Person ist ein lebendiger menschlicher Körper
mit raumzeitlicher Kontinuität, bzw.
 Eine Person ist ihr Körper.
 Zwei Gegenstände sind dieselbe Person, wenn sie
denselben Körper haben.
20

Einwand: Physische Kontinuität ist für personale Identität
weder notwendig noch hinreichend.

Nicht hinreichend! Beispiel: ein Mann verliert alle seine Erinnerungen und hat dadurch einen ganz neuen Charakter.

Wir geben psychologischen Dingen bei der Entscheidung
über Identität eine große Rolle, etwa: Erinnerungen, Charaktereigenenschaften, Geschmäcke, Interessen, etc.

Gleicher Körper garantiert nicht gleiche Person!
21

Nicht notwendig! Ein und dieselbe Person kann verschiedene
Körper „bewohnen“, oder vom Körper ganz unabhängig sein.

Zumindest einige Religionen erlauben dies.

Und wir können uns Science Fiction Fälle vorstellen.

Es ist also zumindest logisch möglich, vorstellbar.

Gleiche Person garantiert nicht gleicher Körper!
22
Psychologische Verküpfung und Kontinuität – Relation R

Wir brauchen einen Begriff von „psychologischer Kontinuität“.

Parfit definiert „psychologische Kontinuität“ mittels des Begriffs
der „psychologischen Verknüpfung“:
„… wenn ein zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandener psychologischer Zustand in einer geeigneten kausalen Beziehung
zu einem früher vorhandenen psychologischen Zustand steht.“
23

Ich erinnere mich 2016 an etwas, das mir 1990 Spaß machte.

Ich habe 2016 die Überzeugung dass p, weil ich p 1990 gelernt habe.

Dies sind psychologische Verknüpfungen zwischen M.K. 2016
und M.K. 1990.
24

Desto mehr solcher Verknüpfungen, desto stärker ist die Verknüpfung insgesamt.

Gibt es „ineinandergreifende Ketten starker Verknüpfungen“
dann spricht Parfit von „psychologischer Kontinuität“.

Parfit spricht auch von der „Relation R“.
25
Zeit
26
Zwei Auffassungen zur Möglichkeit personaler Identität
(a) Nicht-Reduktionistische Auffassung

Es gibt etwas „psychologisch Bleibendes“ in der Person.

Eine Seele; ein „Cartesianisches Ego“; ein Subjekt, das sich
nicht selbst wieder durch Verknüpfungen erklären lässt.

Dies ist das Subjekt aller Erfahrungen der Person.
27
Ego
Zeit
28
(b) Reduktionistische Auffassung

Eine reduktionistische (physikalistische) Position verbindet zwei
Ideen:

psychologische Verknüpfung (=die Relation R) ist für die
personale Identität konstitutiv, und

die Möglichkeit psychologisches Verknüpfung erklärt sich
durch die physische Kontinuität des Gehirns.
29

Die physikalische Grundlage der psychologischen Kontinuität ist
allerdings weniger die Materie des Nervensystems als seine
Organisation, seine Form.

Beispiel: Ein Teil meines Gedächtnisses stirbt ab und wird durch
eine Kopie ersetzt, mit der gleichen Struktur.

Das macht unser Körper ja in anderem Maßstab ständig.

„Diese ‚formale‘ Kontinuität ist die einem Lebewesen gemäße
Kontinuität.“
30
Gehirnstruktur
Zeit
31
Gegen die Einmaligkeit

Wenn wir normalerweise von „personaler Identität“ reden,
meinen wir „formale Kontinuität plus Einmaligkeit“.

„Einmaligkeit“: die Eigenschaft, der einzige formale Nachfolger eines früheren Ich zu sein.
Früheres Ich
Nachfolger-Ich
32

Parfit meint aber, wir sollten die Einmaligkeit aufgeben.

Angenommen der wesentliche Aspekt einer Person sei
kopierbar, warum soll es dann nicht zwei gleichermaßen
gute Kopien einer ganzen Person geben?

Beide Kopien hätten dann eine formale Kontinuität zur
ursprünglichen Person; beide würden meinen, die ursprüngliche Person zu sein.
Früheres Ich
Nachfolger-Ichs
33

Welche Person ist die ursprüngliche Person? Das ist eine leere
Frage! Es hängt von den Umständen ab.

Parfit schließt daraus, dass personale Identität nicht so wichtig
ist: Es kommt vielmehr auf die Relation R an.
34

Identität kann nur zu einer Person bestehen.

Die Relation R kann aber zu mehr als einer Person bestehen.

Implikation für mein Weiterleben: es kommt nicht darauf an,
ob „ich“ weiterlebe, sondern ob jemand weiterlebt, der/die
eine hinreichend starke Relation R zu mir hat.

Ob „ich“ das bin, ist nicht so wichtig.
35

Parfit will uns überzeugen, dass es nicht so wichtig ist, ob die
psychologische Verknüpfung direkt oder indirekt ist.

Ich tue vielleicht etwas, weil ich es so wollte; das gilt indirekt
aber auch für meine Kinder oder meine Sekretärin.

Ich bin von p überzeugt, weil ich ein Argument für p gefunden
habe, aber indirekt gilt das auch für Sie.

Wenn die indirekte Verknüpfung fast so gut ist wie die direkte,
dann ist auch mein Tod weniger schrecklich.
36
Direkte Verknüpfung
Zeit
37
Indirekte Verknüpfung
Direkte Verknüpfung
Direkte Verknüpfung
Zeit
38
Die Kategorie der Person

Parfit will uns überzeugen, dass die Kategorie der „Person“
nicht so grundlegend ist, wie oft angenommen wird.

Für einen Reduktionisten bin ich ein Gehirn und Körper also
„eine Folge von wechselseitig zusammenhängenden physikalischen und mentalen Ereignissen“.

Und all dies lässt sich beschreiben, ohne von einer Person als
Subjekt zu sprechen: „Diese Tatsachen lassen sich in nichtpersonaler Form beschreiben" (211).
39

Parfit sieht selbst den Haupteinwand gegen seine Ansicht:
eine nicht-personale Beschreibung widerspricht doch der Tatsache, dass es ein Subjekt der Erfahrungen geben muss.

Seine Antwort ….
40
„In einem bestimmten Sinn ist das offenkundig wahr. Selbst
Reduktionisten bestreiten nicht, dass Personen existieren. Und
unserem Begriff der Person nach sind Personen nicht bloß Gedanken und Handlungen. Sie sind denkende und handelnde
Wesen. Ich bin keine Folge von Erfahrungen, sondern diejenige
Person, die diese Erfahrungen hat. Ein Reduktionist kann zugeben, dass in diesem Sinn eine Person das Subjekt von Erfahrungen ist, oder das, was Erfahrungen hat. Das ist wahr, weil wir so
reden. Der Reduktionist bestreitet aber, dass das Subjekt der Erfahrungen eine eigenständig existierende Entität sei, verschieden von Gehirn und Körper sowie der Folge physikalischer und
mentaler Ereignisse.“
41
Implikationen für Rationalität und Moral

Parfit: der Reduktionismus ändert unsere Ansichten über
Rationalität und Moral.

Nicht-Reduktionisten glauben, ich hätte eine besondere
Beziehung zu meinen früheren und zukünftigen Ichs.

Für die früheren bin ich verantwortlich, indem ich die
Schuld für ihre Vergehen auf mich nehme.

Für die späteren bin ich verantwortlich, denn ich muss
mich vernünftigerweise um ihr Glück sorgen.
42
Rationalität
Moral
Zeit
43

Parfit: dass wir so denken, kommt daher, dass wir uns für eigenständig existierende Entitäten, oder Cartesianische Egos halten.

Aber es gibt kein kontinuierliches Erfahrungssubjekt—es kommt
allein auf Relation R an, und diese hat Grade.

Es kann auch sein, dass Relation R gar keine spezielle Relation
zwischen mir und jenem Erfahrungssubjekt herstellt, das meinen Körper künftig bewohnt.
44
Die Sorge um die Zukunft und Paternalismus

Der Reduktionismus bedroht die Auffassung, wonach wir uns
um alle Abschnitte unserer Zukunft gleichermaßen kümmern
sollen.

Parfit betont ja, es komme nicht auf Identität, sondern auf die
Relation R an, und die sei etwas Graduelles.

Parfits Folgerungen: ich habe gar keinen Grund, um meine
Zukunft in spezieller Weise besorgt zu sein, oder nur bis zu
einem gewissen Grade.
45

Problem: dann können nicht mehr sagen, es sei irrational, wenn
ich einer Person, die in der Zukunft zu mir in Relation R stehen
wird, eine große Last aufbürde.

Parfit meint daher, wir sollten ein solches Benehmen, selbst da,
wo es nicht irrational ist, als unmoralisch betrachten.

Das hat Konsequenzen für die Bewertung von „paternalistischen" (bevormundenden) Eingriffen: Wir können nicht sagen,
jeder habe die Freiheit bzgl. seiner Zukunft unklug zu sein.
46
Moral
Moral
Zeit
47
Entschädigung und Verteilungsgerechtigkeit

Grundproblem des Utilitarismus: Wenn wir nur den Nutzen
maximieren, werden wir dann nicht unter Umständen den
einen mehr geben als den anderen? Wie entschädigen?
Personen
A
B
C
A
B
C
Gut
1/1
--
--
1/3
1/3
1/3
Nutzen
100
--
--
10
10
10
48

Parfit: der Reduktionismus löst das Problem. Da es keine zugrundeliegende Entität gibt, ist auch die Idee einer Einheit
des Lebens fraglich.

Wir sollten daher nur die Qualität und Quantität der Erfahrungen beachten, ohne uns darum zu sorgen, wer wie viele
gute oder schlechte hat.
49
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
50
Korsgaards Grundidee

Parfit mag Recht haben, dass es keine metaphysischen Gründe
gibt, mich für dasselbe Handlungssubjekt zu halten, das in der
Zukunft meinen Körper bewohnen wird.

Aber es gibt praktische Gründe …
51
Vorbereitende Überlegung: Identität zu einem Zeitpunkt

Also nicht über die Zeit …

Warum glaube ich, dass ich jetzt eine Person bin?

Wenn ich Parfit glaube, dass ich kein Cartesianisches
Ego als gemeinsames Subjekt all meiner Erfahrungen
habe, ist die Antwort nicht offensichtlich.
52

Ich halte gerade eine Vorlesung … gehe hin und her … mir ist
warm … ich bin müde … Inwiefern ist dies alles von einer Person getan und erfahren?

Ich habe auch Vorlieben, Interessen, Ambitionen, Tugenden,
Laster und Pläne. Ich bin ein Bündel von Dispositionen, Tätigkeiten, Erfahrungen.

Aber wodurch werde ich bei all dem zu einer Person?
53
Praktisches Vermögen und einheitliches Handlungssubjekt

Insofern als wir handeln, muss das „praktische Vermögen“ eine
Einheit schaffen können: z.B. eine Vermittlung widerstreitender
Wünsche.

Ich betrachte mich als einheitliches Handlungssubjekt aufgrund
von zwei praktischen Gründen:
(a) Ich muss Konflikte zwischen Beweggründen beseitigen.
54

Vgl. Personen mit split brains: Wenn das
Corpus callosum durchtrennt wird, können die beiden Hemisphären getrennt
voneinander funktionieren.

In manchen Fällen scheinen sie unabhängig
voneinander zu fungieren, sogar manchmal
sich der Handlungen der anderen nicht bewusst zu sein.

Man kam daher zu der Vermutung, dass ihre Beziehung zueinander nicht enger ist als die von Eheleuten: gleiche Unterkunft
und etwas Kommunikation.
55

Angenommen, meine linke und rechte Gehirnhälfte sind
darüber uneins sind, was zu tun sei.

Angenommen, jede Hemisphäre schickt Bewegungsbefehle
über das Nervensystem an meine Körperteile.

Dann werden die Befehle sich gegenseitig blockieren.

Aber ich habe nur einen einzigen Körper! Und wenn ich
handeln will, muss ich eine Abstimmung herbeiführen.
56
Zweiter praktischer Grund für Einheitlichkeit
(b) Ich muss einen Standpunkt einnehmen.

Wenn man zwischen Wünschen überlegt entscheidet, nimmt
man einen Standpunkt ein: man schaut nicht bloß zu.

Neben den verschiedenen Wünschen gibt es noch mich, mich
als denjenigen, der entscheidet.

Ich entscheide mich – oft – aufgrund von Gründen. Ich richte
mich dann nach diesen Gründen, nicht nach den Wünschen.
57

„Das bedeutet, dass es ein Verfahren … der Entscheidung gibt,
worin Sie Sich selbst zum Ausdruck kommen sehen, und das die
für Sie maßgeblichen Gründe liefert, wenn Sie Sich zwischen Ihren Wünschen entscheiden.“

Wenn wir uns mit einem solchen Verfahren identifizieren, sind
wir uns selbst ein Gesetz und mit uns eins.

Es geht hier nicht um ein metaphysisches Prinzip sondern um
eine praktische Notwendigkeit des deliberativen Standpunktes.
58
Identität in der Zeit

Mein Körper besteht natürlich in der Zeit und durch ihn bin ich
ein Handlungssubjekt.

Aber warum nicht eine Folge von Handlungssubjekten, die nur
zu jedem Zeitpunkt pragmatisch eins werden?

Beachten wir, dass die für uns wichtigen Dinge – Dinge für die
wir uns entscheiden – Zeit brauchen.
59

Insbes. Entscheidungen über Karriere, Freundschaften, Familienleben, etc.

Diese setzen eine kontinuierliche Identität voraus und erschaffen sie zugleich.
60

Wir glauben auch, dass unsere Tätigkeiten und Bestrebungen
miteinander verknüpft sind – in Lebensplänen.

Ein rationaler Lebensplan setzt aber eine kontinuierliche Person voraus. „Man ist eine kontinuierliche Person, weil man ein
Leben zu führen hat.“
61
Parfits Bild

Mein Körper wird nacheinander von rationalen Handlungssubjekten bewohnt.

Ich existiere jetzt, aber brauche die Kooperation der anderen,
und sie meine, wenn wir ein Leben besitzen wollen.

Unsere gemeinsame Körperlichkeit zwingt uns dazu – und unsere langfristigen Pläne und Beziehungen.
62

Aber das Bild stimmt nicht wirklich …

Die Gründe des gegenwärtigen Ich sind nicht von den Gründen
des späteren Ichs unabhängig.

Wir sind in unseren Identifikationen, Entscheidungen und Gründen schon auf die Zukunft bezogen.

Handlungssubjekte sind nie ein bloß gegenwärtiges Ich.
63
Das Argument der Gruppen

Vielleicht kann Parfit hierauf folgendes erwidern:
 Die Einheit der Person als Handlungssubjekt ist nicht sehr
tief. Und eben das sagt der Reduktionismus.
 Und der Zusammenhang zwischen Einheit und Handlung
gilt nicht nur für Individuen sondern auch für Gruppen.
64
Korsgaards Antwort

Will eine Gruppe als Einheit handeln, muss sie sich zu
einer Art Person machen.

Parfit vergleicht die Einheit von Personen mit der Einheit von Nationen; und Nationen sind nichts weiter als:
"die Existenz ihrer Bürger, die auf ihrem Territorium in
bestimmter Weise zusammenleben.“
65

Korsgaard präferiert als Vergleich den Staat.
„Bei einem Staat handelt es sich nicht bloß um eine Gruppe von
Bürgern, die auf einem gemeinsamen Territorium leben. Einen
Staat haben wir nur dann vor uns, wenn diese Bürger sich zu
einem einzelnen Handlungssubjekt konstituiert haben.
Das heißt, sie haben sich eine Methode zu eigen gemacht, Konflikte zu lösen, Entscheidungen zu treffen, in Austausch mit anderen Staaten zu treten, und Pläne für eine dauerhafte Zukunft
zu entwerfen.“

Das heißt nicht, dass der Staat eine „eigenständig existierende
Entität“, „eine tiefe metaphysische Entität“ ist.
66

Die pragmatische Notwendigkeit eine Einheit zu formen kann
bei einer Gruppe und einem menschlichen Körper überwältigend sein.

Und das ist es bei den Gruppen von psychologischen Faktoren,
die denselben Körper bewohnen.

Sie haben das dringende Bedürfnis, eine einheitliche Person zu
werden.

Und daher muss der menschliche Körper als ein einheitliches
Handlungssubjekt – als das elementare Handlungssubjekt –
begriffen werden.
67

Aber das gilt nur unter der Voraussetzung unserer derzeitigen
Technologie …

Thomas Nagel stellt sich „serielle Personen“ vor, die ab den 30.
Lebensjahr jedes Jahr in neuer Materie reproduziert werden.

Eine serielle Person wäre eine Person.
68
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
69
Bewusstsein als Strom und Tunnel
"Als ich noch glaubte, meine Existenz sei eine zusätzliche Tatsache, schien ich wie eingesperrt in mir selbst zu sein. Mein Leben
glich einem Glastunnel, durch den ich mich Jahr für Jahr immer
schneller bewegte, und an dessen Ende Finsternis herrschte. Als
ich meine Auffassung änderte, verschwanden die Wände meines Glastunnels. Ich lebe jetzt im Freien." (Parfit)
70

Wir stellen uns die Bewusstseinssphäre wie einen Tunnel oder
Strom vor.

Und wir tun dies, weil wir glauben die Bewusstseinsmomente
seien trotz der Unterbrechungen durch Tiefschlaf direkt mit
anderen Bewusstseinsmomenten verbunden.

Dieses Bild des Bewusstseins stützt die Idee, dass Bewusstsein
ein beharrendes psychologisches Subjekt erfordert.
71

Das Bewusstsein ist eins, weil die eigenen Erfahrungen alle einer einzigen psychologischen Entität zugeschrieben werden.

Gegen diese Intuition verweist Parfit auf Personen mit geteilten
Gehirnen: sie scheinen zwei Bewusstseinsströme zu haben.

Wenn Bewusstsein ein Subjekt verlangt, dann scheinen hier
zwei Subjekte vorzuliegen, im gleichen Körper.
72

Parfits meint, dass die Einheit des Bewusstseins
„… keine tiefgründige Erklärung benötigt. Es ist einfach so, dass
verschiedene Erfahrungen zusammen bewusst oder Gegenstände eines einzigen Bewusstheitszustandes sein können".

Korsgaard ist nicht ganz einverstanden …
73
Korsgaard über das Bewusstsein

Bewusstsein ist ein Merkmal gewisser Tätigkeiten, die von
wahrnehmungsfähigen Lebewesen ausgeübt werden können.

Z.B. Wahrnehmen; verschiedene Aufmerksamkeitsformen wie
Blicken, Zuhören und Bemerken; eher intellektuelle Tätigkeiten
wie Denken, Überlegen, … sowie Sich-willentlich-bewegen.

Das Bewusstsein ist ein Merkmal dieser Tätigkeiten selbst.
Z.B. Wenn wir uns willentlich bewegen, dann bewegen wir uns
mit Bewusstsein.
74

Wir dürfen zweierlei nicht zu verwechseln: sich einer bewussten Tätigkeit widmen, und sich einer Tätigkeit bewusst sein.

Ein ausgewachsenes Raubtier etwa, das sich an seine Beute
heranpirscht, ist sich seiner Umgebung bewusst, des Geruchs
seiner Beute etc.

Aber das ist nicht ein theoretischer Zustand, ein inneres Beobachten dieser Tätigkeiten verstehen.
75

„Die Einheit des Bewusstseins besteht in der Fähigkeit, bewusste Tätigkeiten zu koordinieren und zu integrieren.“

Die Einheit des Bewusstsein ist hier praktisch.

Wodurch wird die Integration psychischer Funktionen möglich
gemacht?

Es braucht kein gemeinsames psychologisches Subjekt: die
Hemisphären bei Split-Brain Patienten können es auch.
76

Es bedarf der Kommunikation und damit der Möglichkeit, sich
zu einem Handlungssubjekt zu verbinden.

Kommunikation und funktionale Integration benötigen kein
gemeinsames Subjekt bewusster Erfahrungen. Was sie jedoch
benötigen, ist die Einheit des Handelns.

Und damit ist die Einheit des Bewusstseins wiederum etwas
primär praktisches:
Ich betrachte mich als Schiedsrichter zwischen meine Wünschen und als „Arbeitgeber meiner psychischen Fähigkeiten.“
77
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
78
Die zwei Perspektiven Kants

Wir können uns als Phänomene der Natur ansehen, deren Verhalten man wie das aller anderen natürlichen Phänomene kausal erklären und voraussagen kann.

Wir können uns aber auch als Handlungssubjekte ansehen, als
Denker unserer Gedanken und Urheber unserer Handlungen.

Diese beiden Standpunkte können nicht völlig in Einklang gebracht werden.
79

Obwohl die beiden Perspektiven unvereinbar sind, müssen sie
sich nicht widersprechen.

Manchmal geht es uns um ihre Erklärung und ihre Vorhersage.
Manchmal geht es darum, uns zu entscheiden und die Handlungen zu rechtfertigen.

Beides Perspektiven sind gleichermaßen legitim.
80

Die praktische Einstellung – wonach wir frei und verantwortlich
sind – wird uns nach Kant durch die Notwendigkeit aufgezwungen, Entscheidungen zu treffen.

Parfit verbleibt auf dem theoretischen Standpunkt, wenn er
sagt, der Gedanke eines Erfahrungssubjekts sein „unserer Redeweise geschuldet".

Gemäß dem praktischen Standpunkt, müssen aber Entscheidungen ein Entscheidungssubjekt, Handlungen ein Handlungssubjekt haben.
81

Nur vom praktischen Standpunkt aus kann zwischen Verhalten und Handlung unterschieden werden.

Aus der praktischen Perspektive sind wir die Urheber unserer
Handlungen und Entscheidungen.

Wir betrachten unser Leben als etwas, das wir tun.

Warum ist das wichtig?
82

Es ist wichtig, bestimmte psychologische Verknüpfungen – die
urheberbezogenen – besonders herauszuheben.

Dies sind jene Meinungen und Wünsche, die einem eine gewisse Aktivität abverlangt haben.

Sie sind in einem tieferen Sinn die eigenen als die, die sich
einfach in einem gebildet haben.

Und für die Kantische Perspektive sind diese wichtig.
83
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
84
Vorschau

Parfit behauptet, unsere Ansichten über Moral und Rationalität würden durch den Reduktionismus verändert.

Letzterer würde den Utilitarismus stützen.

Korsgaard will zeigen, dass ihr Ansatz dies blockiert.
85
Rationalität
Moral
Zeit
86
Moral
Moral
Zeit
87
Korsgaards Kritik

Parfit missversteht die gewöhnliche Moral. Wir glauben ohnehin, dass ein ausgesprochen unkluges Verhalten unmoralisch ist.

Unsere Sorge um die eigene Zukunft blockiert nun auch weitreichende paternalistische Eingriffe.

Da ich selbst entscheiden will, wie ich lebe, will ich nicht – abgesehen von extremen Situationen (Selbstmord etc.) – dass andere paternalistisch in mein Leben eingreifen.
88

Nicht nur in meinem eigenen Fall gilt, dass die Einheit des Handelns ein Grund ist (sein sollte), sich um die Zukunft zu sorgen.

Dies gilt auch für die Zukunft größerer Handlungseinheiten, zu
denen ich gehöre.

Rationalität beinhaltet also, dass ich mir die Zukunft dieser Einheiten persönlich angelegen sein lasse.

Der Gegensatz von eigennütziger Rationalität (was mich selbst
betrifft) und unparteiischer Moral (gegenüber den anderen) ist
daher falsch.
89
Parfit zu Entschädigung und Verteilungsgerechtigkeit -- Kritik

All das werden wir ganz anders sehen, wenn wir Leben als etwas verstehen, das von einem Handlungssubjekt gelebt wird.

Ein solches Leben ist eine Einheit. Und dann muss diese auch
bei der Güterverteilung berücksichtigt werden.

„Nach Lage der Dinge ist es in erster Linie ein einzelner Mensch,
der ein Leben führt, und deshalb ist die Grundeinheit der Verteilung der Mensch.“
90
(1) Hintergrund
(2) Parfit zur personalen Identität
(3) Das Einswerden von Handlungssubjekten
(4) Die Einheit des Bewusstsein
(5) Handeln und Identität
(6) Moralische Konsequenzen
(7) Personale Identität und moralische Neutralität
91

Parfits Konzeption der Person ist nicht moralisch neutral.

Der Utilitarismus sieht davon ab, wem etwas widerfährt und
achtet nur auf den Gesamtnutzen.

Der Reduktionist à la Parfit hält eine unpersönliche Beschreibung des Lebens für möglich.

Die Perspektive des Handlungssubjekts wird durch Parfit verfehlt.
92
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
93
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