Alfred Schütz Werkausgabe

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Alfred Schütz Werkausgabe
Herausgegeben von
Richard Grathoff, Hans-Georg Soeffner und Ilja Srubar
Redaktion Martin Endreß
Band V.2
Alfred Schütz Werkausgabe
Band V.2
Theorie der Lebenswelt 2
Die kommunikative Ordnung
der Lebenswelt
Herausgegeben von Hubert Knoblauch, Ronald Kurt und
Hans-Georg Soeffner
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten
sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 3-89669-744-7
© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003
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Wie wir gesehen haben, beschäftigen sich die meisten Autoren mit
dem (wirklichen oder psychologischen) Verhältnis zwischen Zeichen
und Bezeichnetem bzw. zwischen Symbol und Bedeutung. Trotzdem
besteht keine Einigkeit darüber, ob das Verhältnis zwischen den zwei
Hälften des Paares umkehrbar ist oder nicht. Nach Whitehead entscheidet die bloße Tatsache, daß beiden Größen, auf denen die symbolische
Verweisung beruht, ein gemeinsames Element zugrunde liegt, noch
nicht, welche Größe das Symbol und welches die Bedeutung sein wird.
Es gibt keine Bestandteile der Erfahrung, die nur Symbole oder nur Bedeutungen sind. Die symbolische Verweisung besteht zwischen zwei Bestandteilen einer komplexen Erfahrung, die beide unmittelbar erkannt
werden können. Es ist aber üblicher, daß der weniger primitive Bestandteil als Symbol auf den primitiveren Bestandteil als Bedeutung verweist.10 Nach Susanne Langer wären Zeichen und Objekt auswechselbar, sofern man vom Subjekt, das die Deutung vornimmt, absieht.
Donner mag genau so gut ein Zeichen dafür sein, daß es geblitzt hat, als
der Blitz bedeuten könnte, daß es donnern wird. An sich sind sie lediglich einander zugeordnet. Nur wenn das eine wahrnehmbar und das andere schwer oder überhaupt nicht wahrnehmbar, aber von Interesse ist,
wird die Bedeutung einem der beiden Elemente zugewiesen.11 Nach Wild
fassen wir dasjenige Glied des Paares als Zeichen, das uns besser bekannt
ist als das Bezeichnete [signatum] und das daher als Zeichen vom Bezeichneten verschieden ist. Die Fußstapfen eines Tieres sind leichter erkennbar als das Tier. Dennoch kann das Zeichen das Signatum bedeuten, wenn weder das eine noch das andere tatsächlich bekannt ist. Zeichen werden entdeckt und nicht geschaffen.12
[140] Trotz des Arguments dieser Autoren, die die These der Auswechselbarkeit zwischen Zeichen und Signatum vertreten (zumindest
10
11
12
124
Whitehead[, Symbolism] (1927), a. a. O. [(Anm. 1)], S. 10.
Langer, Philosophy in a New Key (Penguin-Ausgabe), [a. a. O. (Anm. 7),] S. 47
[66].
Wild, »Introduction to the phenomenology of signs«, a. a. O. [(Anm. 5)], S.
227-230.
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
in bezug auf »natürliche« Zeichen), weigert sich die alltägliche Erfahrung zuzugeben, daß Feuer ein Zeichen von Rauch, Schmerz ein Zeichen von Stöhnen, das physische Ding ein Zeichen des Begriffs ist. Das
Problem wurde von Aristoteles zu Anfang seiner Arbeit De Interpretatione (16 a 4 ff.) klar dargelegt:
»Gesprochene Worte sind Symbole (Aristoteles gebraucht hier den Begriff ›symbola‹) geistiger Erfahrungen und geschriebene Worte Symbole
von gesprochenen Worten. So wie nicht alle Menschen die gleiche Schrift
haben, so bedienen sich auch nicht alle Menschen der gleichen Sprachlaute. Die geistigen Erfahrungen (›panthémata tés psychés‹) aber, die von
den Sprachlauten unmittelbar symbolisiert werden (hier gebraucht Aristoteles nicht wie vorher den Begriff ›symbolon‹, sondern ›semeion‹, das
heißt Zeichen), sind für alle gleich, wie auch diejenigen Dinge, von denen
unsere Erfahrungen Abbildungen (homoiomata) sind, für alle gleich
sind«.E 11 Es ergibt sich hier folgendes komplizierte Verhältnis: Ein physischer Vorgang (ein Laut oder Federstriche auf dem Papier) bezeichnet
das benannte Ding, verweist aber auch auf die darauf bezogene Vorstellung. Diese Beziehungen sind schlechthin unumkehrbar. Das gleiche gilt
für alle symbolischen Verweisungen einer höheren Ordnung.E 12
d) Eine andere Streitfrage betrifft den intersubjektiven Charakter
von Zeichen im weitesten Sinne. Wir wollen im Augenblick von den
von George H. Mead, Charles MorrisE 13 und anderen vertretenen behavioristischen Thesen absehen und werden uns daher weder mit den
Signalfunktionen bestimmter Zeichen noch mit dem an sich hochinteressanten Problem der sogenannten Tiersprache befassen.E 14 Wir folgen
der Feststellung des Aristoteles, daß »ein Name ein durch Konvention
signifikanter Laut ist (kata synthékén)« (De Interpretatione, 16 a 19).E 15
Aristoteles erläutert, daß diese Einschränkung notwendig ist, weil
nichts von Natur aus ein Name ist; es wird erst zu einem solchen, wenn
es zum Symbol wird (16 a 26 f.).E 16 Er setzt hinzu, daß unartikulierte
Laute wie diejenigen, die Tiere von sich geben, zwar bedeutungsvoll
sind, aber nicht einen Namen (onoma) konstituieren. Nach Aristoteles
ist demnach die Sprache, und das künstliche Zeichen im allgemeinen,
eine Sache der Konvention. Der Begriff der Konvention aber setzt das
Vorhandensein der Gesellschaft voraus wie auch schon die Möglichkeit
einer gewissen Verständigung, vermittels welcher »Konventionen« festgelegt werden können.
Unsere Frage lautet nun allgemeiner: Gilt diese Aussage auch für andere Zeichen als Sprachzeichen? Oder gilt sie für alle Zeichen außer den
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natürlichen Zeichen? Oder vielleicht sogar für die letzteren? Oder noch
allgemeiner formuliert: [141] Wenn es wahr ist, wie weithin angenommen wird, daß jede Zeichen- oder Symbolbeziehung mindestens drei
Größen betrifft, von denen eine das Subjekt des Deutenden ist, kann
dann stillschweigend vorausgesetzt werden, daß der Deutende bereits in
Kommunikation mit seinen Mitmenschen steht, so daß die Zeichenoder Symbolbeziehung von Anfang an eine öffentliche ist? Oder sind
Zeichen- oder Symbolbeziehungen auch innerhalb des privaten seelischen und geistigen Daseins des einzelnen möglich? Wenn das der Fall
ist, inwieweit können diese Beziehungen dann mit anderen geteilt werden? Können meine Phantasien, meine Träume und die daran beteiligten Symbolsysteme vergesellschaftlicht werden? Setzen künstlerisches
Schaffen, religiöse Erfahrung, Philosophieren Intersubjektivität voraus?
Wenn es andererseits private und öffentliche Symbole gibt, haben dann
Gesellschaft und Kultur einen bestimmten Einfluß auf die Struktur einer oder beider Symbolarten – und inwiefern? Ist es nicht möglich, daß,
was als Zeichen oder Symbol für ein Individuum oder eine Gruppe gilt,
keine zeichenhafte oder symbolische Bedeutung für andere hat? Und
darüber hinaus, können Intersubjektivität an sich, Gesellschaft und Gemeinschaft an sich, anders als durch den Gebrauch von Symbolen erfahren werden? Ist es dann das Symbol, welches Gesellschaft und Gemeinschaft schafft, oder ist das Symbol ein Erzeugnis der Gesellschaft,
das dem einzelnen aufgezwungen wird? Oder ist diese Beziehung zwischen Gesellschaft und Symbolsystem ein auf Wechselseitigkeit beruhender Vorgang – und zwar so, daß Symbole (und wenn nicht alle,
dann jedenfalls einige) ihren Ursprung in der Gesellschaft haben, daß
sie aber, sobald entstanden, ihrerseits die Struktur der Gesellschaft beeinflussen?
2) Das Programm der Untersuchung
Mit dieser Gruppe von Problemen werden wir uns im folgenden zu beschäftigen haben, obwohl wir kaum mehr als eine – zudem unvollständige – Liste offener Fragen zusammenstellen können.E 17 Aber auch diese bescheidene Aufgabe erfordert bestimmte Vorüberlegungen, die in
drei aufeinanderfolgenden Schritten angestellt werden sollen.
Als erstes wollen wir uns der Frage zuwenden, wie es dazu kommt,
daß in der Umgangssprache wie auch in der philosophischen Diskussion so viele verschiedenartige Ideen sich um eine Reihe von Begriffen ge126
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
häuft haben (Zeichen, Symbol, MerkzeichenE 18, Anzeichen usw.), die
alle zeichenhafte oder symbolische Verweisungen erfassen sollen. Wenn
wir so viele Synonyme antreffen, ist es natürlich unsere Pflicht, die Bedeutungen allerE 19 in der Diskussion gebrauchten Begriffe so deutlich
und unmißverständlich wie möglich zu bestimmen. Fast alle, die über
diesen Gegenstand geschrieben haben, haben einen solchen Versuch
unternommen. Wie wir aber in unseren einführenden Bemerkungen
gezeigt haben, konnten sie keine Einigkeit erzielen. Damit [142] ist
auch eine zweite Aufgabe verbunden: nämlich der Versuch, zum Ausgangspunkt dieses Sachverhalts vorzustoßen und die gemeinsamen
Merkmale der verschiedenen Begriffsbildungen festzustellen. Wenn
dies gelingt, soll anhand einer Art Typologie dieser Begriffsbildungen
gezeigt werden, daß viele der strittigen Ansichten der verschiedenen Autoren dadurch entstanden sind, daß verschiedene Deutungsschemata an
das gleiche Grundphänomen angelegt wurden. Bei diesem Phänomen
handelt es sich, wie wir meinen, um das von Husserl untersuchte Problem der Appräsentation. Im übrigen sollen Husserls Thesen mit Bergsons Theorie der vielfältigen Bereiche (»Ordnungen«) in Beziehung gesetzt werden. Wir hoffen, daß es uns so gelingen wird, bestimmte
Grundsätze zu entdecken, die auf alle Arten von Zeichen- und Symbolbeziehungen anwendbar sind und die bei der Diskussion weiterer spezifischer Probleme von Nutzen sein könnten.
Zweitens werden wir die Motive untersuchen, die die Verwendung
und Entfaltung zeichenhafter und symbolischer Beziehungen bestimmen: das Streben nach Kenntnis der Welt, nach Kenntnis der Mitmenschen, nach Selbstkenntnis.E 20 In diesem Abschnitt werden wir uns –
wenn auch nur flüchtig – mit einigen grundsätzlichen Problemen der
philosophischen Anthropologie auseinandersetzen müssen, vor allem
mit der Stellung des Menschen in einem Kosmos, der seine Existenz
transzendiert, innerhalb dessen er sich aber zurechtfinden muß. Wir
wollen zeigen, daß Zeichen und Symbole Mittel sind, durch die der
Mensch mit seinen vielfältigen Erfahrungen der Transzendenz fertig
wird. Wir werden daher beschreiben müssen, wie die wahrnehmbare
Welt, die dem Individuum in jedem Augenblick seiner Biographie jeweils gegeben ist, offene Horizonte von Zeit und Raum mit sich führt,
die sein jeweiliges Hier und Jetzt transzendieren. Und wir werden zeigen
müssen, wie die gemeinsame kommunikative Umwelt ihren Ursprung
im Verstehen der Mitmenschen hat und wie zusätzlich auch die Gesellschaft die aktuellen Erfahrungen des Individuums transzendiert.
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127
Wir legen die These vor, daß jeder dieser Formen der Transzendenz
auch eine spezifische Form von Appräsentationsbeziehung entspricht,
von Merkzeichen über Anzeichen zu Zeichen im engeren Sinn. Allen ist
eines gemeinsam: Sie werden innerhalb der Wirklichkeit des Alltags erfahren. Doch ist das nicht die einzige Wirklichkeit, in der der Mensch
lebt. Es gibt andere Transzendenzen als die bisher genannte. Im dritten
Abschnitt unserer Untersuchung werden wir uns – von einer von William James unterbreiteten Theorie ausgehend – kurz den mannigfaltigen Wirklichkeiten oder »sub-universa« zuwenden, wie der Welt der
Religion, der Kunst, der Wissenschaft, die nur in einer bestimmten
Form der Appräsentation erfahren werden können. Wir wollen den
Symbolbegriff nur für diese Form der Appräsentation verwenden. Wir
werden die Symbolbeziehung sowohl in ihrer Funktion auf einigen dieser verschiedenen Wirklichkeitsebenen wie auch als Brücke zwischen
[143] diesen Wirklichkeitsebenen untersuchen. Es wird sich zeigen, daß
die Welt des täglichen Lebens und des Alltagsverstandes eine ausgezeichnete Stellung unter den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen einnimmt, weil nur in ihr die Kommunikation mit Mitmenschen möglich
ist. Aber die Welt des Alltagsverstandes ist von allem Anfang an eine soziokulturelle Welt; die vielen Fragen, die mit der Intersubjektivität der
Symbolbeziehungen zusammenhängen, haben in ihr ihren Ursprung,
sind von ihr bestimmt und werden in ihr gelöst.
128
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
VII. Symbol und Gesellschaft
Wir können nun daran gehen, zumindest zwei der eingangs gestellten
Fragen zu beantworten: Inwiefern sind zeichenhafte und symbolische
Appräsentationen von der sozio-kulturellen Umwelt abhängig? Wie
wird die Intersubjektivität selbst und wie werden soziale Gruppen
durch zeichenhafte und symbolische Appräsentationen erfahren?
1) Die Abhängigkeit appräsentativer Verweisungen von
der sozialen Umwelt
Die erste Frage befaßt sich mit dem Grundproblem jeder Wissenssoziologie, die ihre Aufgabe nicht verkennt. Bei unserer Antwort nehmen wir
wieder unsere Erfahrung der Wirklichkeit des Alltags zum Ausgangspunkt. Diese Wirklichkeit, eine Welt der Gesellschaft und Kultur, ist
mit Appräsentationsverweisungen durchsetzt. Als wir (unter III.) die
Begriffe von Merkzeichen und Anzeichen entwickelten, hatten wir einfachheitshalber angenommen, daß ein als isoliertes Einzelwesen vorgestellter Mensch die Welt in seiner Reichweite »abstecken« muß. In
Wirklichkeit befindet sich jedoch der Mensch schon von Anbeginn in
einer Umgebung, die für ihn von anderen »abgesteckt« worden ist, das
heißt, sie ist für ihn bereits »vor-gemerkt«, »vor-angezeigt«, »vor-gedeutet« und sogar »vor-symbolisiert«. Seine biographische Situation im Alltag ist immer eine historische Situation, weil sie im Verlauf gesellschaft68
Jaspers, [Philosophie,] a. a. O. [(Anm. 46)], Bd. III., S. 26.
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187
licher und kultureller Vorgänge konstituiert worden ist. Seine Umwelt
ist in diesen Vorgängen gestaltet worden. Daher leitet sich nur ein kleiner Teil des für den Menschen jeweils vorhandenen Wissensvorrats von
seiner eigenen individuellen Erfahrung ab. Der Großteil seines Wissens
ist sozial abgeleitet, ihm von Eltern und Lehrern als sein Erbe übertragen. Dieses Erbe besteht aus einer Reihe von Systemen relevanter Typifikationen, typischer Lösungen für typische praktische und theoretische
Probleme, typischer Vorschriften für typisches Verhalten, einschließlich
des jeweils angemessenen Systems appräsentativer Verweisungen. All
dieses Wissen wird von der jeweiligen sozialen Gruppe als selbstverständlich und unzweifelhaft hingenommen; es ist »sozial gebilligtes Wissen«. Dieser Begriff kommt dem sehr nahe, was Max [194] Scheler die
»relativ-natürliche Weltanschauung«69 einer sozialen Gruppe genannt
hat. Er entspricht auch weitgehend der von Sumner70 entwickelten
Theorie der Gebräuche [»folkways«] der Eigengruppe, die von den Mitgliedern der Gruppe als die einzig richtigen, guten und zweckmäßigen
Formen der Daseinsführung angesehen werden.E 79
Sozial gebilligtes Wissen besteht somit aus einer Reihe von Rezepten,
mit deren Hilfe jedes Mitglied der Gruppe seine Situation in der Wirklichkeit des Alltags auf typische Weise definieren kann. Für die Beschreibung der von einer bestimmten Gesellschaft fraglos hingenommenen Welt ist es völlig belanglos, ob das sozial gebilligte und abgeleitete Wissen auch der Wahrheit entspricht. Alle Wissenselemente einschließlich aller appräsentativen Verweisungen sind wirkliche Bestandteile der von den Mitgliedern der Gruppe »definierten Situation«, wenn
diese glauben, daß sie wahr sind. Die »Definition der Situation« verweist
auf das sogenannte, den Soziologen vertraute »Thomas-Theorem«:
»Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, dann sind sie
auch in ihren Folgen wirklich«.71 Auf unser Problem angewandt und in
unsere Terminologie übersetzt heißt das: Wird eine appräsentative Beziehung sozial gebilligt, dann werden die appräsentierten Gegenstände,
69
70
188
Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft. Probleme einer Soziologie des
Wissens, Leipzig: Der Neue-Geist-Verlag 1926, S. 58 ff. [jetzt in: Gesammelte Werke
Bd. 8, hg. v. Maria Scheler, Bern/München: Francke 1960, S. 60 ff.] Vgl. Howard
Becker und Helmuth Dahlke, »Max Scheler’s Sociology of Knowledge«, in: Philosophy and Phenomenological Research Bd. II, 1942, S. 310-322, bes. 315.
William Graham Sumner, Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usages,
Manners, Customs, Mores, and Morals, New York: Guin 1906, bes. Kap. I [jetzt:
New York: Arno Press 1979].
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
Gegebenheiten oder Geschehnisse in ihrer typischen Beschaffenheit
fraglos als Bestandteile der selbstverständlich hingenommenen Welt angesehen.
Im Verlauf der Vermittlung sozial gebilligten Wissens hat das Lernen
der Muttersprache eine besonders wichtige Funktion. Die Muttersprache kann als ein Gefüge von Verweisungen angesehen werden, die mit
der von der Sprachgemeinschaft gebilligten relativ-natürlichen Weltanschauung übereinstimmend im voraus festlegen, welche Einzelheiten
der Welt es verdienen, sprachlich ausgedrückt zu werden, und somit
auch, welchen ihrer Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen
man Aufmerksamkeit schenken soll, welche Typisierungen, Begriffsbildungen, Abstraktionen, Verallgemeinerungen und Idealisierungen von
Belang sind, wenn man mit typischen Mitteln typische Erfolge erzielen
will. Nicht nur der Wortschatz, sondern auch die Morphologie und die
Syntax einer Umgangssprache spiegeln das sozial gebilligte Relevanzsystem der [195] Sprachgemeinschaft. Wenn zum Beispiel das Arabische
mehrere hundert Worte besitzt, um verschiedene Arten von Kamelen zu
benennen, aber keinen allgemeinen Begriff für »Kamel«; wenn in bestimmten nordamerikanischen Indianersprachen der einfache Satz »Ich
sehe einen Mann« nicht ausgedrückt werden kann, ohne daß dabei
durch Präfixe, Suffixe und Interfixe angegeben wird, ob dieser Mann
steht, sitzt oder geht, ob er vom Sprecher oder von den Zuhörern gesehen wird; wenn das Griechische morphologische Sonderheiten entwikkelt hat wie den Dual, den Modus des Optativ, die Aktionsart des Aorist
und den Genus des Medium; wenn die französische Sprache, in der sich
philosophische Gedanken so klar ausdrücken lassen, für die zwei Begriffe »Bewußtsein« und »Gewissen« nur einen Begriff, nämlich »conscience« kennt: dann offenbaren all diese Tatsachen die von der jeweiligen
Sprachgemeinschaft gebilligte relativ-natürliche Weltanschauung.
Andererseits hängt die Bestimmung dessen, was mitteilenswert ist
oder gar notwendig kommuniziert werden muß, von den typischen,
71
Es wurde zuerst von William Isaac Thomas in seinem Buch The Child in America:
Behavior Problems and Programs, New York: Knopf 1928, S. 572, entwickelt. Siehe
auch: W. I. Thomas, Social Behavior and Personality, hrsg. v. E[dmund] K. Volkart,
New York: Social Science Research Council 1951, S. 14 und 80 ff. [dt. teilweise in:
Person und Sozialverhalten, hg. v. Edmund K. Volkart, Neuwied: Luchterhand
1965, S. 84 f., 231 f.]; der Begriff »Thomas Theorem« stammt von Robert K. Merton in: Social Theory and Social Structure, Glencoe[/Ill.]: Free Press 1949, S. 179
[dt.: Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin/New York: de Gruyter 1995,
S. 399].
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189
praktischen und theoretischen Problemen ab, die gelöst werden müssen. Diese werden für Männer und Frauen, für die Jungen und die Alten, für den Jäger und den Fischer, mit anderen Worten, für die verschiedenen sozialen Rollen, die von den Mitgliedern der Gruppe übernommen werden, verschieden sein. Jede Tätigkeitsform hat für den
Handelnden ihre besonderen Relevanzaspekte und bedarf einer Reihe
spezifischer technischer Begriffe. Denn unser Wissen ist sozial verteilt;
jedermann hat nur auf einem bestimmten Gebiet, auf dem er Fachmann ist, feste und genaue Kenntnisse. Unter Fachleuten wird ein bestimmtes Maß an technischem Wissen als selbstverständlich vorausgesetzt. Aber eben dieses Wissen ist dem Laien unzugänglich. Manche
Dinge können als wohlbekannt und selbstverständlich vorausgesetzt
werden, andere bedürfen einer Erklärung. Dies hängt ganz davon ab, ob
ich mit einer Person gleichen Geschlechts, Alters oder Berufs spreche
oder mit jemand, der eine andere sozial bestimmte Stellung einnimmt;
es hängt davon ab, ob ich mit einem Mitglied meiner Familie, mit einem Nachbarn oder einem Fremden, mit einem Partner oder einem
Außenstehenden über ein bestimmtes Vorhaben spreche usw.
William James72 hatte bereits festgestellt, daß eine Sprache nicht nur
aus dem Inhalt eines ideal vollständigen Wörterbuchs und einer ideal
geschlossenen und vollständig angeordneten Grammatik besteht. Das
Wörterbuch enthält nur den Kerngehalt der Wortbedeutungen, die von
»offenen Rändern«E 80 umgeben sind. Es sei hinzugefügt, daß diese offenen Ränder verschiedenartig sind: Manche entstammen einem rein
persönlichen Sprachgebrauch; andere entstehen im Zusammenhang der
Rede, in der die Ausdrücke verwendet werden; wiederum andere sind
abhängig von der [196] Person, mit der man spricht, oder von der Situation, in der das Gespräch stattfindet, oder von dem Zweck der Kommunikation oder auch von den jeweils vorliegenden und zu lösenden
Problemen. Was hier von der Sprache gesagt worden ist, gilt ganz allgemein für alle Arten appräsentativer Verweisungen. Sowohl in der Kommunikation als auch in jedem anderen sozialen Verkehr enthalten appräsentative Verweisungen, sofern sie von der Gesellschaft gebilligt
sind, lediglich einen von offenen Rändern umgebenen Kern.
Doch setzt dies schon eine vorher bestehende Typifizierung der sozialen Beziehungen, der sozialen Formen wechselseitiger Kommunikation
und der sozialen Schichtung voraus, die von der Gruppe als selbstver72
190
James, [Principles of Psychology,] a. a. O. [(Anm. 44)], Bd. I, S. 281 ff. [270 ff.]
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
ständlich hingenommen und somit von ihr sozial gebilligt wird. Dieses
ganze Gefüge einer gegliederten Typik, innerhalb dessen sich jede soziale Gruppe selbst erlebt, muß im Sozialisierungsprozeß erlernt werden.
Das gleiche gilt für die verschiedenen Merkzeichen und Anzeichen, die
über Stellung, Status, Rolle und Prestige des einzelnen innerhalb der
Schichtung der Gruppe unterrichten. Um mich in einer sozialen Gruppe zurechtzufinden, muß ich wissen, was in ihr soziale Stellung anzeigt
und als relevant sozial gebilligt wird: Kleidung, Schmuck, Umgangsformen, Ehrenzeichen, Abzeichen, Werkzeuge usw. Darin zeigt sich zugleich das typische Verhalten einschließlich der typischen Motive an, das
man von Häuptlingen oder Medizinmännern, von Priestern, Jägern,
verheirateten Frauen oder jungen Mädchen erwarten kann. Mit einem
Wort, ich muß die typischen sozialen Rollen und die typischen Verhaltenserwartungen erlernen, die sich an die Rollenträger knüpfen, damit
ich die jeweils entsprechende Rolle übernehmen kann und damit ich
mich in einer Weise verhalte, von der ich annehmen darf, daß sie die Billigung der sozialen Gruppe finden wird.73 Gleichzeitig muß ich die typische Verteilung des Wissens in dieser Gruppe erlernen; das heißt, ich
muß mir auch jene Appräsentations-, Verweisungs- und Interpretationsschemata zu eigen machen, die in den Teilgruppen als selbstverständlich
gelten und in ihren jeweiligen appräsentativen Verweisungen angewandt werden. Solches Wissen ist natürlich ebenfalls sozial abgeleitet.
Unsere Überlegungen führen also zum Ergebnis, daß unter dem
Aspekt des Relevanzsystems folgendes sozial bestimmt ist: erstens [197]
der fraglos anerkannte Rahmen, innerhalb dessen jede Untersuchung
beginnt;74 zweitens die Wissenselemente, die als sozial gebilligt angesehen werden müssen und die man daher als gegeben hinnehmen mag
(hier sollten wir hinzufügen, daß die soziale Situation diejenigen Elemente vorzeichnet, die problematisch werden könnten); drittens die zur
73
74
Der Leser, der Parsons’ und Shils’ in Fußnote 30 bereits zitierte Monographie
kennt, wird in dieser Aussage einen Hinweis auf ihre Theorie der »Rollen-Erwartung« bemerken. Obwohl unser Ansatz sich von ihrem in einigen Punkten unterscheidet, können unsere Ausführungen durchaus mit ihrer Behandlung der Reziprozität und Komplementarität der Perspektiven, die ein gemeinsames Symbolsystem voraussetzen, in Beziehung gesetzt werden. Vgl. z. B. Parsons and Shils,
[General Theory of Action,] a. a. O. [(Anm. 30)], S. 105, 162 f., 166; siehe auch Talcott Parsons, The Social System, Glencoe[/Ill.]: Free Press 1955, bes. Kap. IX.,
»Expressive Symbols and the Social System«. Es braucht kaum betont zu werden,
daß Parsons’ Begriff des Symbols nicht der unsere ist.
Siehe Fußnote 42.
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191
Lösung des gegebenen Problems angemessenen Verfahrensweisen praktischer, magischer, politischer, religiöser, dichterischer und wissenschaftlicher Art, mit jeweiligem Bezug auf Zeichen und Symbole; viertens die typischen Bedingungen, unter denen ein Problem als gelöst angesehen werden kann, bzw. die Bedingungen, unter denen die Weiterverfolgung einer Frage abgebrochen werden kann und das, was man gefunden hat, in den als selbstverständlich hingenommenen Wissensvorrat übernommen werden kann. Dies ist bei symbolischen Verweisungen
auf Mythen und Rituale von besonderer Bedeutung. Wenn die erfolgreiche Verbindung zwischen einem vorliegenden Problem mit einem sozial gebilligten Symbol als dessen typische Lösung angesehen wird,
dann kann die auf diese Weise gebildete appräsentative Beziehung weiterhin als appräsentierendes Element anderer und höherer Symbolisierungen dienen, die etwa auf dem als typisch gelöst angesehenen Problem gegründet sind.
2) Die symbolische Appräsentation der Gesellschaft
In einem früheren Abschnitt (IV.4) wurden die verschiedenen Gliederungen der Sozialwelt umrissen, beginnend mit der grundlegenden
face-to-face-Beziehung unter Mitmenschen. Nur in der Wir-Beziehung, so stellten wir fest, können Mitmenschen einander infolge der
wechselseitigen Teilnahme an ihren jeweiligen Biographien als einzigartige Individuen erfahren. In allen anderen Gliederungen der Sozialwelt
werden andere Menschen – als Zeitgenossen, Vorgänger oder Nachfolger – nicht in ihrer individuellen Einzigartigkeit erlebt, sondern auf verschiedenen Stufen der Anonymität, die sich an typischen Verhaltensschemata, typischen Motiven und typischen Einstellungen bemessen.
In alltäglichen sozialen Situationen sind Beziehungen, die sich auf diese
verschiedenen Gliederungen beziehen, oft miteinander verflochten. In
unmittelbarer sozialer Beziehung bespreche ich zum Beispiel mit einem
Freund einen Zeitschriftenartikel, der sich mit der Einstellung des amerikanischen Präsidenten und des Kongresses zur Aufnahme Chinas in
die Vereinten Nationen befaßt; ich befinde mich dabei nicht nur in einer Beziehung mit dem – nehmen wir es an – anonymen zeitgenössischen Autor des Artikels, sondern auch mit den zeitgenössischen individuellen oder kollektiven Darstellern auf der sozialen Bühne, die als
»Präsident«, »Kongreß«, »China«, »Vereinte Nationen« bezeichnet werden. Da mein Freund und ich über dieses Thema als amerikanische
192
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
Staatsbürger im Jahre 1954 diskutieren, tun wir das in einer historischen Situation, die von den Handlungen unserer Vorgänger zumindest
[198] mitbestimmt ist. Und wir sind uns auch der Auswirkungen bewußt, welche diese jetzt zu treffenden Entscheidungen auf unsere Nachfolger, auf künftige Generationen, haben werden. All diese Vorstellungen haben für uns als nicht weiter geklärte Begriffe des Alltagsverstands
Sinn, denn ihre Bedeutung wird in unserer sozio-kulturellen Umwelt als
selbstverständlich hingenommen. Wie ist dies möglich?
Wir unterbreiten die These, daß in der Denkweise des Alltagsverstands die Sozialwelt auf zwei Ebenen der Appräsentationsverweisungen
erlebt wird:
i) Wir erleben einzelne Mitmenschen und ihre Bewußtseinsakte als
Wirklichkeiten in der Welt des Alltags. Sie sind in unserer aktuellen
oder potentiellen Reichweite, und wir haben mit ihnen durch Kommunikation eine gemeinsam verständliche Umwelt oder könnten sie jedenfalls jederzeit haben. Wir können zwar diese einzelnen Mitmenschen
und ihre Bewußtseinsakte nur durch das schon beschriebene System
von Appräsentationsverweisungen in Analogie erfassen (vgl. Abschnitt
IV.4), und in diesem Sinne transzendiert die Welt des Anderen die meine; doch handelt es sich hier um eine »immanente Transzendenz«, die
noch immer innerhalb der Wirklichkeit unseres Alltags liegt. Folglich
gehören beide Elemente der Appräsentationsbeziehung, durch die wir
diese Transzendenz erfassen, zum gleichen geschlossenen Sinnbereich,
nämlich zur ausgezeichneten Wirklichkeit des täglichen Lebens.
ii) Soziale Kollektive und institutionalisierte Beziehungen sind jedoch keine Gegebenheiten im Sinnbereich der Alltagswirklichkeit. Sie
sind vielmehr gedankliche Konstruktionen des Alltagsverstands, deren
Wirklichkeit in einem anderen Subuniversum liegt; man mag sie dem
Subuniversum idealer Beziehungen zuordnen, um den von William
James geprägten Begriff zu benutzen. Gerade aus diesem Grund können
wir sie nur symbolisch erfassen; die Symbole aber, durch die sie appräsentiert werden, gehören selbst zur ausgezeichneten Wirklichkeit des
Alltags und motivieren in ihr unser Handeln. Diese Feststellung bedarf
der Erläuterung.
Betrachten wir zunächst den geläufigsten Fall unserer Erfahrung gesellschaftlicher Kollektive. Genau genommen befinden wir uns alle in
der Lage von Crainquebille – dem Helden in der Erzählung von Anatole FranceE 81 –, für den die Regierung ein alter kratzbürstiger Mann hinter dem Schalter ist. Die Regierung repräsentiert sich für uns in Einzel© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003
193
menschen: in Abgeordneten, Richtern, Steuereintreibern, Soldaten, Polizisten und Beamten, vielleicht im Präsidenten, im König oder im Führer. Politische Karikaturisten zeigen uns Uncle Sam im Gespräch mit
John Bull und Marianne, oder sie zeigen sogar die Weltkugel, die mit
verstörtem Gesicht auf eine zähnefletschende Wasserstoffbombe schaut.
Diese grobe Symbolik hat jedoch tiefe Wurzeln.
Wir haben zuvor (IV.4) erwähnt, daß die Wir-Beziehung als solche
[199] die Existenz der an ihr Teilhabenden in der ausgezeichneten
Wirklichkeit des Alltags transzendiert und nur durch Symbolisierung
appräsentiert werden kann. Mein Freund ist für mich so wie ich für ihn
ein Bestandteil der Alltagswirklichkeit. Aber unsere Freundschaft reicht
über unsere individuelle Situation im geschlossenen Sinnbereich der
ausgezeichneten Alltagswirklichkeit hinaus. Da die Wir-Beziehung rein
formal definiert wurde und sich auf unmittelbare soziale Situationen aller Stufen der Intimität und der Distanz bezieht, sind die Symbole,
durch die solche Beziehungen appräsentiert sind, außerordentlich mannigfaltig. Das appräsentierende Element ist hier immer die gemeinsame
Situation, wie sie von den Beteiligten definiert wird, nämlich ihre gemeinsame Erfahrung, ihr gemeinsamer Nutzen, ihre gemeinsamen Leiden und Freuden. Ein gemeinsames Interesse macht sie zu Partnern,
und die Idee der Partnerschaft ist vielleicht der umfassendste Begriff für
die appräsentierte Wir-Beziehung. (Wir sind Kameraden, Liebende,
Mitleidende usw.).E 82
Die Symbole erhalten deutlichere Umrisse, je stärker die soziale Beziehung stabilisiert und je mehr sie institutionalisiert ist. Die Wohnung
der Familie wird in der appräsentierten Bedeutung zum »Heim«, das
von Gottheiten, wie zum Beispiel den Laren und Penaten, beschützt
wird. Der Herd ist mehr als die Feuerstätte; Trauung und Hochzeit sind
die zeremoniellen (oder sogar sakramentalen) und legalen Symbole für
die Ehe; eine Nachbarschaft ist mehr als ein bloßer ökologischer Begriff.
All diese Beispiele verweisen aber auf soziale Beziehungen, die in aktuelle Reichweite rücken können. Cooley75 dachte an Gruppen dieser
Art, als er den allerdings mehrdeutigen Begriff der Primärgruppen einführte. Das Interesse zeitgenössischer Soziologen an den sogenannten
Kleingruppen ist in diesem Zusammenhang als gerechtfertigt anzusehen. Wir sehen dies zum Beispiel an der Definition der Kleingruppe bei
Homans als
75
194
Siehe Fußnote 33.
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
»eine Anzahl von Personen, die gering genug ist, so daß jede Person sich
mit jeder anderen nicht indirekt vermittels anderer Menschen verständigen muß, sondern es in unmittelbarer sozialer Beziehung tut.«76
Die Situation ändert sich allerdings, wenn die Gruppe größer ist und
keine unmittelbare soziale Beziehung entstehen kann. Max Weber, der seine Theorie auf einer Interpretation der sozialen Welt im Rahmen des subjektiven Sinns des einzelnen Handelnden gründet, schließt folgerichtig:
»Nur das Vorliegen dieser Chance: – der mehr oder minder großen
Wahrscheinlichheit also, daß ein sinnentsprechendes Handeln [200]
stattfindet und nichts darüber hinaus – bedeutet der »Bestand« der sozialen Beziehung. (...) Daß eine »Freundschaft« oder daß ein »Staat«
besteht oder bestand, bedeutet also ausschließlich und allein: wir (die
Betrachtenden) urteilen, daß eine Chance vorliegt oder vorlag: daß auf
Grund einer bestimmt gearteten Einstellung bestimmter Menschen
in einem durchschnittlich gemeinten Sinn nach angebbarer Art gehandelt wird (...)«.77
Aber diese Feststellung ist selbst eine Konstruktion des Sozialwissenschaftlers und gehört daher nicht zur alltäglichen Denkweise. Im Alltag
erlebt der Mensch die soziale und politische Ordnung durch besondere
Appräsentationen, die Eric Voegelin in seinem Buch The New Science of
Politics78, aus dem wir im Abschnitt V.2 eine charakteristische Passage
zitiert haben, sorgsam analysiert hat. Diesem Autor zufolge hat eine politische Gesellschaft, wie ein von innen her erhelltes Kosmion,
»seinen inneren Sinnbereich; aber dieser Bereich existiert sinnlich
greifbar in der Außenwelt in menschlichen Wesen, die Körper besitzen und mit diesen Körpern an dem organischen und anorganischen
Gefüge der Welt teilhaben«.
76
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George C. Homans, The Human Group, New York: Brace & Company 1950, S. 1
[dt.: Theorie der sozialen Gruppe, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978].
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft[. Grundriß der verstehenden Soziologie
(1920/21)], übers. als Theory of Economic and Social Organisation von A. M. Henderson und T. Parsons, New York: Oxford University Press 1947, S. 119 [dt.: hg. v.
Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 51976, S. 14].
Voegelin, [Die neue Wissenschaft der Politik,] a. a. O. [(Anm. 55)], S. 31, 34, 37, 49,
54 (Hervorhebungen vom Autor) [Zitat in der dt. Ausgabe S. 57].
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So kann zum Beispiel Repräsentation im elementaren Sinn der faktischen Institutionen verstanden werden – wenn beispielsweise die Mitgliedschaft bestimmter Leute in einem Parlament auf dem allgemeinen
Wahlrecht beruht – oder sie kann im existentiellen Sinn bedeuten, daß
politische Gesellschaften, um aktionsfähig zu sein, einer äußeren Struktur bedürfen, die es einigen ihrer Mitglieder – sei es dem Herrscher,
dem Souverän, der Regierung, dem Fürsten – gestattet, auf ihre Befehle
gewohnheitsmäßigen Gehorsam zu erwarten. Mit anderen Worten
heißt dies,
»daß eine politische Gesellschaft existent wird, wenn sie sich artikuliert und einen Repräsentanten hervorbringt«.E 83
Damit jedoch noch nicht genug; zusätzlich ist zu unterscheiden
» zwischen der Repräsentation einer Gesellschaft durch ihre existentiellen Repräsentanten und einer zweiten Relation, in welcher die
Gesellschaft selbst etwas, das über sie hinausgeht, eine transzendente
Wirklichkeit repräsentiert. (...) Alle frühen Reiche des Nahen wie des
Fernen Ostens faßten sich als Repräsentanten einer transzendenten
Ordnung, der Ordnung des Kosmos auf, (...) die großen Zeremonien des Reiches repräsentieren den Rhythmus des Kosmos; Feste und
Opferfeiern sind eine kosmische Liturgie, eine symbolische Teilnahme des Kosmion am Kosmos; und der Herrscher selbst repräsentiert
die Gesellschaft, [201] weil er auf Erden die transzendente Macht repräsentiert, die die kosmische Ordnung aufrechterhält.«E 84
Voegelins Buch bringt eine Fülle von Beispielen dieser »Selbstinterpretation« der Gruppe, die er der Deutung der gleichen Symbole seitens
theoretischer »Fachleute« entgegenstellt. Wir können hier leider nicht
auf dieses faszinierende Thema eingehen. Wir möchten nur noch hinzufügen, daß die symbolischen Appräsentationen, durch die sich die Eigengruppe selbst interpretiert, ihr Gegenstück in den Deutungen der
gleichen Symbole durch eine oder mehrere Fremdgruppen findet. Allerdings werden solche Deutungen von denen der Eigengruppe abweichen, da ja die Relevanzstrukturen beider Gruppen (und die jeweiligen
Apperzeptions-, Appräsentations- und Verweisungsschemata als Bezugssysteme zur Deutung der so geschaffenen »Ordnung«) nicht übereinstimmen können. Den Sozialwissenschaften öffnet sich hier ein wei196
A.Schütz, Theorie der Lebenswelt 2
tes Feld zu erforschender konkreter Probleme. Die Ergebnisse derartiger
Untersuchungen hätten nicht nur theoretische, sondern auch praktische Bedeutung. Wenn man die Manipulation von Symbolen – zur Belehrung, Bekehrung oder Täuschung – verstehen soll, muß jedenfalls
vorher die innere Struktur der Symbole erforscht werden.
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Vgl. Alfred Schütz, »Concept and Theory Formation in the Social Sciences« [1954I-1], Journal of Philosophy Vol. LI, 1954, S. 257-273 [jetzt in: ASW IV.].
Johann Wolfgang von Goethe, Aus Kunst und Altertum, 1826 [jetzt in: Sämtliche
Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche Bd. 13: Sprüche in Prosa, Frankfurt/M.:
Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 33].
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