ISLAM UND CHRISTENTUM - PRCG am 27.2.2016

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Betrachtungen über den Islam und das Christentum
von Andreas Bödecker
(Vortrag am 10.5.2013 in Marrakesch und am 27.2.2016 im Potsdamer Ruder Club Germania e.V. )
- ausführliche Lesefassung –
Selbst im 21. Jahrhundert werden noch immer oder sogar wieder zunehmend in
vielen Weltreligionen Glaubenskriege mit großer Brutalität auch gegen einfache
Menschen und mit für uns schwer begreiflichem Fanatismus geführt. Radikale
islamische Gruppierungen erscheinen als Haupttreiber und hemmungslose
Haupttäter dieser Auseinandersetzungen. Sie zünden Bomben an öffentlichen
Plätzen, sie entführen Kinder als Geiseln, fast jeden Abend sind die Nachrichten
voller Vorgänge, die uns Angst einflößen. Andererseits leben über 4 Millionen
Muslime in Deutschland, deren ganz überwiegende Mehrheit in unsere
Gesellschaft friedlich integriert ist. Ohne Kenntnis der religiösen und kulturellen
Wurzeln der Muslime werden wir dem Fanatismus der radikalislamischen
Gruppen weiterhin hilflos gegenüberstehen, und wir werden im eigenen Land
eine weiter zunehmende Entfremdung zwischen den zumeist eingewanderten
Muslimen und uns erleben. Ich will deshalb einen Versuch machen, Euch in
diesem Vortrag in die Welt des Islam einzuführen, nicht nur in den Glauben der
Muslime, sondern auch in ihre Geschichte und ihre Kulturleistungen, von denen
wir teilweise heute noch profitieren.
Die Götter der Römer und Griechen waren eine bunte Gesellschaft. Über 50 von
Ihnen gab es. An ihrer Spitze stand Jupiter oder – griechisch – Zeus. Ansonsten
gab es keine festgelegte Hierarchie, aber Zuständigkeiten: Es gab Götter für die
Liebe, den Ackerbau, die Heilkunst (Aesculapius, gr. Asklepios) , und sogar für
Türen und Tore war ein besonderer Gott zuständig, der doppelgesichtige Janus.
Ironie oder Zufall, dass die Namen von Pluto, dem Herrscher der Unterwelt, und
Plutus, dem Gott des Reichtums, zum Verwechseln ähnlich klangen?
Diese Götter lebten ein fröhliches Leben, feierten Trinkgelage, heirateten,
brachen die Ehe, intrigierten gegeneinander, entführten auch mal ein hübsches
Mädchen, kamen gebeten oder ungebeten in Menschen- oder Tiergestalt auf die
Erde und mischten sich ein. Wenn man einen von ihnen erzürnt hatte, konnte
man einen anderen oder eine andere um Hilfe bitten – so wie Odysseus von
Pallas Athene immer wieder gegen den zürnenden Poseidon unterstützt wurde.
Auch fremde Götter fanden bei den Römern Aufnahme, ägyptische Götter wie
Isis und Serapis ebenso wie der so wichtige griechische Gott des Weines,
Bacchus oder Dionysos.
Das Verhältnis der Römer und Griechen zu ihren Göttern war eher praktisch.
Die Frage nach Moral und Sinn des Lebens konnten diese Götter zwischen
Trunkenheit, Ehebruch und Racheaktionen nicht beantworten. Und nach dem
-2-
Tode winkte kein Paradies. Im Orcus, in der Unterwelt, wandelten alle Toten als
Schatten durch eine düster-kalte Umgebung. Gleichwohl hat diese Götterwelt
ein Reich zusammenhalten können, das vom Norden Englands um das ganze
Mittelmeer herum bis nach Ägypten reichte, ein hochzivilisiertes Reich mit über
6.000 km befestigten Straßen, Städten mit fließendem Wasser, mit Theatern für
mehrere tausend Zuschauer, selbst in kleinen Provinzstädten.
Den Glauben an einen einzigen allmächtigen, allwissenden Gott, der alles
geschaffen hat, der allgegenwärtig ist, alles sieht, der seine Liebe schenken aber
auch mit unbarmherziger Härte strafen kann, dieser Glauben geht auf einen
Mann namens Abraham zurück. Das gilt für die die Juden, die Christen und die
Moslems, denn die Geschichte ist nicht nur im 1. Buch Mose (der Genesis)
erzählt, sondern mit geringen Abweichungen auch im Koran.
Abraham war neunzig Jahre alt geworden, er und seine Frau Sarah waren
kinderlos geblieben. Da erschien ihm der Herr und verhieß ihm einen Sohn, der
der Beginn einer Reihe von Nachkommen unzählig wie die Sterne am Himmel
werden solle. Welcher Neunzigjährige würde ob einer solchen Verheißung nicht
tief gläubig? Aber Sarah konnte keine Kinder bekommen, sie war ja selbst schon
an die achtzig Jahre alt. Also vereinbarten die beiden Eheleute, dass Abraham
sich zu Hagar legen sollte, einer jungen ägyptischen Magd. Und Hagar gebar
Ismael.
Als Abraham neunundneunzig Jahre alt war, verhiess der Herr Abraham und
Sarah, dass sie nun am Ende ihres Lebensweges doch noch miteinander einen
Sohn zeugen sollten. Er solle seinen Kindern und allen Kindeskindern als
Zeichen des Bundes mit Gott am achten Tag nach der Geburt die Vorhaut
beschneiden. Höchst zweifelnd nahmen die beiden alten Leute diese Verheißung
auf. Aber Abraham beschnitt am selben Tage nicht nur seinen Sohn Ismael,
sondern gleich auch alle Knechte im Hause. Neun Monate später wurde Isaak
geboren.
Sarah ist nun eifersüchtig auf Hagar und den erstgeborenen Sohn Ismael und
verlangt von Abraham, die beiden zu vertreiben, was dieser, höchst traurig,
gehorsam tut. Trösten kann ihn Gottes Versprechen, auch Ismael zu einem
großen Volk machen zu wollen. Ismael wird nach einem langen Weg durch die
Wüste von seiner Mutter mit einer Ägypterin verheiratet und wird damit zum
Urvater aller Araber. Auch der Prophet Mohammed führt seine Abstammung in
direkter Linie auf Ismael zurück. Isaak dagegen wird der Urvater aller Juden –
und damit auch der Christen.
Nun aber geht diese Geschichte im Alten Testament und im Koran auseinander:
Eines Tages verlangt Gott von Abraham, er solle auf einen Berg gehen und
-3-
seinen einzigen Sohn als Opfer darbringen. Abraham gehorcht, und erst im
allerletzten Moment, als er das Messer schon über seinem Sohn schwingt,
gebietet ihm der Engel des Herrn Einhalt. Weil er so fest im Glauben gewesen
sei, dass er sogar bereit war, seinen eigenen Sohn zu opfern, verspricht der Herr
Abraham, sein Geschlecht zu vermehren wie den Sand am Ufer des Meeres. Er
und seine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen.
Die Bibel erzählt diese Geschichte im 22. Kapitel der Genesis von Isaak und
ausdrücklich n a c h der Vertreibung von Hagar und Ismael. Der Koran spricht
nicht vom einzigen Sohn Abrahams, es wird kein Name des Kindes genannt.
Und die Geburt Isaaks wird im Koran erst anschließend angekündigt (37:112).
Die Muslime nehmen darum heute mehrheitlich an, dass Ismael, nicht Isaak
geopfert werden sollte und dass sich die Verheißung auf Ismaels Nachkommen
bezog.
Abrahams oder, wie er im Koran bezeichnet wird, Ibrahims Opfer gilt als
Vorbild für das rituelle Opfern von Schlachtvieh während der Wallfahrtszeit in
der Nähe von Mekka und das jährliche Islamische Opferfest. Die Wallfahrt
nach Mekka (Haddsch) geht nach islamischer Auffassung ebenfalls auf Ibrahim
zurück. Er habe dort, wo heute die Kaaba steht, mit seinem Sohn Ismael die
Gedenkstätte an Gott mit göttlicher Fügung entdeckt und errichtet.
Auf diese Geschichte gehen also alle drei großen monotheistischen Religionen
zurück, das Judentum, das Christentum, der Islam. Dieser gemeinsame
Ursprung hat aber leider nicht zu einem friedlichen Zusammenleben der drei
Religionen und schon gar nicht zu gegenseitiger Toleranz geführt. Bis heute
führen die Angehörigen dieser drei großen Religionen blutige Auseinandersetzungen miteinander und untereinander.
Augenscheinlich gebiert der Glaube an einen einzigen Gott auch das Dogma
einer einzigen Wahrheit, das die jeweils Andersdenkenden ausschließt, weil
schon deren Existenz das Dogma in Frage stellen muss. Anders ausgedrückt:
Der Glaube an einen einzigen Gott bringt Religionsführer hervor, die verlangen,
dass man an diesen Gott auch nur auf eine einzig wahre Weise glauben und an
ihn auch nur auf eine einzige Weise seine Gebete richten dürfe. Selbst kleine
Unterschiede in der Art des Bekenntnisses lassen die Gemeinsamkeit des
Glaubens an denselben Gott in den Hintergrund treten. Ist das vielleicht so, weil
es so leicht ist, anders Denkende oder anders Glaubende mit der Begründung
zum verachteten Außenseiter zu machen, sie seien ungläubig? So lange die
jeweilige Geistlichkeit die Definitionsmacht in den Händen hält, braucht sie
dafür keinerlei nachvollziehbare Argumente, es genügt die bloße Behauptung,
dieses oder jenes Verhalten sei ketzerisch oder ungläubig.
-4-
Über Jahrhunderte haben christliche und islamische Herrscher die Religion
benutzt, um die Menschen zu Kriegen und zur Verfolgung Andersdenkender zu
hetzten. Sie haben sich an die Spitze des jeweils einzig wahren Glaubens
gestellt, um das eigene Machtstreben zu befördern, indem sie Angst, Hass und
tiefe Verachtung gegen die „Heiden“ oder die „Ungläubigen“ säten. Es ist
deshalb angezeigt, sich einmal mit den Vorurteilen gegenüber der islamischen
Welt auseinanderzusetzen, Vorurteilen, deren Wurzeln bis zu dem Aufruf Papst
Urbans II. zum Ersten Kreuzzug zurückgehen, den dieser am 27. November
1095 in Clermont an die französischen Ritter gerichtet hat. Dieser Papst wurde
übrigens noch im Jahre 1881 von Papst Leo XIII. selig gesprochen.
Durch unsere abendländische Brille betrachtet, bietet heute vor allem der Islam
das Bild einer aggressiven, fundamentalistischen Religion, die zur Gewalt
aufruft und die uns Angst macht. Der Islam sei zur Erneuerung unfähig und die
fundamentalistische Geistlichkeit wolle die Menschen in das frühe Mittelalter
zurückstoßen, lautet das verbreitete Urteil gegenüber dem Islam, wie er uns
heute begegnet. Aber im siebten Jahrhundert hatte der Islam mit einer
ungeheuren Neuerung begonnen, hatte Mohammed mit einer beispiellos
modernen Botschaft die Menschen mitgerissen - mit der Botschaft von einer
egalitären Gesellschaft, die nicht von Stamm oder Stand, sondern nur vom
gemeinsamen Glauben bestimmt wird. Wie wäre es sonst zu erklären, dass die
Araber nur einhundert Jahre nach dem Tod des Propheten Mohammed der neuen
Religion ein Weltreich erobern konnten, das von der iberischen Halbinsel bis
zum Indus reichte? Erst 732 konnte Karl Martell (Großvater Karls des Großen)
den Vormarsch der Araber in Frankreich bei Tours und Poitiers stoppen.
Die arabischen Kalifen gründeten ein Weltreich, das der Welt eine über 500
Jahre andauernde zivilisatorische Blütezeit brachte, der wir Europäer
heute noch ungeheuer viel zu verdanken haben:
Die Araber verbreiteten mit dem Koran natürlich auch ihre Sprache und ihr
Recht. Sie schufen dadurch eine neue Weltsprache und Rechtseinheit in einem
Gebiet vom Atlasgebirge bis nach Zentralasien. Das beflügelte den Handel und
den Wissensaustausch. Die Araber segelten schon 2000 vor Christi nach Indien,
China, Korea, Ceylon und ins südliche Afrika. Arabische Steuerleute mussten
sechs oder sieben Methoden beherrschen, den Breitengrad an Hand der Gestirne
zu bestimmen.1 Seit dem 9. Jahrhundert benutzten die Araber MagnetKompanten und Astrolabien2 zur Navigation. Da glaubten die Europäer noch
1 Ibn Majid (1432- ca. 1500) schrieb in seinen beinahe 40 Traktaten zur Navigation, er kenne 70 Arten zur
Messung des Breitengrades unter Verwendung fast jeden hellen Sternes am Himmel.
2
Der Magnetkompass stammte aus dem alten China und war zur Zeit der Kreuzzüge erstmals im Mittelmeer
aufgetaucht, wegen seiner scheinbar magischen Kräfte machten die christlichen Seeleute aber nur im Geheimen
von ihm Gebrauch. Das Astrolabium war im antiken Griechenland entwickelt worden. Die älteste Beschreibung
findet sich im Almagest des Ptolomäus. Die Araber hatten es übernommen und verbessert.
-5-
Jahrhunderte lang, dass südlich von Kap Nun3 das Meer zu einer glühenden
Masse gerinne und riesige Magnetberge alles Eisen aus den Schiffen reißen
würden. Mit unserem Europa-zentrierten Weltbild vergessen wir gelegentlich,
dass bis zum Beginn der Neuzeit das Mittelmeer nicht das Zentrum, sondern
eher der Rand der der zivilisierten Welt war. Hinter seiner Ostküste begann die
Welt der Seidenstraßen, dahinter lagen Indien, China und andere hochzivilisierte
Reiche mit einem ausgedehnten Handel. Die arabische Halbinsel war seit
Jahrhunderten eine der wichtigsten Handelsrouten, die diese Welt über den
Seehandel an den Mittelmeerraum anschloss. Gold und Silber, Gewürze, Seide
und Leder kamen aus dem Osten und Süden, der Mittelmeerraum exportierte
Baumwolle, Leinen, Getreide, Öl und – wie heute auch noch – Waffen.
Die Araber brachten die in Jahrtausenden entwickelte Bewässerungstechnik aus
dem Zweistromland nach Nordafrika und auf die iberische Halbinsel und
verwandelten Wüsten in blühende Oasen.
Die Windmühle danken wir den Arabern, die sie im 9. Jahrhundert aus Persien
bis auf die iberische Halbinsel gebracht haben. Erst im 12. Jahrhundert sind
Windmühlen in Flandern, in Südengland und in der Normandie nachweisbar.
Die Laute, die Guitarre, die Streichinstrumente und die Oboe sind arabischen
Ursprungs und sind über Al Andalus nach Europa gelangt.
Das Papier führen die Araber aus China ein, ergänzten preisewertere und schnell
wachsende Rohstoffe und verbanden die Papierherstellung mit ihrer
Mühlentechnik. Sie legten so die technische Grundlage dafür, Wissen rasch und
preiswert zu verbreiten.
Die Araber schufen bedeutende Bauwerke wie die Umayyaden-Moschee in
Damaskus, den Felsendom in Jerusalem oder die Alhambra. Um das Jahr 1.000
lagen fünf der zehn größten Städte der Welt4 im islamischen Kulturraum, vier
lagen in Ostasien. Aus dem christlichen Abendland konnte sich nur
Konstantinopel auf dieser Rangliste behaupten. Rom war unbedeutend
geworden. Das maurische Cordoba war mit annähernd einer halben Million
Einwohner wahrscheinlich die größte Stadt der Welt. Cordoba verfügte über
eine öffentliche Wasserversorgung und Entwässerung, Straßenbeleuchtung,
Krankenhäuser und überall Badeanstalten für jeden Bewohner. An über 500
Schulen konnte jeder Bewohner Bildung erwerben.
3 Kap Nun liegt auf der Westseite Afrikas, südlich von Agadir und gegenüber von der Insel Lanzarote.
4 Die 10 größten Städte der Welt um 1.000 u.Z.: Al-Hasa (Arabische Halbinsel), Angkor (Kambodscha), Bagdad
(Zweistromland), Cordoba (Kalifat von Cordoba), Kaifeng (China), Kairo (Ägypten), Konstantinopel (Byzanz),
Kyoto (Japan), Neyshabur (Persien), Patan (Nepal)
-6-
Der aus Bagdad stammende Hofsänger und Wissenschaftler Abu l-Hasan ‘Ali
Ibn Nafi‘ (789-857), genannt Ziryab, die Amsel5, führte in Cordoba Zahnpasta
und Deodorant ein, während die Kaiser von Byzanz beim Zug durch die Stadt
große Mengen von Weihrauch verbrennen ließen, um den Kloakengestank
einigermaßen erträglich zu machen. Der Weihrauch stammte aus dem damals
fruchtbaren Süden der arabischen Halbinsel, dem heutigen Jemen und dem
Oman. Bagdad, Cordoba, Kairo, Samarkand und Buchara waren geistige
Zentren einer einmaligen Wissensgesellschaft:
Hoch gebildete Herrscher förderten die Sammlung des Weltwissens und die
Forschung. Sie ließen die Werke der griechischen Philosophie ins SyrischAramäische und ins Arabische übersetzen. Ohne diese Übersetzungen und ohne
zum Beispiel den Aristoteles-Kommentar von Ibn Ruschd (in Europa genannt
Averroes, Hofarzt in Cordoba, dann in Marrakesch)6 wären uns die griechischen
Philosophen kaum überliefert worden. Denn nachdem die römischen Kaiser
Konstantin und Theodosius im vierten Jahrhundert das Christentum zur
Staatsreligion gemacht hatten, wurde im römischen Reich alles HeidnischAntike verfolgt oder vernachlässigt. Die großen Bibliotheken der Antike gingen
unter oder verbrannten, und niemand kümmerte sich um eine Rekonstruktion.
Vor allem die berühmte Bibliothek von Alexandria, die berühmteste Bibliothek
des Altertums überstand die zwangsweise Christianisierung des römischen
Reiches nicht lange.
In den arabischen Kalifenreichen dagegen entstanden unabhängig voneinander
riesige Bibliotheken und Bildungsinstitutionen, in denen gesammelt, geforscht
und gelehrt wurde. Die Bibliothek von Cordoba allein hatte über 500.000 Bände
und Schriftrollen, mehr als alle Bibliotheken des christlichen Abendlandes
zusammen. Zum Vergleich: Um das Jahr 1200 waren die größten Bibliotheken
im christlichen Abendland die der Klöster Reichenau und Cluny sowie die
Vaticana. Diese drei hatten zusammen etwa 3.000 Bände. Der FatimidenKalif al-`Aziz in Kairo hatte im 10. Jahrhundert eine Bibliothek mit
1 600 000 Bänden. Sie umfasste 6500 mathematische und 18 000 philosophische
Schriften. 7 Auch große private Bibliotheken wurden gesammelt, der sehr
5 Ziryab war ein Lehrmeister der schönen Künste und der verfeinerten Lebensart. Er veränderte den Alltag der
Menschen in al Andalus, zum Beispiel die Folge der Speisen: Esst zuerst Suppe, dann Fleisch und schließt ab
mit etwas Süßem! Trinkt aus Kristallgläsern. Die heute noch übliche europäische Speisekultur geht auf einen
persischen Muslim zurück. Oder die der Saison angepasste Kleidung: leichte Gewänder im Sommer, Buntes aus
Seide, und erst im Winter Pelz.
6 Abū l-Walīd Muḥammad b. Aḥmad b. Muḥammad b. Rušd; * 1126 in Córdoba; 10. Dezember 1198
in Marrakesch; auch Averroes oder Averrhoës oder einfach Ibn Ruschd war ein spanischarabischer Philosoph und Arzt. Er war Hofarzt der berberischen Dynastie der Almohaden von Marokko.
7 Bis um 1500 war die größte Herrscher-Bibliothek des christlichen Abendlandes die des Ungarnkönigs Matthias
Corvin mit rund 1.400 Bänden.
-7-
einträgliche Beruf des Buchhändlers entstand in dieser Zeit.
Und die ersten Universitäten der Welt wurden nicht etwa in Bologna, Paris oder
Oxford8 gegründet, sondern schon im achten und neunten Jahrhundert in Bagdad
und Kairo. Die Al-Ahzar Universiät von Kairo (859 gegr.) kann heute den Rang
als älteste bestehende Universität der Welt beanspruchen. Als Medresse, also
Rechts- und Koranschule entstanden, wurde die Al-Ahzar Universität bald auch
zu einem Zentrum der arabischen Medizinforschung. Alhazen9 entdeckt hier die
Gesetze der Optik und die Funktion des Auges.
Weitere Zentren sind Bagdad und Cordoba. Die Araber übernehmen zunächst
auch das bedeutende medizinische Wissen der antiken Griechen, der Juden und
der Perser. Aber sie forschen und entwickeln intensiv weiter. Arabern und
Juden war es im Gegensatz zu den Christen nicht verboten zu sezieren. Kein
Wunder, dass ein Araber den großen und den kleinen Blutkreislauf entdeckte.
Kein Wunder, dass Abu l-Qasim10, Hofarzt des zweiten Kalifen von Cordoba
(al-Hakam II.) mit seinem chirurgischen Wissen die Medinzinerausbildung bis
in die Renaissance hinein prägte. Er schrieb eine medizinische Enzyklopädie in
30 Bänden mit Kapiteln über Chirurgie, Medizin, Augenheilkunde, Orthopädie,
Pharmakologie, Ernährung und anderes.
In Cordoba forschte und lehrte auch der bedeutende jüdische Philosoph, Arzt
und Astronom Maimonides11. Nicht nur im maurischen Andalusien, sondern
auch in anderen islamischen Städten arbeiteten und forschten jüdische und
arabische Ärzte und Naturwissenschaftler gleichberechtigt miteinander. Ohne
das Lebenswerk des persischen Arztes Ibn Sina (lat. Avicenna) war bis in das
17. Jahrhundert hinein in Europa Medizinerausbildung nicht denkbar. Noch
heute sind Medizinforscher erstaunt über die Wirksamkeit seiner pharmakologischen Rezepte. Avicenna entdeckte im 11. Jahrhundert schon, dass Mäuse
und Ratten die Pest übertragen – in Europa wurde die Pest noch Jahrhunderte als
Strafe Gottes angesehen. Und Avicenna führte erste Experimente mit Narkosen
bei Operationen durch.
8
Universität von Bologna gegr.1088, Universität von Paris 1200, Universität von Oxford im 13. Jhd.
9
Abu Ali al-Hasan ibn al-Haitham, latinisiert Alhazen (* um 965 in Basra; † 1039 oder 1040 in Kairo), war ein
muslimischer Mathematiker, Optiker und Astronom arabischer oder persischer Herkunft.
10 Abu l-Qasim Chalaf ibn al-Abbas az-Zahrawi (* 936 in El Zahra; † 1013 in El Zahra),
als Abdulcasis bekannt, war ein andalusisch-arabischer Arzt und Wissenschaftler. Er war vermutlich der
bedeutendste mittelalterliche Arzt muslimischer Herkunft, dessen umfangreiche medizinische Schriften, die
arabische und klassisch griechisch-römische Lehren kombinieren, die europäische Medizin bis zur Renaissance
geprägt hat. Sein wichtigstes Werk ist at-Tasrif, eine 30-bändige Sammlung medizinischen Wissens.
11
Moses Maimonides * zwischen 1135 und 1138[1] in Córdoba; † 13. Dezember 1204 in Kairo) war
ein jüdischer Philosoph, Rechtsgelehrter und Arzt. Er gilt als bedeutender Gelehrter des Mittelalters und als einer
der bedeutendsten jüdischen Gelehrten aller Zeiten.
-8-
Auf Sizilien verfasst im 12. Jahrhundert der muslimische Kartograph und
Geograph al-Idrisi seine „Reise des Sehnsüchtigen, um die Horizonte zu
durchqueren“. Darin unterteilt er die Welt in sieben Klimazonen und liefert
neben genauen Karten detaillierte Beschreibungen der kulturellen, politischen
und sozioökonomischen Bedingungen der jeweiligen Regionen. In seinem
Hauptwerk verknüpfte al-Idrisi das Wissen, welches über die Jahrhunderte von
islamischen Kaufleuten und Forschern über Afrika, den Indischen Ozean und
den Fernen Osten gesammelt worden war mit den Informationen der
normannischen Seefahrer über die nördliche Welt zur akkuratesten Landkarte
der Vormoderne, eingraviert in eine massive Silberscheibe von 2 m
Durchmesser.
Wie rasch sich Wissen im arabisch-islamischen Kulturraum verbreitete, zeigen
die indischen Dezimalzahlen: Um 825 schreibt der persische Gelehrte alChwarizmi12 das erste Lehrbuch über das Rechnen mit indischen Zahlen. Von
seinem Namen leitet sich übrigens das Wort „Algorithmus“ ab. Schon wenige
Jahre später macht der Hofdichter und Gelehrte Abbas Ibn Firnas13 die indischen
Zahlen in Andalusien (al-Andalus) bekannt. In Byzanz werden die indischen
Dezimalzahlen zwar früh übernommen. Aber im westlichen Europa setzen sie
sich erst langsam durch, früheste Belege ihrer praktischen Verwendung,
beispielsweise in England,14 stammen erst aus der Wende zum 15. Jahrhundert.
Und die Verwendung der Null verbreitet sich sogar erst im 17. Jahrhundert. 15
Ibn Firnas erfand außerdem ein Verfahren zur Herstellung von Glaslinsen als
Sehhilfe. Und Ibn Firnas gelang es, nach dem Vorbild der Vögel einen
Flugapparat zu bauen, mit dem er von einem Hügel bei Cordoba aus über 400
12
Abu Dscha'far Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi, Var. Chwarazmi, * um 780; † zwischen 835 (?) und 850)
war ein choresmischerUniversalgelehrter, Mathematiker, Astronom und Geograph während der abbasidischen
Blütezeit, der den größten Teil seines Lebens in Bagdad verbrachte und dort im „Haus der Weisheit“ tätig war.
Von seinem Namen leitet sich der Begriff Algorithmus ab.
13
Abu al-Qasim Abbas ibn Firnas (* um 810 in Ronda; † 887 oder 888[1] in Córdoba) war ein Dichter und
Gelehrter berberischer Abstammung in Al-Andalus. Er war unter den Emiren al-Hakam I., Abd ar-Rahman
II. und Muhammad I. Hofdichter der Umayyaden im Emirat von Córdoba. Als Gelehrter interessierte er sich für
die Mathematik, Astronomie und Physik. Er machte das indische Dezimalsystem in Andalusien bekannt, das er
selbst bei einer Reise in den heutigen Irak kennengelernt hatte.
14 Auf einem Quadranten von 1396 und im Turm von Hathfield Church, Sussex, 1445
15 Der Mathematiker Leonardo Fibonacci (* um 1180 in Pisa; † nach 1241 ebenda), der im heutigen Algerien
als Sohn eines italienischen Handelsvertreters lebte und deshalb mit den arabisch-indischen Zahlen inklusive der
Null vertraut war, führte diese zwar 1202 mit seinem Werk Liber abaci, (dem ersten Lehrbuch kaufmännischen
Rechnens in Europa), in Italien ein. Im praktischen Rechnen setzten sich die indisch-arabischen Zahlen aber erst
Jahrhunderte später durch. Um 1220 hatte Fibonacci die einzig erhaltene Abschrift seines Werkes gefertigt und
sie Michael Scotus gewidmet, damals Arzt und Hofastrologe am Hofe des Stauferkaisers Friedrichs II. in
Sizilien. Fobonacci räumt der Null aber nicht den gleichen Stellenwert wie den übrigen Zahlen ein – in seinem
Buch nennt er sie Zeichen statt Zahl. Noch der Humanist, Mathematiker und Arzt Gerolamo Cardano kam in
seinem 1545 erschienenen Buch Ars magna sive de Regulis Algebraicis, in dem er Methoden zur expliziten
Lösung von Gleichungen dritten und vierten Grades entwickelte, ohne die Null aus.
-9-
Meter flog und zum Startpunkt zurückkehrte. Bei der Landung brach er sich
leider beide Beine. Er wurde in eines der zahlreichen Krankenhäuser von
Cordoba eingeliefert, wo sich auch die christlichen Herrscher der benachbarten
Reiche gern behandeln ließen. Hier werden seine Brüche und Verletzungen auf
einem hohen chirurgischen und vor allem auch hygienischen Standard behandelt
– 1.000 Jahre vor Ignaz Semmelweis wussten die Araber auch um die
entscheidende Bedeutung der Hygiene für den Heilungserfolg. Ibn Firnas wurde
nach wenigen Wochen geheilt nach Hause entlassen. Seine Flugexperimente
setzte er allerdings nicht fort.
Juden und Christen verschiedener Glaubensrichtungen konnten unter der
Herrschaft des Islam leben, ohne Verfolgung leiden zu müssen. Gegen eine
Kopfsteuer - die aber zumeist niedriger war als die vorher zu leistenden
Abgaben an Byzanz - erhielten sie den Status von Dhimmi, von
Schutzbefohlenen. Sie mussten zwar eine Reihe von diskriminierenden
Vorschriften, zum Beispiel Kleidervorschriften hinnehmen und waren auch vor
Gerichten den Muslimen gegenüber nicht gleichberechtigt - aber die Sicherheit
vor Verfolgung war ein ausschlaggebender Faktor für die Akzeptanz der neuen
Fremdherrschaft.16
Warum war diese junge Religion so erfolgreich und so weltoffen? Und
warum wirkt der Islam spätestens seit dem 12. Jahrhundert in weiten
Teilen der islamischen Welt wie geistig erstarrt?
In seiner Blütezeit war der Islam - im krassen Gegensatz zum christlichen
Europa - offen für das Wissen der gesamten Welt, innovativ und relativ tolerant,
vor allem, wenn man die Maßstäbe der damaligen Zeit anlegt.
16
Die römischen Kaiser Konstantin I. (röm. Kaiser von 206-337 u.Z.) und Theodosius (letzter Kaiser des
gesamten Römischen Reiches, Kaiser von 347-395 u.Z.) hatten das Christentum faktisch zur Staatsreligion
gemacht und in den ersten beiden Konzilen von Nicäa (325) und Konstantinopel (381) die Natur von Jesus als
Mensch und Gott und die Trinitätslehre verbindlich festgeschrieben. Schon unter Konstantin begannen die
Verfolgungen der christlichen Sekten, die abweichenden Glaubensüberzeugungen anhingen, Arianer,
Nestorianer, Monophysiten.
Im Frühjahr 1096 setzten sich eine Vielzahl Gruppen von Rittern und Bauern, durch die Kreuzzugspredigten
angeregt, aus verschiedenen Teilen Deutschlands und Frankreichs gegen die Juden in Bewegung.
Der größte dieser Kreuzzüge, der am stärksten in die Angriffe auf Juden eingebunden war, wurde von Graf
Emicho angeführt. Eine Armee von rund 10.000 Männern, Frauen und Kindern aus dem Rheinland,
Ostfrankreich, Lothringen, Flandern und sogar England war im Frühsommer 1096 gestartet, wälzte sich durch
das Rheintal, den Main hinauf bis zur Donau.
Schon während der als „Reconquista“ bezeichneten Rückeroberung der iberischen Halbinsel durch Nachfahren
der Westgoten kam es (1391) in Sevilla unter Fernand Martinez zu einem ersten Pogrom. Nach Abschluss der
Reconquista Spaniens stellten die „katholischen Könige“ Ferdinand II. und Isabella I. mit dem Alhambra-Edikt
vom 31. März 1492 die Juden Spaniens vor die Wahl zwischen Exil oder Konversion zum Christentum. Die
meisten sephardischen Juden flohen ins Osmanische Reich.
-10-
Das Erlangen von Wissen galt den frühen Muslimen als frommes Werk, selbst
wenn man von den ungläubigen Völkern lernte.
Beispielhaft drei Hadithe (durch Zeugen belegte Äußerungen des Propheten
Mohammed) hierzu:
„Wer auf der Suche nach Wissen hinauszieht, der ist auf dem Wege Allahs, bis er
wiederkehrt.“
„Streben nach Wissen ist Pflicht für jeden Muslim.“
„Strebt nach Wissen und sei es in China.“
Vor allem der letzte Hadith belegt, dass Wissen ausdrücklich auch außerhalb des
islamischen Kulturkreises gesammelt werden sollte.
Nach Auffassung der katholischen Kirche dagegen war die Bibel die einzige
Quelle göttlicher Offenbarung. Forschung an irdischen Objekten konnte daher
nicht gottgefällig sein. Europa war im Mittelalter geistig geradezu abgeschottet.
Dem Islam gegenüber baute die katholische Kirche des Mittelalters ein düsteres
Feindbild auf, das in den Kreuzzügen gipfelte und Form von Vorurteilen
teilweise bis heute Spuren hinterlassen hat.
Natürlich hat es den Arabern militärisch geholfen, dass sowohl das persische
Sassanidenreich als auch Byzanz durch jahrzehntelange Kriege miteinander
erschöpft waren und mit dem neuen, vom jungen Glauben inspirierten Gegner
im Süden nicht gerechnet hatten. Das allein hätte aber kaum ausgereicht, ein
Weltreich zu erobern - und vor allem zu halten. Das Geheimnis muss in dem
neuen Glauben selbst liegen. Im Koran sind Kernelemente des Christentums und
des Judentums eine einzigartige Verbindung eingegangen und zu einem starken
neuen Glauben mit hoher Überzeugungskraft geworden – es ist daher sinnvoll,
Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.
Zum Christentum bestehen fünf wesentliche Gemeinsamkeiten und zwei
Hauptunterschiede:
1) Allen drei Religionen ist gemeinsam das Bekenntnis zu einem einzigen Gott,
der Schöpfer und Anfang und Ende von allem ist. Alle drei Religionen gehen
auf Abraham zurück und glauben an denselben einzigen Gott.
Sure 29, 46: „Wir glauben an das, was als Offenbarung zu uns und zu Euch (Juden und
Christen) herabgesandt worden ist. Unser und Euer Gott sind einer. Ihm sind wir ergeben.“
Auch die Propheten haben die drei Religionen gemeinsam, Adam und
Noah, Ismael, Isaak, Moses, David, Salomo, Johannes der Täufer, sie alle
werden im Koran ebenso als Propheten geehrt, auch Jesus von Nazareth, Isa
ben Myrriam. Mohammed ist der letzte in dieser Reihe der Propheten, er ist
-11-
„das Siegel der Propheten.“ Jesus wird jedoch im Koran nicht als Gottes
Sohn angesehen, sondern nur als Prophet, denn Gott ist nach dem Glauben
der Muslime ewig, er hat weder gezeugt, noch wurde er gezeugt. (Sure 112,
1-3)
Unsere schwer verständliche christliche Dreifaltigkeitslehre, Vater, Sohn
und Heiliger Geist seien Gott, ist folglich für die Muslime Gotteslästerung
und Unglaube.
Entsprechend heißt es im Koran: (Sure 5, 17): „Ungläubig sind diejenigen
die sagen: Gott ist Christus, der Sohn der Maria“…
Und (Sure 5,73): „Ungläubig sind diejenigen, die sagen:
Gott ist einer von dreien“…
Goethe drückte diesen Gedanken im West-Östlichen Divan aus:
„Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte
kränkte seinen heil'gen Willen.
Und so muß das Rechte scheinen
Was auch Mahomet gelungen;
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er alle Welt bezwungen.“
Diese Trinitätslehre wurde erst Ende des vierten Jahrhunderts u.Z. zum
verbindlichen Dogma der Christenheit. Gleichzeitig erklärten die Kirche
und der römische Kaiser Konstantin damit einen Großteil der Christenheit
im Nahen Osten zu Häretikern – die danach der Verfolgung ausgesetzt
waren, was deren bereitwillige Unterwerfung unter die neuen arabischen
Herrscher erklärt. 17
2) Die Bücher der Christen, Juden und Muslime sind nach islamischer
Vorstellung eines Ursprungs.
- die Thora, die Moses gegeben wurde
- die Psalmen, die David gegeben wurden
- das Evangelium, das Jesus geoffenbart wurde
- der Koran, der an Mohammed erging.
Sie alle entstammen nach islamischer Auffassung einem geheimen Buch in
Himmel, dem al-Kitab, der Mutter des Buches, der Urschrift. Der Koran
schließt diese Überlieferungen ab, ersetzt sie aber nicht.
17
Sh. Fußnote 16
-12-
3) Die Gemeinschaft des Islam ist wie der christliche Glaube für jeden
zugänglich, der glaubt - unabhängig von Volkszugehörigkeit, Stamm oder
Stand.18 Jude wird man dagegen durch Geburt von einer jüdischen Mutter.
Beispielhafte Textbelege:
Mohammed in einer Predigt auf seiner letzten Wallfahrt in Mekka, 632 u.Z.:
„O ihr Menschen, wahrlich wir haben euch geschaffen von einem männlichen und
einem weiblichen und haben euch zu Völkerschaften und zu Stämmen gemacht, so
dass ihr einander kennt. Wahrlich, der edelste unter euch vor Allah ist der
Gottesfürchtige unter euch" (Sure 49/13) „Ein Araber ist nicht vorzüglicher als ein
Nichtaraber, noch ein Nichtaraber vorzüglicher als ein Araber; Ein Schwarzer ist
nicht vorzüglicher als ein Weißer, noch ein Weißer als ein Schwarzer, außer durch
Frömmigkeit.“
Brief des Paulus an die Galather 3,26-28:
„Denn ihr seid alle Söhne Gottes durch den Glauben in Christus Jesus.
Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus
angezogen. Es gibt nicht mehr Juden noch Griechen, nicht mehr Sklaven noch
Freien, nicht mehr männlich noch weiblich; denn ihr seid alle einer in Christus
Jesus.“
Folge dieses entscheidenden Unterschiedes zum Judentum:
Muslime sind wie auch die Christen aufgerufen, Ihren Glauben zu
verbreiten. Die Juden missionieren nicht.
Daher gibt es heute auf der Welt etwa 2,1 Mrd. Christen und 1,3 Mrd.
Muslime aber nur 15 Millionen Juden.
4) Mit dem Christentum hat der Islam gemeinsam die zentrale Bedeutung des
Lebens nach dem Tode und des Jüngsten Gerichtes. Das
Paradiesversprechen und noch mehr die Angst vor der Hölle sind ein
wichtiger Handlungsantrieb für die Gläubigen.
5) In der gelebten Glaubenspraxis gibt es eine weitere Gemeinsamkeit aller drei
monotheistischen Religionen: Religiöse Autorität wird im Islam, im
Judentum, in der katholischen Kirche und in der orthodoxen Kirche
ausschließlich und in den protestantischen Kirchen ganz überwiegend durch
Männer ausgeübt. Als ein hervorstechendes Herrschaftsinstrument dient eine
graduell unterschiedliche, rigide Sexualmoral, vor allem gegenüber Frauen.
Diese wurzelt aber in allen drei Religionen in der Tradition, kaum im Buch
des Glaubens selbst.
18
Beim Islam war dies von Anfang an so, das war eine der revolutionären Neuerungen von Mohammeds
Botschaft. Im Christentum war zunächst umstritten, ob man sich als eine jüdische Sekte versteht oder ob der
neue Glaube offen ist für jedermann. Entschieden wurde diese Frage erst um das Jahr 35, als der Apostel Petrus
den römischen Centurio Cornelius in Caesarea Palaestina bekehrte und taufte.
-13-
Das sind die Gemeinsamkeiten, aber mit der nächsten Frage beginnen die
entscheidenden Unterschiede:
6) Wie kann ich als Gläubiger am jüngsten Tag in das Paradies gelangen?
Hier unterscheidet sich der Islam ganz wesentlich vom Christentum:
Für uns Christen ist die Frage außerordentlich schwer zu beantworten, weil
die Bibel dazu keine konkreten rituellen Vorschriften enthält, die jeder
Christ begreifen kann. Jesus spricht "Ich bin der Weg und die Wahrheit und
das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich." (Joh. 14,6) Das
ist ziemlich abstrakt. Was heißt das praktisch? Die katholische Kirche hat
sich damit beholfen, die Gläubigen zum Tun guter Werke aufzufordern, was
im 16. Jahrhundert im Ablasshandel gipfelte. Martin Luther hat später
dagegengehalten: Der Mensch könne sich die Seligkeit nicht verdienen, sie
werde ihm von Gott aus Gnade geschenkt.
Epheser (2,8-9): “Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und
das nicht aus euch; Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken",
Mohammed verkündet den Muslimen einen Glauben, der ganz klare
und verständliche Regeln enthält, wie ein gläubiger Muslim und wie die
muslimische Gemeinschaft zu leben hat.
Kern dieses Regelwerkes sind diese fünf Säulen des Islam:
1. Das Glaubensbekenntnis (Shahada):
Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet.
2. Das fünfmal täglich vorgeschriebene Ritualgebet (Salat), das
mindestens am Freitag in der Gemeinschaft der Gläubigen, also in der
Moschee zu verrichten ist.
3. Das Almosen (Zakat): eine nur von Moslems zu zahlende Steuer, die
den Bedürftigen zu Gute kommen soll aber auch zur Ausbreitung des
Islams verwendet wird.
4. Das Fasten (Saum) im Fastenmonat Ramadan
5. Die Pilgerreise (Hadsch) nach Mekka mindestens einmal im Leben.
Darüber hinaus enthält der Koran zahlreiche Vorschriften über die
Reinlichkeit, Speisevorschriften wie das Verbot von Schweinefleisch, über
-14-
die Beschneidung der Jungen, Vorschriften, die weitgehend denen der Juden
gleichen. Die Verschleierung der Frauen gehört ausdrücklich nicht zu
Mohammeds Kanon.
Offenheit des Glaubens für jeden, der ihn annimmt - verbunden mit
einem klar verständlichen Ritus, den jeder einhalten kann und der die
Gemeinschaft der Gläubigen stiftet und sichtbar hält – diese
Kombination ist der Kern der Überzeugungskraft des Islam.
7)
Der zweite wesentliche Unterschied zwischen Christentum und Islam
besteht im Verhältnis zu Staat und Recht:
Unsere Bibel ist allein Quell des Glaubens. Nur an einer Stelle des Neuen
Testamentes äußert sich Jesus zur Loyalität des Christen gegenüber dem
Staat, im Zusammenhang mit der Steuerpflicht: (Mt. 22,21) „So gebet
dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Zwar haben
alle christlichen Herrscher ihre Herrschaft von Gottes Gnaden legitimiert,
die Bibel verlangt aber nicht den Gottesstaat, für Christen ist auch eine
laizistische Demokratie mit dem Glauben vereinbar, so lange sie ihn darin
bekennen dürfen. Unser Recht beruht zwar größtenteils auf christlichen
Traditionen, ist aber von Menschen geschaffen, kann also veränderten
Verhältnissen angepasst werden und unterlag im Laufe der Jahrhunderte
auch gewaltigen Anpassungen, vom Codex Justinianus bis zum
Bürgerlichen Gesetzbuch.
Das ist beim Islam ganz anders: Mohammed war nach seiner Flucht aus
Mekka 622 in Medina erst zum Schiedsrichter und schließlich zum
Regieren berufen. In den Suren, die Mohammed in Medina offenbart
wurden, geht es weniger um Erlösung und Verdammnis, es geht um das
Eherecht und das Erbrecht, das Verbot von Zinsen, um die
Beuteverteilung aus Raubzügen, das Verbotene und Erlaubte, kurz: um
das Regieren.
Für die traditionellen Muslime sind nicht nur der Koran selbst und die in
ihm enthaltenen Rechtsvorschriften unmittelbar göttlichen Ursprungs.
Auch das Regierungshandeln Mohammeds und die Rechtsvorschriften,
die Mohammed in Medina und Mekka erlassen hat, ja selbst überlieferte
Meinungsäußerungen des Propheten sind für die Muslime unmittelbar
göttlichen Ursprungs so wie der Koran selbst. Entscheidende Konsequenz
dieses göttlichen Ursprungs: Sie sind deshalb nicht aus der Zeit ihrer
Verkündung heraus zu interpretieren, sie gelten für alle Zeiten und Orte.
Und sie sind widerspruchslos und gläubig hinzunehmen. Das Forschen
nach der Bedeutung und der inneren Logik der Gesetze ist nur zulässig,
-15-
wo Allah selbst den Weg dazu weist.
Da diese Äußerungen und das Regierungshandeln des Propheten
größtenteils nur mündlich überliefert waren, eröffnete sich hier ein breiter
Handlungsraum für spätere Dogmatiker. 19 Die Ulama, die Gelehrten im
Islam, sind stets Koran- und Rechtsgelehrte in einem. Während der Kalif
die weltliche Herrschaft über das Reich des Islam innehatte, wachten die
in den Medressen ausgebildeten Ulama über die Einhaltung des rechten
Glaubens und des islamischen Rechts.
Erst der dritte rechtgeleitete Kalif, Uthman, hat ab 64420, also zwölf Jahre
nach Mohammeds Tod, begonnen, den Koran aufschrieben zu lassen. Er
legte auch das Arabische als einzig gültige Sprache des Koran fest.
Jahre danach haben die Ulama angefangen, darüber hinaus die
überlieferten Äußerungen und Regierungshandlungen Mohammeds, die
sogenannten Hadithe, aufzuschreiben und in verbindlichen Sammlungen
zu vereinigen. Die maßgeblichen Hadith-Sammlungen stammen aus dem
8. und 9. Jahrhundert u.Z. Allein Ahmad Ibn Hanbal (780-855) hat in
Bagdad eine monumentale Sammlung mit über 29 Tausend
Prophetenzitaten zusammengetragen. In eine solche Sammlung
einhundert bis zweihundert Jahre nach dem Tod des Propheten sind aber
19
Zunächst gab es vier zulässige Quellen der islamischen Rechtsfindung:
der Koran selbst, der aber nur wenige unmittelbare Rechtsvorschriften enthält, die Hadithe, die Analogie (qiyas) und die
Konsensentscheidung (idschma). Wo diese Rechtsquellen nicht griffen, konnten die Juristen einen Rechtsspruch (fatwa) auch
aufgrund eigenständiger Überlegungen fällen, der dann allerdings der Bestätigung der Gemeinde bedurfte (idschtihad).
Das sollte sich im 9. und 10. Jahrhundert u.Z. ändern.
20
Die ersten vier Kalifen nach dem Tod Mohammeds (632) werden als „rechtgleitete Kalifen“ bezeichnet, weil sie
persönliche Weggefährten Mohammeds oder sogar, wie Ali ibn Ali Talib, mit dem Propheten verwandt waren.
632–634 Abu Bakr - Vater von Mohammeds zweiter Frau Aisha, er führte die Umma, die nach dem Tod des Propheten
auseinander zu fallen drohte, in den sogenannten Ridda-.Kriegen wieder zusammen.
634–644 Umar ibn al-Chattab – aus dem führenden Clan Mekkas, den Umayyaden. Unter ihm begann die kriegerische
Ausbreitung der Herrschaft des Islam. 636 wurde Damaskus erobert, 638 Jerusalem, 640 wurde Ägypten überrannt, 642 fiel
Alexandria, 698 Karthago. 642 wurde das persische Sassanidenreich bei Nehawend besiegt und ging in der Folge im
islamischen Reich auf. Umar wurde 644 von einem christlichen persischen Sklaven ermordet.
644–656 Uthman ibn Affan - Mit der Herrschaft von Uthman ibn Affan begann eine Zeit innerer Auseinandersetzungen im
Islam, die letzten Endes zur Spaltung der Gemeinde führen sollte. Er war wie Mohammed ein Angehöriger des Stammes der
Banu Quraisch, aber gehörte zum reichen Clan der Umayyaden und setzte deren Interessen durch, zum Beispiel, indem er
sämtliche Emire (Statthalter) durch Angehörige des eigenen Clans ersetzte. Der Wichtigste unter ihnen war Mu'awiya in
Syrien (später Muawiya I.). 656 wurde Uthman während des Gebets in Medina von Aufständischen ermordet.
Seine bedeutendste Tat war die abschließende und bis heute maßgebliche Redaktion des Koran, etwa zwanzig Jahre nach
dem Tod des Propheten Mohammed.
656–661 Ali ibn Abi Talib – der Cousin Mohammeds und Ehemann von Fatima, der Tochter des Propheten, wurde 656 in der
Moschee von Medina zum vierten Kalifen gewählt. Er war bereits dreimal bei der Wahl übergangen worden, zum einen, weil
er als zu jung angesehen wurde, zum anderen aber auch, weil die Prophetengefährten das Kalifenamt wählbar erhalten und
keine Kalifendynastie in der Familie des Propheten zulassen wollten. Die Umayyaden akzeptierten die Wahl Alis jedoch
nicht, und Mu'awiya rief sich in Damaskus selbst zu Kalifen aus. Damit begann die Spaltung des Islam in Schiiten (von Shiat
Ali = Alis Partei) und Sunniten (von arab. Sunna = Brauch, überlieferte Norm).
-16-
quasi naturgesetzlich die Anschauungen derjenigen eingeflossen, die die
Sammlung zusammengetragen und über die Echtheit einzelner Hadithe
entschieden haben. Die Scharia, die Gesamtheit des islamischen Rechts,
reflektiert daher teilweise mehr die Rechtsüberzeugungen der
Korangelehrten des 8. und des 9. Jahrhunderts als die der islamischen
Gemeinschaft zu Zeiten Mohammeds. Ibn Hanbal – obwohl mehr
Theologe denn Rechtsgelehrter - war gleichzeitig der Begründer der
radikalsten Rechtsschule der Sunniten. Die hanbalitische Rechtsschule
trat für die alleinige Anerkennung von Koran und Überlieferung als
Rechtsquellen ein und lehnte jede Form menschlicher Rechtsfindung ab.
Im 18. Jahrhundert stütze sich dann der Hanbalit Muhammad Ibn Abd alWahhab (1703- 1792) auf die hanbalitische Lehre, als er die radikalfundamentalistische „wahhabitische Bewegung“ ins Leben rief, die heute
noch von Saudi-Arabien aus auf der Arabischen Halbinsel, in Afrika,
Ägypten und Indien großen Einfluss hat und mit erheblichen finanziellen
Mitteln fundamentalistische und gewaltbereite islamistische
Gruppierungen fördert.
Die Scharia gilt immer noch unmittelbar in einigen muslimischen Staaten
wie Saudi-Arabien, dem Iran, in Afghanistan, in Teilen Nigerias und auf
den Malediven. In anderen Staaten hat sie starken Einfluss auf die
Gesetzgebung, die Auslegung und Anwendung des staatlichen Rechts.
Und in vielen von Muslimen bewohnten Staaten wird ihre
Wiedereinführung von fundamentalistischen islamischen Bewegungen
gefordert.
Da die hoch angesehenen Rechtsschulen (Medressen) immer mehr
Gelehrte ausbildeten, bildete sich im Laufe der Zeit eine Altershierarchie
unter den Ulama heraus, die den Drang jeder Geistlichkeit zum
Traditionalismus noch beförderte. Mehr und mehr setzen sich die
traditionalistischen Rechtsschulen durch. Spätestens im 11. Jahrhundert
erklärten die Ulama die islamische Rechtssammlung für vollendet und die
Tore der selbstständigen Rechtssuche für geschlossen. Mit dem immer
weiter zunehmenden Einfluss der traditionalistischen Rechtsschulen tritt
an die Stelle der anfänglichen Ideen- und Meinungsvielfalt ein rigider
Formalismus mit striktem Festhalten an Präzedenzfällen und der
Unterdrückung jeden selbstständigen Denkens. Es überrascht nicht, dass
die Ulama ihre Macht und ihren Einfluss auch gegen das freie
Geistesschaffen und das luxuriöse Leben in den großen islamischen
Metropolen einsetzten.
Die großartige weltoffene Kultur des maurischen Andalusien ging nicht
etwa an der christlichen Reconquista zugrunde, sondern schon im 12.
Jahrhundert, als die fundamentalistischen Almoraviden und danach die
-17-
Almohaden aus Marokko die Herrschaft in Al Andalus an sich rissen.21
Und Bagdad wurde zweimal aus dem Osten erobert, erst im 11.
Jahrhundert von den aus Zentralasien stammenden Seldschuken und dann
1258 unter unvorstellbaren Gräueln von den Mongolen.
Die in die islamische Welt ab dieser Zeit eingezogene Innovationsfeindlichkeit zeigt sich am Beispiel des Buchdrucks: Diese Erfindung
hätte in der Wissensgesellschaft unter den arabischen Kalifen rasche
Verbreitung gefunden. Im osmanischen Reich des 15. Jahrhunderts
dagegen fürchteten die islamischen Gelehrten offenbar um ihr Wissensund Deutungsmonopol. Der Koran sollte einzigartig bleiben, neben ihm
sollte kein zweites Buch existieren. 1483 hatte der osmanische Sultan
Bayezid II. den Muslimen deshalb den Buchdruck mit beweglichen
Lettern bei Todesstrafe verboten. Erst 1727 erhielt der aus Ungarn
stammende osmanische Gelehrte Ibrahim Müteferrika (1670-1745) die
Erlaubnis, die erste Druckerei zum Druck nichtreligiöser Werke im
osmanischen Reich einzurichten. 1729 erschien das erste gedruckte
osmanische Buch, ein Wörterbuch der arabischen Sprache, mehr als 250
Jahre, nachdem Johannes Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen
Lettern erfunden hatte.
Die christlichen Päpste versuchten übrigens im 15. und 16. Jahrhundert ebenfalls, den
Druck und die Verbreitung der Bibel in Laienhänden und die Übersetzung in
Volkssprachen mit den Mitteln der Zensur und der Inquisition zu verhindern. Das
Buch des Glaubens sollte nicht dazu benutzt werden dürfen, womöglich das
Auslegungsmonopol der alleinseligmachenden Mutter Kirche in Zweifel zu ziehen.
Selbst die Sprache des Korans wurde erst nach dem Tode des Propheten
dogmatisch geprägt: Die arabische Sprache, in der der Koran unter dem
Kalifen Uthman aufgeschrieben wurde, wird ebenfalls als unmittelbar
göttlich angesehen, weil Mohammed seine Offenbarungen in dieser
Sprache empfangen haben soll. 1972 wurde jedoch die größte Sammlung
früher Koranfragmente im jemenitischen Sana´a entdeckt, zwischen Dach
und Decke einer Moschee, die nachweislich noch zu Lebzeiten des
Propheten Mohammed errichtet worden war – und diese Koranfragmente
waren nicht in arabischer, sondern in syrisch-aramäischer Sprache
21
Und von Osten her eroberten ab der Jahrtausendwende die zum Islam übergetretenen türkischen Seldschuken
von Osten her die gesamten islamischen Gebiete östlich des Mittelmeeres und vom Byzantinischen Reich
Anatolien und beendeten dort die Herrschaft der Araber. Aus den Seldschuken gingen die Osmanen hervor. In
Ägypten und im Maghreb übernahmen Berber, die schiitischen Fatimiden, die Macht. Ende des 12. Jahrhunderts
können die Abassidenkalifen noch einmal ihre Macht wiederherstellen, dann aber fegt der Mongolensturm das
Reich hinweg.
1258 erobern die Mongolen Bagdad und zerstören die zweitgrößte Stadt der Welt in einem blutigen Massaker.
Vor allem aber zerstören sie auch die komplexen Bewässerungssysteme Mesopotamiens und leiten damit die
Desertifikation des Zweistromlandes ein. Das war das Ende des über 500 Jahre währenden arabischen
Weltreiches.
-18-
verfasst. Stehen damit auch Deutungen und Dogmen in Frage? In der 55.
Sure (und an sieben anderen Stellen im Koran) werden die „Huri“
beschrieben, nach traditioneller arabischer Lesart „Jungfrauen keuschen
Blickes“, die den besonders frommen Muslimen als Belohnung im
Paradies in Aussicht gestellt werden. Nach den syrisch-aramäischen
Texten könnte hier tatsächlich jedoch nur von weißen, kristallklaren
Trauben die Rede sein. Da wird mancher Selbstmordattentäter enttäuscht
sein, wenn er denn überhaupt ins Paradies gelangen sollte – was selbst
unter Islamgelehrten umstritten ist.
Anschauliche Beispiele für die nachträgliche Dogmatisierung des Islam
lange nach dem Tod des Propheten liefert auch die Lehre vom Dschihad,
dem heiligen Krieg. Mohammed hatte für die Führung des heiligen
Krieges (arab. Dschihad) im Koran Vorschriften erlassen, die der Genfer
Konvention ähneln, insbesondere zum Schutz der Zivilbevölkerung, von
Frauen und Kindern.22 Der Prophet gebietet, vom Kampf abzulassen,
wenn der Gegner vom Kampf ablässt. Vor allem aber verbietet die zweite
Sure des Koran den Angriffskrieg!
(Sure 2, 190) „Aber beginnt nicht mit den Kampfhandlungen! Allah liebt nicht den
Angreifer.“
Der Heilige Krieg ist nur zur Verteidigung gegen Unterdrücker des
Glaubens zulässig. (vgl. auch Sure 22,39 ff.)23 Letzteres geriet dann
alsbald nach dem Tod des Propheten in Vergessenheit und man berief sich
lieber auf den Aufruf in der neunten Sure: ..“führe Krieg gegen die
Ungläubigen und die Heuchler und sei hart gegen sie“ obwohl diese
Aufforderung speziell gegen die damals noch polytheistischen Mekkaner
und ihre in Medina versteckten Parteigänger gerichtet waren, die gegen
Mohammed und seine kleine Gemeinschaft Krieg führten. Erst ab dem
zweiten rechtgeleiteten Kalifen, Umar, wird der Islam wirklich zur
Eroberungsreligion. (vgl. Fußnote 16)
Nach der nach dem Tode des Propheten entwickelten islamischen
Dschihad-Lehre ist die Welt aufgeteilt in das Haus des Islams (Dar al22
Kern der Lehre vom Dschihad war die Unterscheidung von Kämpfenden und Nichtkämpfenden. Frauen, Kinder,
Geistliche und andere Zivilpersonen zu töten war unter allen Umständen verboten. Dieses Verbot wurde später auf die
Folterung von Kriegsgefangenen, die Verstümmelung von Toten (eine alte arabische Tradition zur damaligen Zeit) und auf
jede Art sexueller Gewalt im Krieg ausgedehnt: Ebenso war es verboten, religiöse oder medizinische Einrichtungen zu
beschädigen.
23
Der indisch-muslimische Denker Sir Sayyid Ahmad Khan (1817- 1898) vertrat unter Berufung auf den Koran sogar die
Auffassung, dass der Dschihad für Muslime nur dann verpflichtend sei, wenn es eine „aktive Unterdrückung oder
Behinderung der Religionsausübung“ gebe. Da die Briten aber weder das rituelle Gebet, noch das Ramadan-Fasten und die
Pilgerfahrt nach Mekka behinderten, sei ein Dschihad gegen sie unzulässig. Ahmad Khan versuchte die Muslime in Indien
nicht nur davon zu überzeugen, der britischen Herrschaft gegenüber loyal zu sein, sondern auch etwas von der westlichen
Kultur aufzunehmen. 1875 gründete er in Aligarh (Indien) die Aligarh Muslim University.
-19-
Islam), was gleichbedeutend mit den Haus des Friedens ist - und in das
Haus des Krieges (Dar al-Barb), wo die Ungläubigen wohnen. Allen
Ländern und Völkern waren danach bestimmt, in das Haus des Islam
einzutreten. Dabei ging es - anders als im Christentum - um die Herrschaft
des Islam, nicht um Zwangsmissionierung. „In der Religion gibt es keinen
Zwang“, hatte Mohammed verkündet. (Sure 2, 256)24 Die Christen und
Juden hatten die Wahl, entweder freiwillig zum Islam überzutreten oder
den Status kopfsteuerpflichtiger Schutzbefohlener (Dhimmi) zu wählen
oder weiterzukämpfen. Den übrigen Ungläubigen blieb allerdings nur die
Wahl, zum Islam überzutreten oder zu kämpfen.25
Heute üben die religiösen Fundamentalisten immer noch oder wieder
beherrschenden Einfluss auf viele mehrheitlich von Muslimen bewohnte
Staaten aus. Großer Druck geht von den saudi-arabischen Wahabiten aus,
die überall in der Welt mit ihren Petro-Dollars fundamentalistische
Schulen und Vereinigungen wie die Salafisten oder die ägyptischen
Muslim-Brüder fördern und formen.
Wenn man nach den Ursachen dafür forscht, warum so viele Muslime
empfänglich für diesen radikalen, aggressiven Fundamentalismus sind,
dann mus man wohl berücksichtigen, dass große Teile der arabischen
Halbinsel, Ägypten und der Maghreb (bis auf Marokko) jahrhundertelang
der Fremdherrschaft unterworfen waren, erst der Osmanen, dann der von
England oder Frankreich. Die korrupten Eliten, die danach die Macht
übernommen und mit Unterstützung westlicher Staaten lange gehalten
haben, haben das Vertrauen der Menschen in die westliche Demokratie
und den Rechtsstaat nicht gerade gefördert. Vor allem aus der traditionellpatriarchalischen und wenig gebildeten Landbevölkerung gewinnen die
Fundamentalisten dankbare Anhänger.
24
Es ist die Wahrheit, die von Eurem Herrn kommt, wer nun will, möge glauben, und wer will, möge nicht glauben.
(Sure 18,29)
25
Die Eroberungen von Damaskus 636 und von Jerusalem 637 werden zum Modellfall der frühen islamischen Eroberungen
und zum Markstein islamischer Toleranz gegenüber Christen und Juden. In Damaskus gewährt der Kapitulationsvertrag den
Christen und Juden weitgehende Religionsfreiheit gegen Zahlung der „Dschizya“, der Kopfsteuer. Vom Zakat, der vom
Koran vorgeschriebenen Almosenabgabe sind sie befreit. Der Bischof von Damaskus behält sein Amt. In Jerusalem bot der
Patriarch nach sechs Monaten Belagerung im Jahre 637 u.Z. die Übergabe der Stadt jedoch nur an den Kalifen persönlich an.
Im April reiste Kalif Umar nach Jerusalem, um die Unterwerfung der Stadt anzunehmen. Als ihn der Patriarch in die
Grabeskirche zum Gebet einlud, lehnte der Kalif die Einladung ab mit der Begründung, wenn er in dieser Kirche beten
würde, würden seine Muslime sie anschließend zu einer Moschee machen. Das wolle er den Christen von Jerusalem ersparen.
Was für ein barbarisches Massaker dagegen veranstalteten die Kreuzfahrer im Jahre 1099 am Schluss des ersten Kreuzzuges
unter den Muslimen und Juden von Jerusalem. Nach der Eroberung Jerusalems wurde fast die gesamte Bevölkerung
hingemordet. Zwischen 30.000 und 70.000 wehrlose Männer, Frauen und Kinder wurden an einem einzigen Nachmittag und
in einer Nacht abgeschlachtet. In der Al-Aqsa-Moschee, wohin sich viele Familien geflüchtet hatten, war das Gemetzel so
groß, dass die Kreuzfahrer bis an die Knie im Blut wateten. So berichten die „Gesta francorum“, eine Sammlung von
christlichen Augenzeugenberichten, heute noch die wichtigste abendländische Quelle für die Kreuzzüge.
-20-
Ich darf am Schluss meiner Betrachtungen eine These wagen:
In fast allen mehrheitlich von Muslimen bevölkerten Staaten der Welt werden
heute Christen diskriminiert oder sind sogar Verfolgungen ausgesetzt. Selbst in
der Türkei, die ja in die EU aufgenommen werden möchte, gibt es starke
gesetzliche und tatsächliche Diskriminierungen der Christen. 26
Wir im sogenannten Westen sind heute glücklich, in einer pluralistischen
Gesellschaft zu leben – es ist aber sehr fraglich, ob wir uns dafür, wie das viele
Politiker tun, auf „christlich-abendländische Traditionen“ berufen dürfen. Denn
die christlich-abendländischen Traditionen sind von der Verfolgung anders
Glaubender gekennzeichnet: Seit dem vierten Jahrhundert werden Menschen,
die anderen oder auch nur abweichenden Glaubensüberzeugungen als denen der
Kirche anhängen, verfolgt, bekriegt, gefoltert, versklavt, hingerichtet oder
vertrieben. Auch bei uns Christen wurde aus dem Glauben der Liebe das Dogma
vom „bellum justum“ vom heiligen Krieg,27 zum Dogma, das die Kreuzzüge
ebenso rechtfertigte wie die blutigen kolonialen Eroberungen der Portugiesen
und Spanier, eine Tradition, in die dann später die protestantischen Holländer
und die anglikanischen Engländer nahtlos eingetreten sind. „Wer nicht glauben
will, muss dran glauben“ wurde über Jahrhunderte zur Maxime der
Christenheit, mit der sie sich fast die ganze Welt unterwarf. 1494 teilte der
Borgia-Papst Alexander VI. im Vertrag von Tordesillas die gesamte
nichtchristliche Welt entlang dem 46. Längengrad (46° 37´West) zwischen
Spanien und Portugal auf.
Fast vergessen: „ Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch
hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen“ (Mt. 5,44)
Die Wurzeln des Fortschritts im Zusammenleben der Menschen in der
westlichen Welt, die unser Leben heute so friedlich wie nie zuvor in und so
angenehm macht, liegen weniger im Christentum. Sie liegen in der Renaissance
und in der Aufklärung. Die Renaissance sah den geistigen Aufbruch der
Menschheit in einer Rückbesinnung auf die Antike. Nicht nur die Inquisition
und der Prozess gegen Galileo Galilei belegen den heftigen Unwillen der
26
Christliche Kirchen sind in der Türkei nicht als Körperschaften anerkannt, damit befinden sich die christlichen Kirchen in
einem rechtlichen Vakuum. Sie können nicht klagen, keine Anträge stellen, und ihre Liegenschaften unterliegen der Gefahr
der Einziehung. Kirchliche Körperschaften können zwar als Eigentümer noch eingetragen sein, aber das sie rechtlich nicht
existieren, wird das Grundstück rechtlich als herrenlos angesehen. Die Kirchen dürfen keine Priester ausbilden. Christliche
Straßenfeste und Prozessionen sind verboten, christlichen Rundfunksendern wird grundsätzlich keine Lizenz erteilt. In den
Personenstandsregistern der Türkei wie auch auf türkischen Personalausweisen findet sich die Rubrik ‚Religion’, was den
Weg zu zahlreichen Diskriminierungen eröffnet, vor allem bei Konversionen.
27
Kirchenvater Augustinus von Hippo entwickelt im vierten Jahrhundert u.Z. die Lehre vom „bellum justum“, vom
gerechten Krieg, die alsbald kanonisches Recht wird und die Kreuzzüge ebenso rechtfertigt wie die kolonialen Eroberungen
der Portugiesen und Spanier. (schriftlich um 1140 im Decretum Gratiani – dem Grundwerk des Corpus Juris Canonici)
Menschen tendieren zur Vereinfachung, und so wurde daraus bald der christliche Grundsatz: „Wer nicht glauben will, muss
dran glauben.“
-21-
katholischen Kirche, den Menschen geistige Freiheit zuzugestehen. Aber durch
die Erfindung des Buchdruckes konnte die Kirche das selbstständige Denken der
Menschen nicht mehr aufhalten. Die Päpste hatte glücklicherweise im 15.
Jahrhundert nicht mehr die weltliche Macht, wie die osmanischen Sultane den
Buchdruck zu unterdrücken.
Nach dem blutigen Gemetzel des dreißigjährigen Krieges um die Freiheit des
Glaubens eröffnete dann im 18. Jahrhundert unsere Aufklärung den „Ausgang
des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, wie Immanuel
Kant die Aufklärung in einem Satz zusammenfasste.28 Mit der Geburt des
Zweifels, mit der schrittweisen Selbstbefreiung der Menschen vom religiösen
Zwang ging auch eine allgemeine geistige Befreiung einher. Gerade das 18.
Jahrhundert hat als Folge der Aufklärung einen ungeheuren Schub an Forschung
und Entwicklung29 freigesetzt, der das Leben der Menschen verbessert hat wie
seit der Antike und seit der Blütezeit der arabischen Kalifate nicht mehr. Dieser
Entwicklungsschub nach der Aufklärung hat unseren Wohlstand und die
wirtschaftliche Führungsrolle begründet, die Europa heute noch in der Welt
innehat.
Toleranz scheint in den monotheistischen Religionen - jedenfalls in der Praxis nicht angelegt zu sein. Im welthistorischen Maßstab kurze Phasen gegenseitiger
Toleranz waren auf wenige Herrscherpersönlichkeiten zurückzuführen, die dafür
von ihrer eigenen Seite oft heftigen Anfeindungen bis zum Kirchenbann
ausgesetzt waren.30 Wie stark auch heute noch religöse Dogmen - nicht der
Glaube selbst - trennend wirken, zeigt der 500 Jahre nach der Reformation
immer noch andauernde Abendmahlsstreit oder die erst im Jahre 1992 von der
katholischen Kirche ausgesprochene Rehabilitation Galileo Galileis, zeigen die
langen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanden in
Nordirland, zeigen die aktuellen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten im
Irak und anderenorts und zeigt der Konflikt zwischen Israelis und
Palästinensern, der beiderseits immer wieder durch radikalreligiöse Kräfte
entflammt wird.
Könnte der Weg zu einem friedlichen und toleranten Zusammenleben der
Menschen darin bestehen, die Verbindung von Macht und Religion klar zu lösen
und die Religion zu einer Privatsache zu machen? Würden die Menschen
28
In seinem Aufsatz: „Was ist Aufklärung?“ in „Berlinische Monatsschrift“, Dezember 1784
29
Z.B. die Pockenschutzimpfung, der Blitzableiter, der mechanische Webstuhl, die Dampfmaschine, das Barometer, der
Chronometer, die Licht-Telegrafie, die Zuckerrübe – es wurden große Fortschritte in der Erforschung der Elektizität erzielt
…
30
wie zum Beispiel der vom Papst gebannte Stauferkaiser Friedrich II., der mit dem ägyptischen Sultan Al-Kamil im
Februar 1229 den Friedensvertrag von Jaffa schloss, durch den Jerusalem, Bethlehem und Nazareth den Christen
zurückgegeben wurde – wodurch die beiden Herrscher ohne eine einzige Schlacht den fünften Kreuzzug beendeten.
-22-
friedlicher zusammenleben, wenn die Staaten sich - wie das Preußen Friedrichs
des Großen im 18. Jahrhundert - darauf beschränkten, sicherzustellen, dass sich
die Angehörigen unterschiedlicher Religionen und Kulturen gegenseitig
respektieren und dass die jeweilige Geistlichkeit nicht gegen andere Religionen
hetzt?
Schon 1740, im Jahr seines Regierungsantritts, hatte König Friedrich formuliert:
"Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sie leben, ehrliche
Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land
bevölkern, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen."
Diese Grundüberzeugung ließ der König in seinem Allgemeinen Landrecht
(1794) in so durchdachter Weise Gesetz werden, dass die zentralen
Grundprinzipien auch heute noch als Grundlage für das Zusammenleben von
Menschen unterschiedlicher Religion und Kultur dienen können:
- Das Allgemeine Landrecht verlieh jedem Einwohner mit Gesetzeskraft
vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit.
(ALR II. Teil, 11. Titel, §§ 1 und 2)
- Nicht allein an den Staat, sondern an alle Bürger richtete sich das Gebot,
dass niemand wegen seiner Religionsmeinungen beunruhigt, zur
Rechenschaft gezogen, verspottet oder gar verfolgt werden sollte.
(ALR II. Teil, 11. Titel, § 4)
- Gleichzeitig verpflichtete das ALR die Religionsgesellschaften
ausdrücklich, ihren Mitgliedern Gehorsam gegen die Gesetze, Treue
gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen (Respekt) gegenüber
anderen Mitmenschen und anderen Glaubensgemeinschaften einzuflößen.
(ALR II. Teil, 11. Titel, § 11)
Der Staat durfte bei Verletzungen dieser Pflichten eingreifen. Friedrich war klar,
dass die Glaubensfreiheit nicht nur von der Toleranz des Herrschers abhing,
sondern dass der Staat auch durchsetzen musste, dass die Staatsbürger
untereinander Glaubens- und Gewissensfreiheit respektierten.
In diesen preußischen Staat zogen schon ab 1745 die tatarischen Reiter und ihre
Familien zu, aus denen Friedrich der Große sein Bosniakenkorps formte. Beide
Seiten hatten damit offenbar gute Erfahrungen gemacht, denn zehn Jahre später,
am 13. August 1755, schieb Friedrich der Große nicht ohne Stolz an Voltaire:
.. „Ich verhandele derzeit mit tausend mohammedanischen Familien,
denen ich in Westpreußen Heimstätten und Moscheen geben will. So wird
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es hier die vorgeschriebenen Fußwaschungen geben, und ohne empört zu
sein, wird man hilli und hilla singen hören. Dies war die einzige Sekte, die
in diesem Lande noch fehlte.“…
Um, einem Missverständnis vorzubeugen: Friedrich war die Religion nicht egal.
Ihm war durchaus bewusst, dass die Religion die Grundlage für das moralische
Handeln des Einzelnen war. Es sollte sich aber in Preußen keine Religion über
die andere erheben dürfen. Friedrich formte Preußen zu einem Staat, der weder
durch die Nation, noch durch eine gemeinsame Religion seiner Einwohner,
sondern durch eine vorbildhafte gesetzliche Ordnung zusammengehalten wurde.
Und damit konnte der Islam ebenso zu Preußen gehören wie Lutheraner,
Calvinisten, Pietisten, Katholiken und Juden. Und deshalb hat das aufgeklärte
Preußen Glaubensflüchtlinge und andere Zuwanderer aus vielen Ländern
aufgenommen und nach kurzer Zeit ungeheuer von ihnen profitiert.
Vielleicht fehlt uns heute die gesetzliche Verpflichtung aller
Religionsgemeinschaften aktiv an der Herstellung eines respektvollen und
toleranten Miteinanders mitzuwirken? Und vielleicht fehlt uns heute der
unbedingte Wille unserer Politiker(innen), diesen gegenseitigen Respekt auch
durchzusetzen?
Es mag unterschiedliche Wege geben, in einem Staat ein friedliches und
gleichberechtigtes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kultur und
Religion zu organisieren. Den Weg, den Preußen vorangegangen ist, empfinde
ich auch heute noch als vorbildhaft. Ob und wie weit dagegen ein religiös
fundierter Staat dazu geeignet wäre, wage ich jedoch aus dem Blick auf die
historische und die gegenwärtige Praxis zu bezweifeln. Außerdem gehört die
Mehrheit der Menschen in modernen Gesellschaften heute entweder keiner
Religion mehr an oder praktiziert diese nicht. In China beispielsweise mit seinen
1,3 Milliarden Menschen 31 gehören nur rund 22% irgendeiner Religion an.
Daher findet die Auseinandersetzung über die Integration bei uns nur zum Teil
zwischen Christen und Muslimen statt, viel mehr aber zwischen Religiösen und
Nichtreligiösen.
Am Anfang jedes Weges zu einem Miteinander steht der Respekt für den
Anderen, und der beginnt mit dem Versuch, ihn zu verstehen. Ich hoffe, dass ich
dazu einen kleinen Beitrag habe leisten können.
31
Nach einer Studie der Professoren Tong Shijun und Liu Zhongyu der Shanghaier Lehreruniversität von 2005 gibt es in
China 150-200 Mio. Buddhisten, 25-35 Mio. Protestantische Christen, 11-18 Mio. Muslime, 8,5- 13Mio. Katholiken und 5,5
Mio. Daoisten. Die chinesische Volksreligion hat ungefähr 130 Mio. Anhänger. Diese Untersuchung kommt also auf eine
Gesamtzahl von ungefähr 300 Millionen Gläubigen anstelle der bisher offiziell angegebenen Anzahl von nur 100 Millionen..
Die Daten dieser Studie beruhten auf eigenen Umfragen der Verfasser und wurden in den staatlichen Medien veröffentlicht.
Dadurch, dass diese Daten auf der Politischen Konsultativkonferenz des Jahres 2007 erwähnt wurden, bekamen sie eine
halboffizielle Bedeutung.
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Eine Auswahl der verwendeten und zur Vertiefung empfohlenen Literatur:
Hamed Abdel-Samad
Der Untergang der islamischen Welt
München, 2010
Tamim Ansary
Die unbekannte Mitte der Welt Globalgeschichte aus islamischer Sicht
Frankfurt / Main, New York, 2010
Reza Aslan
Kein Gott außer Gott - Der Glaube der Muslime
München, 2006
Georg Bossong
Das maurische Spanien - Geschichte und Kultur
München, 2007
Floris Cohen
Die zweite Erschaffung der Welt - wie die moderne
Naturwissenschaft entstand, Köln, 2010
John Freely
Platon in Bagdad - Wie das Wissen der Antike
zurück nach Europa kam, Stuttfgart, 2012
Albert Hourani
Die Geschichte der arabischen Völker
Frankfurt / Main, 2001
Gudrun Krämer
Geschichte des Islam
München, 2008
Ian Morris
Wer regiert die Welt? Warum Zivilastionen herrschen
oder beherrscht werden, Franktfurt / Main, New York 2012
Edward W. Said
Orientalismus
Frankfurt / Main, 2009
Montgomery Watt
Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter
Berlin, 1988
Zeitschriften, Aufsätze
Christoph Reuter
Mohammed - Wer war der Mann, der den Islam begründete?
in GEO 04 / 2009
DIE ZEIT - Geschichte
2 / 2012
Der Islam in Europa - 1300 Jahre gemeinsame Geschichte
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